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Warum hat ein Therapeut eine pathologische Vorliebe für Umzugskartons? Was bewegt einen Mann dazu, mit einer Falzmaschine blutige Freundschaft zu schließen? Was macht ein krimineller Finanzberater mit einem Abschleppseil in seiner Kellerbar? DIE SÜNDEN DER WELT erzählt wie schon der erste Band EIN SPÄTER FREUND kleine böse Geschichten aus der Welt der Generation Burnout, in der es fast immer darum geht, seine Mitmenschen über den Tisch zu ziehen oder direkt zu entsorgen.
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Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Über den Autor
Malte Bastian arbeitete als Lokalredakteur, Werbetexter und Pressesprecher. 2009 erschien nach mehreren Sachbüchern unter dem Pseudonym Karoline Klötzing sein Krimi MORDSQUOTEN im Berliner MOS-Verlag, 2014 folgte der erste Band der Gutenachtgeschichten für die Generation Burnout unter dem Titel EIN SPÄTER FREUND bei BoD. Malte Bastian ist als Berater für TV-Produzenten und Wirtschaftsunternehmen im Bereich Kommunikation und als Blogger tätig. Er lebt und arbeitet in Köln und Bremen-Bremerhaven.
Über das Buch
Warum hat ein Therapeut eine pathologische Vorliebe für Umzugskartons? Was bewegt einen Mann dazu, mit einer Falzmaschine blutige Freundschaft zu schließen? Was macht ein krimineller Finanzberater mit einem Abschleppseil in seiner Kellerbar? DIE SÜNDEN DER WELT erzählt wie schon der erste Band EIN SPÄTER FREUND kleine böse Geschichten aus der Welt der Generation Burnout, in der es fast immer darum geht, seine Mitmenschen diskret über den Tisch zu ziehen oder direkt zu entsorgen.
Der Spediteur
Kein Händchen
Das Herz eines Boxers
Die Sünden der Welt
Absichten eines Clowns
Sonate für Rembrandt
Der Joker
Mein ist die Rache
Das alte Psychiatrische Landeskrankenhaus lag ein gutes Stück von der Bundesstraße entfernt und würde noch so lange in Betrieb bleiben, bis der Neubau in der Nähe der Kreisstadt fertig war. Nur noch wenige Pfleger und Ärzte kümmerten sich um die schweren Fälle. Die örtliche Zeitung hatte immer wieder über den Neubau berichtet, und der lokale Rundfunksender spielte gern das Lied „Der goldene Reiter“ von Joachim Witt, wenn es wieder einen Beitrag zum Thema Forensik gab – sehr zum Leidwesen des Landrates, der sich bei der Regierung für die komplette Verlegung der Klinik eingesetzt hatte. Doch da die zuständige Ministerin nicht seiner, sondern der Konkurrenzpartei angehörte und die Kreisstadt klein und unbedeutend war, gab es eben statt der Schließung den Neubau, an dem auch eine wütende Bürgerinitiative nichts ändern konnte.
An einem späten Novemberabend, einem Samstag, griff die Polizei eine offensichtlich verwirrte junge Frau auf. Sie war in Dieters Schlemmerstube, einem Imbiss in der Fußgängerzone der Kreisstadt, aufgefallen. Sie trug ein langes Kleid, hohe Stiefel und war über und über mit Schmuck behängt. Ihr Gesicht war weiß geschminkt, im Haar trug sie bunte Tücher und eine grelle gelbe Tasche hing über ihrer Schulter. Vielleicht hätte man ihre Gewandung als „Ethno-Look“ bezeichnen können, vielleicht auch einfach als etwas extravagant. In den Großstädten liefen viele Leute so herum, hier in der Provinz aber grinsten die Menschen irritiert bei ihrem Anblick.
Drei halbstarke Burschen mit Basecaps, die im Imbiss lustlos an Burgern kauten, machten einige hämische Bemerkungen, doch sie reagierte nicht. Als aber einer der Jungen dann feixend versuchte, ihr Zwiebelringe über die Ohren zu hängen, riss sie sich plötzlich die Tasche von der Schulter und knallte ihm diese ins Gesicht.
Der Junge stolperte und schlug lang hin und fing dann an zu heulen. Die anderen beiden Burschen erhoben sich verstört. Der Imbissbesitzer ging dazwischen. Auch er bekam die Tasche ins Gesicht geknallt. Dann warf die Frau mit der Cola nach einem der Jungen. Die Flasche traf ihn am Kopf und er rannte schreiend und blutend aus dem Laden und verschwand. Das Gerangel dauerte an, bis ein Streifenwagen eintraf, dessen Besatzung sich eigentlich auf eine ruhige Nacht gefreut hatte.
Einige Minuten später waren alle Beteiligten auf dem kleinen Polizeirevier und der korpulente wachhabende Beamte war völlig überfordert. Er trug einen Schnauzbart und hatte vorgehabt, die Nacht mit dem Legen von Patiencen mit der neuen App seines Smartphones zu verbringen. Nun saß hier stattdessen vor ihm eine mutmaßliche Irre samt Opfern. Die Frau hatte keine Papiere dabei und ignorierte seine Fragen. Stattdessen verlangte sie einen Anwalt und drohte damit, sich beim Bundespräsidenten zu beschweren, mit dem sie befreundet sei. Als der dicke Schnauzbart sie aber zweifelnd ansah und dann etwa nachsichtig grinste, schwieg sie plötzlich und sagte kein Wort mehr.
Aber nicht nur sie, auch die anderen Beteiligten waren auf Krawall gebürstet. Dieter, der fettige Imbissbesitzer, betupfte schimpfend seine Schrammen der Taschenattacke mit einer Serviette, und einer der Jungen hatte Verstärkung von seinen Eltern bekommen, die lautstark eine Strafanzeige verlangten.
„Ruhe!“, brüllte der Schnauzbart und sagte ärgerlich zu der jungen Frau: „Der Bundespräsident interessiert mich nicht. Ich habe Sie gerade was gefragt! Wie heißen Sie, und was war da in der Schlemmerstube los?“
Aber er erntete nur ein stummes Kopfschütteln. Sie hatte jetzt offensichtlich beschlossen zu schweigen.
„Sie sitzen hier und erzählen erst alles Mögliche an Blödsinn und nun kriegen Sie die Zähne nicht mehr auseinander. Das geht so nicht! Also, ich höre!“
„Komisch, ich höre nichts“, witzelte einer der Jungen vorlaut und sein Kumpel fügte kichernd hinzu: „Ich auch nicht!“
Der Schnauzbart raunzte sie böse an: „Ihr Burschen habt jetzt beide mal Sendepause!“
„Na, na, was ist denn das für ein Ton“, greinte der Vater des einen Jungen.
Der Beamte ignorierte ihn und sah die junge Frau an. „Reden Sie! Das ist doch gar nicht so schwer, verdammt noch mal!“
Wieder Kopfschütteln und Schweigen.
„So geht das aber nicht! Sie sollten zumindest Angaben zur Person machen, sonst müssen wir Sie hier behalten, kapiert?“, sagte ein zweiter Beamte, der jetzt hinzu trat. Er war lang und dürr und hoffte, noch einigen Papierkram, den er unter der Woche nicht geschafft hatte, zu erledigen. Aber diese schweigende Frau drohte sein Vorhaben scheitern zu lassen.
„Diese Person gehört doch hinter Gitter!“, rief der Vater. „Die ist gemeingefährlich. Wie die schon aussieht! Solche Leute gehören für immer weggeschlossen!“
„Fick dich, alter schmutziger Mann!“, zischte die junge Frau plötzlich giftig.
„Wie bitte??“
„Na, na!“ Der wachhabende Schnauzbart wurde nun richtig ungemütlich. „Jetzt ist aber Schluss!“
„Und du kannst scheißen gehen, du fettes Arschloch“, fuhr sie den Beamten an.
Die beiden Jungs kicherten, man hörte ein gedämpftes „Cool!“.
Der Polizist glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Sowas war ihm in seinen über 25 Dienstjahren noch nicht passiert. Er hatte von manchen derben Pöbeleien aus sozialen Brennpunkten gehört, aber hier in der Provinz waren selbst die Betrunkenen umgänglich und hatten noch einigermaßen Respekt vor der Polizei.
Sein Kopf bekam eine ungesunde Farbe. „Wie bitte? Was haben Sie da eben gesagt?! Wie war das?? Das ist Beamtenbeleidigung!“
„Ich habe es genau gehört, ich bin Zeuge!“, rief der Vater aufgebracht und erhob sich.
„Ich auch! Und ich bin außerdem von ihr brutal geschlagen worden“, rief Dieter, der Imbissbesitzer, empört.
„Fick dich, habe ich gesagt!“, brüllte die junge Frau erneut und stand jetzt auch auf.
„Wie reden Sie eigentlich mit meinem Mann!“, rief empört die Mutter. „Sie widerliche Schlampe!“
„Ekelhaft, diese Person“, sekundierte Dieter und stand zitternd auf. „Ich blute immer noch wie ein Schwein! Und niemand kümmert sich um mich!“ Verzweifelt versuchte er, mit dem Tupfen seiner Serviette den Kratzern noch ein paar Tropfen Blut abzugewinnen.
„Das wird hier alles gleich geklärt. Aber jetzt: Hinsetzen!“, brüllte der dürre zweite Polizist, „alle wieder hinsetzen!“
Die Eltern des Jungen und der Mann aus dem Imbiss gehorchten murrend, doch anstatt sich auch wieder zu setzen, sah die junge Frau den Dürren einen Moment lang mit einem sonderbaren Lächeln an und spuckte ihm dann herzhaft ins Gesicht. Sie traf seine Brille und machte ihn für einen Moment mit einem großen Mundvoll zähen Schleimes blind. Dann trat sie blitzschnell nach ihm, und er stürzte. Der Wachhabende sprang auf und kam seinem Kollegen zu Hilfe. Er warf sich auf die Frau, drückte sie zu Boden und rang mit ihr. Doch sie hatte unglaubliche Kräfte. Sie biss um sich, trat, kratzte. Die Eltern und der Imbissbesitzer standen fassungslos dabei und sahen hilflos zu, die Jungen feixten und filmten mit ihren Handys das Gerangel. Endlich war die Frau gefesselt. Schwer atmend saßen die Polizisten auf ihr.
„Jetzt sehen Sie selbst, was die anrichtet“, empörte sich Schlemmerstuben-Dieter schadenfroh, „das geschieht Ihnen ganz recht!“
„Und ich will jetzt endlich Anzeige erstatten!“, rief der Vater.
„Das ist hier alles nicht zumutbar!“
„Ja, gern“, ächzte der Schnauzbart, „aber bitte kommen Sie Montag wieder. Sie sehen ja, es ist gerade unpassend. Ich habe niemanden, der hier gerade jetzt eine Anzeige aufnehmen kann.“
„Was?“ Der Vater war ungehalten. „Dazu werden Sie ja wohl noch in der Lage sein! Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie nicht mit dieser albernen Person fertig werden!“
„Fick dich, dich und dein Dreckstück von Sohn“, röchelte die junge Frau schwer atmend.
„Da! Haben Sie das gehört?“ Der Vater zeigte empört auf die Frau. „Sie hat es schon wieder gesagt! Ich verlange, dass Sie sofort eine Anzeige wegen Beleidigung gegen mein Kind aufnehmen!“
Das arme Kind des Mannes grinste indessen fröhlich und filmte die Situation immer noch mit dem Handy, während seine Mutter fassungslos das Geschehen beobachtete.
„Nimm das Handy endlich weg, Junge!“, rief der dürre Beamte und dann zum Vater: „Wie denn? Sie sehen doch, was hier los ist!“
„Ich bestehe darauf!“
„Es geht nicht. Erst am Montag!“
„Ich verlange, dass Sie Ihre Pflicht tun!!“
„Montag!“ Und erneut zu dem Jungen: „Handy weg, sonst kassiere ich das Ding ein!“
„Sie kassieren hier gar nichts ein! Statt für Ruhe und Ordnung zu sorgen, wollen Sie sich an unschuldigen Kindern vergreifen? Schämen Sie sich! Ich werde mich über diesen Saftladen beschweren!“
„Fick dich, alter Mann!“, röchelte die Frau wieder.
Dieses Mal stimmten ihr die beiden Beamten innerlich von ganzem Herzen zu.
„Ich zeige alle hier an, alle! Diese unflätige Person – und Sie beide wegen Strafvereitelung im Amt!“
„Machen Sie das – aber erst am Montag!“ Der wachhabende Schnauzbart schwitzte, er wusste nicht mehr, ob es am Kampf mit der Frau lag oder ob es vor Wut war.
„Das ist ein Skandal! Ich bin Jurist, ich kenne meine Rechte!“, rief der aufgebrachte Vater. „Ich arbeite beim Landratsamt, so kommen Sie mir nicht davon!“
Seine Frau schüttelte immer wieder den Kopf und murmelte „Oh Gott, oh Gott“ und Dieter aus der Schlemmerstube schnaufte empört vor sich hin.
Erneut rief die junge Frau „fick dich“.
„Am Montag!“, riefen die Polizisten.
„Unerhört! Das hat Folgen für Sie alle hier!“ Der Jurist vom Landratsamt herrschte seine Frau und seinen Sohn an, ihm unverzüglich – er sagte wirklich unverzüglich – zu folgen und gemeinsam verließen sie türenschlagend das Polizeirevier. Der andere Junge und der Imbissbesitzer sahen sich an, zuckten die Schultern und verkrümelten sich ebenfalls. In der Tür murmelte Dieter noch etwas von „bekloppter als ein Schnitzel“, dann waren beide weg.
Die beiden Beamten blieben mit der sich immer noch windenden aber stummen jungen Frau zurück.
Der Schnauzbart schnaufte. „Ja, ja, der schmierige Dieter. Von wegen bekloppter als ein Schnitzel. Schön, dass der olle Giftmischer auch mal was auf die Fresse gekriegt hat.“
„Und jetzt?“, fragte der Dürre. „Was machen wir mit der hier“?
„Ruf im alten Landeskrankenhaus an, noch ist der Laden ja in Betrieb“, sagte der Schnauzbart, „die sollen sich mit der blöden Irren rumärgern.“
Gegen Mitternacht hielt ein Streifenwagen vor dem Landeskrankenhaus. Die Beamten hatten die Frau mit Hand- und Fußfesseln und einer Spuckhaube versehen, obwohl sie seit geraumer Zeit ruhig und völlig teilnahmslos war. Sie hatte kein Wort mehr gesprochen.
Ein älterer weißbärtiger Mann im zerknitterten Kittel und mit bunten Filzpantoffeln an den Füßen eilte aus dem Portal auf die Polizisten zu. Gemeinsam wurde die Frau in das Gebäude gebracht. Auf den Fluren der Klinik standen Unmengen Umzugskartons, Betten, Matratzen und Regale. In einem Ruheraum fixierte der Weißbärtige die Frau auf einer Liege mit Riemen. Dann bat er die beiden Beamten, einen jungen Polizeimeister und einen älteren Kommissar, in sein Dienstzimmer. Er nahm seine kleine Nickelbrille einen Moment ab und fuhr sich leise seufzend durch den Bart. Er sah etwas müde aus. Doch er lächelte freundlich, als er den Beamten Kaffee eingoss.
„Nun, meine Herren, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.
Prof. Dr. Dr. Klaus Rosendahl. Ich bin der Leiter dieser Anstalt – noch bis Montag. Da ist dann endlich der Umzug in das neue Gebäude und mein Nachfolger kommt. Ich scheide aus und werde mich wieder meinen Forschungen widmen. Ich habe einen Lehrstuhl für klinische Psychologie. In zwei Jahren werde ich emeritiert, bis dahin möchte ich ein wichtiges Projekt über Halluzinationen bei depressiver Schizophrenie abschließen. Ein Meilenstein in der Forschung, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Ah, ja. Interessant.“, nickten die Polizisten.
Rosendahl gab seinen Besuchern mit leicht zittrigen Händen die Tassen. „Erzählen Sie mir bitte etwas mehr zu der eingelieferten Person. Ihr Kollege am Telefon hatte vorhin gesagt, sie sei gewalttätig. Eben aber schien mir ihr Zustand eher katatonisch. Ich werde gleich nach ihr sehen müssen, unsere Pfleger sind leider anderweitig beschäftigt. Aber jeder Kranke hat das Recht auf einen Arzt, nicht wahr?“
„Moment – was sagten Sie – was für einen Zustand hat die Frau?
Kata… was?“ Der jüngere Beamte sah den Professor fragend an.
„Dieses kata… ist das vielleicht ansteckend? Sie hat immerhin einen Beamten angespuckt und gebissen.“
„Katatonisch. Sie ist katatonisch“, sagte sein älterer Kollege und sah von seinem Smartphone auf. „Nicht ansteckend. Steht bei Wikipedia.“
Der Professor geriet ins Dozieren. „Sehr gut! So ist es! Ja, nutzen Sie das Internet als großartige Bibliothek des menschlichen Wissens! Katatonie ist ein psychomotorisches Syndrom. Auftreten kann es als Begleiterscheinung von psychischen Erkrankungen wie schweren Depressionen und Schizophrenie, aber natürlich auch von Stoffwechselstörungen, Einwirkung von Alkohol und anderen Drogen. In diesem Fall ist eine Ruhigstellung unumgänglich. Erst nach einer Anamnese ist hier eine Behandlung möglich.“
„Äh, ja, ja, natürlich, jetzt wo Sie es sagen.“ Eifrig nickte der junge Beamte.
Der Weißbärtige lächelte. „Aber ich will Sie wirklich nicht damit langweilen. Was wissen Sie also über die Patientin? Ist sie von hier aus der Stadt oder dem Landkreis? Und wo sind die Angehörigen?
Sind die Herrschaften informiert über die Einweisung? Sowas ist oft ein Schock für die Familie.“ Der junge Polizist zuckte die Schultern und versuchte, sich dunkel an die Dienstvorschriften zu erinnern. „Wir wissen leider rein gar nichts über sie. Papiere hat sie keine. Eine Streunerin, vermute ich mal. Hier bei uns bisher völlig unbekannt. Vermutlich erst vor kurzem zugewandert.“ Der Arzt lachte kurz auf. „Wie denn zugewandert? Eine Streunerin, sagen Sie? Na, na, was ist denn das für ein Ausdruck. Sie ist doch keine Katze oder ein Hund!“
Der ältere Beamte grinste einen Moment. „Wenn es ums Kratzen und Beißen geht, passt der Begriff auf jeden Fall. Sie hat in Dieters Schlemmerstube eine Schlägerei angezettelt und rumgepöbelt. Dazu kommt noch Widerstand gegen Vollzugsbeamte, inklusive Körperverletzung.“
„Eine Prügelei in – wie sagten Sie, heißt dieses Lokal?“
„Dieters Schlemmerstube.“
„Was für ein harmloser Name für eine Brutstätte heimtückischer gehärteter Fette. Wissen Sie eigentlich, wie viele Menschen sich damit so ganz nebenbei in den Pommes- und Wursthöllen dieses Landes umbringen?“ Er schüttelte den Kopf. „Na schön. Also eine Schlägerei in einem Imbiss. Und deshalb kommen Sie zu uns in die Klinik? Sollen wir hier jetzt denn auch noch die Opfer ungesunder Ernährungsweisen dieser langsam sterbenden Industriegesellschaft behandeln?“ Der junge Beamte räusperte sich. „Naja, das hier ist eben eine rechtlich erforderliche Zwangseinweisung nach dem Psycho-Krankheitsgesetz, die wir ordnungsgemäß durchführen und die Sie bitte bescheinigen wollen.“
Der Anstaltsleiter sah den jungen Beamten etwas mitleidig an.
„Na, Sie meinen wohl das Psychisch-Kranken-Gesetz, mein lieber junger Freund. Das gern auch so genannte Psych-KG. Nicht Psycho-Krankheitsgesetz. Da müssen wir doch aber schon ganz korrekt in der Definition sein, nicht wahr? Ich sehe schon, Sie haben damit vielleicht noch etwas wenig Erfahrung.“ Er zwinkerte ihm freundlich zu und stand auf. „Schauen Sie das auch mal bei Wikipedia nach. Möchten Sie Milch oder Zucker, meine Herren?“
„Äh, für mich nur Zucker. Drei Löffel bitte“, sagte der junge Beamte, der einen roten Kopf bekommen hatte.
Rosendahl lächelte milde. „Gern. Aber nehmen Sie nicht zu viel Zucker. Er schadet dem Organismus.“
„Sie meinen wohl Karies. Ja, das stimmt.“
Der Kopf des jungen Polizisten war noch roter geworden.
„Ich trinke meinen Kaffee schwarz. Aber keine Angst, Professor“, sagte der ältere Beamte. „Ich passe auf, dass sich der junge Kollege jeden Tag auch wirklich dreimal täglich gründlich die Zähne putzt.“
„Sehr witzig. Lass das.“ Der rote Kopf des anderen leuchtete jetzt wie ein Ampelsignal.
Der Professor drohte lächelnd mit dem Zeigefinger. „Sie müssen mehr auf Ihre Ernährung achten. Ich erwähnte vorhin schon die heimtückischen gehärteten Fette. Also, Vorsicht, mein junger Freund. Ihr Kollege hat Recht mit seinem Hinweis. Aber nicht nur die Zähne sind in Gefahr.“ Er begann wieder zu dozieren:
„Zucker kann auch schon in frühen Jahren einen gefährlichen Diabetes begünstigen. Außerdem kann er über die Blutbahn innere Organe schädigen. Etwa das Gehirn. Ein wenig Zucker regt unser Denkorgan an, zu viel aber lässt das Gehirn schrumpfen. Seine Leistungsfähigkeit nimmt schweren Schaden. Die Dosierung, mit der Einfachzucker nicht mehr schneller, sondern deutlich langsamer im Kopf machen, wird von den meisten Menschen in ihrer Ernährung regelmäßig überschritten. Viele leiden als Folge eines Diabetes unter dieser Schrumpfung des Gehirnes, ohne es zu ahnen. Wussten Sie das nicht, meine Herren?“
„Nein. Das wussten wir tatsächlich nicht. Schrumpfende Gehirne sind nicht gerade unser Fachgebiet.“, brummte der ältere der Polizisten.
„Das überrascht mich. Ich hätte gedacht, bei der Polizei würden Sie sich damit auskennen.“ Maliziös lächelte der Weißbärtige.
Der ältere Beamte ignorierte die Bemerkung und zog einige Formulare aus seiner Uniformjacke. „Herr Professor, wir müssen jetzt noch die Einweisungsunterlagen der jungen Frau ausfüllen und dann weiter. Wir haben in der ganzen Stadt nur diesen einen Streifenwagen nachts im Einsatz.“
Das maliziöse Lächeln wurde jetzt mitfühlend.
„Ja, ja, der Personalmangel. Das ist hier nicht anders. Nur ich und zwei Pfleger sind heute Nacht hier. Dabei haben wir immer noch zwei Dutzend Patienten hier, davon einige mit schweren Defekten wie Wahnvorstellungen mit äußerst aggressiven Komponenten.“
Er trank einen Schluck Kaffee. „Sie wissen vielleicht, dass seit vielen Jahren auch Jürgen Hadermann, ein Mörder, hier lebt. Jürgen Hadermann hat vor 20 Jahren mehrere junge Frauen getötet.
Streunerinnen, wie Sie wohl vermutlich sagen würden. Ich bin froh, wenn er endlich in der neuen Klinik sicher untergebracht ist.
Ich halte ihn momentan zwar für harmlos aber unberechenbar. Er kann sich unglaublich verstellen. Hadermann ist immer noch ein Faszinosum. Er ist einer der vermutlich gefährlichsten Triebtäter, die wir kennen. Aus unerfindlichen Gründen kam er damals ausgerechnet hier zu uns in die Sicherheitsverwahrung. Ich wollte ihn nicht. Aber das kann man sich leider nicht aussuchen.“ Er seufzte.
Der ältere Beamte nickte. „Ja, ich habe mal davon gehört. Wusste gar nicht, dass der hier untergebracht ist. Grässliche Geschichte.
Hat er nicht seine Opfer zerstückelt in Umzugskartons verpackt?“
„So ist es. Er hieß deshalb bei Psychiatern und in der Presse auch der Spediteur. Aber er ist eine hoch sensible Persönlichkeit.“ So etwas wie Begeisterung klang mit einem Male in den Worten Rosendahls. „Ein kluger und gebildeter Mann. Er war übrigens ein aufopferungsvoller Krankenpfleger, bevor er wahnsinnig wurde, wussten Sie das? Vermutlich löste nach dem Unfalltod seiner Frau ein Schuldkomplex mit Gewaltfantasien seine aggressiven Schübe aus. Sein erstes Opfer war ausgerechnet eine seiner Kolleginnen, die seiner Frau wohl ähnlich sah und seine Annährungsversuche abgewiesen hatte.“
„Puh…“, machte der jüngere Beamte, „man kann wirklich in niemanden hineinsehen. Man sitzt jemandem gegenüber, der klug redet und völlig normal aussieht, und doch steckt ein Irrer dahinter, der einen dann einfach in Stücke hackt.“
„Die Formulare, Herr Professor. Wir müssen jetzt weiter“, sagte der ältere Polizist. Er hatte genug von den sonderbaren Geschichten über schrumpfende Hirne und zerstückelte Leute in Umzugskartons.
„Natürlich. Die Formulare.“ Der Arzt nahm die Papiere und legte sie auf seinen Schreibtisch, machte aber keinerlei Anstalten, sie auszufüllen. „Sagen Sie bitte nicht irre. Das ist ein übler Begriff aus der dunkelsten Frühzeit der Psychiatrie. Er diskriminiert viele hilfsbedürftige Kranke, in denen eine ungeheure Intelligenz schlummern kann, die sich nur einen völlig falschen Weg gebahnt hat. Der Serienmörder Jürgen Hadermann ist eine dieser äußerst faszinierenden Persönlichkeiten.“
Er nahm etwas zitternd die Brille ab. „Er kann sich unglaublich verstellen. Seine Augen sehen Sie ehrlich an, er wirkt wahrhaftig und strahlt Kompetenz und Ruhe aus. Und doch schlummert Entsetzliches in ihm. Der Wahnsinn. Sehen Sie, auch sprachlich ist das faszinierend. Wahn-Sinn. Auch hier liegt immer noch ein Sinn in der wahnhaften Handlung – ein Sinn, der sich natürlich nur dem erfahrenen Arzt erschließt.“
„Die Papiere. Bitte, Herr Professor. Wir müssen los.“
Der Professor redete einfach weiter. „Wissen Sie, in wie viele Gesichter ich geschaut habe, die offen und freundlich waren? Und doch nistete das Böse heimlich in den Augenwinkeln. Wobei man sich das natürlich nicht wortwörtlich vorstellen darf. Man kann einen Menschen nicht am Gesicht erkennen.“
„Ich finde, bei einigen Leuten geht das schon“, sagte der jüngere Beamte und zog sich einen bösen Blick seines Kollegen zu, der auf die Einweisungsformulare zeigte und keinerlei Lust mehr zu diesem Gespräch hatte.
Professor Rosendahl lehnte sich zurück. „Früher allerdings war das noch anders. In der Kriminalbiologie ging man tatsächlich davon aus, dass Verbrechen angeboren ist. Und ein großer italienischer Anatom, Cesare Lombroso, behauptete vor über 100 Jahren in einer umfangreichen Schrift, dass sich bestimmte körperliche Eigenschaften wie vorspringendes Kinn, Augenwülste oder auch zusammengewachsene Brauen mit niederen geistigen Leistungen und Trieben verbinden.“
„Völliger Blödsinn.“
„Wie bitte?“
„Kein ernsthafter Mensch würde das heute noch behaupten“, grunzte der ältere Polizist. „Wir müssen los, Professor.“
Der ignorierte den Einwand und dozierte ungerührt weiter. „Wissen Sie, in strafrechtlichen Angelegenheiten sollte damals die Zuständigkeit zwischen Juristen und Medizinern zugunsten der Medizin verschoben werden. Lombroso ging es dabei keineswegs um eine mildere Beurteilung oder geringere Bestrafung des geborenen Verbrechers, sondern nur um die Deutungshoheit im strafrechtlichen Prozess. Er war übrigens auch der Ansicht, der Verbrecher und sein Metier seien optisch zu erkennen. Feine Gliedmaßen bei Taschendieben, starke Muskeln bei Tresorknackern. Aber das ist längst überholtes Denken.“
„Na also. Dann können wir ja jetzt wohl endlich zum Wesentlichen kommen. Die Papiere!“
„Natürlich, natürlich. Aber spinnen Sie einfach mal den Gedanken weiter, nur so zum Spaß. Sehen Sie mich an. Wissen Sie, wer ich bin? Weiß ich, wer Sie sind? Auch ein wahnsinniger Mörder wie Jürgen Hadermann wäre nicht durch sein Äußeres zu erkennen. Und er imitiert das Verhalten von Autoritäten perfekt. Er verfügt über ein ungeheures Fachwissen, das er sich in vielen Jahren bei Wikipedia angelesen hat und fast wortwörtlich zitieren kann. Er könnte jetzt mit Ihnen hier sitzen und sich ganz normal mit Ihnen unterhalten und doch bereits heimlich Ihren Tod planen.“
Der junge Beamte schluckte. „Wie meinen Sie das?“
Genervt richtete sein Kollege den Blick zur Decke.
Der Professor lächelte schelmisch. „Nun, er könnte Ihnen etwa einen Kaffee anbieten und mit Ihnen über die Probleme der modernen Psychiatrie plaudern. Sie würden interessiert zuhören, an Ihren Tassen nippen und nicht auf die Idee kommen, dass Sie vielleicht gerade mit Strychnin vergiftet werden. Wenn Sie dann für immer eingeschlafen sind, würde er Sie kaltblütig ohne jede Erregung zerstückeln und in einem seiner Umzugskarton verpacken.“
„Wie bitte?“
Das Funkgerät am Gürtel des älteren Beamten fing an zu quäken.
Er griff danach. „Ja, wir sind hier noch in der Psychiatrie. Wir kommen aber sofort. Ich melde mich vom Unfallort!“ Er stand auf. „Das ist alles sehr interessant, Herr Professor. Aber wir müssen jetzt los. Ein schwerer Verkehrsunfall auf der Bundesstraße.“
„Ja, selbstverständlich. Ich fülle nur rasch die Papiere aus.“
Der Professor nahm einen Kugelschreiber, aber er schrieb nicht.
Seine Hände zitterten. „Ich, ich … ich weiß nicht, was ich hier so genau reinschreiben soll. Ich habe das seit Jahren nicht mehr gemacht. Hier kommt doch niemand mehr her. Niemand.“ Die Beamten sahen sich irritiert an.
Das Zittern der Hände des Weißbärtigen wurde stärker. Der Kugelschreiber rutschte ihm aus der Hand.
„Alles in Ordnung, Herr Professor?“
„Meine Hände. Sie zittern immer wieder bei Formularen. Allergisch bedingt. Ich habe einen leichten stressbedingten Tremor, deshalb höre ich auch in dieser Anstalt auf und gehe zurück in die Forschung an die Universität. Dort macht das Zittern nichts aus.“
Sein Blick begann zu flackern. „Ich bin schon zu lange hier, viel zu lange. Ich muss hier endlich weg.“
„So, so.“ Der ältere Polizist stützte die Hände in die Hüften. „Sie zittern bei Formularen. Zittern Sie vielleicht, weil sie gar nicht wissen, was Sie hineinschreiben sollen in dieses Formular?“
„Ich – äh, doch, doch, natürlich …“ Der andere sah auf seine Hände. „Sie müssen entschuldigen, ich mache das nie selbst.“
„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Herr Professor. Aber warum tragen Sie kein Namensschild am Kittel? Und warum haben Sie diese albernen Pantoffeln an?“
„Es ist die letzte Nacht für mich in dieser Anstalt. Ich habe es mir doch nur bequem gemacht und etwas gelesen. Es sind übrigens meine Lieblingspantoffeln. Ich habe mehrere Paare davon. Sie sind bequem, einfach so bequem. Deshalb trage ich sie. Ich habe nicht mit einer Einweisung gerechnet. Vor allen Dingen nicht mit einer jungen Frau. Einer – äh – einer Streunerin, wie Sie sagen.“
Der ältere Beamte legte langsam eine Hand auf den Griff seiner Dienstwaffe. „Interessant. Ein allergisch bedingter Tremor bei Formularen. Und bunte Pantoffeln. Gleich mehrere Paare. Dafür fehlt aber Ihr Namensschild. Na, wo ist das Schild? Ärzte in Kliniken tragen doch ein Namensschild am Kittel, ist es nicht so?“
„Oh ja, das stimmt. Ich muss es wohl verlegt haben.“ Rosendahl fing an, fahrig auf dem Schreibtisch danach zu suchen.
„Sie haben es nicht verlegt. Sie haben überhaupt kein Namensschild. Und ich vermute mal, Ihr wahrer Name ist auch nicht Rosendahl, habe ich recht?“
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Ein großer und stattlicher Mann stürmte herein. An seinem Kittel war ein Schild mit der Aufschrift Prof. Dr. Dr. Rosendahl.
„Mein Gott, ich habe überall gesucht! Ich hätte es ahnen müssen!“
Die Augen des Mannes mit den Pantoffeln weiteten sich vor Angst. „Da, da, das, das ist er! Tun Sie was!!“ Er fing plötzlich unkontrolliert an zu zittern.
„Natürlich ist er das! Gott sei Dank ist er das!“ Zu den Polizisten sagte der Arzt mit dem Namensschild: „Halten Sie den Mann fest!
Er gibt sich immer wieder als Leiter der Anstalt aus. Leider ist er nicht nur sehr klug, sondern auch sehr gefährlich.“
Die Polizisten zögerten einen winzigen Moment, dann packten sie energisch zu. Der Arzt setzte dem zitternden Mann mit den Pantoffeln eine Spritze währenddessen dieser unaufhörlich irgendwas von „Mörder, Mörder“ schrie und sich wehrte. Dann erschlaffte er ganz plötzlich. Er versuchte zu sprechen, doch nur ein paar undeutliche Laute kamen über seine Lippen.
Die Beamten und der Arzt hoben ihn vom Schreibtischstuhl und legten ihn auf die Couch.
„Danke meine Herren. Das tut mir hier sehr leid. Es ist furchtbar.
Der Umzug. Viel zu wenig Personal und dementsprechendes Chaos. Hier wurde dauernd überall gepackt und irgendwie hat er das Durcheinander geschickt genutzt.“
Der junge Polizist zeigte irritiert auf den Mann im Besuchersessel.
„Das ist dann gar nicht der Anstaltsleiter, oder?“
„Blitzmerker“, entfuhr es seinem Kollegen. „Du hast es ja wirklich drauf.“
Der Arzt schüttelte energisch den Kopf. „Nein, natürlich ist er das nicht. Würden Sie sich so etwa den Leiter einer Psychiatrischen Landesklinik vorstellen?“
„Pah“, der ältere Polizist lachte kurz auf. „Der kam mir doch gleich etwas komisch vor. Mit dieser Nickelbrille, dem Bart und den albernen Pantoffeln. Eine Mischung aus dem Weihnachtsmann und Professor Brinkmann von der Schwarzwaldklinik. Er bedient wirklich alle Klischees.“
„Er liebt diesen Look. Er war früher einmal Krankenpfleger. Eigentlich wollte er Psychiater werden. Er war sehr beliebt und kompetent. Natürlich war das, bevor er hierher kam. Er verfügt über ein geniales Fachwissen, das er sich in vielen Jahren bei Wikipedia angelesen hat und stundenlang zitieren kann. Seien Sie froh, dass Sie seine traurige aber auch furchtbare Geschichte nicht kennen.“
„Er hat völlig wirres Zeug über schrumpfende Gehirne und vergifteten Kaffee geredet. Und dann dieses sonderbare Zittern des Mannes. Eine Allergie gegen Formulare. Was für ein Quatsch!“ „Wir haben wirklich Glück gehabt, meine Herren.“ Der Arzt nahm den Hörer vom Telefon und wählte eine Nummer. „Professor Rosendahl hier. Bitte kommen Sie rasch in mein Dienstzimmer. Ich habe den Patienten H. gefunden und sediert. Er muss aber sofort wieder unter ständige Beobachtung auf Station II.“
Er legte auf. Dann atmete er durch. Seine freundlichen Augen strahlten Erleichterung aus. „Es kommt gleich jemand. Sie wissen ja zum Glück nicht, wer dieser Mann ist. Ich bin so froh, dass Sie zufällig hier mit ihm saßen und er nicht geflohen ist.“
Der ältere Polizist nickte. „Oh doch. Ich glaube, ich weiß, wer er ist. Er ist der wahnsinnige Mörder Jürgen Hadermann, vor über 20 Jahren wegen mehrfachen Mordes verurteilt und dann auf unbestimmte Zeit sicherheitsverwahrt.“
Der Arzt seufzte. Es klang bekümmert. Er schwieg eine Weile.
„Ja. Sie haben leider Recht“, sagte er dann.
„Er ist tatsächlich Jürgen Hadermann, einer der vermutlich gefährlichsten Triebtäter der Nachkriegszeit. Aus unerfindlichen Gründen ausgerechnet hier bei uns in der Sicherheitsverwahrung.
Ein ganz furchtbarer Fall menschlichen Abgrundes. Er hat sich offenbar vorhin während eines Abendspazierganges von seinem begleitenden Pfleger befreit und einen Arztkittel gestohlen und sich dann hier in meinem Dienstzimmer breit gemacht, während ich auf Visite war.“
„Wir müssen das melden, Herr Professor Rosendahl. Es geht nicht an, dass sich so jemand hier frei bewegt und auch noch als Arzt ausgibt. Er hätte fliehen können. Wir können da leider nicht zur Tagesordnung übergehen. Ich hoffe, Sie verstehen das.“
„Ja, gewiss, das verstehe ich. Aber vielleicht hat das bis Montag Zeit? Dann bin ich hier fertig und übergebe die Leitung an meinen Nachfolger. Ich gehe an die Universität zurück.“
„Natürlich hat das bis Montag Zeit. Wir müssen jetzt ohnehin dringend los, ein schwerer Verkehrsunfall auf der Bundesstraße.
Aber Sie müssten noch die Einweisung der jungen Frau gegenzeichnen. Die Formulare liegen auf dem Schreibtisch.“
„Eine junge Frau? Eine Zwangseinweisung?“ Der Arzt blickte erstaunt auf. „Warum weiß ich denn nichts davon? Mir hat niemand etwas davon gesagt. Aber das ist ja auch egal. Wo ist die Patientin denn? Sie braucht doch ärztliche Hilfe!“
„Der Herr Professor“, der ältere Beamte korrigierte sich, „also der Mann dort, hat sie nebenan auf ein Bett gelegt und dann mit Riemen fixiert. Das sei dringend erforderlich, behauptete er.“ „Ja um Himmels willen! Wo kommt denn diese Frau überhaupt her?“
„Sie hatte in Dieters Schlemmerstube eine Schlägerei angefangen.“
„Bitte wo?“
„In Dieters Schlemmerstube, einem Imbiss.“
„Ein wirklich herzerfrischender Name für einen Ort mit Fleischabfällen und gefährlichen ungesättigten Fettsäuren. Aber Entschuldigung, ich habe Sie gerade unterbrochen.“ „Die Frau war auf der Wache äußerst aggressiv, hat rumgepöbelt, einen Kollegen gebissen und gekratzt.“
Der jüngere Beamte fügte hinzu: „Kaum zu bändigen. Bei der Einlieferung hier aber war sie dann völlig kata - äh… na, wie heißt das doch noch gleich?“
„Katatonisch“, sagte sein Kollege, „merk es dir endlich, es heißt katatonisch und steckt immer noch nicht an.“
„Sehr gut! Sie kennen sich ja aus!“, freute sich der Arzt. „Ein psychomotorisches Syndrom. Hier muss sofort medikamentös eingegriffen werden, sonst verschlimmert sich der Zustand des Patienten. Da ist eine gezielte Behandlung der zugrundeliegenden psychischen Störung, etwa mit Neuroleptika bei schizophrenen Störungen indiziert. Sie sagen, Hadermann hat fixiert?“
„Äh – ja. Warum fragen Sie das?“
Der Arzt griff nach den Formularen. Er seufzte. „Diese Fesselung von Patienten – oder besser gesagt Opfern – ist typisch für ihn.
Wir haben unglaubliches Glück gehabt, meine Herren, unglaubliches Glück. Er hat alle seine Opfer vor der Tötung fixiert. Fixiert und dann… es ist zu grauenvoll, ersparen Sie mir die Details.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er seinem manischen Drang nach medizinischer Selbstdarstellung nicht gefolgt wäre und Sie mit seinem zugegebenermaßen sehr geistreichen Geschwätz aufgehalten hätte, bis ich kam.“
„Er sprach davon, dass auch der Wahn einen Sinn habe. Deshalb hieße es ja auch Wahn-Sinn“, sagte der jüngere Polizist.
„Eine seiner typischen wirren Argumentationen, um die Schuld am eigenen Handeln zu verleugnen. Er ist verrückt, im wahrsten semantischen Sinne des Wortes. Wie ein Möbelstück, das jemand verrückt hat. So ist eben auch der psychisch Kranke in seinem Umfeld ver-rückt.“
„Sozusagen ein Möbelstück an der falschen Stelle.“ Der junge Beamte nickte eifrig.
„Ganz genau! Wenn Hadermann nicht so gern reden würde, wäre die Patientin nebenan vermutlich längst tot und in einem der Umzugskartons. Furchtbar. Ich darf gar nicht daran denken.“
„Sie meinen im Ernst, er hätte sie ermordet und dann womöglich noch zerstückelt?“
„Ich befürchte es, ja. Ich kann das nicht ausschließen. Der Umzug unserer Klinik. Die Kartons überall. Das könnte ihn animiert haben. Ein neuer Schub seiner Wahnvorstellungen vermute ich.“
„Der Spediteur. Da kam er dann wieder durch.“
„Ja, der Spediteur. So hieß er einst in Fachkreisen und in der Presse. Er adressierte die Umzugskartons an Personen aus seiner Adoleszenz und stellte sie im Wald ab.“
„Personen aus seiner Ado…?
„Adoleszenz, die Phase des Heranwachsens. Sie kennen vermutlich eher den Begriff Pubertät. Adoleszenz und Pubertät beschreiben primär den gleichen Lebensabschnitt. In der Adoleszenz macht der Mensch wichtige physische wie auch psychische Entwicklungsprozesse durch. Er erreicht zu Beginn im Teilabschnitt der Pubertät die Geschlechtsreife. Es geht also hier deutlich um einen größeren Zusammenhang, da die Pubertät bereits vor der Lebensspanne der Jugend beginnt und die Adoleszenz …“ „Danke, danke, wir sind bestens im Bilde …“ Der ältere Polizist winkte müde ab.
„Nun ja, ich dachte, Sie hätten noch Fragen dazu.“
„Nein, wirklich nicht. Vielen Dank, Professor Rosendahl.“
Rosendahl begann jetzt, routiniert die Formulare auszufüllen. „Na prima. Dann haben wir das ja auch geklärt. Alles bei Hadermann deutet nämlich darauf hin, dass er sich nicht verändert hat. Er ist auch jetzt noch unberechenbar. Durch seine Wahnvorstellungen könnte er seine Taten auch nach Jahren wiederholen. Aber ein äußerst faszinierender Fall, sage ich Ihnen!“ Er griff erneut zum Telefonhörer und wählte. „Wo bleiben Sie denn? Was heißt hier ein kleines Problem auf der Station I? Ich brauche Sie hier, ganz dringend! Bringen Sie auf jeden Fall das EEG mit für eine Hirnstrommessung.“