Das Jahr der Gier - Horst Eckert - E-Book
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Das Jahr der Gier E-Book

Eckert Horst

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Beschreibung

Die Jagd nach Erfolg kennt keine Grenzen. Und keine Gnade +++ Nominiert für den Crime Cologne Award

Der britische Journalist Oscar Ravani wird in Düsseldorf auf offener Straße mit dem Messer angegriffen. Ein rassistisch motiviertes Attentat? Kriminalrätin Melia Adan und Hauptkommissar Vincent Veih wollen die Aussagen noch einmal unter die Lupe nehmen. Doch ein vermeintlicher Zeuge ist plötzlich unauffindbar. Ravani selbst schweigt. Mit seinen Recherchen zu einem großen Finanzdienstleister könnte er sich allerdings Feinde gemacht haben. Die Firma gilt als deutsches Vorzeigeunternehmen mit engen Kontakten zur Politik. Wie viel an dieser Erfolgsstory ist echt? Für ihre Ermittlungen begeben sich Vincent und Melia in eine finstere Parallelwelt von ungeahnten Ausmaßen.

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Seitenzahl: 370

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Das Buch

Der britische Journalist Oscar Ravani wird in Düsseldorf auf offener Straße mit dem Messer angegriffen. Ein rassistisch motiviertes Attentat? Kriminalrätin Melia Adan und Hauptkommissar Vincent Veih wollen die Aussagen noch einmal unter die Lupe nehmen. Doch ein vermeintlicher Zeuge ist plötzlich unauffindbar. Ravani selbst schweigt. Mit seinen Recherchen zu einem großen Finanzdienstleister könnte er sich allerdings Feinde gemacht haben. Die Firma gilt als deutsches Vorzeigeunternehmen mit engen Kontakten zur Politik. Wie viel an dieser Erfolgsstory ist echt? Für ihre Ermittlungen begeben sich Vincent und Melia in eine finstere Parallelwelt von ungeahnten Ausmaßen.

Der Autor

Horst Eckert, 1959 in Weiden/Oberpfalz geboren, lebt seit vielen Jahren in Düsseldorf. Er arbeitete fünfzehn Jahre als Fernsehjournalist, u. a. für die Tagesschau. 1995 erschien sein Debüt Annas Erbe. Seine Romane gelten als »im besten Sinne komplexe Polizeithriller, die man nicht nur als spannenden Kriminalstoff lesen kann, sondern auch als einen Kommentar zur Zeit« (Deutschlandfunk). Sie wurden unter anderem mit dem Marlowe-Preis und dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet und ins Französische, Niederländische und Tschechische übersetzt.

Lieferbare Titel

Im Namen der Lüge

Die Stunde der Wut

HORST ECKERT

DASJAHR

DERGIER

THRILLER

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 03/2022

Copyright © 2022 by Horst Eckert

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlaggestaltung: Designomicon, Anke Koopmann,

unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com

(Cara-Foto, aarrows, ThirdUnit)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-29153-2V003

www.heyne.de

»I still can’t remember when

Or how I lost my way.«

Neil Young, »Cortez the Killer«

DIE HANDELNDEN PERSONEN

DÜSSELDORF

Melia Adan, Kriminalrätin, Leiterin der Kriminalinspektion 1: Gewaltverbrechen

Zeinab Adan, Geschäftsfrau, Mutter von Melia Adan

Klaus Wachtendonk,KHK, Dienstgruppenleiter in der Altstadtwache

Vincent Veih,KHK, Leiter des Kriminalkommissariats 11: Tötungsdelikte

Brigitte Veih, einstige RAF-Terroristin, heute Fotokünstlerin, Mutter von Vincent Veih

Antonia Tobler, Nachbarin von Vincent Veih

Anna Winkler,KHKin, Leiterin der Mordkommission Knittkuhl

Hamid Belhanda, KOK im KK 11

Dominik Roth, KOK im KK 11

Dr. Gretel Schwab, Ärztin des rechtsmedizinischen Instituts der Universität Düsseldorf

Fabri,KHK, Leiter des Kriminalkommissariats 43: Kriminaltechnik

Michael Nolde, Zeuge im Fall Ravani

Nobert Kilian, Oberstaatsanwalt

Markus Braun,PHK, Pressesprecher der Polizei Düsseldorf

Naomi Meyer-Krell, Opfer eines Gewaltverbrechens

Guido Meyer-Krell, Leiter der Agentur Brand Harbour, Vater von Naomi Meyer-Krell

Linus Fehrbellin, Programmierer, Ex-Freund von Naomi Meyer-Krell

Martin Fehrbellin, Wirtschaftsprüfer bei Graff & La Motte, Vater von Linus Fehrbellin

Hubertus Graff, Seniorpartner bei Graff & La Motte und Parteifreund von Andreas Götz

Jens Zöllner, Verdächtiger

Gerhard Zöllner, Vater von Jens Zöllner

Karin Petrosjan, Ärztin

Artur Petrosjan, ehemaliger Polizeibeamter, Sohn von Karin Petrosjan

Gudrun Preiß, Besitzerin eines Pferdehofs, Freundin von Artur Petrosjan

ReinhardZacharias, Mitarbeiter beim Landesamt für Verfassungsschutz

LONDON

Bashir Adan, Unternehmer aus London, Onkel von Melia Adan

Yasin Ravani, Freund von Bashir, Vater von Oscar Ravani

Oscar Ravani, Journalist

Eve, Kollegin von Oscar Ravani

SINGAPUR

Robin Chan, Jurist bei Worldcard Singapore

Rahul Kumar, Compliance-Beauftragter bei Worldcard Asia

Pratama Setjawan, Finanzchef bei Worldcard Asia

Priscilla Chan, Geschäftsfrau, Mutter von Robin Chan

MÜNCHEN, MOOSBRUCK UND LENGGRIES

Georg Seidl, Polizist

Karlheinz Walberer, Polizist

Marek Weiß, Unternehmer, COO von Worldcard

Paulina Jovic, Leiterin der Rechtsabteilung bei Worldcard

Sebastian Pagel, ehemaliger Zielfahnder, arbeitet als Bergführer

Dr. Gerald Böhm, bayerischer Landespolizeipräsident a. D.

Daniela, Cousine von Sebastian Pagel

Tareq Al-Maryami, libyscher Geschäftsmann

Hassan Amiri, Hisbollah-Funktionär, leider tot

Frederik zu Hohenstein, Bundesminister a. D.

Dmitri, Chef eines Sicherheitsunternehmens

Artjom, seine rechte Hand

BERLIN

Andreas Götz, ehem. Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, Vater von Melia Adan

Tristan Bovert, Staatssekretär und Geheimdienstbeauftragter der Bundesregierung

Ute Frings-Fassbinder, Bundeskanzlerin

Frank Meiring, Mitarbeiter im Kanzleramt

PROLOG

Moosbruck bei München

ALS IHR EINSATZ SIE AM BÜROKOMPLEX des Worldcard-Konzerns vorbeiführte, fiel Georg Seidl ein, dass die älteste Tochter seines Kollegen dort arbeitete. Karlheinz Walberer erwähnte das gelegentlich voller Stolz. Kein anderes deutsches Unternehmen expandierte so rasant.

Hatte die Commerzbank aus demDAX verdrängt. Plante angeblich, die Deutsche Bank zu kaufen. Galt als Deutschlands Vorzeigekonzern schlechthin.

Finanztechnologie – der aktuelle heiße Scheiß.

Neben den fünf Bürotürmen drehten sich die Baukräne, um den sechsten zu errichten. Auch ringsum florierte die Wirtschaft, und in Moosbruck war das Wohnen schon fast so teuer wie im Münchner Zentrum.

»Hat sich deine Tochter entschieden?«, fragte Georg.

»Hm-ja«, antwortete Kalle.

»Dubai, super. Und du freust dich nicht?«

»Viereinhalbtausend Kilometer entfernt.«

»Es gibt Direktflüge. Ihr könnt Weihnachten am Traumstrand feiern. Und sicher wird sie nicht schlecht verdienen.«

»Für sie freut’s mich ja auch. Ihr Chef ist jetzt fürs Geschäft im Mittleren Osten zuständig und wollte sie unbedingt dabeihaben. Wer sagt da schon Nein.«

Kalle steuerte den BMW in eine langgestreckte Kurve. Sie passierten die neu erbaute Feuerwache und die Tennisplätze des TSV.

Jenseits der Autobahnunterführung reckten sich zu beiden Seiten nur noch die Kiefern des Moosbrucker Forsts in den diesigen Novemberhimmel.

Sie erreichten den Parkplatz für Wanderer. An sonnigen Wochenenden war hier der Teufel los. Heute, an einem Montag, herrschte gähnende Leere.

»Der Anrufer hat natürlich nicht gewartet«, stellte Kalle fest.

Die Reifen knirschten über die Schotterfläche. Georg deutete auf den breiten Forstweg, der gegenüber in den Platz mündete. Nach der Beschreibung des Radfahrers ging es dort hinein.

»Womöglich hat er uns bloß verarscht.«

»Jetzt sind wir schon mal hier«, sagte Georg. »Also schauen wir auch nach.«

Der Weg durchschnitt den Wald zunächst schnurgerade. Ein Stapel frisch gefällter Stämme und ein Picknickplatz mit grob gezimmerten Bänken waren alles, was auffiel. Schon bald erreichten sie eine Gabelung.

»Links oder rechts?«, fragte Kalle.

Von dem Zeugen war auch hier nichts zu sehen.

Georg versuchte zu entziffern, was er in sein Notizbuch gekritzelt hatte.

Kalle wartete nicht. Er wählte die Richtung, die weiter von der Autobahn wegführte. Es wurde kurvig, der Weg folgte einem Bach.

Dann trat Kalle abrupt auf die Bremse.

Der Anrufer hatte sie doch nicht verarscht.

Sie ließen ihre Mützen auf der Rückbank liegen. Kalle hakte die Daumen in den Gürtel und ging voraus. Georg nahm das Funkgerät mit.

Ein so gründlich ausgebranntes Autowrack hatte er noch nie gesehen. Die ursprüngliche Farbe war nicht mehr zu erkennen, der Lack vollständig abgefackelt. Das Blech der Karosserie lag blank, es schimmerte hell und zeigte Spuren von Oxidation – Flecken in allen Schattierungen.

Ein mittelgroßer Viertürer mit Schrägheck. Die Motorhaube nach oben gewölbt. Sämtliche Fenster ohne Glas. Im Näherkommen sah Georg, dass selbst von den Reifen nichts mehr übrig war. Die Räder mit den Leichtmetallfelgen standen krumm, als hätte ein Riese Hand angelegt.

Unter dem Wrack war der Forstweg schwarz verkohlt. Zum Glück hatte das Feuer nicht auf die Umgebung übergegriffen. Einen Moment lang stellte sich Georg vor, was ein solcher Brand an einem trockenen Sommertag auslösen konnte. In diesem Wald, der seit Jahren unter Trockenheit litt.

Unzählige kleine Glasbrocken bedeckten den Boden. Splitter der Securit-Verglasung der Seitenscheiben. Georg fand sie noch zwanzig Meter vom Wagen entfernt auf dem toten Laub des Waldrands. Die Splitter glitzerten sauber, als seien sie nie mit Feuer und Rauch in Berührung gekommen. Was Georg seltsam erschien.

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es Kalle.

Er hatte den Wagen bereits umrundet und stand nun vor dem Motorraum.

»Schorsch, schau mal!«

Sie blickten durch das Loch, das die weggeschmolzene Windschutzscheibe hinterlassen hatte. Das verkohlte Innere verströmte einen scharfen Geruch. Von der Rückbank war nur die Blechverkleidung zum Kofferraum geblieben. Die Vordersitze waren bis auf das Metallgestell abgebrannt.

Georg hielt unwillkürlich die Luft an, als er sah, was sein Kollege meinte. Davon hatte der Radfahrer, der das Wrack entdeckt und den Notruf gewählt hatte, nichts erzählt. Georg nahm sein Handy aus der Jackentasche und begann zu fotografieren.

Ein schwarzer Klumpen lag auf dem, was vom Fahrersitz übrig war.

Weiße Knochen lugten hervor. Ein Schulterblatt samt Gelenk.

Obenauf ein Schädel.

Er lag halb zur Seite geneigt. Georg dachte an ein Kind in gruseliger Kostümierung, das sich an einem Ort versteckte, an dem es nichts zu suchen hatte, und eingenickt war.

Aber das war kein Kind.

Kein Halloween-Scherz.

Und sicher war hier niemand friedlich eingeschlafen.

NEUN MONATE SPÄTER

SONNTAG

01

Düsseldorf

SIE SPAZIERTEN Zu DRITT die Uferpromenade entlang. Melia Adan spielte den Touristenguide. Berichtete von der Legende, dass einst der Teufel im Wutanfall das Turmdach der Lambertuskirche verdreht hätte. Zählte bedeutende Künstler auf, die an der Akademie lehrten oder gelehrt hatten. Die meisten waren Bashir Adan ein Begriff, nicht nur Beuys. Dass ihr Onkel ein Kunstkenner war, hatte Melia nicht gewusst.

Bashir Adan war wegen des Geburtstags seiner Schwester aus London zu Besuch gekommen. Düsseldorf muss ihm klein und provinziell erscheinen, dachte Melia. Wenigstens konnte es der Rhein mit der Themse aufnehmen.

Sie schossen Selfies vor dem Schlossturm.

»Und jetzt ein Altbier bei Uerige«, schlug Melia vor. Dem Onkel zuliebe sprachen sie Englisch.

Ihre Mutter verzog das Gesicht. »Alkohol?«

»So früh am Tag?«, fragte Bashir.

»Das ist hier üblich«, behauptete Melia. »Oder wollt ihr einen Happen essen? Wonach steht euch der Sinn?«

Ihr Onkel fasste sich an den stattlichen Bauch. »Bin noch satt vom Frühstück. Was Zeinab alles aufgefahren hat!«

»Du hast abgenommen seit dem letzten Mal«, warf Melias Mutter ein. »Du solltest wieder heiraten.«

Bashir winkte lachend ab, und Melia wurde bewusst, wie verschieden die beiden Geschwister waren. Zeinab war schlank und hatte kaum ein weißes Haar auf dem Kopf. Wer es nicht besser wusste, würde Bashir für den Älteren halten. Dabei war er zwei Jahre jünger als Zeinab, die morgen sechzig wurde.

»Hat Brigitte Veih nicht heute ihre Vernissage?«, fiel Zeinab ein. »Die Galerie ist nicht weit von hier. Sicher ist auch Vincent da!«

Bloß nicht, dachte Melia. Deine Versuche, mich zu verkuppeln, sind hochgradig peinlich.

Und die Situation ist kompliziert.

Sie bemerkte den fragenden Blick ihres Onkels.

»Vincent ist einer meiner Kommissariatsleiter«, erklärte sie. »Seine Mutter macht Fotokunst, Druckgrafik, Kollagen und so. Seit diesem Jahr lehrt sie auch an der Düsseldorfer Kunstakademie.«

»Klingt interessant.«

»Sehr politisch. Linksradikal. Nichts für einen notorischen Tory-Wähler und Brexiteer wie dich, Onkel Bashir.«

»Für den Brexit war ich nie so richtig«, beteuerte er.

»Trotzdem. Ihre Kunst würde dir nicht gefallen.«

Bashir war in den Achtzigern seiner Schwester zum Studium nach London gefolgt und dort geblieben. Zeinab hatte hingegen nach dem Sturz des Diktators Siad Barre beschlossen, zurück nach Somalia zu gehen. Doch das neue Regime ließ sie inhaftieren und foltern, nur weil die Adans dem gleichen Clan angehörten wie der verhasste Tyrann. Zeinab ging erneut ins Ausland. Es verschlug sie nach Bonn, wo sie sich in einen Nachwuchspolitiker der CDU verliebte – Melias Vater, der sie beide verließ, als sie noch ein Kind war.

Bashir war von solchen Turbulenzen verschont geblieben und hatte sich in der IT-Branche selbstständig gemacht. Seine Firma lief blendend. Ein Schwarzer der Upper Class.

Er ließ seine Anzüge in der Savile Row schneidern. Besuchte die Konzerte des London Symphony Orchestras in der Barbican Hall. Er schwor auf die Segnungen eines möglichst ungezügelten Kapitalismus’, hatte dabei aber Charme, Herz und Humor.

Melia fragte sich, wie Vincents Mutter auf ihn reagieren würde.

Ein hektischer Klingelton – Bashir holte sein Handy hervor und blickte auf das Display.

»Please excuse me.«

Er nahm das Gespräch an. Sein Blick verdüsterte sich. Sein Englisch wurde einsilbig. Melia spürte seine Sorge.

»Was ist?«, fragte sie, als er fertig war.

»Das war mein Freund Yasin aus London. Yasin Ravani. Zeinab, du kennst ihn. Sein Sohn ist hier in Düsseldorf und musste ins Krankenhaus. Er hat mich gebeten, nach Oscar zu sehen.«

»Welches Krankenhaus?«

»EVK, sagt Yasin. Kennst du das?«

Die Abkürzung stand für das Evangelische Krankenhaus an der Kirchfeldstraße.

»Ich fahre euch hin«, antwortete Melia.

Sie gingen auf die Tiefgarage zu, in der Melia ihren Wagen geparkt hatte. Nicht nur ihre Mutter kannte Yasin. Auch Melia erinnerte sich an ihn – vor etwa sechzehn Jahren hatten sie die Ravanis im Rahmen eines Englandurlaubs mal besucht. Melia war damals gerade mit der Schule fertig. Yasins Sohn Oscar hatte sie am nächsten Tag zu einer Party aufs Land mitgenommen, und eine Zeit lang war sie mächtig verliebt gewesen in den hübschen Kerl mit langen Haaren, der mit seiner Gitarre am Pool saß und mit klarer Stimme romantische Lieder sang.

»Was fehlt ihm konkret?«, fragte sie.

»Jemand hat den Jungen letzte Nacht überfallen. Irgendwo in der Altstadt, sagt Yasin. Er ist von deinen Kollegen verständigt worden, Melia. Mehr weiß er selbst noch nicht.«

Sie nickte. »Ich kümmere mich darum.«

02

MELIA ZEIGTE DEM BEAMTEN am Tresen der Altstadtwache ihren Dienstausweis. Hinter ihm konnte sie durch mehrere Glaswände ins Innere der Wache blicken. Rechner, Möbel aus hellem Holz. Die meisten Räume leer.

»Ist der Dienstgruppenleiter zu sprechen?«

Kurz darauf stand ein großer, stämmiger Kollege vor ihr. Die Sterne auf den Schultern des blauen Pullovers wiesen ihn als Ersten Hauptkommissar aus. Er stellte sich als Klaus Wachtendonk vor.

Sie hielt auch ihm ihr Kärtchen hin. »Ich habe eine Nachfrage zum Überfall auf Oscar Ravani in der letzten Nacht.«

»Der britische Staatsbürger?«

»Richtig.«

»Kaffee?«

»Nicht nötig.«

»Dann gehen wir am besten in mein Büro.«

Es war das hinterste Zimmer im Erdgeschoss der Wache. Die untere Hälfte der Scheibe nach nebenan bedeckte ein Streifen Fototapete. Palmen, Strand und Meer. Gegenüber an der gesamten Wand graue Schränke. Ein Kalender neben dem Fenster zur Straße. Zwei Monitore auf einem langen, leer geräumten Tisch. Wachtendonk zeigte auf die beiden Stühle an dessen rundem Ende.

»Ihr Name ist mir ein Begriff«, sagte er.

»Meiner?«

»Man hört so einiges. Dass Sie vom Verfassungsschutz zu uns gekommen sind. Dass Ihr Vater ein hohes Tier in der Politik ist.«

»War«, korrigierte Melia.

»Ich hätte ihn mir als Bundeskanzler gewünscht. Lieber als Frau Frings-Fassbinder. Das können Sie mir glauben.«

Melia sprach mit Kollegen nicht gern über ihren Vater. Andreas Götz, langjähriger Chef der Unionsfraktion im Bundestag – alle Welt nahm an, sie habe ihren Posten als Kriminalrätin und Leiterin der Kriminalinspektion 1 nur seinem Einfluss zu verdanken. Dabei war Andreas lange Zeit ein Fremder für sie gewesen. Er war vor einem Vierteljahrhundert aus ihrem Leben und dem ihrer Mutter verschwunden und hatte in Berlin eine neue Familie gegründet. Erst in den letzten Jahren hatten sie wieder Kontakt zueinander aufgenommen. Gelegentlich trafen sie sich, wenn Andreas in Düsseldorf zu tun hatte. Aber ihre Arbeit war dabei nie ein Thema.

Meine Karriere beruht keineswegs auf Vitamin B, dachte Melia.

Und sie war stolz darauf.

»Die Messerstecherei«, sagte sie.

Wachtendonk nickte und fuhr endlich den Rechner hoch.

»Mein Onkel ist mit dem Vater des Opfers befreundet«, erklärte sie. »Wir machen uns Sorgen.«

»Wollen Sie den Bericht sehen?«

»Wenn ich darf.«

»Ihr KK11 bekommt die Sache ohnehin am Montag auf den Tisch.«

Vincent Veihs Dienststelle. Das Kommissariat für Tötungsdelikte. Vollendete und versuchte.

Der große Uniformierte drehte den Monitor zu Melia hin. Sie überflog das, was der Dienstgruppenleiter der Nachtschicht notiert hatte. Kurz vor 23 Uhr war die Polizei alarmiert worden. Vier Minuten später trafen die Beamten ein, verständigten die Kriminalwache, sperrten den Tatort ab und begannen mit der Befragung der Zeugen, während ein Rettungswagen den Verletzten in die Klinik brachte.

Die Kollegen der Kriminalwache hatten ein Team der Spurensicherung angefordert. Melia las den nächsten Bericht. Wachtendonk verließ das Büro und kam mit zwei Kaffeebechern und einer Tüte Milch zurück.

Der Tatortbefund. Die Schneider-Wibbel-Gasse. Passanten waren Oscar Ravani zu Hilfe geeilt und hatten den oder die Angreifer in die Flucht geschlagen. Ein Zeuge gab an, ein Täter habe das Opfer beschimpft. Rassistische Ausdrücke.

Die Adressen aller Befragten waren vermerkt. Einer davon wohnte in Hamburg und war momentan im Düsseldorfer Interconti erreichbar. Die Handynummer hatte man notiert.

Erleichtert stellte Melia fest, dass der Sohn von Onkel Bashirs Freund nicht lebensgefährlich verletzt worden war. Drei Stichwunden in Arm und Oberkörper. Zur Beobachtung würde man den jungen Mann noch zwei, drei Tage im Krankenhaus behalten.

Melia blickte Wachtendonk an. »Passiert so etwas öfter?«

»An Wochenenden ist in der Altstadt immer etwas los. Vor allem für die Late Show. Bei warmem Wetter mangelt es nicht an krawallbereiter Kundschaft. Eigentlich war es letzte Nacht sogar noch ruhig.«

»Wie steht es mit Videoüberwachung?«

»Wir haben die Altstadt mit neun Kameras an neuralgischen Punkten fast lückenlos im Blick. Gestochen scharfe Bilder. Der zuständige Kollege kann sie von seinem Platz aus schwenken und zoomen. Wenn ein Pärchen sich küsst, kann er Ihnen sogar sagen, ob es mit Zunge war.«

»Aber?«

»Ausgerechnet in der betreffenden Gasse haben wir keine Kamera.«

Melia fragte sich, ob der Täter das gewusst hatte.

»Haben Sie auf der Wache eine Durchschrift des Berichts?«

»Der Ordner steht nebenan. Ich kann Ihnen eine Kopie mitgeben, wenn Sie möchten.«

Wieder ließ Wachtendonk sie allein. Das Fenster zur Straße war gekippt und nur in der unteren Hälfte opak. Melia sah blauen Himmel. Hörte Autogeräusche, keine Stimmen.

Dann stand Wachtendonk wieder vor ihr und reichte ihr einen Stapel bedruckter Blätter. Ein offenes Gesicht, freundliches Lächeln. Eigentlich hätte ich ihm das Du anbieten können, dachte Melia.

»Seit wann sagt ihr hier ›Late Show‹ zur Nachtschicht?«, fragte sie.

Wachtendonk zuckte mit den Schultern. »Warum sagt ihr ›Festung‹ zum Präsidium? Der Mensch improvisiert. Das macht den Alltag erträglicher.«

Melia gab ihm die Hand.

Als sie wieder auf der Straße stand, wählte sie die Nummer ihrer Mutter.

»Ich bin’s«, meldete sie sich. »Wie sieht’s bei euch aus?«

»Oscar liegt auf der Normalstation. Außer Gefahr, meint die Ärztin.«

»Ich bin in zwanzig Minuten bei euch.«

03

MELIA TRAF ZEINAB uND BASHIR in der Cafeteria der Klinik. Sie holte sich an der Theke einen Salat, bezahlte und setzte sich zu ihnen.

»Ab morgen kümmern sich meine Leute darum«, sagte sie. »Ich werde Vincent darauf ansetzen.«

»Yasin konnte ich beruhigen«, sagte Bashir Adan. »Oscar hat großes Glück gehabt.«

»Tut mir leid.«

»Du kannst nichts für die Arschlöcher, die ihn verletzt haben. Das hätte ihm auch in London passieren können.«

Melia wusste das. Aber sie empfand es als peinlich, dass ihr Onkel ausgerechnet bei einem seiner seltenen Besuche mit einem Verbrechen an einem Landsmann konfrontiert wurde. Sie fühlte sich, als sei sie verantwortlich für die Sicherheit in dieser Stadt.

Nachdem Melia das letzte Stück Rohkost aus der Plastikschale gegabelt hatte, verabschiedeten sich Zeinab und Bashir von ihr. Sie wollten sich tatsächlich Brigitte Veihs Ausstellung ansehen.

»Du hast mich neugierig gemacht«, sagte Melias Onkel. »Die Mutter deines Freundes scheint eine Mischung aus Beuys und Banksy zu sein.«

»Die Mutter meines Mitarbeiters«, korrigierte sie und warf Zeinab einen strengen Blick zu. Doch die war schon aufgestanden, schlüpfte in ihre Jacke und tat so, als hätte sie nicht zugehört.

»Wir sehen uns heute Abend«, sagte Melia. »Ich hole euch ab.«

Als sie das Krankenzimmer betrat, glaubte sie zunächst, sich in der Tür geirrt zu haben. Entweder spielte ihr die Erinnerung an eine Poolparty in den Nullerjahren einen Streich, oder der Sohn von Onkel Bashirs Freund hatte sich deutlich verändert.

Der Mann im Bett trug weder eine Rockstarmähne noch hatte er glatte, engelhafte Wangen. Stattdessen einen gepflegten Vollbart. Erste weiße Haare an den Schläfen.

Auch ich bin älter geworden, rief sich Melia ins Bewusstsein.

»Oscar Ravani?«, fragte sie.

Er legte die Wochenendausgabe der Düsseldorfer Morgenpost beiseite. Ein misstrauischer Blick. Keine Antwort, kein Zeichen des Wiedererkennens.

In seinem Unterarm steckte eine Kanüle, die momentan nicht benutzt wurde. Ein zweiter Zugang am Hals, auch er verschlossen. Melia nahm an, dass man ihm per Tropf Schmerzmittel und Antibiotika verabreicht hatte. Aber nichts, was nachhaltig sedierte.

Der Mann war hellwach.

Sie zeigte ihren Dienstausweis und stellte sich als Leiterin der Kriminalinspektion 1 vor, zuständig für Gewaltkriminalität in dieser Stadt. Dann deutete sie auf die Morgenpost.

»Sie verstehen Deutsch?«

»Ein bisschen.« Oscar Ravani sprach fast akzentfrei.

War das tatsächlich der Junge, mit dem sie auf der Party stundenlang geknutscht hatte? Und mit dem sie sicher auch gevögelt hätte, wenn sie nicht gestört worden wären, als sie im Haus ein ruhiges Plätzchen suchten.

»Wenn Sie mögen, können wir uns auch auf Englisch unterhalten«, schlug Melia vor.

Ravani ging nicht darauf ein. »Ich kenne die Leute nicht, die mich angegriffen haben«, erwiderte er mit barschem Ton. »Das habe ich Ihren Kollegen schon gesagt.«

»Und der Grund des Angriffs?«

»Keine Ahnung. Ich habe keine Gesichter gesehen und kann niemanden beschreiben. Sie können also wieder gehen.«

»Ich möchte Sie trotzdem bitten, mir alles noch einmal zu erzählen.«

Er blickte zur Seite.

»Was haben Sie gestern Abend in der Altstadt gemacht?«

»Ich war … spazieren.«

Melia hatte das Zögern in Ravanis Antwort bemerkt. Er wirkte nicht ehrlich und benahm sich feindselig. Vielleicht ist er auch nur verstört, eine Folge des Traumas, das er gestern Abend erlitten hat, überlegte Melia.

»Ich habe in einem Restaurant in der City gegessen«, fügte er hinzu. »Mein Hotel liegt in der Nähe des Rheins. Die Nacht war warm, und ich dachte, es sei eine gute Idee, zu Fuß zu gehen.«

»Und dann?«

»Es waren Gruppen von jungen Leuten unterwegs, laut und betrunken. Denen wollte ich nicht begegnen. Ich wollte lieber allein sein. Deshalb habe ich mir Nebenstraßen ausgesucht. Aber vielleicht war gerade das ein Fehler.«

»Wie ist es passiert?«

»Ich hörte Schritte von hinten, und schon packte mich jemand am Hals.«

Um es vorzuführen, machte Oscar eine Bewegung mit dem Arm. Dabei verzog er sein Gesicht – die Wunden schmerzten.

»Ich habe versucht, mich loszureißen. Plötzlich fuhr mir ein Stich in die Brust. Zum Glück hat er mich nicht richtig getroffen.«

Er berührte die Stelle. Vom Verband war nichts zu sehen, weil er darüber einen dieser Krankenhauskittel trug, die den Hintern entblößten, wenn man aufstand und nicht aufpasste. Offenbar befanden sich Ravanis Sachen noch im Hotel.

»Ich schrie und versuchte, die Kerle abzuschütteln. Ich bekam noch etwas am Arm ab, aber dann sind sie auch schon weg, weil plötzlich Leute da waren.«

»Sie sagen ›die Kerle‹? Also mehr als einer?«

»Zwei, glaube ich. Die Schritte hinter mir – das war nicht nur eine Person. Und die haben etwas geflüstert, bevor mich der eine Typ gepackt hat. Aber vielleicht …«

»Ja?«

»Vielleicht täusche ich mich auch.« Oscar hob beschwichtigend die Hände und fiel wieder in seinen abweisenden Ton zurück. »Es ging alles sehr schnell. Ich war im Schock und erst im Krankenwagen wieder voll da. Wie gesagt, keine Beschreibung. Sie verschwenden Ihre Zeit.«

»Sie hatten Glück, dass im richtigen Moment Leute zu Hilfe kamen.«

»Allerdings.«

»Sind Sie beruflich in Düsseldorf oder als Tourist?«

Er zögerte sekundenlang. »Beruflich.«

»Was arbeiten Sie?«

»Journalist.«

»Für welche Zeitung?«, fragte Melia, der das Gespräch viel zu schleppend verlief.

»Verschiedene Medien. Freelancer.«

Ravani blieb einsilbig.

Melia wusste, dass Oscars Vorfahren aus Indien oder Pakistan stammten. Yasin, der Name seines Vaters, war islamischen Ursprungs. Vielleicht hatte Oscar mal in Deutschland gelebt und beherrschte deshalb die Sprache.

»Waren der oder die Angreifer Männer?«, fragte sie.

»Ja, das nehme ich an.«

»Wurden Sie beschimpft?«

Ravani schüttelte den Kopf.

»Keine rassistischen Ausdrücke?«

»Nein.«

Das war seltsam. In der Akte stand etwas anderes.

»Sicher?«, fragte Melia nach.

»Daran würde ich mich erinnern.«

Sie nickte und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Ihr Blick fiel auf die Zeitung. Der Wirtschaftsteil war aufgeschlagen.

»Sie halten sich also wegen einer Recherche in der Stadt auf.«

»Habe ich das gesagt?«

»Haben Sie gestern Abend allein gegessen oder einen Informanten getroffen?«

»Ich war allein.«

»Verraten Sie mir den Namen des Restaurants?«

»Twelve Monkeys. Das wissen Sie doch ganz genau. Warum stellen Sie mir solche Fragen?«

Wusste Melia nicht. Aber von dem Lokal hatte sie schon mal gehört. Teuer und schick.

»Gute Küche?«, fragte sie.

»Sehr gut«, antwortete Ravani und lächelte knapp.

Er war es. Melia wusste es jetzt. Der Junge, der zur Gitarre so zärtlich gewesen war. Und zu ihr auf andere Weise auch. Aber sie zögerte, das anzusprechen. Etwas stimmte mit Oscar nicht.

»Wollen Sie mir verraten, was Sie wirklich vorhatten, Herr Ravani?«

»Ich bin müde. Gehen Sie jetzt.«

»Was ist los?«

»Diese Leute haben gewonnen. Sagen Sie ihnen das. Ich will nur meine Ruhe.«

»Welche Leute?«

»Sie wissen genau, wen ich meine, Frau Kriminalrätin. Momentan vertraue ich hier nur dem Personal auf dieser Station. Und wenn sie jetzt nicht endlich gehen, drücke ich die Klingel und lasse Sie hinauswerfen.«

04

ZuR VERABREDETEN ZEIT KLINGELTE MELIA am Hauseingang ihrer Mutter. Sie musste nicht lange warten. Zeinab und ihr Besuch traten in bester Feierlaune auf die Straße. Sie hatten sich schick gemacht. Melia hielt ihrer Mutter die Beifahrertür auf und verteilte Komplimente.

»Kleine Planänderung«, sagte sie beim Losfahren. »Ich habe umgebucht.«

»Wo geht es hin?«, fragte Zeinab.

»Überraschung. Heute übernehme ich die Rechnung.«

Ihre Mutter wollte widersprechen, doch Melia winkte ab. »Keine Widerrede. Das ist Teil des Geburtstagsgeschenks.«

Von hinten meldete sich Bashir: »Aber ich wollte doch …«

»Kommt ebenfalls nicht infrage.«

Doch Melia fürchtete, dass diese Diskussion noch nicht beendet war.

Zwischen Schauspielhaus und Hofgarten erhob sich das sogenannte Dreischeibenhochhaus, ein elegantes Symbol des Wirtschaftswunders der späten Fünfzigerjahre.

Im Erdgeschoss befand sich das Twelve Monkeys.

Eine Kellnerin führte Melia, Zeinab und Bashir an einen Tisch am Fenster. Der Blick ging auf den Park sowie einen auffälligen Einkaufskomplex, den der US-Stararchitekt Daniel Libeskind vor wenigen Jahren entworfen hatte. In ihrem Zentrum stellte die Stadt ihren Reichtum zur Schau. Die einen hatten daran teil, die anderen durften ihn bestaunen.

Melia blickte sich im Inneren des Restaurants um, das zu den jüngeren Adressen der gehobenen Gourmetszene zählte. Goldbraune Holzlamellen an den Wänden, Säulen im Petrolton, schwarzer Marmor auf dem Boden. Großer Abstand zwischen den Tischen sorgte für Diskretion. Was am Nachbartisch gesprochen wurde, bekam man nicht mit.

Der ideale Ort, um einen Informanten zu treffen, dachte Melia.

Vorausgesetzt, der Auftraggeber geizte nicht bei den Spesen.

Melia stellte sich Oscar Ravani als Reporter vor, der für den Wirtschaftsteil einer angesehenen Londoner Zeitung arbeitete. Ein großes, internationales Thema, das auch in Deutschland mächtige Interessen berührte.

Diese Leute haben gewonnen.

Oscars Verhalten gab ihr Rätsel auf. Sie ermahnte sich, nicht auf seine Paranoia hereinzufallen. Wahrscheinlich handelte es sich bei der Messerattacke um eine rassistische Gewalttat. Oder um einen missglückten Raubüberfall. Möglich auch, dass Oscar in seiner arrogant wirkenden Art betrunkene Jugendliche beleidigt hatte. Vielleicht eine Mischung aus alldem.

Sie studierten die Karte und gaben ihre Bestellung auf. Bashir lobte Brigitte Veihs Ausstellung in höchsten Tönen. Er hatte sogar etwas erworben. Ein kleinformatiges Werk, das in den Koffer passte, sowie einen Koloss von Katalog, den er von der Künstlerin hatte signieren lassen – als Geburtstagsgeschenk für Zeinab.

Danach hatte er sich weiter um den Sohn seines Freundes gekümmert. War zu dessen Hotel gefahren, hatte das Zimmer geräumt und ihm die wichtigsten Sachen ins Krankenhaus gebracht.

»Weißt du, für welche Zeitung Oscar aktuell unterwegs ist?«, fragte Melia. »Mir gegenüber macht er ein Geheimnis daraus.«

»Wenn dir das wichtig ist, kann ich Yasin fragen. Ich sehe ihn morgen, wenn ich wieder in London bin.«

»Das wäre fein.«

»Wie war das Wiedersehen mit Oscar?«

»Wie meinst du das?«

Bashir zwinkerte. »Tu nicht so, Melia. Wie alt warst du, als ihr zuletzt bei mir wart? Achtzehn, neunzehn? Jedenfalls warst du ganz schön verknallt in Yasins Sohn. Und Zeinab, du in Yasin, stimmt’s?«

»Jetzt hör bloß auf«, empörte sich Melias Mutter.

»Jedenfalls wird es höchste Zeit, dass ihr mal wieder nach England kommt.«

Nach dem Hauptgang nahm Melia die Kellnerin zur Seite und befragte sie zu dem vorigen Abend. Sie beschrieb den Journalisten. Die Angestellte konnte sich nicht erinnern.

Sie gingen an das Pult beim Eingang, auf dem das Reservierungsbuch lag. Die Bedienung blätterte einen Tag zurück und fuhr mit dem Finger die Seite entlang.

»Hier: Ravani, 20 Uhr, zwei Personen. Er bekam den Tisch Nummer fünf. Das ist nicht mein Sektor.«

»Wer kann mir mehr erzählen?«

Sie winkte den Sommelier herbei.

Der bestätigte, dass Oscar hier gewesen war.

Ein südländisch wirkender Herr, auf den die Beschreibung passte, hatte am Ecktisch Nummer fünf gesessen. Der Sommelier konnte sogar den Namen des Chablis nennen, den der Gast zu seinem Steinbutt getrunken hatte.

Zunächst hatte er nur Wasser bestellt. Wartete geschätzte dreißig Minuten lang. Erst dann begann er, in der Karte zu blättern. Behielt auch während des Essens den Eingangsbereich im Blick, aber niemand gesellte sich im Lauf des Abends zu ihm.

Seine Verabredung hat ihn versetzt, schlussfolgerte Melia.

Um Mitternacht saß sie mit Zeinab und Onkel Bashir in der Küche ihrer Mutter. Sie öffneten eine Flasche Winzersekt von der Nahe und stießen auf Zeinabs Sechzigsten an. Melia küsste sie auf beide Wangen und gab ihr einen Umschlag, der einen Hotelprospekt enthielt – die Einladung für einen gemeinsamen Wellnessaufenthalt in der Eifel.

Bashir überreichte den schweren Katalog mit Hochglanzabbildungen der wichtigsten Werke Brigitte Veihs aus den letzten zehn Jahren. Zeinab freute sich über die persönliche Widmung der Künstlerin. Melia sah ihr an, dass sie ratlos war, wo sie das großformatige Buch aufbewahren sollte. Voller Stolz zeigte Bashir ihnen im Katalog die Collage, die er erworben hatte.

Sie zeigte eine Frau, die aus einem Haus sprang. Ein sehr düsteres Motiv. Melia erinnerte sich, dass es im letzten Jahr an zahlreichen Orten der Stadt plakatiert worden war. Die Aktion hatte für Aufsehen gesorgt und die Auseinandersetzung um Mietwucher und Wohnungsnot angeheizt. Bashir musste ein kleines Vermögen für das Bild bezahlt haben.

Melia blieb nicht lange. Von ihrem Onkel verabschiedete sie sich mit einer innigen Umarmung. Wer wusste schon, wann sie sich wiedersehen würden.

Auf dem Heimweg grübelte Melia über Oscar Ravani nach. So verschlossen und misstrauisch – womit hielt er hinter dem Berg?

Zu Hause nahm sie sich die Berichte vor, die ihr der Dienstgruppenleiter der Altstadtwache kopiert hatte. Melia verglich sie mit dem Protokoll, das sie selbst nach ihrem Gespräch in der Klinik angefertigt hatte. Oft setzten sich erst mehrere Aussagen zu einem klaren Bild zusammen. Aber hier verhielt es sich umgekehrt.

Der Geschäftsmann aus Hamburg, der das Interconti als seine Düsseldorfer Adresse angegeben hatte, war sicher gewesen, eine rassistische Beschimpfung gehört zu haben. Doch das hatte Oscar verneint.

Warum?

Die vier übrigen Zeugen waren auf den Verletzten gestoßen, als sie gemeinsam ein Steakhaus verließen. Zwei junge Pärchen, zum Teil Arbeitskollegen bei der Rheinbahn. Übereinstimmend sprachen sie von nur einem Unbekannten, der davongelaufen war.

Was ebenfalls Oscars Aussage widersprach.

Es gab keine brauchbare Täterbeschreibung.

Vielleicht haben meine Kollegen auch nur schlampig gearbeitet, dachte Melia. Hatten dem Fall keine Erfolgsaussichten eingeräumt und nicht mehr als das Allernötigste getan.

Kein Grund, eine Verschwörung zu wittern, nur weil Oscar das tat.

Aber ich werde den Überfall weiter untersuchen lassen.

Und beim nächsten Besuch werde ich den Journalisten an unsere gemeinsame Vergangenheit erinnern.

MONTAG

05

Singapur

NACHDEM SICH DIE BÜROTÜR hinter seiner Kollegin Angelina geschlossen hatte und er wieder allein war, atmete Robin Chan tief durch und trat an die Fensterfront. Sein Blick ging aus dem vierzehnten Stockwerk auf das Fragrance Empire Building und die Bucht bis hinüber zu Sentosa Island. Das Hochhaus, in dem er sich befand, gehörte zu dem Komplex Mapleleaf Business City II, der erst vor wenigen Jahren fertiggestellt worden war. Eine feine Adresse für Worldcard Singapore Pte Ltd.

Robin erinnerte sich daran, wie stolz er sich gefühlt hatte, als ihn vor einem halben Jahr ein Headhunter ansprach und er bei dem deutschen Finanzkonzern als Jurist anheuerte. Zu dem Zeitpunkt fand er, dass er perfekt in ein Unternehmen aus dem Land des Fleißes, des Pflichtbewusstseins und der korrekten Organisation passte – Eigenschaften, die auch Robin sich zuschrieb.

An die Aussicht von hier oben gewöhnte man sich. Das Gehalt war ordentlich, aber er hatte auch eine Familie zu ernähren. Und was die Arbeit anbelangte, war sein Vertrauen in die Eigenschaften des deutschen Arbeitgebers in den letzten Minuten gedämpft worden.

Robin kopierte die Daten des USB-Sticks, den Angelina ihm dagelassen hatte, auf seine Festplatte. Dann griff er zum Telefon und rief Rahul an. Es war Zeit fürs Mittagessen. Und dafür, einen Rat einzuholen.

Rahul Kumar war Jurist wie er, ehemaliger Staatsanwalt und bei der Schwestergesellschaft Worldcard Asia für Compliance zuständig, also die Einhaltung der Gesetze und der guten Sitten.

Rahul meldete sich sofort.

»Mittagessen?«, fragte Robin.

»Gern.«

»Kaisen Ichi?«

»Perfekt.«

Das japanische Restaurant lag im benachbarten Businesskomplex. Robin erinnerte sich, dass sich an dieser Stelle einmal ein riesiges Einkaufszentrum erstreckt hatte. Die Betonfläche hatte man aufgebrochen und zwischen die neuen Häuser eine tropische Gartenanlage gesetzt. Robin liebte das Grün vor der Glasfassade, aber heute beruhigte es ihn nicht.

Er stocherte ohne großen Appetit in seinem Essen herum, einer Bowl mit Sashimi von verschiedenen Fischen mit Lachskaviar auf Sushi-Reis.

»Was hältst du von Pratama Setjawan?«, fragte er Rahul, der seine Udon-Nudeln schlürfte.

»Er stammt aus Indonesien und ist schon ewig lange bei uns. Als Finanzchef von Worldcard Asia ist er die rechte Hand von Marek Weiß, zumindest was unseren Kontinent anbelangt. Warum fragst du?«

»Eine Mitarbeiterin von ihm hat sich mir anvertraut. Pratama hat mehrfach Rechnungen umdatiert. Und er manipuliert die Umsätze. Da werden Firmen erfunden und Geldströme, die es gar nicht gibt.«

»Glaubst du ihr?«

Robin blickte sich um, dann schob er den Stick zu Rahul hinüber. »Schau dir das an, dann glaubst du ihr auch.«

»Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe.«

»Warum tut Pratama so etwas?«

»Je besser seine Zahlen, desto mehr Lob und Provision fährt er ein.«

»Und wenn große Beträge bei einer Firma verschwinden, die es nicht gibt?«

»Willst du damit sagen, unser Finanzchef veruntreut Gelder?«

Robin zuckte mit den Schultern. »Was soll ich bloß tun? Ich bin hier nur ein kleines Rad. Pratama macht mich fertig, wenn ich ihn zur Rede stelle. Er wird eine Ausrede erfinden und mich als Lügner darstellen.«

»Kennst du das CAD?«

»Natürlich.«

Robin hatte befürchtet, dass das Gespräch auf das Commercial Affairs Department kommen würde. Dabei handelte es sich um eine der mächtigsten Abteilungen der Singapurer Polizei, und sie kannte kein Pardon. In einem Staat, der Sauberkeit ganz groß schrieb und seinen Bürgern bereits hohe Geldstrafen auferlegte, wenn sie auf einer öffentlichen Toilette vergaßen, die Wasserspülung zu betätigen, wurden Wirtschaftsdelikte besonders drastisch geahndet.

»Wenn es stimmt, was du sagst, Robin, dann macht sich nicht nur Pratama strafbar. Sondern auch jeder, der davon weiß.«

»Soll ich Pratama Setjawan anzeigen?«

»Nein. Wir müssen verhindern, dass uns das CAD die Büros auf den Kopf stellt. Aber wir sollten der Zentrale in Deutschland Bescheid geben. Kennst du Paulina Jovic?«

Robin nickte. Er hatte sie getroffen, als er in Moosbruck gewesen war. Seines Wissens war Paulina die stellvertretende Leiterin der dortigen Rechtsabteilung.

»Wir prüfen die Daten gemeinsam mit ihr«, schlug Rahul vor und widmete sich wieder seinen Nudeln.

06

Düsseldorf

VINCENT LIEBTE ES, SICHZuM Wochenstart ein frisch gebackenes Roggenbrot zu kaufen. Der kleine Laden unweit seiner Haustür bezog es von einer der besten Bäckereien der Stadt. Dunkle Kruste, im Inneren fast saftig – seine momentane Lieblingssorte.

»Und eine Morgenpost, bitte.«

Sein Smartphone tutete kurz.

Vincent legte einen Geldschein auf den Tresen. Während die Verkäuferin die Zeitung und das Kleingeld herausgab, blickte er aufs Display.

Melia, seine unmittelbare Vorgesetzte.

Sie hatte ihm per WhatsApp getextet. In ihrem typischen Stil. Bloß kein Wort zu viel.

Gefährliche Körperverletzung an einem Briten Oscar Ravani. Bitte Bericht bis zum Nachmittag.

Das Brot war fast ofenwarm. Vincent steckte die Münzen in die Hosentasche. Noch nicht mal sieben Uhr. Zeit genug, um rasch noch den Sportteil durchzublättern, bevor er in die Festung fuhr.

Was es mit dem Typen von der Insel auf sich hatte, würde Vincent noch früh genug herausfinden.

Als er den Treppenabsatz vor seiner Wohnungstür erreichte, fiel sein Blick auf die neue Nachbarin, die zwei Meter weiter auf ihrer Fußmatte kniete und hektisch auf ihrem Handy tippte.

»Haben Sie sich ausgesperrt?«

Die Frau sah auf. »Morgen, Herr Veih.« Hochroter Kopf, strähniges Haar, Sportklamotten. Vincent schätzte sie auf Anfang dreißig.

»Wen rufen Sie an?«, fragte er.

»Na, den Schlüsseldienst!«

»Welchen?«

Sie hob ihr Handy hoch und schien sich über seine Frage zu wundern. »Den ersten, den ich im Netz finden konnte.«

»Der Name beginnt mit AAA, der Mechaniker kommt vom Ende der Stadt, und allein für die Anfahrt werden fünfhundert Euro fällig.«

»Sind diese Leute echt so schlimm?«

»Haben Sie drinnen einen Ersatzschlüssel?«

Sie nickte.

Vincent fiel auf, dass ihre Tür über drei Schlösser verfügte. Neben dem normalen gab es nicht bloß einen Querriegel, wie es in diesem Haus üblich war, sondern noch einen zweiten auf Brusthöhe.

»Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Steht dort vielleicht etwas offen? Fenster, Terrassentür?«

Sie schlug die Hand vor den Mund. »Ich hab gelüftet. Womöglich hab ich vergessen …«

»Das passt doch. Dann kommen Sie mal rein, Frau …«

Er öffnete seine Tür und hielt sie auf.

Ihm fiel der Name ein. Hier oben hatte sie kein Schild angebracht, aber unten an der Klingel stand A. Tobler. Sie war schlank und groß, wenn auch einen Kopf kleiner als er. Enganliegende Funktionskleidung in Violett und Grau. Auf ihrer Stirn ein Film aus Schweiß.

»Waren Sie laufen, Frau Tobler?«, fragte er.

»Mhm.«

»Muss ich auch mal wieder machen.«

In seinem Wohnzimmer blieb die Nachbarin vor dem großen gerahmten Schwarz-Weiß-Foto stehen, das die Wand über dem Sofa dominierte. Vincent liebte es aus mehreren Gründen. Es zeigte das Gesicht einer Frau, mittelalt, breite Wangenknochen, unfrisiert und ungeschminkt. Lebenslänglich wegen Mordes inhaftiert, wie Vincent wusste. Im harten Licht der Fotografin zeichnete sich jede einzelne Falte ab.

Der Blick der Frau schlug jeden Betrachter in seinen Bann.

»Wow!«, sagte die Nachbarin. »Wie viel ist das wert?«

»Keine Ahnung.«

»Ich habe drüben ein Buch über die Künstlerin. Darin wird genau dieses Bild besprochen. Die Serie war ihr Durchbruch, stimmt’s?«

Sieh an, eine Kennerin, dachte Vincent.

Mit großen Augen fragte sie: »Ist Brigitte Veih etwa …«

Er nickte. »Meine Mutter.«

Frau Tobler runzelte die Stirn. »Und Sie arbeiten tatsächlich bei der Polizei?«

So reagierten alle, mit denen er über seine Mutter sprach.

Er öffnete die Terrassentür. Die Nachbarin folgte ihm hinaus. Er wies auf die dünne Trennwand, hinter der ihr Teil der Dachterrasse lag. Sie trat an die Brüstung und blickte vier Stockwerke tief nach unten.

»Da passiert nichts«, sagte Vincent.

Sie hielt sich an der Abtrennung fest und stieg auf die breite Brüstung. Er wollte sie stützen, doch sie war bereits einen Schritt weiter und ließ sich auf ihrer Seite hinab.

Von dort aus lugte sie noch einmal um die Trennwand und streckte die Hand aus. »Antonia.«

Er ergriff sie. »Vincent.«

»Hab vielen Dank, Vincent.«

»War mir ein Vergnügen, Antonia. Schöner Name.«

»Kaffee?«

»An sich gern, aber ich muss jetzt zum Dienst. Ein andermal gern.«

Sie fuhr sich durchs Haar.

»Alles klar?«, fragte Vincent. »Kommst du in deine Wohnung?«

Sie nickte.

Er begriff. »Soll ich für dich nachsehen, ob alles safe ist?«

»Nicht nötig.« Sie lächelte, wirkte aber dennoch angespannt. »Sorry, dass ich so ein Nervenbündel bin. Die neue Nachbarin macht sicher einen fürchterlichen Eindruck auf dich.«

»Ganz und gar nicht.«

Sie verzog das Gesicht, als glaube sie ihm nicht.

Er ging in seine Wohnung zurück und griff nach Jacke und Tasche. Höchste Zeit, zum Dienst aufzubrechen. Der Sportteil der Zeitung musste bis zum Abend warten.

Als Vincent seine Tür zuzog, klirrte nebenan die Kette einer zusätzlichen Absicherung, die man von außen nicht sah. Offenbar vertraute Antonia Tobler den beiden Querriegeln nicht allein. Und sicher hatte sie rasch auch alle Fenster geschlossen.

Auf dem Weg nach unten spielte Vincents Handy den Klingelton, Gimme Shelter von den Stones.

Anna Winkler, seine Stellvertreterin.

»Morgen, Vinnie«, grüßte sie. »Die Kollegen der Polizeiinspektion Nord melden gerade eine Leiche. Weiblich, Spuren von Gewaltanwendung, teilweise entkleidet, heißt es.«

»Kannst du das übernehmen?«

Neben Anna fungierte auch Bruno Wegmann als MK-Leiter, doch der war diese Woche auf einer Fortbildung.

»Yep«, antwortete sie.

»Wo liegt die Tote?«

Anna gab die Adresse durch und fügte hinzu: »Das dachte ich mir schon, dass du dir den Anblick nicht entgehen lassen willst.«

»Wir treffen uns vor Ort«, erwiderte Vincent und stieg in seinen Wagen.

07

NuR HuNDERT METER WEITER, dachte Vincent, und wir hätten mit dem Fall nichts zu schaffen. Spätestens am Fuß des Hügels, jenseits des Bachlaufs, wäre er Sache der Kreispolizei Mettmann.

Vincent hatte den Stadtteil Knittkuhl im Nordosten Düsseldorfs durchquert. Eine Wohnsiedlung aus den Sechzigern und ein paar Höfe, umgeben von Feldern und Wald in den Ausläufern des Bergischen Landes. Die schmale Straße, die Anna ihm genannt hatte, führte direkt hinaus in die Pampa.

Schon von Weitem erkannte Vincent einen Streifenwagen sowie den Transporter der Spurensicherung bei einer Gruppe von Bäumen. Anna war noch nicht da.

Um Platz für weitere Fahrzeuge zu lassen, die noch kommen würden, steuerte Vincent seinen Wagen ins Gras und ging zu Fuß weiter. Gleich dahinter ging das Sträßchen in einen Feldweg über. Hier wachte ein Uniformierter, den Vincent nicht kannte.

Er zeigte ihm die Marke.

Der Mann nickte und brummte einen Gruß.

Dann zweigte im spitzen Winkel ein weiterer Weg ab, beschrieb eine Kurve und führte in das Bachtal hinab. Irgendwo dort kreuzte er die Stadtgrenze zu Ratingen. Die Gabelung rahmte ein kleines Wäldchen ein – mehr als nur ein paar Bäume, erkannte Vincent jetzt. Ein Stückchen Wildnis. Hohes Gras, dornige Ranken, dichtes Gestrüpp.

Drei Kollegen in weißen Overalls waren weiter drinnen beschäftigt. Ein Generator sprang an. Ein Scheinwerfer flammte auf.

Ein zweiter Uniformierter, Bauch und Vollbart, näherte sich.

Vincent stellte sich zum zweiten Mal vor.

»Ihr wart die ersten hier?«, fragte er.

Der Bärtige nickte. »Schreckliche Sache, ein junges Ding.«

»Wann kam der Anruf?«

»Knappe Stunde.«

»Wen habt ihr als Zeugen?«

»Nur den Tünnes, der sie gefunden hat. War hier mit seinen Hunden unterwegs. Wir haben ihn nach Hause geschickt.« Er deutete zur Siedlung hinüber. »Hat versprochen, sich bereitzuhalten.«

Ein Auto rumpelte heran, und Vincent dachte an Anna. Doch es war nicht ihr Wagen, sondern ein Golf, älteres Baujahr, fast schon historisch. Gretel Schwab stieg aus, eine Ärztin des rechtsmedizinischen Instituts der Uni Düsseldorf. Vincent ging ihr entgegen und begrüßte sie mit Handschlag.

Aus dem Transporter holte er Overalls für sich und Dr. Schwab. Dann sprach er einen der Weißkittel an.

»Wie kommen wir zur Leiche, ohne allzu viel kaputtzumachen?«

»Am liebsten gar nicht.«

Der Mann legte Flatterband aus, um einen Pfad zu markieren. Ihn zu verlassen war ab jetzt tabu für jeden, der nicht zur Spurensicherung gehörte. Auch Vincent hielt sich daran. Die Ärztin folgte ihm. Nach rund zwanzig Metern standen sie im Lichtkreis des Scheinwerfers.

Die Tote lag bäuchlings auf Moos, Gras und Steinen. Die Hose hatte man ihr bis über die Knie herabgezogen. Ihr blasser Po leuchtete.

Das Gesicht lag in einer schwarzen Lache, die längst getrocknet war. Vincent fiel immer mehr Blut auf. Es färbte den Boden dunkel und war bis in die Farne gespritzt, die etliche Meter entfernt im Schatten der Bäume wuchsen. Vincent näherte sich vorsichtig dem Leichnam und ging in die Hocke.

Er sah einen tiefen Schnitt durch ihre Kehle – die Ursache des Blutbads.

Maden, Käfer und dicke, grüne Fliegen.

Eine Kollegin der Kriminaltechnik suchte mit einer kleinen Bürste das Haar der Toten nach Spuren ab. Hautschuppen, die vielleicht nicht ihre waren, fremde Haare. Ein zweiter Techniker klebte die Kleidung mit Folienstreifen ab. Auch Gretel Schwab stellte ihren Koffer dazu und machte sich an die Arbeit.

Vincent wandte sich ab. Er hatte genug gesehen und würde nur stören. Ein weiterer Weißkittel sprach ihn an, und Vincent erkannte Fabri, was ihn mit Trost erfüllte. Es tat gut, den Chef der Kriminaltechnik an diesem Ort zu wissen.

»Es ist hier geschehen«, sagte Vincent.

Fabri nickte.

»Siehst du die abgeknickten Zweige dort drüben?«, fuhr Vincent fort. »Den zerkratzten Untergrund? Der Täter hat die Frau durch die Büsche bis an diese Stelle geschleift. Habt ihr schon den Feldweg auf der anderen Seite wegen möglicher Fahrspuren gecheckt?«

»Wir sind auch erst seit ein paar Minuten da, Vincent. Sag mal, seit wann machst du diesen Job?«

Er wusste, was kommen würde. Trotzdem antwortete er: »Als Sachbearbeiter Mord fast zwanzig Jahre. Als Dienststellenleiter sind es acht.«

»Aber ungeduldig wie am ersten Tag. Ich fürchte, du änderst dich nie.«

Endlich traf Anna ein. Mit ihr stieg auch Hamid Belhanda aus. Die beiden hatten sich bei der Fahrbereitschaft einen zivil lackierten BMW besorgt.

»Wen haben wir noch im Team?«, fragte Vincent zur Begrüßung.

»Dominik und Kim«, antwortete seine Stellvertreterin. »Felix übernimmt wie immer die Aktenführung. Erhan und Gisa können den Kram auf Eis legen, an dem sie gerade arbeiten, also sind wir sieben. Der Rest ist aufgabenmäßig gebunden, in Urlaub oder auf Fortbildung.«

Vincent nahm sich vor, Melia um Verstärkung zu bitten.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Anna.