Die Suche nach der Vorherbestimmung oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik - Boris Strugatzki - E-Book

Die Suche nach der Vorherbestimmung oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik E-Book

Boris Strugatzki

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Beschreibung

Boris Strugatzki hat einen Roman voller Ironie und unheimlicher Ideen geschaffen. Dieses Meisterwerk der neueren russischen Phantastik ist ein Ereignis, nicht nur für die große Gemeinde der Strugatzki-Fans.

Stanislaw Krasnogorow, Programmierer künstlicher Intelligenz und Amateurschriftsteller, ahnt, dass in seinem Leben nicht alles mit rechten Dingen zugeht: Ganze 23 Mal hat Stanislaw, genannt Stak, am Rande des Abgrunds gestanden – und entkam jedes Mal dem Tod um Haaresbreite. Zufall? Oder Schicksal? Und wenn er nicht zufällig überlebt hat, muss es dann nicht eine Bestimmung geben, für die er gerettet und aufgespart wird? Auch der KGB wird auf die seltsamen Vorfälle aufmerksam und bringt sie mit einer Reihe ungeklärter Todesfälle in Zusammenhang. Doch niemand hat mit der Entschlossenheit gerechnet, mit der Stak plötzlich seine außergewöhnliche »Gabe« für sich nutzt und eine Zukunft inszeniert, die sich von unserer Gegenwart mehr als grundlegend unterscheidet …

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Boris Strugatzki

Die Suche nach der Vorherbestimmung

oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik

Roman

Aus dem Russischen von Erik Simon

Suhrkamp

Meinen lieben Freunden, mit denen ich mich heute – öfter oder seltener, aber immerhin – treffe, und denen von ihnen, die ich nun vielleicht niemals mehr treffen werde.

Evolution kann nicht gerecht sein.

Friedrich August von Hayek: Die verhängnisvolle Anmaßung

Stanislaw Krasnogorow, Programmierer künstlicher Intelligenz und Amateurschriftsteller, ahnt, dass in seinem Leben nicht alles mit rechten Dingen zugeht: Ganze 23 Mal hat Stanislaw, genannt Stak, am Rande des Abgrunds gestanden – und entkam jedes Mal dem Tod um Haaresbreite. Zufall? Oder Schicksal? Und wenn er nicht zufällig überlebt hat, muss es dann nicht eine Bestimmung geben, für die er gerettet und aufgespart wird? Auch der KGB wird auf die seltsamen Vorfälle aufmerksam und bringt sie mit einer Reihe ungeklärter Todesfälle in Zusammenhang. Doch niemand hat mit der Entschlossenheit gerechnet, mit der Stak plötzlich seine außergewöhnliche »Gabe« für sich nutzt und eine Zukunft inszeniert, die sich von unserer Gegenwart mehr als grundlegend unterscheidet …

Boris Strugatzki (1933–2012) zählt zusammen mit seinem Bruder Arkadi (1925–1991) zu den erfolgreichsten russischen Autoren der modernen Science-Fiction und Phantastik, ihre Bücher sind in über 30 Sprachen übersetzt. Viele ihrer Romane wurden verfilmt – unvergesslich Picknick am Wegesrand (st 670) unter dem Titel Stalker von Andrei Tarkowski. Die Suche nach der Vorherbestimmung schrieb Boris Strugatzki nach dem Tod seines Bruders.

Aus dem Russischen von Erik Simon

Ein Wort des Autors

Ausnahmslos alle Helden dieses Buches haben mehrere Vorbilder. Die Züge dieser Vorbilder sind in jedem Helden in ziemlich willkürlichem Verhältnis vermengt. Dasselbe kann man von den krassesten im Buche geschilderten Situationen sagen. Obwohl vieles, sogar sehr vieles hier ohne größere Umstände von der Wirklichkeit abgekupfert wurde, hat es darum keinen Sinn, Fragen der Art »Wer ist wer, was ist was, wo und wann genau?« zu stellen.

Der überwiegende Teil der im Buche zitierten »Maschinen-Aphorismen« ist dem Sammelband Computerspiele (Leningrad: Lenisdat, 1988) entnommen. Der Autor nutzt die Gelegenheit, dem Schöpfer der entsprechenden Computerprogramme, D. M. Ljubitsch, seinen Dank und seine Hochachtung auszusprechen.

Erster Teil

Der Glückliche Junge

1

»Plötzlich kommt der Augenblick, wo du das Bedürfnis empfindest, ein Resümee zu ziehen«, sagte Stanislaw daraufhin. »Und das muss dir durchaus nicht erst auf deine alten Tage passieren ...« Er hatte einen Anfall von Tiefsinn. »Und es braucht nicht unbedingt einen besonderen Grund dafür zu geben! Das geht so: Jemand in dir, der für gewöhnlich mit seinen eigenen Angelegenheiten befasst ist, blickt plötzlich von diesen Angelegenheiten auf und spricht nachdenklich: ›Tja, mein Herr, für uns scheint es an der Zeit zu sein, ein Resümee zu ziehen ...‹«

Vikont hörte sich die Rede wohlwollend an, klopfte mit der Pfeife auf den Tisch und äußerte: »Gekauft. Schreib’s auf ...« Aber Stanislaw dachte natürlich nicht daran, etwas aufzuschreiben – er lauschte seiner inneren Empfindung, und er begriff schon, dass das ein Vorzeichen war. Das Gefühl verflüchtigte sich allmählich, verlor die Schärfe ... die Bestimmtheit ... die ursprüngliche wilde Vieldeutigkeit – die klare Treffsicherheit eines glücklichen Verses ... Schließlich verstand er doch nicht, welches Resümee zu ziehen es ihn plötzlich gedrängt hatte.

Das geschah im Jahre neunzehnhundertsiebzig, im Frühling, an dem Tag, als Stanislaw siebenunddreißig wurde. Genauer, am Abend dieses Tages, und noch genauer – nachts, als die Gäste schon gegangen waren; die Mutti hatte begonnen, das Geschirr wegzuräumen, und Stanislaw war mit seinem Freund Viktor Kikonin (genannt Vikont) an die frische Luft gegangen, und an der frischen Luft hatten sie beschlossen, noch ein bisschen beisammenzusitzen – nun bei Vikont.

Es gab eine Flasche rosigen »Vin de mas«, es gab starken Kaffee mit Pflaumenkonfitüre, die Gitarre klimperte leise, und die beiden Schöpfer, die beiden wahren Dichter, Busenfreunde, fast Brüder, hoben sacht und mit Gefühl an:

Am Steuerrad die Hand erstarrt,

Der Mast im Nebelgrau zerrinnt,

Schwer liegt’s dem Seemann auf der Seele,

Voraus nur Finsternis und Wind ...

(Worte vom Autorenkollektiv Krasnogorow & Kikonin, Melodie – dito.) Aus irgendeinem Grunde kam es Stanislaw in den Sinn, dass er mehrmals am Ertrinken gewesen war. Genaugenommen dreimal. Das erste Mal schon als ganz kleiner Junge, noch vor dem Krieg, in einem Teich des Waldparks. Mutti hatte am Ufer gesessen und sich mit Tante Lida unterhalten, und der kleine Slawa hatte zunächst am Rande geplanscht, dann aber beschlossen, weiter ins Wasser zu gehen. Anfangs hatte er festen Grund unter den Füßen, dann kam eine dünne und ekelhafte Schlammschicht, dann eine Art Ziegelschutt, und dann nichts mehr. Schwimmen konnte Slawa nicht. Vor Angst riss er die Augen auf, er sah über sich trüben Lichtschein, vor sich wogende Finsternis und begann krampfhaft zu zappeln, wusste schon, dass er verloren war. Und plötzlich tauchte unter den Füßen wieder fester Grund mit einer dünnen Schlammschicht auf. Rasch ging er ans Ufer und setzte sich neben die Mutti auf die ausgebreitete Decke. Niemand hatte etwas gemerkt. Und nichts ringsum hatte sich verändert. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, er sei in Wahrheit schon ertrunken, auf der Decke aber sitze statt seiner jemand anders, und niemand bemerke diesen wichtigen Umstand. Und genau in diesem (und nur diesem einen) Augenblick erschrak er richtig.

Der zweite Fall war viel interessanter. Es war eine ziemlich sonderbare Geschichte. Schon während des Krieges – sie waren aus Leningrad evakuiert worden und lebten in dem kleinen Dorf Kischla in der Tschkalower Oblast – hatte Slawa mit Dorfkindern eine Bootsfahrt unternommen. Sie waren zu fünft ins Boot geklettert, hatten die Ruder hervorgeholt, und plötzlich begann Tolka Brunow mit schrecklicher Stimme zu brüllen und wurde kreideweiß. Schon das war an sich so entsetzlich, dass einem der Atem stockte, und da sah Stanislaw noch, warum Tolka brüllte: Auf dem Bug, inmitten irgendwelcher alter Lappen, saß eine ungeheuerliche, riesige Spinne, grün mit roten Punkten und faustgroß. Slawa konnte sich später nie erinnern, wie er ins Wasser geraten war. Alle fünf fanden sich im Wasser wieder, und nur durch ein Wunder kippte das Boot nicht um. Slawa hatte damals schon schwimmen gelernt, er tauchte auf und wollte gerade aus Leibeskräften zum nahen Ufer starten, als er entdeckte, dass auf dem Wasser direkt vor seinem Gesicht, die grünen Beine nach allen Seiten ausgestreckt, ebendie Spinne schaukelte und ihn aus blutroten Ansammlungen von Augen anschaute, von denen sie eine Million hatte. Und da klinkte sich Slawas Bewusstsein aus. Weiter erinnerte er sich an nichts. Die Kinder erzählten ihm später, dass er reglos an der Oberfläche schwamm, sodass der Hinterkopf aus dem Wasser ragte, und völlig weggetreten war. Sie zogen ihn rasch ans Ufer und pumpten das Wasser aus ihm raus. Die Spinne hatte niemand mehr zu Gesicht bekommen. Viel später dann, schon wieder in Leningrad, schon erwachsen, hatte Slawa eine Menge Bestimmungsbücher für Gliederfüßler gewälzt und sogar im Zoologischen Museum nachgefragt, doch alles vergebens – wie sich zeigte, war der Wissenschaft diese sonderbare und schreckliche Spinne unbekannt. Sie kam in der Natur nicht vor, zumindest nicht in den russischen Breiten ...

Und was das dritte Ertrinken betraf ... die Ertränknis ... das »katastrophische Untertauchen in Wasser ohne anschließendes Verlassen desselben« – beim dritten erinnerte sich Stanislaw nur ungern an irgendwelche Einzelheiten, und erzählen mochte er davon schon gar nicht. Damals war ein ganzer Trupp ins Wasser gefallen – sechs Burschen, vier Mädchen: Sie waren ins Eis des Ladogasees eingebrochen, in voller Montur, mit ihren monströsen Rucksäcken, mit den Zelten ... Ein Mädchen war ertrunken, doch Stanislaw hatte sich gerettet. Er hätte sich nicht retten dürfen, wenn es ehrlich zugegangen wäre, doch er hatte sich gerettet ...

So hatte die Zählung begonnen. Im Grunde aufs Geratewohl. Ganz zufällig.

Er erzählte Vikont von allen drei Fällen, und Vikont gestand (mit gewissem Bedauern), dass er selbst niemals am Ertrinken gewesen sei. Von dem Fall in der Kindheit abgesehen, als der Zünder hochgegangen war, hatte er überhaupt niemals sein Leben einer Gefahr ausgesetzt. Stanislaw wunderte sich. Ihm kamen auf Anhieb drei, sogar vier weitere Fälle in den Sinn, wo er um Haaresbreite dem Tode entronnen war. Nichts einfacher als das – dem Tod um Haaresbreite nahezukommen. Er glaubte Vikont nicht. Er kam zu dem Schluss, dass Vikont wie gewohnt etwas verschleierte. Vikont war ein Geheimniskrämer, Geheimniskrämer vulgaris.

Er arbeitete in einem »Kasten«, und es war völlig unklar, was er dort trieb. »Ach, allen möglichen Kram ...«, gab er für gewöhnlich zur Antwort, wenn man ihn danach fragte, und verzog dabei angewidert sein langes, bleiches Gesichtchen – er log. Es war anzunehmen, dass er sich durchaus nicht mit Kram befasste. In den letzten zehn Jahren hatte er es schon auf rund hundert Auslandsreisen gebracht. Wobei er immerzu in irgendwelche ausgefallenen Länder flog, wohin normale Sowjetmenschen niemals reisen: Brasilien, Lesotho, Guayana ... Aus irgendeinem Grunde in den Iran. Was zum Teufel hatte ein Sowjetmensch, der das Vierte Medizinische Institut absolviert hatte, im Iran zu suchen?

Eine halbwegs vernünftige Antwort war von Vikont nicht zu kriegen. Von seiner Arbeit pflegte er niemals das Geringste zu erzählen. Niemandem. Und es gab auch niemanden, dem er davon hätte erzählen können. Er hatte keine Freunde, ausgenommen Stanislaw.

Wenn sich bei Stanislaw die übliche Gesellschaft traf, fing Vikont (freilich selten) aus heiterem Himmel an, von anderen Ländern zu erzählen. Als Erzähler hatte er kaum seinesgleichen. Alle verstummten, wenn es über ihn kam, und lauschten mit angehaltenem Atem, voller Angst, er könnte stutzen und ebenso unvermittelt und grundlos aufhören, wie er begonnen hatte.

Er begann immer in der Mitte, von einem unverständlichen Punkt aus, den er anscheinend für den springenden hielt.

»... ein weißer Gürtel um den Berg ...«, begann er zum Beispiel. »Weiße Bäume – genauer, die weißen Skelette von Bäumen in einem widerlichen giftigen Nebel. Als stünde man nicht auf einem Berg, sondern auf einem gottverlassenen ausdünstenden Friedhof ... keinem Menschenfriedhof ... Und im Nebel stachlige, scharfblättrige Gewächse, die dort ›Christi Dornenkrone‹ heißen ... Und riesige Spinnen, die ihre Netze zwischen den Gewächsen gewoben haben ... Der Erdboden ist überhaupt nicht zu sehen – nur dichtes hässliches Moos und Senken voll schwarzen Wassers, und auf jedem weißlichen Stamm ekelhafte, glitschige, vielfarbige Pilze ...«

Sein schmales Gesicht wurde grau wie von unerträglichem inneren Schmerz, die Stimme versagte ihm – die Erinnerung quälte ihn wie eine Krankheit. Diese Erzählungen, und nicht einmal sie selbst, sondern die Art und Weise, wie er erzählte, machten auf die Zuhörer einen frappanten Eindruck. Und auf Stanislaw natürlich auch. Vikont erschien ihm in diesen Minuten als Übermensch oder als Mensch aus der Hölle, oder gar als Wechselbalg – in diesen Minuten erkannte er ihn nicht wieder ... Und dann fand er plötzlich eine von Vikonts Erzählungen in einem Bändchen des Geographischen Verlages (es war wohl Cowell, »Das Herz des Waldes«). Die Übereinstimmung war fast wörtlich. Zuerst traute er seinen Augen nicht. Dann erfüllte ihn Wut. Dann Hochachtung. Und dann dachte er: Wozu zum Teufel macht er das, der dreckige Snob?

Natürlich war er ein Snob. Er war ein Snob in allen seinen Erscheinungsformen: im Gespräch, in seinen literarischen Vorlieben, im Alltag. Wenn er sich am Bierkiosk anstellte, brachte er es fertig, mit unbeschreiblichem Hochmut zu fragen: »Tja, also wer wagt es, hier zu gestehen, dass er der Letzte ist?« Auf die vom Kater zitternden, verwilderten Spritis machte das einen unauslöschlichen Eindruck ...

Auf einem niedrigen polierten Tischchen stand bei ihm daheim eine große hölzerne Schale, schwarz mit goldenen Drachen. Von der Insel Mindanao. Die Schale war voll Tabakspfeifen. Es waren an die dreißig Stück – von Nasenwärmern aus Rinde, wie sie Neger selbst angefertigt hatten, bis zu schweren aus Buchsbaumholz (?) mit einem Griff wie eine Pistole – museale, antiquarische, mit Namenszug versehene Exemplare ... Ohne hinzusehen steckte er seine linke Hand, wo die Finger fehlten, in diesen Haufen, dieses Wirrwarr, diese nach Teer stinkende luxuriöse Deponie, griff unfehlbar die gewünschte Pfeife heraus, stopfte sie mit geübten Handbewegungen, zündete sie mit einem Streichholz an und hüllte sich in honigfarbenen Rauch – das linke, blinde Auge zusammengekniffen ... Und plötzlich hob er mit leicht fistelnder Stimme an:

Du sitzt am Kamin, und es tanzen die rötlichen Lichter

Gemessen umher, dirigiert vom Dessin der Gardine,

Du schluchzt überm Reim, also liest du dem Dunkel Gedichte,

Dein Foxterrier, grau, schaut empor mit sinnierender Miene ...

Auf dem Plüschtaburett döst friedlich ein Äffchen aus Samo,

Die Bilder Watteaus überzieht’s wie mit pechschwarzem Lack,

Du sitzt am Kamin und schlingst um dich den Schal »Dimuamo«,

Die Seiten regt sachte auf deinen Knien der Stak.

»Was für ein Stak?«, erkundigte sich Stanislaw, bemüht, sich von dem Eindruck zu lösen. »Was kümmert’s dich?«, erwiderte Vikont mit majestätischem Missmut. »Na, zum Beispiel Sta-nislaw K-rasnogorow – ist das zufriedenstellend?« »Schon gut ... Und warum Samo? Es gibt kein Samo, bloß ein Somo.« »Weil DimuAmo gut klingt und DimuOmo nicht.« Da hatte er völlig recht: »Dimuamo« klang gut, und »Dimuomo« aus irgendeinem Grunde nicht ...

Als sie sich (in der fünften Klasse) kennengelernt hatten, war er ein kleiner, ungefährlicher, doch geistreicher Rowdy gewesen. Seine weiten Hosen und sein Matrosenhemd trug er damals mit dem breiten Gang eines alten Seebären. Er war ein Tunichtgut, ein Meister böser Streiche. Einmal hatten sie zusammen Pausendienst in der Klasse. Es war im Frühling fünfundvierzig. Die Klasse lärmte, trampelte und drängte sich auf dem Flur, und sie beide saßen auf einem Fensterbrett des Klassenzimmers im ersten Stock und schauten hinab. Zuerst gab es da nichts Interessantes, doch dann tauchte auf dem Fußweg direkt unterm Fenster plötzlich der Schuldirektor auf. Mit Hut. Das war nicht auszuhalten, und Vikont (damals nur Kikon oder Kikonja) spuckte sogleich auf diesen Hut, und natürlich traf er.

Alles war wie in einem schweren Albtraum. Wie in Zeitlupe blieb der Direktor stehen ... nahm sorgfältig den Hut ab ... musterte aufmerksam, was da herabhing ... und begann – unbeschreiblich, quälend, zermürbend langsam – den Kopf zu heben ...

Schlagartig waren sie vom Fensterbrett verschwunden. Wie zwei Torpedos schossen sie auf den Flur, und da schien es Stanislaw, als habe Kikon vor Angst vollends den Verstand verloren: Er sprang plötzlich von hinten an Papascha heran – den schlimmsten, gnadenlosesten und kräftigsten Rowdy der 5a  – und haute ihm in die Fresse!

Papascha war baff. Er war zwei Köpfe größer als Kikon und glotzte ihn von oben herab mit irrem Blick an; offensichtlich hatte er jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Und da haute ihm Kikon zum zweiten Mal eine runter ... Und los ging es!

»Kikonja hat Papascha auf die Schnauze gehauen!« Die Nachricht schien sich in der ganzen Schule zu verbreiten. Augenblicklich versammelte sich eine Menge begieriger Zuschauer und Anhänger. Papascha hatte inzwischen mitgekriegt, was ihm passiert war, und stürzte sich mit bösem Gebrüll auf den Frechling, wobei er mit allen seinen vier gigantischen Extremitäten gleichzeitig arbeitete ... Sodass, als schließlich der Direktor mit dem Hut und allem, was daran hing, auf dem Flur erschien, er zunächst nicht einmal beachtet wurde.

»Wer war das?«, donnerte der Direktor und hielt den Hut in die Höhe, doch niemand sah oder hörte ihn. »Aufhören!«, donnerte der Direktor, doch das war schon keine Prügelei mehr, sondern Erziehungsarbeit, eine Sonderbehandlung, und da konnte man nicht einfach so aufhören ... Und als endlich die Ordnung wiederhergestellt war und der Direktor in der eingetretenen unterwürfigen Stille seine entscheidende Frage stellte: »Wer ist der Diensthabende?!«, meldete sich Kikonja freudig: »Ich!« – mit blutender Nase, einem angeschlagenen Auge und bis zum Nabel aufgerissenen Hemd –, und sofort war klar, dass nicht er der verbrecherische Übeltäter sein konnte, dass er nicht dort war, er war hier, wer aber dort war, wusste er nicht und konnte es unmöglich wissen ...

»Wo würde ein Weiser ein Blatt verbergen? – Im Walde.« Chesterton lasen sie zwei, drei Jahre später, und damals schätzten sie ihn nicht besonders – nach Conan Doyle, Louis Boussenard und Ponson du Terrail.

Im Sommer fünfundvierzig verunglückte Kikon mit einem Zünder. Er war wieder einmal mit den Lausejungen vor die Stadt gegangen, wo auf den Schlachtfeldern noch unbeerdigte Leichen verwesten und Tausende und Abertausende Stück der vielfältigsten Waffen sinnlos verkamen. Von diesem Ausflug, seinem letzten, brachte Kikonja einen Sack voller Schätze mit, größtenteils Bündel von gelblichen Makkaroni rauchlosen Pulvers, dazu Rollen von Zündschnur, dazu eine Vielzahl von Patronen verschiedenen Kalibers für Schusswaffen aller Art ... Die Schätze versteckte er im Keller seines Hauses, in sein Zimmer nahm er nur einen schönen bunten Metallgegenstand von Bleistiftgröße mit. Und in diesem Bleistift begann er mit einem Federmesser herumzustochern, um das schöne Ding in seine Einzelteile auseinanderzuschrauben. Das Ding ging hoch.

Zum Glück war die Großmutter daheim, sie rief einen Bekannten, der Arzt in der Militärmedizinischen war, und Kikon wurde ins Krankenhaus gebracht – ganz in der Nähe, in die Militärmedizinische Akademie ... Drei Finger der linken Hand mussten amputiert werden, der kleine und der Ringfinger blieben übrig. Im linken Auge blieb für immer ein kleiner Splitter stecken – er war aus Kupfer und konnte deshalb nicht mit einem Magneten herausgeholt werden. Aus der rechten Handfläche war ein großes Stück Fleisch und Haut herausgerissen worden. Um den Verlust auszugleichen, ließen die Ärzte Kikonjas rechte Hand am Bauch festwachsen, und die so entstandene Fleischbrücke wurde jeden Tag mit glühenden Zangen bearbeitet, um sie allmählich wieder abzulösen. (Solche Operationen waren damals anscheinend in Mode. Bei Kikonja im Krankenzimmer lag ein Soldat, dem die Äskulape auf ebendiese Weise die in den Kämpfen verlorene Schönheit nachwachsen ließen: Er lief mit dem linken Arm herum, der durch eine Haut-Fleisch-Brücke mit der Stelle verbunden war, wo er früher, vor der Verwundung im Gesicht, die Nase gehabt hatte. Nach Kikonjas Worten war der Soldat in jeder anderen Beziehung ein gesunder und sogar kräftiger Kerl. Jeden halben Monat entfernte er sich regelmäßig unerlaubt aus der Klinik, zu den Weibern, dort geriet er unausweichlich betrunken in eine Schlägerei, und dabei wurde ihm unausweichlich diese Brücke zerrissen. Morgens kehrte er blutüberstömt und reumütig ins Krankenzimmer zurück, und die Ärzte begannen von vorn.)

Kikonja blieb über ein halbes Jahr im Krankenhaus, und als er wieder in der Klasse auftauchte, war er schon ein ganz anderer Mensch. In ihm kam plötzlich der Intellektuelle zum Vorschein. Es stellte sich heraus, dass er belesen war, gut Schach spielte und ziemlich fließend Deutsch und Englisch las. Es war interessant geworden, sich mit ihm zu unterhalten. Über Bücher. Über Filme. Über Briefmarken. Er war imstande, mit ausgesuchter Nonchalance über das Mato Grosso zu sprechen, über die Gran Sabana oder die geheimnisvollen Mesas, die als Vorbild für die Verlorene Welt gedient hatten. Ohne zu stocken zählte er die Namen der Urmonster auf, die in den Sümpfen des Kongo und des Ubangi lauerten: Ldau, Schipekwe, Lipata, Mokele-Mbembe, Ailali, Ba-di-gui, Ngakuola-Ngou ... Stanislaw entdeckte das alles mit einigem Staunen, und sie begannen sich regelmäßig zu treffen. Zumal sich herausstellte, dass Kikon mit Großmutter und Großvater, einem Generalleutnant des medizinischen Dienstes, Professor an der Militärmedizinischen Akademie, just gegenüber von Stanislaws Haus wohnte, sodass sie über die Straße hinweg vereinbarte Gesten austauschen und einander sogar mit Taschenlampen nach dem Morsesystem Signale geben konnten.

2

Sein Manuskript begann Stanislaw wie folgt:

»Mein Haupttheorem könnte ich sofort formulieren, doch das wäre sicherlich nicht richtig. Richtig wird es sicherlich sein, wenn sich dieses Theorem im Laufe der Lektüre als notwendige Schlussfolgerung aus dem Text ergibt, als die absolut logische und die einzig mögliche.

Der Umstand, dass ich überlebt und mein gegenwärtiges Alter von nahezu vierzig Jahren erreicht habe, ist an sich schon fast ein Wunder. (Denn was ist ein Wunder? Die Überlagerung von Ereignissen mit geringer Wahrscheinlichkeit, und weiter nichts.)

Im Jahre siebenunddreißig wurde mein Vater aus der Partei ausgeschlossen. Er kam kurz nach Mitternacht nach Hause, setzte sich an den Tisch, legte die leblosen Hände zu beiden Seiten des Tellers mit Borschtsch und saß still da – dunkel, mit toten Augen, selber tot, er atmete nicht einmal –, so kam es zumindest der Mutter vor, die ihm gegenübersaß, auf der anderen Seite des Tisches, alles schon begriffen hatte und leise weinte. Dann, es war gewiss schon zwei Uhr, schellte plötzlich kurz das Telefon. Der Vater stürzte hin. Aus dem Hörer drang eine undeutliche unbekannte Stimme : ›Sinowi. Geh sofort, wie du bist, zum Bahnhof und fahr nach Moskau. Sofort, hast du verstanden? Nimm eine Fahrkarte vom Block des Gebietskomitees ...‹ Und dann quengelnd das Freizeichen.

Eine Stunde später saß Vater schon im Zug. Nach Stalingrad kam er nie mehr zurück – er lebte bis zum Krieg in Pieter und kämpfte um seine Rehabilitation –, übrigens ganz unzweckmäßig und ohne jeden Nutzen.

Doch wie mir jetzt klar ist, sollte er in jener Nacht verhaftet werden. Und höchstwahrscheinlich erschossen. Das hieß damals: ›zehn Jahre ohne Recht auf Korrespondenz‹. Ebendies ist Anfang siebenunddreißig mit seinem Bruder Afanassi passiert: zehn Jahre ohne Recht auf Korrespondenz. Und seine Frau (seine Witwe?) wurde mit sämtlichen Kindern binnen vierundzwanzig Stunden nach Sterlitamak verbannt. Die älteren Kinder haben überlebt, doch die beiden kleinsten starben unterwegs an der Ruhr. Sonja war sechs und Wowa fünf.

Ich war damals vier. Ich war ein blutarmes, schwächliches, skrofulöses Kind. Natürlich war ich dem Tode geweiht.

Doch Vater kam davon, und deshalb blieb ich am Leben. Vorläufig. Bis zum nächsten Ereignis, wie ein Spezialist für Wahrscheinlichkeitstheorie sagen würde ...«

Sein Haupttheorem konnte ungefähr so lauten: »In den über dreißig Jahren meines Lebens habe ich so oft am Rande des Abgrunds gestanden, um Haaresbreite vom Tode entfernt, ganz nahe vor der letzten Grenze, dass jeder Versuch, die Tatsache meines Überlebens an sich durch puren Zufall zu erklären, des gesunden Menschenverstandes spottet ...«

Doch wenn er nicht zufällig überlebt hatte, dann gab es also eine Gesetzmäßigkeit, dann gab es in der Welt etwas, was ihn rettete, beschützte, aufsparte? ...

Was? Und – wofür?

Er bemühte sich redlich, sich an alle Umstände zu erinnern, die ihn bis hart an den Rand des Abgrunds geführt hatten, und er versuchte redlich zu verstehen, was ihn jedes Mal am Rande zurückgehalten hatte. Er suchte eine Gesetzmäßigkeit und fand keine. Das wurde für ihn zu einem Spiel, und dieses Spiel spielte er mehrere Tage lang voller Genugtuung mit sich selbst. Natürlich glaubte er an keine Gesetzmäßigkeit, doch nachdem er dreiundzwanzig Fälle zusammenbekommen hatte, wo er sich kurz vor dem Tode befunden hatte, dreiundzwanzig Situationen, von denen jede ihm mit einem unweigerlichen und oft schrecklichen Tode drohte, konnte er als Mathematiker nicht umhin, darin die Hand des Schicksals zu spüren ...

»Wenn Sie die Straße überqueren, blicken Sie erst nach rechts, und in der Mitte der Straße nach links.« Ob jemand, der diese einfache Regel hartnäckig befolgte, in einer Großstadt wohl lange am Leben bliebe? Manchmal kam er sich wie solch ein Mensch vor, mit dem einzigen Unterschied, dass er sich nicht bewusst war, irgendwelche Regeln zu verletzen, weder einfache noch komplizierte ... Doch was wissen wir schon von den Regeln, die zu kennen uns nicht gegeben ist und die wir vielleicht tagtäglich verletzen?

Vikont hörte sich diese Überlegungen durchaus wohlwollend an (das war natürlich nicht mehr in jener historischen Nacht, sondern eine Woche später), doch er reagierte zunächst nur mit einem Witz aus dem Repertoire der Dozenten für marxistische Philosophie: »Was ist Zufall, und was, Genossen, ist Gesetzmäßigkeit? Wenn jemand aus dem Haus tritt, und ihm fällt ein Balkon auf den Kopf, und er bleibt trotzdem am Leben – was ist das? Richtig, ein Zufall. Und wenn er am nächsten Tag wieder aus dem Haus geht, und wieder fällt ein Balkon auf ihn, und er bleibt wieder am Leben? Nein, das ist keine Gesetzmäßigkeit, Genossen, das ist eine Gewohnheit. Und wenn am dritten Tag das Gleiche passiert? Dann ist es schon eine gute Tradition ...«

Dann dachte er ein Weilchen nach, bewegte dabei lautlos seine dicken Afrikanerlippen und sagte plötzlich: »Weißt du was, mein Stak – das ist doch ein Sujet! Findest du nicht?«

Tags darauf begann Stanislaw zu schreiben.

In der Tat schrieben sie beide schon ewig hin und wieder etwas. »Bruillons«, pflegte Vikont zu sagen, der Tynjanow vergötterte. Sie hatten mehrere gemeinsame Romane und Erzählungen angefangen, für jedes Werk eine besondere Mappe angelegt, und in jeder lagen jetzt drei, vier bekritzelte Seiten. Die von ihnen verfassten – sogar fertigen! – Gedichte zählten schon nach Dutzenden. Die meisten davon waren vertont. Von den Autoren selbst.

Das war freilich alles nichts Ernstes. Als das beste Stück in Vikonts literarischem Nachlass galt ein Werk mit dem Titel »Experiment an fremdem Leben«. Es handelte sich um die authentischen Tagebuchaufzeichnungen von Beobachtungen, die der von Langeweile geplagte Schüler der neunten Klasse Viktor Kikonin, wegen einer Erkältung ins Bett gepackt, an einer seiner heimischen Schaben durchgeführt hatte (von denen es in der Wohnung von Generalleutnant Professor Kikonin dem Ältesten reichlich gab):

»12.03 Uhr – Habe das Schabenvieh in eine Büchse ohne Luftzufuhr gesetzt. Die Büchse ist ungefähr 50 Mal so groß wie die Schabe. Sehen wir, was draus wird.

13.34 Uhr – Lebt, das Mistvieh!

14.10 Uhr – Habe ihr Brotkrümel reingestreut – sie frisst.

14.55 Uhr – Habe das Mistvieh laufen lassen!«

Stanislaw erfuhr nie, was mit Vikonts Eltern geschehen war, wo sie sich befanden, ob sie noch lebten, und wenn ja, warum dann Vikont immer bei den Großeltern wohnte. Zu der Zeit, da keine Frage als taktlos gilt, interessierte es ihn nicht, und später spürte er hinter alledem ein unangenehmes Geheimnis und wagte nicht zu fragen.

Zuerst starb die Großmutter, und zum ersten Mal im Leben sah Stanislaw Vikont weinen. Zum ersten und letzten Mal.

Der Großvater machte es allein noch fünf, sechs Monate. Er war sehr berühmt – in gewissen Kreisen. Er befasste sich mit Militär-Mikrobiologie. Vikont nannte ihn einmal (offensichtlich hatte er es von einem der Erwachsenen gehört) den »Pestgeneral«. Stanislaw hielt das für eine unverdiente Kränkung, und erst viele Jahre später ahnte er, wie das eigentlich zu verstehen war.

(Vikont sagte, sein Großvater habe über zweitausend Publikationen verfasst, doch Stanislaw hatte nur eine zu lesen bekommen. Sie hatte seine Vorstellungskraft aufgewühlt, denn Professor Kikonin bewies darin eine bemerkenswert paradoxe Behauptung: Je schrecklicher und gefährlicher eine Krankheit ist, um so eher verschwindet sie vom Antlitz der Erde. So war es mit der alten Syphilis, so geschah es mit den mittelalterlichen Stämmen von Pestbakterien. Je tödlicher ein Stamm, um so sicherer bringt er seinen Wirt um – und sich selbst mit ihm. Ein tödlicher Stamm hat keine Zukunft. Es überleben nur diejenigen Krankheiten, die eine einigermaßen nennenswerte Anzahl der Erkrankten am Leben lassen. Eine Bakterie, die alle tötet, tötet auch sich selbst ... Fürwahr: Wenn du leben willst, dann lass auch die anderen leben.)

Vikonts Eltern waren weder auf dem ersten noch auf dem zweiten Begräbnis. Vikont (Student des Vierten Medizinischen Instituts im vierten Studienjahr) blieb alleiniger Besitzer der Fünf-Zimmer-Wohnung des Generals. Jetzt konnten sie die »Stimme Amerikas« zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit voll aufdrehen. Und ihre Lieder zur Gitarre grölen. Und im Suff die Gläser von Großvaters Service zerschlagen ... Und Weiber mitbringen. Doch Weiber brachten sie in diese Wohnung nie mit. Und sie nutzten nie mehr als Vikonts eigenes Zimmerchen – zweimal zwei Meter, ein Bett, ein Tisch, ein Bücherregal und ein vor Altersschwäche fortwährend auseinanderfallender teilgepolsterter Stuhl, Artikel-Nr. AZ-123/47.

Das Zeitungstischchen mit der Pfeifensammlung stand am Fußende des Betts. Vikont saß (oder lag) für gewöhnlich auf diesem Bett, Stanislaw am Tisch auf dem todkranken Stuhl. So tranken sie zusammen. So dichteten sie. So diskutierten sie. Hinter der Tür (die gewohnheitsmäßig immer geschlossen wurde) lebte die riesige leere Wohnung, von strenger Eleganz und sogar altmodischem Luxus, still ihr Schattendasein. Ein Gefäß der Vergangenheit. Ein Tempel. Eine Gruft. Vikont weigerte sich kategorisch, irgendetwas zu verändern. Nur Großvaters Sammlung alter Münzen hatte er zu sich ins Zimmer geholt und bewahrte sie im rechten Schubfach des Tisches auf, wo er sie ab und zu zur Betrachtung herausnahm.

Stanislaw empfand alle diese unpraktischen Eigenheiten als selbstverständlich. Obwohl hier kaum etwas selbstverständlich war. Wieso war Vikont eigentlich nicht aus der Wohnung gesetzt worden? Schließlich war es eine Dienstwohnung. Warum hatte man ihn nicht wenigstens in eine Einraumwohnung umgesiedelt? In eine Zweiraumwohnung? Als – schon in neuerer Zeit – der neugierige Senja Mirlin Stanislaw diese Fragen stellte, wusste er nichts Vernünftiges zu antworten, und Senja hielt ihm in seiner klassischen Manier eine Rede zu dem Thema: Nur romantische Esel wie Stanislaw suchen Rätsel, Geheimnisse, Sujets und Wunder in der Welt des Unerforschten und Unerklärlichen; dabei gibt es nichts Geheimnisvolleres, Rätselhafteres und die Phantasie Fesselnderes als die Welt der sowjetischen Gesetze und Verordnungen ... Darauf hatte Stanislaw nichts zu erwidern, doch die bürokratischen Geheimnisse des Wohnungsmieters Vikont-Kikonja wollte er auch nicht ergründen.

Recht bald wurde ihm klar, dass er in Wahrheit keinerlei literarische Erfahrung besaß. Wie sich zeigte, hatten ihre früheren Beschäftigungen absolut nichts mit richtiger literarischer Arbeit gemein gehabt.

Früher hatten sie etwas erfunden, und darum waren sie frei gewesen – das heißt, sie hatten das geglaubt –, und alles war ihnen leicht von der Hand gegangen, solange es nicht Zeit wurde, das Erfundene zu organisieren. Und sobald es so weit war, hatten sie solch einen Widerstand des Stoffes gespürt, dass sie die Arbeit sofort hingeworfen hatten: Es war schwer geworden.

Jetzt dagegen brauchte er nichts zu erfinden. Es war alles schon da. Er brauchte sich nur zu erinnern und die Erinnerungen richtig anzuordnen. Das hieß, sie organisieren. Das erwies sich als unbeschreiblich und unerklärlich schwierig. Mehrmals warf er die Arbeit hin, scheinbar endgültig. Wozu sich quälen?, fragte er sich entnervt. Wer hat etwas davon? ... Er blätterte in den vollgeschriebenen Seiten, las den fertigen Text durch – alles wirkte gestelzt, unnatürlich und stumpf. Und alles zusammen war widerwärtig wenig im Vergleich zu dem, was er noch schreiben musste.

Ein paar Absätze gab es immerhin, die er gern wieder las. Er lernte sie sogar auswendig – unwillkürlich, ganz ohne Absicht.

Doch während er die Entwürfe wieder und wieder durchsah, hatte er die heftige Empfindung, einen Sieg errungen zu haben. Etwas presste ihm plötzlich die Kehle zusammen, und ihm kamen die Tränen. In solchen Augenblicken schämte er sich vor sich selbst, konnte aber nichts machen. Und wollte es auch nicht. Immerhin war er ein Mann der Wissenschaft, und er verstand vielleicht nicht viel von Literatur, doch er hatte ein deutliches Gespür für die Neuheit – sowohl des Stoffes als auch der eigentlichen Grundidee. So was war noch nie dagewesen. Er war der Erste, der diesen Weg beschritten hatte. Also musste er ihn bis zum Ende gehen.

Überdies tauchte gerade um diese Zeit im Hause eine Schreibmaschine auf, eine altertümliche, seltsame, von senkrechter Konstruktion mit erstaunlich weichen, wunderbar austarierten Tasten. Und mit Staunen stellte er fest, dass das Schreiben interessant geworden war: Der Schreibvorgang selbst erfüllte ihn mit einer widernatürlichen (das war ihm bewusst) Befriedigung. Früher hatte er so etwas nur empfinden können, wenn er Formeln ableitete und Diagramme zeichnete. »Weiß Gott, wie ohne jede Scham Gedichte wachsen und aus welchem Müll ...« Heilige Worte! Doch aus welchem Müll wächst die Inspiration!

Dann begriff er, dass er in Szenen schreiben musste, in Episoden, kleinen Bildern, ohne im Geringsten an die Verbindungen und die Übergänge von einer Episode zur anderen zu denken. Sogleich ging es viel leichter. Leichter, ja, aber nicht leicht.

Am schwierigsten war es mit den Wörtern.

Wie heißt dieses Hautstück, diese Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, hol sie der Teufel? Er wusste es nicht, und keiner von seinen Bekannten wusste es, sodass er, verdammt, auf die Episode mit dem Schluckspiel verzichten musste ...

Wie heißt der Raum zwischen zwei Türen – der Außentür, die ins Treppenhaus führt, und der inneren zur Wohnung? ... Flur? Nein. Plattform? ... Bei Eisenbahnwagen hieß er Plattform ...

Er nannte diesen dunklen Raum »Vorraum« und versuchte ihn zu beschreiben. Im Vorraum war es völlig dunkel und ziemlich kalt – natürlich nicht so kalt wie im Treppenhaus, wo die erbarmungslose Kälte von Straße und Hof herrschte, aber doch kälter als im Flur. Links standen dort Regale, auf denen vor dem Kriege Speisevorräte gelagert wurden und auf denen längst nichts mehr lag außer zerhacktem Feuerholz. Und es roch in dem Vorraum – nach Feuerholz.

Der Junge stand angezogen im Vorraum. Ein langer Pelzmantel mit hochgeschlagenem Kragen, eine warme Mütze mit heruntergeklappten Ohrenklappen, ein wollenes Tuch über der Mütze, Filzstiefel, Fausthandschuhe. Er zog sich immer so an, wenn er nachmittags nach zwei hinausging, um im Vorraum zu stehen.

Der Junge war klein, gerade mal acht Jahre, dünn, schwächlich und schmutzig. Er hatte schon seit Monaten nicht gelacht, nicht einmal gelächelt. Seit Monaten hatte er sich nicht mit warmem Wasser gewaschen, er hatte Läuse gekriegt ...

Seit vielen Tagen hatte er sich nicht satt gegessen, und während der letzten beiden Monate – es war Winter – war er einfach allmählich am Verhungern, doch er wusste das nicht und ahnte es nicht einmal – er verspürte überhaupt keinen Hunger. Er hatte keine Lust zu essen. Er hatte große Lust zu kauen. Egal was. Nahrung. Irgendwelche. Lange, sorgfältig, selbstvergessen, mit Genuss, ohne an etwas zu denken ... Und dabei zu schmatzen. Manchmal überkam ihn plötzlich die Vorstellung, dass man ja letzten Endes alles kauen konnte: den Rand vom Wachstuch ... ein Papierkügelchen ... eine Schachfigur ... Ach, wie süß, wie appetitlich die lackierten Schachfiguren rochen! Doch beim Kauen waren sie hart und unangenehm, sogar widerwärtig ... Und wenn man dran leckte, bitter ...

Es war sehr wichtig, den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, dass dieser Junge in jedem Fall dem baldigen und unausweichlichen Tode geweiht war. Ihm blieb in jedem Fall nur noch ein Monat zu leben, allerhöchstens zwei.

Bis Ende Januar hatte er nur durchgehalten, weil sie den ganzen Herbst über Katzenfleisch gegessen hatten, und weil die Mutti die Angewohnheit hatte, sich schon im Frühling mit Feuerholz zu bevorraten, und nicht erst auf den Winter zu wie die meisten Leningrader. Darum war es bei ihnen zu Hause warm. Doch die Katzen waren in der Stadt längst aufgegessen, und alles Essbare, was sich in einer Stadtwohnung finden ließ (alter Tischlerleim, eingetrockneter Tapetenkleister, Bibergeil, getrockneter Meerkohl – Vaters Herzmittel aus der Vorkriegszeit) – das alles war schon gefunden und gegessen, und jetzt kam nichts mehr als der Tod. Natürlich verstand der Junge das nicht, es kam ihm nicht einmal in den Sinn, daran zu denken, doch die Lage der Dinge hing überhaupt nicht davon ab, was er verstand und was nicht ...

Außerordentlich wichtig war es jedoch, dafür zu sorgen, dass der Leser (der satt, gesund, sauber gewaschen mit diesem Text in der Hand nicht weit vom warmen Heizungskörper saß) das Wesen der Situation gut verstand. Und dazu musste sehr viel beschrieben werden, und zwar irgendwie geschickt, unaufdringlich, möglichst natürlich und ungezwungen.

Zuerst versuchte er so zu schreiben, dass sich der Junge bestimmte Szenen und Bilder vorstellte, die rein informativen Charakter hatten. Wie die Treppe aussah, von einer dicken Schicht aus gefrorenem Wasser und Unrat überzogen ... Warum in der Wohnung nur noch das Zimmerchen mit den Fenstern zum engen Hof und die Küche mit dem Herd und der Flur bewohnbar waren ... Wer sonst noch im Hause wohnte – wie viele Menschen und in welchen Wohnungen ... Diese ganze Information beschwor nicht nur das Milieu und die allgemeine Atmosphäre des bevorstehenden Todes herauf, sie war auch wichtig für das folgende, für den Beweis des Haupttheorems.

Doch das alles musste er gnadenlos ausstreichen. Der Junge konnte sich nichts davon vorstellen, ebenso wenig es sich ausdenken oder sich daran erinnern ... Er dachte nur dies: »Mutti ... warum kommst du nicht ... ich warte auf dich ... komm bald ... warum kommst du nicht, Mutti ... Mutti ... Mutti ...« Er wiederholte es in Gedanken, dreihundert und tausend Mal – die ganze Zeit ein und dasselbe, mit ganz geringen Variationen, und manchmal begann er plötzlich, dasselbe laut zu sagen, und er sagte es lauter und lauter und immer lauter, wiederholte immer dasselbe auf dieselbe Art – bis er durch den Lärm der eigenen Stimme hindurch plötzlich das Knarren der Haustür zu hören glaubte, die weit unten geöffnet wurde, und dann verstummte er und hielt den Atem an – lauschte reglos, bereit, vor Glück zu vergehen ... Doch im Treppenhaus war steinerne, eisige Totenstille, und der Junge holte leise Luft und begann von vorn, doch nun schon auf einer höheren Stufe der Verzweiflung: »... Mutti ... warum kommst du nicht ... Mutti ... du sollst kommen ... schnell ... Mutti ...«

3

Erstaunlich war das Ungleichmaß des Gedächtnisses. Die Erinnerungen tauchten in einzelnen Klumpen empor, bröcklig, formlos, verwaschen, und immer waren sie voneinander getrennt, zwischen ihnen lag die dumpfe Leere unbegreiflicher Lücken. Und vieles tauchte überhaupt nicht empor.

Wie hatte er mit der Mutti Wasser aus der Newa geholt? Er wusste, dass sie Wasser aus der Newa geholt hatten, an die zweimal pro Tag, die Mutti in einem Eimer, er in einer kleinen Blechkanne, und alle holten so das Wasser, die Treppe war von gefrorenem Wasser überzogen, das zu verschiedenen Zeiten aus verschiedenen Eimern geschwappt war ... Doch er konnte sich an keine einzige klare und konkrete Szene erinnern, wie sie Wasser aus dem Eisloch geholt hatten – es war, als hätte er irgendwann einmal davon gelesen, es aber nicht selbst erlebt ...

Wie hatte der Junge gekackt und gepinkelt? Die Kanalisation funktionierte nicht, das Klobecken war mit einem Stück trüben Eises verstopft. Die Ausscheidungen wurden sicherlich in einem elenden Eimer in den Hof getragen, und wem dazu die Kraft fehlte, der kippte sie direkt eine Treppe tiefer auf die Stufen. Er erinnerte sich an die beschmutzte Treppe, und er erinnerte sich bestens an den unvorstellbar, unglaublich, unverbesserlich dreckigen Hof ... Und weiter an nichts zu diesem Thema ...

Zum Glück war das alles für das Haupttheorem nicht von Belang. Er brauchte auch gar nicht drüber zu schreiben. Ja, wenn der Junge einmal am Rande des Eislochs, aus dem sie Wasser holten, ausgerutscht und in die Newa gefallen wäre ... Aber dann wäre weiter nichts mehr gekommen, dann wäre alles in fünf, zehn Minuten vorbei gewesen, sogar, wenn man ihn aus dem Loch hätte ziehen können ... (Doch er hätte ja ausrutschen können, nicht wahr? Schließlich war es am Rande des Eislochs nicht weniger glatt als auf der Treppe? Und wenn dem so war, dann war er also abermals der Gefahr ausgesetzt gewesen? Ja? Also begann hier wieder die Anhäufung todbringender Wahrscheinlichkeiten, also arbeitete auch dieser nicht eingetretene Zufall auf das Haupttheorem hin? ... Also war auch das wichtig und musste in Erinnerung gerufen werden? ... Er zwang sich, derlei Erwägungen auf halbem Wege abzuwürgen, denn sonst musste er letzten Endes beim banalsten aller Paradoxe landen: Das Leben ist tödlich, weil in ihm per definitionem der Tod steckt.)

Doch warum hatte er überhaupt keine Erinnerung an sein Gesicht zu jener Zeit, und auch nicht an das der Mutti? Die Mutti war damals für ihn etwas Großes, Warmes, Lebendiges, Freudiges ... unerschütterlich Verlässliches. Die Mutti war das Leben. Alles außer der Mutti war der Tod. Die Mutti hatte kein Gesicht – wie auch das Leben, die Wärme, das Glück kein Gesicht haben noch haben können ... Die Mutti war alles.

An sein eigenes Gesicht erinnerte er sich nicht, weil das etwas ganz Unwesentliches gewesen war – wie das Tapetenmuster ... wie die Farbe der Vorhänge ... wie der Geruch der Bettdecke ... Wen kümmerte es, wonach die Bettdecke roch? ... Wen kümmerte es, wie sein Gesicht aussah? ... Aber vielleicht hatte er sich einfach nie im Spiegel betrachtet? Und hatten sie zu Hause überhaupt einen Spiegel gehabt?

Doch an das Gesicht von Frosja erinnerte er sich. Sicherlich, weil es einprägsam war. Solche Gesichter gab es ringsum nicht mehr: rote Wangen, rote Lippen, schwarze scharfe Augenbrauen  ... Und eine laute, satte Stimme. Frosja arbeitete im Brotladen.

Insgesamt gab es in ihrem Aufgang dreiundzwanzig Wohnungen. Das Haus war vornehm, zu Beginn des Jahrhunderts erbaut, und zwar für die Ingenieure Sankt Petersburgs. (Hieß es.) Die Treppen waren breit, flach, bequem. Ein Fahrstuhl. Eine prunkvolle Tür zur Straße hin. Ein mit grünen Kacheln verkleideter, unglaublich prächtiger Ofen im Vestibül im Erdgeschoss. Ein Hausmeister. Die Wände des Treppenhauses marmoriert. Zehn bis fünfzehn Zimmer pro Wohnung ... Hohe Decken, mit Stuckfiguren verziert, hohe gewichtige Eingangstüren aus Mahagoni-Imitation ...

Bis Kriegsbeginn hatte die Pracht natürlich nachgelassen: Der Ofen unten wurde nicht mehr geheizt, der Fahrstuhl funktionierte zwei Tage im Jahr, die Tür zur Straße wurde nie zugesperrt. Doch einen Hausmeister gab es, und auf den breiten Treppen war es ziemlich sauber, und die Wände waren nicht allzu sehr bekritzelt. Natürlich wohnte in einer Wohnung jetzt nicht mehr eine Ingenieursfamilie mit Dienerschaft, sondern sieben, zehn, zwölf Familien – die unterschiedlichsten Leute, und ohne jede Dienerschaft ...

Im Januar waren im Aufgang (außer dem Jungen mit der Mutti) nur noch drei Menschen am Leben. Die Übrigen waren entweder schon im Herbst evakuiert worden, oder sie waren gestorben (wie die Großmutter des Jungen) und lagen jetzt in reifbedeckten Stapeln auf dem Hof des Nachbarhauses, oder sie waren irgendwie spurlos verschwunden – vielleicht lagen sie still in ihren Betten hinter den fest verriegelten hohen Türen ihrer auf den Tod ausgekühlten Wohnungen.

Am Leben waren geblieben: Amalia Michailowna in der Wohnung gegenüber, »die Tante mit den Spitzhunden« im ersten Stock und Frosja eine Etage weiter oben. Und Schluss.

»Die Tante mit den Spitzhunden« spielt beim Beweis des Haupttheorems keinerlei Rolle, und es gibt über sie absolut nichts zu schreiben, außer dass sie vor dem Krieg vier schneeweiße Spitze mit wuscheligem Fell besessen hatte und der Junge glaubte, speziell über sie sei der Witz erfunden worden, in dem eine Dame vier Hunde namens Obsja, Rusja, Krenda und Ljami hatte.

Frosja spielte unbedingt eine Rolle. Frosja sagte mit lauter, satter Stimme: »Aber nicht doch, Klawdija Wladimirowna! ... Ja wozu denn! ... Aber nicht nötig, wirklich, wie kommen Sie denn darauf! ...« Die Mutti aber redete schnell, undeutlich, als ob sie die Worte glättete, und zu verstehen waren nur ein paar zusammenhanglose Fetzen: »... nein, nein ... zu großem Dank verpflichtet ... ich bitte sehr ... aufrichtig ...« Die Mutti sprach unterwürfig. Sie drückte Frosja mit Gewalt irgendwelche Ringe in die dicken Finger, irgendwelche Ohrringe mit bunten Steinchen ... Und dann tauchte zum Abendessen ein zusätzliches Stückchen Brot auf. Das geschah zweimal – einmal im Dezember und zum zweiten Mal Anfang Januar. Weiter hatte die Mutti offensichtlich weder Finger- noch Ohrringe, und Frosja ließ sich bei ihnen nicht mehr blicken. Ein zusätzliches Stückchen Brot auch nicht. Doch zwei Stückchen Brot – was bedeutete das? Zwei zusätzliche Tage? Und wenn es auch nur einer wäre – aber ein zusätzlicher. Den es auch nicht zu geben brauchte. Wer hatte diese Tage gezählt, und wer vermochte zu sagen, welcher von ihnen zusätzlich war und welcher der letzte?

Amalia Michailowna war eine russifizierte Deutsche. Im September, gleich zu Beginn der Blockade, wurde sie verhaftet und im Großen Haus eingesperrt. Im Dezember aber wurde sie wer weiß warum freigelassen. Die Mutti – und erst recht der Junge – begriffen damals nicht, dass das eigentlich ein Wunder war. Wie Amalia Michailowna selbst darüber dachte, blieb unbekannt. »Nein, nein und nochmals nein, liebe Klafdija Fladimirofna!«, sagte sie fast triumphierend. »Fragen Sie mich gar nicht erst! Und wenn ich sterbe, auch auf dem Totenbett sage ich kein Sterbenswörtchen!«

(In Wahrheit hatte sie der Mutti doch einiges über das Große Haus und seine Bewohner erzählt. Zum Beispiel erzählte sie, wie man sie einmal zum nächsten Verhör in ein neues, unbekanntes Zimmer brachte und sie sich dort auf einen Stuhl neben der Tür setzen musste. Ihr Begleiter ging hinaus, und anfangs kam es Amalia Michailowna so vor, als sei sie allein im Zimmer. Sie saß still da, wagte nicht einmal den Kopf zu wenden und ließ nur die Augen nach links und rechts schweifen, und plötzlich erblickte sie in der entfernteren Zimmerecke einen Menschen. Dort in der Ecke, neben dem vergitterten Fenster, befand sich ein großer eiserner Schrank, und vor dem Schrank stand ein Mann in Zivil, ziemlich verwildert, die Hände auf dem Rücken. Dieser Mann stand mit dem Gesicht zum Schrank, berührte ihn fast, und mit der Seite zu Amalia Michailowna, und plötzlich beugte er sich vor, küsste den Schrank – presste die Lippen darauf –, dann wich er zurück und stand wieder reglos da. Amalia Michailowna war ganz starr vor Entsetzen. Der Mann aber beugte sich plötzlich wieder vor, küsste wieder den Schrank und erstarrte wieder. Das wiederholte sich etliche Male, und Amalia Michailowna spürte, dass sie es gleich nicht mehr aushalten und in Ohnmacht fallen würde, doch da ging die Tür auf, und der Untersuchungsrichter trat ein. Er sah sofort alles und begann fürchterlich zu brüllen. »Ja haben Sie denn keine Augen im Kopf?«, schrie er den Begleitposten an. »Wo haben Sie sie hingebracht? ... Sehen Sie denn nicht?« Amalia Michailowna musste aufstehen, sie wurde in ein anderes Zimmer geführt, und weiter verlief an diesem Tag alles wie gewohnt ...)

An derlei Umstände und Gespräche konnte sich der Junge natürlich (theoretisch) erinnern, während er im Vorraum zwischen den Türen stand, doch er erinnerte sich an nichts dergleichen, er weinte nur und flehte die Mutti an, dass sie bald käme. Die Mutti kam nicht. Es war schon mehr als eine Stunde über die Zeit. Und da schob der Junge den eisernen Riegel zurück, hob mit Mühe den eisernen Haken an, zog die Eisenkette heraus und drehte den Griff des englischen Schlosses. Er tat, was zu tun ihm kategorisch verboten war – er öffnete die Tür und ging ins Treppenhaus. Er konnte nicht mehr warten, er war sicher, dass der Mutti etwas Schreckliches zugestoßen war, also hatten alle Verbote und überhaupt alles andere jeden Sinn verloren.

Er ging die Stufen hinab, ans Geländer geklammert, rutschte mit den Filzstiefeln auf dem gefrorenen Unrat aus und weinte laut. Mit einem sonderbaren Sinn wie ein außenstehender Beobachter hörte er sein Weinen und seine Klagerufe und dachte, dass das ja doch nichts helfen würde. Auf der Treppe begegnete er niemandem, doch es blieb noch die Hoffnung, er könnte die Mutti sehen, wenn er erst auf der Straße war. Er stellte sich diesen schlecht ausgetretenen Pfad zwischen den Schneehaufen und die Mutti am Ende des Pfades – fern, direkt an der Kreuzung – so deutlich vor, dass er sogar aufhörte zu weinen. Im Vestibül, wo sich links und rechts der Haustür ganze Schneewehen angehäuft hatten, wo leblos die Fliesen des vereisten Fußbodens glänzten, wo es leer und kalt wie auf der Straße war, blieb der Junge ein paar Sekunden stehen und überlegte, ob er nicht doch lieber zur Hintertür bei der Treppe hinausgehen sollte – manchmal kam die Mutti auf ebendiesem Weg, durch den Hof, von der Arbeit, dieser Weg war kürzer, aber ekelhafter, denn der Hof war fürchterlich verdreckt.

Doch die Vision von der Mutti am Ende des Pfades zwischen den Schneehaufen war so deutlich, dass der Junge entschlossen durchs Vestibül zum Vordereingang ging und mit Mühe, mit den Filzstiefeln auf den schneebedeckten Fliesen ausgleitend, die riesige Tür öffnete.

Alle Scheiben in dieser Tür waren noch im September herausgefallen, als im Garten der Militärmedizinischen Akademie eine Fünfhundert-Kilo-Bombe herunterkam, und man sollte meinen, jetzt müsste im Vestibül die Temperatur der Außenluft herrschen, doch das täuschte: Die Straße empfing den Jungen mit so brennendem Frost, dass ihm die Tränen sofort an den Augen gefroren und er instinktiv einen Handschuh auf Mund und Nase presste. Der Frost war grimmig, schneidend, durchdringend, wahnsinnig, wütend, zerreißend, tödlich ... Und am Ende des Pfades war keine Mutti. Dort war überhaupt niemand, so weit der Blick reichte. Und der Junge stürzte vorwärts, dorthin, wo niemand war und wo die Mutti trotzdem sein musste. Weil sie sonst nirgends sein konnte ...

Zweimal schaute er zurück. Einmal für alle Fälle, das zweite Mal aber eigens, um (voller Angst) zur Sonne zu blicken.

Die Sonne sank schon und stand ihm im Rücken – ein blendend helles, verwaschenes Stück eisigen Nebels auf dem fahlen graublauen Himmel, den die weiße Kondensspur eines deutschen Aufklärungsflugzeugs durchstrich. In dieser Sonne und in diesem Himmel gab es kein bisschen Leben, nichts als die Verheißung eines raschen und unvermeidlichen Todes, genau wie in diesen übermannshohen Schneehaufen zu beiden Seiten des Pfades, in diesen toten, scheibenlosen, erblindeten Häusern, in den rauchlosen toten Schornsteinen und in dieser Totenstille, der tödlichen Menschenleere ringsum.

(Viele Jahre und sogar Jahrzehnte später, als von jenem kränklichen, halbtoten Jungen mit den tränenden Augen nicht die mindeste Spur geblieben und unter den Menschen selbst die Erinnerung an jene tote, in ein weißes Leichentuch gehüllte, verlassene Stadt erstorben war, erinnerte er sich noch immer an sie und hasste sie noch immer: den Januar, die weiße Schneedecke der Straßen und Höfe, diesen fahlen Frosthimmel und dieses blendende Stück Nebel anstelle der Sonne. Für immer, bis zum Ende, bis zum letzten Funken Leben in ihm ...)

Der Junge torkelte (und meinte zu rennen, was die Beine hergaben) den Karl-Marx-Prospekt entlang, kam an der Kreuzung mit dem kurzen Finnischen Prospekt vorbei, wo im Oktober eine große Bombe gefallen und aus irgendeinem Grund nicht explodiert war (die Erwachsenen sagten, sie sei statt mit Sprengstoff mit Sand gefüllt gewesen, darin ein Zettel mit den russischen Worten: »Wir helfen, so gut wir können«), er ließ das graue moderne Gebäude links liegen, in dem vor dem Krieg seine Schulfreundin gewohnt hatte, die schöne Galja, und in dem jetzt wohl niemand wohnte, er hatte noch weiter und weiter zu gehen, vielleicht bis zum »Stadtbezirkssowjet«, wo seine Mutti im »Stadtbezirkswohnungsamt« arbeitete – dem Jungen waren alle diese Wörter bekannt und vertraut, doch sie bedeuteten nichts Konkretes außer einem großen Gebäude, wo es in leeren Zimmern wunderbar nach gekochten Sojabohnen roch, und einem großen kalten Zimmer, wo die Mutti hinter einem Tisch voll Mappen und Papieren saß ...

Ringsum war niemand: Schnee, Bäume, tote Häuser mit sperrholzvernagelten Fenstern ... Links begann eine hohe blinde Mauer, die ein Fabrikgelände umgab – vor dem Krieg war es hier immer laut gewesen, voller Menschen, es fuhren Lastwagen hin und her, von jenseits der Mauer drangen eiserne Schläge herüber, ein geheimnisvolles Zischen, Rauch und Dampf stiegen hoch, und manchmal ging plötzlich das große Tor auf, und heraus kam direkt auf die Straße mit stolzem Schnaufen und Dröhnen eine richtige Lokomotive gefahren – rauchig, schmutzig und riesig –, fuhr eine Zeit mit begeistertem Pfeifen den Prospekt entlang und verschwand dann wieder auf dem Werksgelände, diesmal durch ein anderes Tor ...

Jetzt waren die Gleise unter einer dicken Schicht kristallinen Schnees begraben, und beim Tor lag eine Frau auf der Seite – reglos, die zu einem Kreis vorgehaltenen [kreisförmig vorgestreckten] Arme erstarrt, und ihr Gesicht war hellgelb und schien gleichsam zu leuchten wie der lackierte Kopf einer weißen Schachfigur. Neben ihr, keinen Meter entfernt, lag ein Bündel von einer roten Steppdecke, außen noch mit einem Wolltuch umwickelt. Das Bündel schwieg, bewegte sich aber noch schwach.

Der Junge ging vorüber, warf nur einen kurzen Blick zur Seite und dachte keinen Moment länger daran. Er befand sich im Zustand solchen hysterischen Entsetzens und solcher Hoffnungslosigkeit, dass keinerlei äußere Eindrücke an diesem Zustand mehr etwas ändern konnten. Und es war ja auch, ehrlich gesagt, nichts Besonderes an dem, was er gerade gesehen hatte ... höchstens, dass das Bündel sich bewegte ...

Die Mauer endete, es begannen Fabrikgebäude aus roten Ziegeln, und rechts zweigte die Nebenstraße ab, an deren Ende sich die Schule befand, wo der Junge gerade mal die erste Klasse absolviert hatte und die jetzt als Lazarett diente. Der Junge wandte den Kopf und erblickte dort, direkt vor der Schule, eine Bewegung – da standen in Dampf gehüllte Autos, und in diesem Dampf tauchten irgendwelche Leute auf, gingen hin und her. Die Mutti war dort nicht und konnte auch gar nicht dort sein.

Er trottete immer weiter, immer langsamer (ihm aber kam es immer schneller vor), an der Biegung zur Grenadierbrücke vorbei und an der toten, ihrer Kuppel beraubten Kirche rechts, er kam in Gegenden, die er vor dem Krieg nicht gekannt und erst jetzt kennengelernt hatte, seit er manchmal mit der Mutti zu ihr auf Arbeit ging ... Er sollte immer mit ihr zur Arbeit gehen, und wenn es dort noch so kalt und langweilig war, lieber ganz durchgefroren sein, als die Mutti verlieren ... Er wollte aus ganzer Kraft rufen, doch er fand keine Kraft.

Er hörte ein Krachen ... Explosionen ... oder Schüsse. Entweder hatte der allabendliche Artilleriebeschuss begonnen ... oder die Flakgeschütze feuerten auf ein deutsches Flugzeug ... Er blickte zum Himmel auf. Ja, es war wohl die Flak. Neben dem Flugzeug tauchten aus dem Nichts Wölkchen von rötlichem, schwarzem und weißem Rauch auf und blieben hängen. Früher hätte er interessiert zugeschaut, doch nicht jetzt. Jetzt interessierte ihn nichts ...

4

Da war noch eine – aus der Sicht des Haupttheorems – interessante Frage: Wie stand es mit Bombenangriffen, Artilleriebeschuss, Brandbomben, Splittern und überhaupt dem ganzen Krieg?

Im Umkreis von einem Kilometer um das Haus, wo der Junge wohnte, waren (nach den Worten der Erwachsenen) vierzehn Bomben gefallen. Die Granaten hatte niemand gezählt. Ebenso wenig die Brandbomben – obwohl die Tanksäule neben dem Haus (ganz in der Nähe, auf der anderen Straßenseite) gerade unter den Brandbomben abgebrannt war. Während der Bombardements im Herbst waren die Bomben nur so aufs Hausdach niedergehagelt – die Diensthabenden konnten sie kaum alle hinunterwerfen, und dort fraßen sie sich ins Trottoir und beendeten ihr Dasein in einem festlichen Feuer, versprühten bunte Funken, schmolzen sich selbst, den Asphalt, die Erde, die Bordsteinkante ...

Anfangs hatten sich alle sehr vor den Bombardements gefürchtet. Kaum war Luftalarm gegeben worden, strömten Menschenmengen mit Reisekoffern, Taschen, Bündeln, Decken und Kissen in die Luftschutzräume und waren bereit, dort stundenlang geduldig auszuharren, bis die Entwarnung kam. (Das schreckliche, abgehackte, irgendwie unmenschliche Heulen der Alarmsirenen und die fröhlichen, feierlichen, triumphierenden Fanfarenstöße der Entwarnung ... Und die feierliche, triumphierende Stimme des Sprechers: »Ende des Luftalarms! Ende des Luftalarms!« Als ob es der letzte Luftalarm in seinem Leben wäre.)

Doch schon im Herbst hörten die Leute auf, in die Luftschutzräume hinabzusteigen – es war weit, mühselig und auch gefährlich, wie sich herausstellte: Von Mund zu Mund gingen Schauergeschichten von Menschen, die von zerbombten Häusern verschüttet worden waren – erstickt, in Eruptionen der geborstenen Kanalisation ertrunken ... Dann schon lieber gleich, als sich derart zu quälen, entschied das Volk. Jetzt gingen die Mieter bei Alarm einfach ins Treppenhaus und blieben dort sitzen, stehen, warteten im Schein blauer Lampen (die angeblich von den Fliegern von oben her nicht zu sehen waren) auf das Ende. Und als es Winter wurde, gingen sie auch nicht mehr ins Treppenhaus. Der Junge schlief auf der Truhe im Korridor, und manchmal wachte er von fernen Bombeneinschlägen auf, und dann hörte er das charakteristische klingende Dröhnen der deutschen Flugzeuge und das Pfeifen der nächsten Bombe und den nächsten dumpfen Schlag, und er spürte, wie das Haus langsam mit dem ganzen Körper vor und zurück wankte – und schlief wieder ein, ohne die Entwarnung abzuwarten.

Streng genommen war im Rahmen des Haupttheorems anscheinend nur ein Fall zu untersuchen – der Fall mit dem Splitter.

Einmal war er mit der Mutti aus dem Wohnungsamt heimgegangen, und sie hatten einen großen freien Platz überquert (denselben, über den der Junge auch jetzt wankte, doch damals waren sie in entgegengesetzter Richtung gelaufen, nach Hause). Es war ungefähr zur selben Tageszeit, und der übliche Artilleriebeschuss war im Gange, doch das kümmerte und beunruhigte sie nicht – sie waren beisammen, und sie gingen heim, und Mutti hatte etwas Leckeres in der Tasche: ein Glas gekochte Linsen.

Sie hörten irgendwo links eine ferne Explosion, beachteten sie aber überhaupt nicht und schafften noch ein paar Schritte, als plötzlich ein neues, unbekanntes Geräusch ertönte – ein seltsames, lauter werdendes Rasseln. Dieses Rasseln kam blitzartig näher und endete plötzlich mit einem heftigen Schlag, der den Fußweg unter ihnen erzittern ließ, und etwas Großes, Schwarzes, Schnelles tauchte links von ihnen am Straßenrand auf, überquerte in zwei schweren Sprüngen wie ein riesiger schrecklicher Frosch (jedes Mal bebte die Erde) einen halben Meter vor ihnen die Straße, fuhr rechts in einen Schneehaufen und verschwand darin, kurz und böse aufzischend.

Sie blieben stehen. Die Mutti war ganz starr, und der Junge, der sofort begriffen hatte, was los war, stürzte zum Schneehaufen und zog rasch den Splitter hervor. Der Splitter war großartig – riesig, schwarz-blau-gelb, mit schillernden Anlauffarben, stachlig, schwer und noch heiß. Es war ein Splitter von großem Wert! Doch die Mutti nahm ihn dem Jungen weg und warf ihn hasserfüllt zurück in den Schneehaufen. Der Mutti hatte diese Leidenschaft, verschiedene Granatsplitter zu sammeln, die im Herbst unter den Jungen grassierte (die damals alle noch lebten und nicht einmal allzu sehr hungerten), nie gefallen. Er hatte sich mit der Mutti wegen dieses Splitters ein bisschen gestritten ...

Doch was wäre gewesen, wenn sie noch einen Schritt getan hätten – vor der Explosion, vor dem Rasseln, vor dem ersten Schlag auf die Erde? Einen einzigen Schritt! ... Natürlich hätte der Splitter sie nicht sofort getötet, doch er hätte ihnen die Beine gebrochen, allen beiden ... Und auch das hätte den Tod bedeutet, nur langsamer.

Als der Junge in das Zimmer des Wohnungsamtes stürmte, wo für gewöhnlich die Mutti saß, war sie nicht da – an ihrem Platz, in viele Tücher eingewickelt, saß eine unbekannte alte Frau. Der Junge fragte und hörte die eigene Stimme nicht. Die Alte sah ihn aus eingesunkenen Augen an, wackelte mit dem wollenen Wust ihrer Tücher: »Nein«, sagte sie. »Die ist schon längst gegangen ...«

Der Junge hatte das bereits gewusst, hatte es von Anfang an erwartet, trotzdem erlebte er so etwas wie einen Filmriss. Er erinnerte sich an nichts weiter – bis zu dem Augenblick, als er sich auf dem Finnischen Prospekt befand und feststellte, dass er im Begriff war, durch die Höfe nach Hause zu gehen. Irgendein Funke von Hoffnung glomm also noch in ihm. Ließ ihn die Füße bewegen. Etwas war noch zu entscheiden ... Vielleicht war diese Hoffnung das Leben selbst?

Die Sonne war noch nicht hinter den Häusern versunken, doch lange Schatten hatten sich auf den weißen Schnee gelegt, und davon schien er noch kälter zu werden. Der Junge ging durch die Höfe, und niemand begegnete ihm dort, der Schnee hatte sich hier in gelbe Eisschichten von Urin verwandelt, die schwarzen Häufchen gefrorenen Kots lagen überall, sodass man nicht wusste, wohin man treten sollte. Er achtete nicht darauf. Ihm war alles egal. Plötzlich erinnerte er sich an die Frau mit dem gelben Gesicht und das rote Bündel neben ihr – erinnerte sich, dass er sie auf dem Rückweg wieder gesehen hatte, mit ihnen war alles wie zuvor, nur das Bündel regte sich nicht mehr. Das war sein Schicksal ... seine nächste Zukunft ...

Er war schon an der Hoftür, als von rechts her – aus der aufgegebenen Waschküche? – unnatürlich schnell (in dieser Stadt konnten sich die Menschen nicht so schnell bewegen) ein dunkler, sehr schrecklicher und sehr gefährlicher Mann auf ihn zukam, im langen Pelzmantel mit hochgeschlagenem Kragen, die Mütze mit lose herabhängenden Ohrenklappen, in der Hand aber hielt er eine Axt, und die Axt hielt er vorgereckt, als wolle er sie jemandem ins Gesicht hauen ... Und es war völlig klar, dass er es auf das Gesicht des Jungen abgesehen hatte. Wessen sonst? Sonst war hier weit und breit niemand.

Der Junge blieb stehen und erstarrte. Der Mann stand schon vor ihm, ragte über ihm auf – ein Mörder mit gebleckten Zähnen, mit runden Brillengläsern, furchterregend, und das Schrecklichste war, dass aus seinem Mund keine Dampfwolken drangen ...

Der Junge fiel auf den Rücken. Noch während er fiel, geschah plötzlich etwas mit dem Kopf des Mörders. Der Kopf begann plötzlich zu wachsen, sich nach allen Seiten hin auszudehnen, rote Risse erschienen in dem faltigen Gesicht, die Brille flog von der Nase und verschwand irgendwo, das Gesicht platzte auf, verspritzte Rotes, Gelbes, Weißes – und der Junge sah nichts mehr ...

Als er wieder zu sich kam, bemerkte er über sich eine alte Frau, derart vermummt, dass sie weder Augen noch überhaupt ein Gesicht hatte, nur ein dunkles Loch zwischen dem Wolltuch und dem reifbedeckten Kragen, aus dem irgendwelche rötlichen Fetzen hervorragten. Die Alte stieß ihn mit einem Stock mit Gummikappe am Ende an und brummte zudringlich: »Los, steh auf ... Lebst du? Also, dann steh auf ... Steh selber auf, selber ... Hoch mit dir ...«

Er kam irgendwie auf die Füße, an die Wand gestützt, und während er hochkam, erschien neben ihm noch ein vermummter Mensch – entweder ein alter Mann oder eine alte Frau, aber mit einem Eimer, und die beiden begannen, undeutlich und zugleich schrill sinnlose Sätze auszutauschen. Aus ihrem Gespräch folgte, dass da, bittesehr, jemand auf den Hof Holz hacken geht, und da erwischt ihn ein Granatsplitter – hat den ganzen Kopf weggerissen, dieser Splitter, dass nichts davon übrig ist ...