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Ein TV-Moderator, der sich für Christus hält, ein Gastronom, der im Verdacht steht, Geschäftspartner am Spieß zu grillen, ein Chirurg, der sonderbare Ideen für eine OP hat: EIN SPÄTER FREUND erzählt kleine böse Geschichten aus der Welt der Generation Burnout, in der es fast immer darum geht, seine Mitmenschen diskret über den Tisch zu ziehen oder direkt zu entsorgen. Wer dabei aber nur an Moral denkt, liegt völlig falsch: Gier und Hinterlist sind nicht nur spannend, sondern können auch richtig Spaß machen.
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Seitenzahl: 211
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Das Buch
Ein TV-Moderator, der sich für Christus hält, ein Gastronom, der im Verdacht steht, Geschäftspartner am Spieß zu grillen, ein Chirurg, der sonderbare Ideen für eine OP hat: EIN SPÄTER FREUND erzählt kleine böse Geschichten aus der Welt der Generation Burnout, in der es fast immer darum geht, seine Mitmenschen diskret über den Tisch zu ziehen oder direkt zu entsorgen. Wer dabei aber nur an Moral denkt, liegt völlig falsch: Gier und Hinterlist sind nicht nur spannend, sondern können auch richtig Spaß machen.
Der Autor
Malte Bastian arbeitete als Lokalredakteur, Werbetexter und Pressesprecher. 2009 erschien nach mehreren Sachbüchern unter dem Pseudonym Karoline Klötzing sein erster Krimi MORDSQUOTEN im Berliner MOS-Verlag. Heute ist er als Berater für TV-Produzenten und Wirtschaftsunternehmen im Bereich Kommunikation tätig. Malte Bastian lebt und arbeitet in Köln und Bremen-Bremerhaven.
EIN SPÄTER FREUND ist auch als E-Book erhältlich
Miss Gina
Sodbrennen
Ödipus
Das Veilchen
Fernsehgott
Die Seele der Dinge
Reifeprüfung
Ich bin ein anderer
Ein später Freund
Alte Kameraden
Richtig satt
Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel herab und brannte auf das Fell der Rinder, die auf den Weiden standen. Hin und wieder fuhr ein Auto auf der Landstraße vorbei, dessen Brummen sich dann in der Ferne verlor. Ein Bahndamm kam irgendwo aus dem nirgendwo und verlor sich auch wieder dorthin. Schon lange fuhren hier keine regelmäßigen Züge mehr. Ein heißes Flirren lag in der Luft. Hier, im mittleren Westen des Landes, war die Welt noch in Ordnung. Sie war so in Ordnung, dass selbst das stark umzäunte und gut bewachte Atomkraftwerk noch nie ernsthaft belagert worden war. Nur in den späten 80er Jahren hatte sich einmal eine Handvoll junger Männer und Frauen in Latzhosen an den Zaun gekettet. Doch die Polizei entfernte die Demonstranten ohne viel Federlesens. Irgendwie geriet das Kraftwerk dann im Laufe der Jahre aus dem Blickfeld der Anti-Atombewegung. Es gab größere, auffälligere und vor allen Dingen viel besser zu erreichende Meiler, vor denen immer noch dann und wann gegen den Abtransport der alten Brennelemente protestiert wurde. Aber im mittleren Westen waren das in den Wohnzimmern mit den groß gemusterten Tapeten und den wuchtigen Buffets nur Fernsehbilder, die für alle hier so weit entfernt waren, wie die Reportagen über Slums in Rio de Janeiro oder Kinderarbeit in Bangladesch.
An einem dieser flirrend-heißen Tage im mittleren Westen kam ein Mann mit einem kleinen Koffer die Auffahrt zum Atomkraftwerk hinauf. Er war dick und schwitzte. Das lag aber nicht nur an seinem Gewicht, sondern auch an seinem dunklen Anzug. Trotz gelockerter Krawatte und geöffneter Weste ächzte der Mann. Er gelangte bis an den Zaun, wo er vor einer Tür mit Gegensprechanlage stehenblieb und den Rufknopf drückte.
„Hallo? Wer ist dort?“ fragte eine mürrische Stimme aus der Sprechanlage.
„Ich brauche Ihre Hilfe!“, rief der dicke Mann.
„Worum geht es?“, wollte die Stimme wissen.
„Ich bin herzkrank und bin hier an der Landstraße mit dem Wagen liegen geblieben“, ächzte der Mann, „ich komme nicht vom Fleck.“
„Sie sollten den ADAC rufen“, sagte die Stimme ungerührt, „Wir können hier niemanden hineinlassen.“
„Ich kann nicht telefonieren, mein Handy hat bei der Hitze schlapp gemacht. Der Akku ist völlig leer.“
„Bleiben Sie am Wagen, ich rufe für Sie den ADAC. Dauert aber etwas“, bot die Stimme mürrisch an.
„Nein, nein, es ist nicht nur das. Ich muss meine Tabletten nehmen und brauche dringend Wasser. Ich bin herzkrank!“
„Moment“, sagte die mürrische Stimme wenig begeistert.
Der dicke Mann wartete zitternd und schwitzend.
Das Tor summte. „Kommen Sie rein und gehen Sie bis zum zweiten Tor an den inneren Zaun, dort wartet jemand auf Sie.“ Der Mann schob sich durch die Tür im Zaun, die krachend hinter ihm ins Schloss fiel, und lief einen Schotterweg entlang. Rechts und links von ihm türmten sich verrostete Stacheldrahtrollen in die Höhe, dazwischen stand fahles gelbes Gestrüpp. Zwischen dem Schotter wuchsen einige traurige verbrannte Grasbüschel. Nichts war zu hören, als das Zirpen der Grillen, die irgendwo in der Hitze ihr eintöniges Konzert gaben. Gelbes Gras, Grillen und Schotter. In der Nähe dieses radioaktiven Meilers schien es kein anderes Leben zu geben. Ihm wurde mulmig und er fasste sich an die Brust. Fürchterlich beengt war es hier, beengt und bedrohlich zugleich. Vielleicht gab es Strahlung, die ganz unbemerkt die Herztätigkeit ausschaltete?
Der Schweiß lief ihm über das Gesicht, sein Herz wummerte und er versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Sein kleiner Koffer schlug gegen den Stacheldraht und bekam eine hässliche Schramme. Er schleppte sich schwer atmend an das zweite Tor, das hinter einer Biegung lag. Klug gemacht, dachte er trotz der Strapazen, da hatte jemand sich etwas von den Festungsbaumeistern des Mittelalters abgeschaut. Sollte es jemals einem Unbefugten gelingen, das erste Tor gewaltsam zu öffnen um das Kraftwerk zu stürmen, konnte er mit keinem noch so handlichen Rammbock Anlauf nehmen, um das zweite Tor zu zerstören. Stattdessen musste der Eindringling sich in einem 90 Grad-Winkel bewegen. Ferngesteuerte Kameras sahen dabei auf alles hinab, was sich bewegte. Außerdem konnte man zwischen den Stacheldrahtrollen einen Sandweg erkennen, auf dem eindeutig nicht nur die Spuren großer Stiefel, sondern auch die gewaltiger Hundepfoten zu sehen waren. Auf einem frischen Kothaufen saßen einige dicke grüne Fliegen und summten matt in der Hitze. Der Dicke ging vorbei und verzog angewidert das Gesicht.
Hinter dem zweiten Gittertor stand ein Posten in einem kurzärmeligen schwarzen Overall. An seinem breiten Gürtel waren ein Funkgerät, ein Schlagstock, und eine Pistole befestigt. Auf dem rasierten Schädel trug der Mann eine Baseball-Mütze mit der Aufschrift SPECIAL FORCE und an den Füßen auf Hochglanz polierte Kampfstiefel.
„Es tut mir leid“, japste der dicke Mann, „ich möchte nicht stören, aber mir geht es nicht gut. Mein Auto ist liegengeblieben, irgendwas mit der Elektronik. Erst fiel die Klimaanlage aus, dann ging gar nichts mehr. Und der Akku meines Handys hat auch schlapp gemacht. Oh, diese Hitze ist nicht gut für mich. Ich bin doch schwer herzkrank...“
„Das sagten Sie bereits“, meinte der Posten ungerührt und der dicke Mann erkannte die mürrische Stimme wieder. „Lass ihn rein, Tiger.“
Das Tor summte und öffnete sich langsam. An seiner oberen Kante begann eine orangefarbene Leuchte wild zu blinken und eine Sirene heulte auf. Der dicke Mann ging hindurch, sein kleiner Koffer schlug ihm gegen die Beine. Er verzog das Gesicht, offenbar hatte er Schmerzen. Hinter ihm schloss sich das schwere Tor wieder. Die Sirene hörte auf zu heulen und das Blinklicht schaltete sich aus. Der Dicke blieb ratlos stehen.
„Moment“, sagte der Posten und drehte sich um. „Tiger, schau nach, was der Mann bei sich hat.“
Aus einem Betonblock mit Sehschlitzen, der direkt neben dem Tor stand, trat ein weiterer Posten hervor. Er hatte Oberarme wie Baumstämme und einen erstaunlich kleinen Kopf auf den breiten Schultern.
„Alles klar, Chief“, sagte er mit schleppender Stimme und dann zu dem dicken Mann: „Nehmen Sie die Hände hoch und machen Sie die Beine breit. Keine Angst, das ist wie auf dem Flughafen.“
Der dicke Mann gehorchte und Tiger fuhr mit einem Gerät am Körper des Mannes entlang. Einmal piepste es und Tiger zog dem Dicken kurz einen Autoschlüssel aus der Tasche. Er tastete routiniert die Hosenbeine ab und die Innentaschen des Anzugjacketts.
„Er ist sauber, Chief.“
„Vergiss den Koffer nicht“
Wortlos nahm Tiger dem Mann den Koffer aus der Hand.
„Oh, bitte, das sind private Unterlagen.“
Tiger sah ihn mürrisch an. „Ja und?“
„Das ist sehr intim.“
Der Chief und Tiger grinsten sich vielsagend an. „Aha“, sagte der Chief dann und tippte mit der Fußspitze gegen den Koffer, „sehr intim, so, so. Ich weiß nicht, ob ich das durchgehen lassen kann, so intime Sachen, wissen Sie. Ich interessiere mich nämlich sehr für intime Sachen.“
Tiger ließ einen kurzen Lacher hören.
„Ja, also – es ist von einem Mandanten. Ich bin auf dem Weg zu einem Prozess. Ich bin Rechtsanwalt, irgendwo müsste ich auch meine Karte haben. Bitte, wahren Sie doch das Anwaltsgeheimnis.“
„Meister“, der Chief schüttelte bedächtig den Kopf, „Meister, wir dürfen hier niemanden rein lassen. Bei Ihnen haben wir eine Ausnahme gemacht. Weil Sie Hilfe brauchen. Jetzt haben Sie da diesen Koffer und wollen uns nicht rein sehen lassen. Was glauben Sie wohl, muss ich da denken? Sind da Handschellen drin, mit denen Sie sich hier als Aktivist anketten wollen? Oder irgend so ein dämliches Transparent von Greenpeace oder anderen Schwachköpfen? Molotow-Cocktails? Pflastersteine? Sie müssen uns schon verstehen, guter Mann – wir kennen Sie doch überhaupt nicht. Deshalb sage ich: Koffer auf!“
Der dicke Mann fasste sich wieder an die Brust. „Bitte, ich möchte etwas Wasser, ich muss dringend meine Tabletten nehmen. Der Koffer ist völlig in Ordnung. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Ich bin Rechtsanwalt, das sagte ich doch. Und hier... hier ist auch meine Karte.“ Er griff in seine Jackentasche und drückte dem Chief eine Visitenkarte in die Hand.
„Dr. Friedhelm Schucht. Rechtsanwalt. Aus Oberhausen.“ Der Chief zuckte lakonisch die Schultern. „Ja und? Damit ist leider immer noch nicht geklärt, was in dem komischen Koffer ist.“
„Prozessakten. Nur Prozessakten. Ich bin auf dem Weg zum Landgericht. Das unterliegt alles der Schweigepflicht.“ Der Dicke ächzte. „Bitte, lassen Sie mich doch einen Schluck Wasser nehmen.“
„Tut mir wirklich leid. So können wir Sie nicht hineinlassen. Tiger, den Koffer!“
„Moment, Moment!“ Der Dicke griff nach seinem Koffer.
„Das geht auf keinen Fall! Sie dürfen da nun wirklich nicht ran!“ Er drückte den Koffer schwer atmend an sich. „Dann lassen Sie mich eben wieder gehen! Aber hier werden Sie nicht hineinsehen!“
„Sie sind jetzt hier drinnen“, sagte der Chief ungemütlich, „hier kommt man noch schwerer raus, als man reinkommt. Das ist unser Job, Meister.“
„Lassen Sie mich gehen! Sie haben überhaupt kein Recht, mich hier festzuhalten!“
Tiger sah ihn verständnislos an. „Wer sagt das?“
„Das sage ich Ihnen als Anwalt!“
„Du, mein Freund“, sagte der Chief langsam, „Du hast hier gar nichts zu sagen. Du bist hier einmarschiert weil du was von uns wolltest. Jetzt bist du hier drin und ich sage dir, was du zu tun hast. Und ich sage, wir sehen uns jetzt mal deinen komischen Koffer an. Da ist doch was faul!“
„Nein!!“ Der Dicke drückte den Koffer noch enger an sich. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht, „Nein! Rufen Sie von mir aus die Polizei, dann bin ich bereit, den Koffer zu öffnen – aber nicht vor Ihnen!“
„Jetzt reicht es aber. Her mit dem Koffer!“
„Nein! Ich bestehe darauf, dass Sie die Polizei rufen wenn Sie an meinen Koffer wollen!“
Der Chief wurde ungehalten. „Hier bin ich die verdammte Polizei! Was glaubst du, was wir hier machen? Den ganzen Tag Kaffee trinken und popeln?“
„Rufen Sie die Polizei! Ich bestehe darauf!“
Stattdessen seufzte der Chief nur bekümmert und sagte halblaut „Wie du willst. Tiger, dein Job!“ und der trat ohne eine Gemütsregung auf den Dicken zu und griff mit seinen riesigen Händen nach dem Koffer.
„Nein, das dürfen Sie nicht!“, keuchte der und drückte Tigers Hand energisch weg. „Sie dürfen das nicht!!“
Tiger ließ den Koffer los und zog einen kleinen biegsamen Plastik-Stock. Dann folgte eine geschmeidige und oft geübte Bewegung. Der Stock sauste wie eine Gerte durch die Luft und schlug dem Dicken auf die Finger. Mit einem Schmerzensschrei ließ der den Koffer los.
„Tut mir leid“, sagte Tiger ungerührt während der andere sich heulend die Hand hielt. Der Stock hatte die Haut an den Knöcheln aufplatzen lassen, und das Blut hinterließ auf den Manschetten rote Spuren. Dennoch gab der Dicke nicht auf.
„Das wird Sie sehr teuer zu stehen kommen! Das ist Körperverletzung! In Tateinheit mit Freiheitsberaubung! Ich bestehe darauf, dass Sie endlich die Polizei rufen!“
Der Chief schüttelte den Kopf. „Anwalt, du hörst nicht richtig zu. Wir sind hier die Polizei. Und wenn du weiterhin so bockig bist, lochen wir dich ein. Wir haben hier nämlich sogar einen kleinen Knast.“
„Da haben wir mal bei einer Demo zwei nette Öko-Bräute vernascht“, grinste Tiger.
„Halts Maul, Tiger. Mach lieber den Koffer auf.“
„Nein!!“ Der Dicke ging zu Boden warf sich schützend über den Koffer.
Der Chief schüttelte den Kopf. „Du machst es uns wirklich schwer, Anwalt.“ Er trat einen Schritt zurück und machte eine Handbewegung zu Tiger. „Hilf ihm. Er will es nicht anders.“
Tiger nickte und trat dem Dicken mit der Stiefelspitze in die Rippen. Nicht besonders stark, da hatte er schon ganz anders zugelangt. Es war eher ein zartes Antippen als ein richtiger Tritt. Aber doch so, dass der Mann mit einem gurgelndem Laut vom Koffer rutschte und sich vor Schmerzen krümmte. Der Chief ging in die Hocke und öffnete vorsichtig den Koffer. Eine Reihe von dicken Akten lag darin, obenauf eine zerknüllte Robe und eine weiße Krawatte.
Tiger machte ein ratloses Gesicht. „Komische Akten und `ne alte schwarze Kutte.“ Er schob nachdenklich den etwas zu groß geratenen Unterkiefer vor. „Mmmh. Der Typ ist wohl wirklich Anwalt, Chief. Das ist jetzt aber voll blöd.“
„Ich sagte halts Maul Tiger.“ Der Chief legte die Akten an die Seite und wühlte im Koffer herum. „Moment mal, wusste ich doch, dass da was faul ist.“
Er fischte ein zartes Negligee heraus und grinste breit. „Na, Dicker, ist das deins?“ Dann verzog er angewidert das Gesicht und holte mit spitzen Fingern einen merkwürdigen Gegenstand aus dem Koffer, der das Format einer großen Taschenlampe hatte und aus fleischfarbenem Gummi war. Vorn lief der Gegenstand breit zu und hatte einen wulstigen Schlitz. In pinkfarbenen Buchstaben stand Miss Gina auf der Seite.
Die Augen des Chiefs verengten sich. „Jetzt weiß ich, warum du dir in die Hosen gemacht hast, als wir deinen Koffer öffnen wollten, Anwalt“, sagte er, „Du bist ein Perverser. Statt mit einer Frau treibst du es mit diesem Gummiding. Miss Gina. Mann, du bist echt eine arme Sau, eine ganz arme Sau. Miss Gina – pah.“
Er nahm den Gegenstand in die Hand. „Obwohl - immerhin ist sie noch unbenutzt. Sogar der Preis ist noch dran. Nur die Batterien fehlen anscheinend.“ Er streichelte über die Verpackung.
Dann griff er noch einmal in den Koffer und pfiff durch die Zähne. In der Hand hielt er ein Bündel nagelneuer 50-Euro-Scheine.
„Mensch, mit der Kohle hätte der sich doch was Besseres als Miss Gina kaufen können“, schüttelte Tiger grinsend den Kopf.
„Garantiert nicht ganz sauber, die Kohle. Bestimmt irgendwo geklaut. Da gehe ich jede Wette ein.“
„Halts Maul, Tiger.“ Der Chief sah auf den Dicken, der röchelnd auf dem Boden lag und sich eine Hand vor die Brust presste. An einem Mundwinkel hing ein Blutfaden.
„Das Geld ist von einem Mandanten“, murmelte er.
„Und wo ist die Mandanten-Quittung für die Kohle, Anwalt?“, herrschte ihn der Chief an. „Willst du mich verarschen? Bargeld von deinem Mandanten? Was ist der denn? Dealer oder Politiker?“
„Es gibt keine Quittung... bitte, ich bekomme keine Luft mehr, mein Herz...“
„Verdammt, der Kerl kackt uns hier ab, Tiger. Bring ihn in den Aufenthaltsraum und kümmere dich um ihn.“
„Alles klar, Chief“. Tiger zog mit Leichtigkeit den Dicken vom Pflaster. Er legte ihm einen der riesigen Arme um den Leib und schleppte ihn mühelos davon.
„Mein Herz...“, sagte der Dicke und Tiger sagte im Gehen nur „Hab dich nicht so, musst mehr Sport machen.“
Der Chief hockte immer noch neben dem offenen Koffer. In seinem Gesicht arbeitete es. Er zählte die Scheine und kam auf 50 Stück. 2.500 nagelneue Euro. So eine Gelegenheit kam nie wieder. Er atmete tief durch. Um die Kameras überall auf dem Gelände machte er sich keine Sorgen, die Aufnahmebänder würde er bei Schichtende löschen. Er befeuchtete mit der Zunge seine Lippen und horchte einen Moment in sich hinein. Dann warf er die Prozessakten und das Negligee wieder in den Koffer und ließ die Schnappschlösser einrasten. Miss Gina und das Bündel Banknoten aber legte er in eine schwarze Plastiktüte, die er aus der Gesäßtasche zog. Der Chief ging auf dem Weg zum Aufenthaltsraum am Transformatorengebäude vorbei. Es lag von einer Mauer getrennt direkt neben dem Reaktor und nur wenige Menschen hatten einen Schlüssel dafür. Der Chief gehörte dazu. Er ging in den Keller wo die große Anlage summte und versteckte die Tüte mit Miss Gina und dem Geld in einem Schuhkarton mit Pornoheften direkt hinter einem Schaltkasten, der die Sicherungen für die Brennstäbe des Reaktors enthielt. Dann nahm er den Koffer und ging in den Aufenthaltsraum des Wachpersonals. Der dicke Mann saß auf einem Feldbett und schien sich etwas erholt zu haben.
„Na“, sagte der Chief, „geht’s wieder? Tut mir leid. Aber wer nicht hören will – du weißt wohl jetzt, wie hier der Hase läuft.“ Der Dicke schnaufte. Neben ihm stand ein Glas Wasser und er stopfte einige Tabletten in den Mund. Die Knöchel seiner lädierten Hand zierte ein Pflaster. „Das wird ein Nachspiel haben“, ächzte er.
„Miss Gina brennt garantiert auf ein Nachspiel bei dem Vorspiel, was du uns geliefert hast“, grinste der Chief. „Aber jetzt im Ernst: So läuft das hier nicht, verstanden?“
„Sie haben mich geschlagen und bedroht.“
„Unsinn. Du wolltest hier endringen und hast uns angegriffen.
Das kann mein Kollege bezeugen. Ist es nicht so, Tiger?“
Der andere nickte. „Ja, er hat mich angegriffen.“
„Du siehst, mit deinen faulen Geschichten wirst du niemanden beeindrucken. Wer weiß, vielleicht wolltest du Tiger und mich kaltblütig von hinten abknallen? Oder du bist so ein Umwelt- Freak, der am Reaktor rumschnüffeln wollte? Oder ein Wirtschaftsspion von den Chinesen oder Russen geschickt?“
„Oder vielleicht den Amerikanern“, fügte Tiger hinzu, „oder den Koreanern. Oder..“
„Halts Maul Tiger“, sagte der Chief und wieder zu dem Dicken:
„Wir wussten doch vorher nicht, dass du nur ein alter perverser Typ bist, der hier telefonieren wollte.“
Tiger nickte ernst. „Sie sollten froh sein, dass der Chief Sie so einfach laufen lasst.“
Der Chief drückte dem Dicken den Koffer in die Hand. „Also, mein Freund, lass dich hier nicht wieder blicken. Tiger bringt Dich zum Tor, dann verschwinde. Und komm nicht auf die Idee, hier mit irgendwem von der Polizei anzurücken. Das wäre ganz schlecht. Haben wir uns verstanden?“
Der dicke Mann schwieg mit verkniffenem Gesicht.
Der Chief stupste ihn an. „Hallo, mein Freund. Ob wir uns verstanden haben, habe ich gefragt!“
Der andere schwieg. Tiger rempelte ihn grob an. „Ob du den Chief verstanden hast, du Warmduscher.“
„Ja“ sagte der Dicke leise.
„Lauter!“, rief Tiger und rempelte ihn erneute an.
„Ja, ich habe den Chief verstanden“, druckste der Dicke weinerlich. „Bitte, lassen Sie mich jetzt gehen. Ich brauch auch keinen ADAC mehr, bitte keine Umstände.“
Tiger zog ihn wortlos hoch.
„Auf geht’s, mein Freund“, sagte der Chief, „du hast nochmal verdammtes Glück gehabt.“
Vor dem Tor humpelte der Dicke mühsam Richtung Landstraße. Tiger sah ihm lächelnd eine Weile nach und massierte sich gedankenverloren den mit einer Girlande tätowierten Bizeps. Was für ein armes Würstchen dieser Mann doch gewesen war. Ein herzkranker Anwalt, der mit einer Gummi-Muschi reiste. Was für ein unendlich peinlicher Kerl. Tiger schnüffelte stirnrunzelnd an seinem Overall. Fremder Angstschweiß. Ein fieser Geruch. Er würde sich waschen müssen, um den Schweiß des fetten Mannes wieder aus der Nase zu bekommen. Tiger seufzte und ging langsam zurück. Er würde sich unter die Dusche stellen und später im Aufenthaltsraum seine Lieblings-DVD mit Bruce Willis ansehen. Vielleicht genehmigte ihm der Chief heute sogar ein Bier dazu. Er lauschte den zirpenden Grillen und spürte die Hitze auf der Haut. Seine Hand tastete lässig nach der Pistole im Halfter. Tiger lächelte. Ein großes Glücksgefühl überkam ihn. Gab es einen cooleren Job, als den seinen?
Der Dicke erreichte nach ein paar Hundert Metern seinen Wagen. Er setzte sich hinein und klappte den Koffer auf. Miss Gina und das Geld fehlten. Ein tiefes Seufzen entrang sich seinen Lippen.
Er fummelte nervös ein Handy aus dem Handschuhfach und wählte eine Nummer.
„Hier ist Martin“.
„Martin“, sagte eine Stimme mit starkem Akzent, „wie war es?“
„Alles gut. Der Junge hat sein Taschengeld bekommen. Und Miss Gina hat jetzt ein neues Zuhause.“
„Schön“, sagte die Stimme am anderen Ende, „das freut uns. Es war klar, dass er Miss Gina und dem Spielgeld nicht widerstehen konnte – wir hatten uns über seine Neigungen informiert. Du findest deine Reiseunterlagen im Hotel, Martin. Guten Flug.“
„Danke. Wir hören uns.“
Der Dicke legte auf und startete problemlos den Wagen.
Im Sicherungskasten der Brennstäbe begann in Miss Gina ein kleines elektronisches Herz zu ticken.
Widerstandslos hatte er sich festnehmen lassen. Ja, es schien fast so, als ob er erleichtert gewesen war. Der Beamte musterte ihn. Ein völlig unscheinbarer Mann. Glücklicherweise war er so betrunken gewesen, dass die Frau an der Tankstelle um Hilfe schreien und sich wehren konnte. Irgendwas von einem Typen, der als Anhalter unterwegs gewesen sei, hatte der Mann gefaselt als die beiden Streifenpolizisten, die der Tankwart gerufen hatte, ihn festnahmen. Ein paar Stunden in der Zelle hatten ihn ernüchtert. Nicht einmal der Kopf tat ihm noch weh. Nur das grauenhafte Sodbrennen ließ einfach nicht nach. Er hatte um eine Tablette gebeten, doch niemand auf dem kleinen Revier hatte eine. Mit saurem Mundgeruch wurde er zum Verhör gebracht.
Der Beamte sah mitleidig auf den Mann herab. Der trug einen billigen Anzug aus irgendeinem Kaufhaus und dazu eine gemusterte Krawatte mit Comicfiguren – eine jener Krawatten, die man hin und wieder noch bei Handelsvertretern oder Gebrauchtwagenhändlern sah. Der Beamte bot ihm eine Zigarette an. Das kannte er aus den Krimis im Fernsehen und hier, auf dem Lande, gab es selten eine Gelegenheit, ein richtiges Verhör zu führen und eine Zigarette anzubieten. Dankbar griff der Mann zu und sog gierig den Rauch ein. Er rauchte wie jemand, der das Nikotin jahrelang vermisst hatte.
Die Frau hatte auf eine Anzeige verzichtet und eigentlich sprach nichts dagegen, den Mann einfach wieder an die Luft zu setzen. Der Beamte hatte den Mann eine Weile befragt - dabei stets auf Abstand wegen dessen säuerlichen Mundgeruchs geachtet doch der konnte sich an gar nichts mehr erinnern. Nur daran, dass sein Auto wohl noch irgendwo herumstand.
„Sie haben sich da in eine sehr dumme Situation gebracht“, sagte der Beamte streng, „Sie werden verstehen, dass ich ermitteln muss.“ Er wusste zwar noch nicht genau, weswegen, doch er würde schon etwas finden.
Der andere sah stumm vor sich hin.
„Also“, sagte der Beamte, „fangen wir noch einmal ganz von vorn an.“
„Ich kann mich so gut wie an nichts erinnern, sagte der Mann weinerlich. Es ist mir alles so unangenehm.“
„Geben Sie sich Mühe.“
„Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen.“
„Das reicht mir leider nicht. Die junge Frau verzichtet auf eine Anzeige. Sie sagte, Sie würden ihr leidtun. Doch damit ist die Sache natürlich noch lange nicht aus der Welt.“
„Nein, nein, natürlich nicht“, sagte der Mann kleinlaut.
Das Telefon klingelte. Der Beamte nahm den Hörer ab. Ein aufgeregter Kollege von der Funkstreife. Ein Toter war irgendwo auf der Kreisstraße gefunden worden, mit fürchterlich zugerichtetem Gesicht.
„Ich höre“, sagte der Beamte erfreut in den Hörer. Es musste sein Glückstag sein. Nach dem betrunkenen Mann mit der bunten Krawatte jetzt auch noch ein richtiges Tötungsdelikt. So etwas Aufregendes wurde den meisten Landpolizisten - wenn überhaupt - nur einmal im Leben geboten.
Er lehnte sich zurück, sagte „ich bin schon unterwegs“ in den Hörer und nahm selbstgefällig eine Zigarette, zündete sie mit wichtiger Geste an und sagte lässig zu dem Mann vor seinem Schreibtisch: „Ich will mal nicht so sein. Sie können gehen. Schon mein nächster Fall. Ich suche jetzt einen Mörder, keinen kleinen Busengrabscher wie Sie. Lassen Sie sich hier in unserer Gegend nicht wieder blicken. Finden Sie Ihren Wagen und fahren Sie dann schleunigst zu Mutti nach Hause.“
Der Typ hatte am Tag zuvor einfach irgendwo am Straßenrand gestanden, den Daumen emporgereckt wie ein Eisenbahnsignal, das zum Halten aufforderte. Der Mann bremste seinen Wagen ab. Warum, wusste er später selbst nicht mehr genau. Eigentlich nahm er keine Anhalter mit. Es gab genügend Busse und Bahnen und wer kein Geld hatte, sollte gefälligst zu Hause bleiben oder zu Fuß gehen. Aber an diesem Abend war der Mann schon stundenlang unterwegs gewesen und hing dumpfen Gedanken nach. Ja, das war es wohl. Er hatte angehalten, um von seinen dumpfen Gedanken los zu kommen.
Der Typ ließ sich krachend auf den Beifahrersitz fallen und stopfte einen schäbigen alten Militärrucksack zwischen Lehne und Rücksitz.
„Den Gurt“, sagte der Mann. „Brauche ich nicht“, sagte der Typ.
„Es ist gefährlich ohne Gurt“, sagte der Mann.
„Quatsch“, sagte der Typ, „Gurte sind nur was für Feiglinge. Du wirst ja wohl in der Lage sein, halbwegs sicher zu fahren.“
Schweigend fuhr der Mann an. Noch waren sie keine Minute zusammen und schon reute es ihn, den Typ mitgenommen zu haben. Der Mann wäre nie ohne Gurt gefahren. Wer ohne Gurt fuhr, riskierte eine Geldbuße und konnte sich bei einem Unfall schwer verletzen oder gar ums Leben kommen. Er kannte die Bilder aus dem Fernsehen von zerstören Autos und Toten auf der Straße mit Planen über dem Gesicht.
Der Typ zog ein Päckchen Tabak aus der Jacke und drehte sich eine Zigarette. Krümel fielen auf die Polster.
„Es krümelt“, sagte der Mann am Steuer, „das muss doch nun wirklich nicht sein.“
„Hab dich nicht so. Kannst die ja später einfach absaugen“, erwiderte der andere und zündete die Zigarette an. Rauchschwaden zogen durch den Wagen.
„Überhaupt komisch, deine Karre. Velours. Ein Vertreterwagen mit Velours. Wie ein Plumpsklo mit goldenem Loch.“
„Bitte, ich rauche nicht. Und hier im Auto möchte ich auch nicht, dass andere rauchen. Ein Wagen, der nach Rauch riecht, sinkt im Wiederverkaufswert.“