Die Symphonie der Sterne - Ruth Kornberger - E-Book

Die Symphonie der Sterne E-Book

Ruth Kornberger

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Beschreibung

Sie musste aus dem Schatten ihres berühmten Bruders treten und gelangte als Astronomin schließlich zu Weltruhm: Die Geschichte der unvergleichlichen Caroline Herschel

England im 18. Jahrhundert: Als Sängerin füllt die Deutsche Caroline Herschel die Opernsäle der Stadt Bath – und doch strebt ihr Herz nach mehr. Nacht für Nacht beobachtet sie an der Seite ihres berühmten Bruders, dem Astronom Wilhelm Herschel, den Sternenhimmel. Aber auch wenn sie ihre Entdeckungen gemeinsam machen, ist es stets Wilhelm, der genannt wird. Bis ihr das Schicksal endlich die Möglichkeit bietet, sich selbst einen Namen zu machen.

Jahrzehnte später ranken sich viele Geschichten um die berühmte Wissenschaftlerin. Als Caroline hochbetagt in ihre Heimatstadt Hannover zurückkehrt, heuert die junge Agnes bei ihr als Dienstmädchen an, um intime Details zu erfahren, die sie an die Zeitungen verkaufen kann. Und tatsächlich kommt sie einem pikanten Geheimnis auf die Spur …

Detailverliebt und kenntnisreich erzählt Ruth Kornberger die Geschichte einer großen Wissenschaftlerin, die mit Charme und Chuzpe noch heute eine große Inspiration ist.

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England im 18. Jahrhundert: Als Sängerin füllt die Deutsche Caroline Herschel die Opernsäle der Stadt Bath – und doch strebt ihr Herz nach mehr. Nacht für Nacht beobachtet sie an der Seite ihres Bruders, dem Astronomen Wilhelm Herschel, den Sternenhimmel. Aber auch, wenn sie ihre Entdeckungen gemeinsam machen, ist es stets Wilhelm, der gewürdigt wird. Bis ihr das Schicksal endlich die Möglichkeit bietet, sich selbst einen Namen zu machen.

Jahrzehnte später ranken sich viele Geschichten um die berühmte Wissenschaftlerin. Als Caroline hochbetagt in ihre Heimatstadt Hannover zurückkehrt, heuert die junge Agnes bei ihr als Dienstmädchen an, um intime Details zu erfahren, die sie an die Zeitungen verkaufen kann. Und tatsächlich kommt sie einem pikanten Geheimnis auf die Spur …

Kenntnisreich und mit Liebe zum Detail erzählt Ruth Kornberger die Geschichte einer großen Wissenschaftlerin, die mit Charme und Chuzpe noch heute eine große Inspiration ist.

RUTHKORNBERGER wurde 1980 in Bremen geboren und liebt Geschichten über abenteuerlustige Frauen. Mit ihrer Familie lebt sie in Weinheim. Sie ist Mitglied des Autorenkollektivs Junge Literatur Mannheim; ihre Kurzgeschichten sind in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen. Mit ihrem ersten Roman »Frau Merian und die Wunder der Welt« gelang ihr auf Anhieb der Einstieg in die SPIEGEL-Bestsellerliste.

»Ein Roman, der genauso detailverliebt und schillernd ist wie die Zeichnungen der Künstlerin.«   Freundin über »Frau Merian und die Wunder der Welt«

»Ruth Kornbergers Debütroman über eine abenteuerlustige und nach Unabhängigkeit strebende weibliche Forscherseele verwebt geschickt Dichtung und Wahrheit.«   Gartenträume über »Frau Merian und die Wunder der Welt«

www.cbertelsmann.de

RUTH

KORNBERGER

Die

Symphonie

der

Sterne

ROMAN

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© Ruth Kornberger

© 2022 C. Bertelsmann

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb.

Redaktion: Sarvin Zakikhani

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Coverabbildung[en]: © shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-28323-0V004

www.cbertelsmann.de

Prolog

Slough, Oktober 1789

Wie ein diamantenbesetzter Baldachin hing der Nachthimmel über dem Land. Caroline stand auf dem flachen Dach der Werkstatt und suchte die Sterne der Schwanenkonstellation. Da war Deneb, der hellste, dort Albireo, Sadr und Gienah. Sogar Azelfafage, der schwache topasblaue mit dem seltsamen Namen, funkelte heute am Übergang zur Eidechse. Die Sicht war bestens, doch statt sich ans Teleskop zu setzen, ließ Caroline ihren Blick über die Gassen und Dächer des Dorfes schweifen.

Sie war nicht mehr allein hier oben, und das machte sie nervös. Zwar hatte Janek seine Vorsicht schon in einer Reihe von Nächten bewiesen, doch Caroline vergewisserte sich lieber selbst, dass die Luft rein war.

Auf einem Handkarren lag eine Katze. Im Garten des Jägers hingen zwei dunkle Umhänge wie riesige Fledermäuse von der Wäscheleine. Um kurz vor Mitternacht schienen die meisten Einwohner von Slough schon zu schlafen, aber hinter dem Fenster des Fassmachers flackerte noch das Licht einer einzelnen Lampe. Konnte der Mann Janek auf seinem Weg zu Caroline bemerkt haben? Gerede brauchte sie wirklich nicht.

Von der Arbeit einer Astronomin hatten die meisten Nachbarn nur eine vage Vorstellung. Erwähnte Caroline, sie verbringe mehr Stunden am Schreibtisch als draußen, waren sie verwundert. Warum konnte man die Objekte des Himmels nicht verzeichnen wie die Flüsse, Meere und Gebirge der Erde? Wozu so viele Berechnungen? Aber auf die Absicht eines nächtlichen Besuchers würden sich alle einen Reim machen. Caroline konnte das Raunen schon hören: »Wilhelm Herschels Schwester soll ja äußerst umtriebig sein, nicht nur auf dem Gebiet der Sterne. Eine bald vierzigjährige Jungfer turtelt im Schutz der Dunkelheit, was sagt man dazu?«

Janek schien Carolines Sorge zu erahnen.

»Ich gehe in Deckung.« Er legte sich auf den Rücken und begann leise zu summen. Nach einer Weile sagte er: »Da ist der Schäfer.«

Caroline schrak zusammen und suchte mit den Augen die Straße ab. Aber Janek meinte wohl etwas am Himmel. Er wies auf eine Stelle nahe des Horizonts.

»Ich sehe das Lämmchen.« Caroline lachte erleichtert auf. »Das soll eine Ziege sein, und aus irgendeinem Grund wird sie vom Fuhrmann getragen. So heißt das Sternbild.«

»Nicht in Polen.«

Caroline drehte sich zu ihm um. »Bestimmt auch da. Schon die Römer nannten es Auriga, Wagenlenker …«

Janek hielt eine Hand ans Ohr. Um nicht lauter sprechen zu müssen, beugte Caroline sich zu ihm hinunter.

»Auriga«, raunte sie. »Und die Babylonier …«

Um seinen Mund bemerkte sie ein Schmunzeln. Er wollte wohl plänkeln. Warum nicht? Nach Kometen zu suchen war ein langwieriges, einsames Geschäft, und Caroline genoss die Unterhaltung. Janek setzte sich auf und klopfte einladend neben sich.

»Mach eine Pause. Du arbeitest doch sicher schon wieder seit Sonnenuntergang.«

Caroline ließ sich neben ihm nieder und schob die Hände unter seine Jacke, um sich an seinem Körper zu wärmen. Seit ihre Abende nicht mehr mit Musik gefüllt waren, ertappte sie sich häufig bei Selbstgesprächen. Sie überlegte dann laut, was am nächsten Tag zu tun war oder woran sie Wilhelm erinnern musste. Mit Janek an ihrer Seite konnte sie einfach schweigen. Selbst das Nichtstun gelang ihr für kurze Zeit.

Aber ich sollte mich nicht an seine Anwesenheit gewöhnen. Janek ist ein Reisender. Ach, könnte ich doch das Ballett der Himmelskörper anhalten! Die Nacht würde ewig dauern.

»Wann hat das angefangen mit dir und den Sternen?«, fragte Janek.

Schon als Kind, wäre die kurze Antwort gewesen. Aber dann hätte Janek sich eine gemütliche Familienszene ausgemalt, mit einer pausbäckigen Caroline, die auf einem Stühlchen in einem Hannoverschen Hinterhof saß, gewärmt von einem Schal, den die Mutter ihr liebevoll um den Hals gelegt hatte. Die Wirklichkeit hatte anders ausgesehen. Caroline beschrieb Janek die enge Wohnung. Dort kauerte eine Siebenjährige mit einer Näharbeit auf dem Steinboden des großen Zimmers, lauschte Alexanders Musikunterricht und versteckte sich vor der Mutter.

»Lina? Lina! Ca-ro-li-ne!«

Mutters Rufen übertönte das Duett von Geige und Oboe.

Ach, lass mich doch. Ich arbeite ja schon.

Caroline stieß die Nadel schneller durch das Leinen. Längst war der Geigenlehrer fort, doch Alexander wollte Wilhelm beweisen, wie gut er auch schon das Blasinstrument des Vaters beherrschte. Die beiden standen vor dem Notenständer am Fenster. Er war auf den elfjährigen Alexander eingestellt, und Wilhelm, mit seinen neunzehn Jahren schon ein Mann, musste sich hinunterbücken. Gestern waren er und der Vater nach Hause zurückgekehrt. Ihre Truppe war bei Hastenbeck von den Franzosen besiegt worden, und der Vater meinte, bald würde Hameln fallen. Caroline hatte sich einstürzende Häuser vorgestellt und wissen wollen, ob es wieder ein Erdbeben geben würde, wie jenes, das sie wieder und wieder in Albträumen durchlebte.

»Nein, Lina, da geht es um Politik.«

Mehr war ihr nicht erklärt worden. Der Vater hatte nur wieder seine alte Leier wiederholt: Im Krieg gebe es am Ende nur Verlierer, für die Militärkapelle zu spielen werde ihn noch umbringen, und er bete jeden Abend, Gott möge all seinen Söhnen solch ein Schicksal ersparen.

Sein Ältester, Jacob, hatte kürzlich seine Entlassung aus der Armee erwirkt und war schon vor Wilhelm und dem Vater in Hannover eingetroffen. Er hoffte, eine Stelle im Hannoverschen Hoforchester zu bekommen. Bis es so weit war, schlief er in den Tag hinein, verspielte abends im Schwarzen Bären das Milchgeld und führte sich zu Hause auf wie ein Prinz. Die erstgeborene Sophia, die ihm früher angeblich Widerworte gegeben hatte, war seit Jahren verheiratet und ausgezogen. Die Glückliche. Nach der konnte die Mutter nicht mehr brüllen.

»Ca-ro…« Die Tür flog auf. Das erhitzte Gesicht der Mutter erschien. Über ihrer Schulter hing ein Schal, und auf ihrer Hüfte saß Dietrich. Die Mutter lud den Kleinen vor Caroline ab und legte das Kleidungsstück neben ihn. Sie roch nach Zwiebeln und Lederfett.

»Der Racker hat schon wieder aus dem Katzentrog gegessen. Ich muss ihn aus der Küche haben. Und kümmere dich auch um das Loch in Wilhelms Schal.«

»Ich soll doch das Laken säumen«, sagte Caroline.

»Der Schal ist dringender.«

Warum? Es war Sommer. Doch auf Fragen reagierte die Mutter böse. Wissen in den Kopf eines Mädchens zu füllen sei unnötig. Als Anna Herschel ein Kind gewesen war, hatte es keine Schulpflicht gegeben, und die Mädchen waren ihren Müttern auch vormittags zur Hand gegangen. Um einen Haushalt zu führen, müsse niemand Lesen und Schreiben können, und was in der Welt vor sich ging, brauche sie nicht zu kümmern.

Hameln fällt, sagt der Vater. Ob die Franzosen dann wohl bald in unser Schloss einziehen?

Dort lebte die Königsfamilie schon lange nicht mehr. Georg II. regierte sein Reich von der Insel aus. Darum waren alle wichtigen Leute ebenfalls auf der Insel, und man hatte es schwer, hier voranzukommen, wie Jacob klagte. Für ein paar Monate war er mit der Truppe in England gewesen, und obwohl er nicht einmal London gesehen hatte, gab er sich nun wie ein Mann von Welt.

Politik. Das war wahrscheinlich so eine Männersache wie Logik und Arithmetik. In der Schule durften nur die Jungen Rechnen lernen. Dabei würde Caroline es auch gern können. Zahlen schienen ihr der Schlüssel zu vielen Dingen zu sein. Schon wenn sie nur mit Hilfe der Finger zählte, kam sie auf erstaunliche Möglichkeiten. In der Lade unter der Schachtel mit den Silberlöffeln verbarg der Vater den Stammbaum der Familie, und dort waren auch alle toten Geschwister eingetragen. Caroline wusste von jedem, wie alt es jetzt wäre. Zwischen Jacob und Wilhelm gab es noch einen Bruder, außerdem eine Schwester, die jetzt im Heiratsalter und wahrscheinlich wie Sophia mit dem ersten Mann vor der Mutter geflohen wäre. Aber das wäre nicht schlimm, denn da wäre ein weiteres Mädchen, neun Jahre alt, eine Spielkameradin für Caroline und Verbündete beim Hüten der Kleineren. Deren Zahl wäre doppelt so hoch, denn neben Dietrich gäbe es Frantz. Den hatten die Pocken getötet. Auch Caroline wäre fast an ihnen gestorben, aber an die Zeit wollte sie nicht denken.

Ha, doppelt so hoch, ich rechne schon, ohne es zu merken!

»Wilhelm«, sagte Caroline. »Was ist eigentlich Algebra?«

Den Begriff hatte sie aufgeschnappt, aber als sie Alexander danach gefragt hatte, hatte der gerade eine Pendeluhr justiert und nur einsilbig geantwortet.

Was Wilhelm sagte, ging in Dietrichs Gebrüll unter. Wurde der Kleine nicht beachtet, heulte er. Man konnte ihm dann Brot, Milch oder sein geschnitztes Kaninchen anbieten, alles vergebens. Hatte man den richtigen Augenblick verpasst, produzierte Dietrich Tränen und Rotz, bis die Quelle versiegte.

Die Mutter rief zum Abendessen. Bei Tisch sagte der Vater zu seinen drei älteren Söhnen, heute sei eine gute Nacht, um Sterne zu beobachten, es gebe eine interessante Konstellation. Welche das war, verstand Caroline nicht, weil sie mit dem brüllenden Dietrich auf und ab gehen musste. Vor Enttäuschung darüber, dem Gespräch nicht folgen zu können, hätte sie mitweinen mögen. Alexander, der Herzensgute, schlang sein Schmalzbrot herunter und nahm Caroline den Quälgeist ab, doch als sie sich setzte, hatte sie wieder einmal das Wichtigste verpasst, und die Mutter beendete das Thema. Fürs Bestaunen des Mondes würde niemand bezahlt.

Ich würde gar kein Geld dafür wollen, dachte Caroline später, als sie auf dem Bett saß, das sie mit Alexander teilte, und den verfilzten Schal flickte. Dürfte ich nur einfach im Gras hinter der Stadtmauer liegen und in den Himmel sehen. Das würde mich ja auch nicht anstrengen, und ich müsste weniger essen. Ich will ganz Auge und kaum Magen sein. Mutter meint, wegen der Pocken werde ich sowieso halbwüchsig bleiben.

Sie vernähte das Fadenende und ging bekleidet zu Bett. Die Decke bis zum Kinn gezogen, hielt sie den Halbschlaf einer Katze, ein Auge offen, bereit, jederzeit wieder aufzuspringen. Draußen schlugen die Glocken der Marktkirche zur zehnten Abendstunde. Jetzt ruhte die Mutter. Barfuß tappte Caroline durch den Flur zur Hoftür. Draußen saßen der Vater, Wilhelm und Alexander auf umgedrehten Eimern. Jacob hatte sich wohl davongemacht. Caroline blieb auf der Schwelle stehen, dem Niemandsland zwischen mütterlichem und väterlichem Reich. Über den Dächern der Stadt lag ein Wolkenteppich. Im Osten lugte ein Stern durch eine Lücke, doch die schloss sich, kaum hatte Caroline sie entdeckt. Der Vater sprach von der nächsten Sonnenfinsternis. Es wären noch Jahre bis dahin, aber eine Französin hatte schon die genaue Stunde berechnet. Ob sie das Wissen aus Büchern zusammengetragen und geordnet hatte wie ein Legespiel? Caroline stellte sich eine Frau vor, die auf einem Orientteppich saß, umgeben von Folianten mit goldener Prägung.

»Versprich mir«, sagte der Vater zu Wilhelm. »Wenn es so weit ist, kommt ihr heim.«

Wilhelm murmelte, er könne nicht für Jacob entscheiden, aber –

»Was?!«, schrie Caroline. »Du gehst schon wieder weg?«

Darum also war es mit dem Schal so dringend. Alle drei Herschels fuhren zu Caroline herum.

»Nach England«, sagte Wilhelm. »Da suchen sie Musiker.«

Plötzlich schienen die Wolken zu sinken und Caroline niederzudrücken. Mit diesem Gewicht auf sich würde sie gar nicht mehr wachsen können.

Was sollte ohne Wilhelm aus ihr werden? Er war ihr strahlendes Vorbild, fertigte Himmelsgloben aus Pappe und beantwortete ihr jede Frage. An Carolines Nasenwurzel zwickte es.

»Kommt Alex auch mit?«, fragte sie mit bebender Stimme. »Dann hab ich ja niemanden mehr.«

»Alexander ist noch zu jung«, sagte der Vater. »Vielleicht geht er nächstes Jahr zu Griesebach in die Lehre.«

Griesebach war Sophias Mann und Geiger. Die Familie wohnte mehrere Tagesetappen weit weg. Caroline wich die Kraft aus den Beinen, und sie ließ sich auf der Schwelle der Haustüre nieder. Bald sollte sie also ihre beiden liebsten Menschen verlieren, und wenn sie in vier Jahren die Schule beendete, wäre ihr Dasein vollkommen freudlos. Heiraten würde sie nicht, das hatte die Mutter deutlich gemacht. Caroline sollte bei ihren Eltern bleiben und sich um sie kümmern, wenn sie gebrechlich wurden.

»Nehmt mich mit!«, flehte Caroline.

»Aber du hättest in England ja nichts zu tun, Lina«, sagte Wilhelm.

Immerhin erwähnte er ihr Alter nicht.

»Ich könnte euren Haushalt führen«, sagte Caroline.

Wilhelm legte den Kopf schief, als müsse der Vorschlag weitergehen. Wusste er überhaupt, wie viel Arbeit Putzen und Kochen bedeuteten? Zu Hause wurde er damit nicht behelligt, und unterwegs lebte die Truppe in Zelten.

»Oder ich könnte …« Caroline suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, sich nützlich zu machen. »Singen!«

Das tat sie, wenn sie Dietrichs Schreien nicht mehr aushielt, also täglich. Caroline rappelte sich wieder auf und stellte sich an der Wand des Hinterhauses auf, möglichst weit weg vom Vater, von Alexander und Wilhelm, denn gute Sängerinnen erreichten von der Empore aus noch die Kirchgänger in der letzten Reihe. Mit geschlossenen Augen hob sie zum Ave Maria an. Die höchste Note und die abfallenden Triller brachte sie rein heraus. Kurz gelang ihr sogar ein Vibrato. Ein Käuzchen rief in der Stille. Caroline machte die Augen wieder auf. An der Wand lief eine Ratte entlang.

»O ja«, sagte Wilhelm. »Erstaunlich.«

Er rieb die tintenfleckigen Hände. Vielleicht würde er später in seinem Journal, in dem er auch alles über den Himmel notierte, eine Notiz über seine kleine Schwester machen.

»Gehen wir rein«, sagte der Vater. »Heute sehen wir nichts mehr.«

Nein, bitte nicht! Dort drin bin ich eine Gefangene.

»Da ist der Polarstern.« Caroline wies auf einen Punkt schräg über dem Schornstein. »Ich erkenne ihn wie durch einen Schleier.«

Zweifelnd runzelte der Vater die Stirn. Ein Tropfen traf Caroline auf der Nase. Die Wolken straften ihre Worte Lügen.

»Der Ort stimmt jedenfalls«, sagte Wilhelm.

»Dort beginnt der Schwanz des kleinen Bären«, sagte Caroline. »Hier ist der Bauch und der Kopf.«

Mit dem Finger zeichnete sie ein Viereck in die Luft.

»Und der Drache.«

Sie zeigte die Umrisse der Konstellation mit der anderen Hand.

»Die Giraffe, Kassiopeia, Perseus …«

Dächer waren im Weg, aber darauf kam es nicht an.

»Du kennst dich aus«, sagte Wilhelm erstaunt.

Es klang respektvoll, so als sei Caroline jemand, mit dem er sich auf Augenhöhe unterhalten konnte.

»Ich werde auch ganz schnell Englisch lernen«, beteuerte Caroline.

Sie würde alles geben, damit Wilhelm sie nachholte, was er schließlich auch getan hatte. Sein Ziel war zu ihrem geworden, und mit einigen Jahren Verzögerung hatte sie es tatsächlich erreicht. Aber diese Geschichte wäre zu lang für eine Nacht, und Caroline wollte zurück ans Teleskop. Die Untätigkeit machte sie nun doch kribbelig.

»Bestimmt hast du gelernt, den Norden mit dem Polarstern zu finden«, sagte sie zu Janek. »Er wandert nicht. Aber wir sitzen hier schon so lange, wir könnten die Himmelsrichtung mit jedem Stern bestimmen.«

»Wie das?«, fragte er.

»Würden wir Richtung Norden sehen, würden die Sterne nach links wandern«, sagte Caroline. »Aber Deneb hat sich nach rechts bewegt. Also blicken wir nach Süden. Wäre er gestiegen, blickten wir nach Osten, und wäre er gefallen …«

»Kinderleicht«, sagte Janek. »Mit den Sternen findet man immer den Weg.«

Caroline zog ihre Hände von seiner Brust zurück und stand auf.

Düster sagte sie: »Schwer wird es nur, wenn man gar nicht mehr weiß, wohin man will.«

Zurück

Bohmte, 26. Oktober 1822

Ein halbes Jahrhundert lang war Caroline nicht auf dem Kontinent gewesen, und obwohl sie ihre Muttersprache dank ihrer Brüder gepflegt hatte, würde sie wohl weiter auf Englisch träumen. Nach der Ankunft in Rotterdam waren Dietrich und sie am Vortag bis zu einer Herberge kurz hinter Osnabrück gekommen. Alle Zimmer waren belegt, und beim Frühstück erinnerte das Stimmengewirr an ein Orchester, das sich einspielte. Manche Gäste hatten ihre Stärkung schon genossen und legten die Hände in den Schoß, während andere gerade erst einen Tisch suchten. Jemand stand auf, um etwas zu holen, und verlor seinen Stuhl an den Sitznachbarn, der das eigene wacklige Exemplar loswerden wollte.

Caroline aß schnell und ohne Genuss. Ein Beutel aus grobem Tuch lag zu ihren Füßen, aber den Rest des Gepäcks hatte sie auf dem Zimmer lassen müssen, und dabei war ihr nicht wohl.

Als Musikerin hatte Caroline die Noten für das ganze Orchester abgeschrieben, aber das war nichts zu den Notizen, die sie als Astronomin produziert hatte. Tausende Seiten über den Sternenhimmel mussten nun mit ihr umziehen. Viel war noch abzugleichen, auszurechnen und zu formulieren. Wilhelms Tod vor zwei Monaten warnte sie, auch ihre Zeit war begrenzt. Bevor Caroline selbst starb, musste sie aufräumen. Das galt auch für ihre Tagebücher, besonders für die. Gewissenhaft hatte Caroline ihr Leben festgehalten. Zum Großteil hatte es aus Arbeit bestanden, aber während einiger aufwühlender Jahre war da mehr gewesen. Nur dem Papier hatte Caroline sich anvertrauen können, aber das kannte dafür nun jedes verstohlene Abenteuer, all das Glück, die Hoffnung, Verzweiflung und Wut. Diese Zeilen durfte niemals jemand lesen. In Hannover würde Caroline ein gutes Versteck finden müssen, und sobald der Schmerz über den Verlust von Wilhelm nachließe, wollte sie jeden Eintrag vernichten, der sie kompromittieren könnte. Während der Reise überprüfte sie ständig den Inhalt ihrer Taschen. Zusätzlich zu ihren eigenen Sachen transportierte sie wissenschaftliche Korrespondenz, die an verschiedenen Stationen der Reise abzugeben oder weiterzusenden war. Mit fliegenden Fingern durchsuchte Caroline die Mappen und Kuverts in dem Beutel.

»Wo ist sie, Dietrich?«, rief sie. »Gestern Abend war sie noch da!«

Stöhnend hob ihr Bruder den Kopf von der Tischplatte und sah aus blutunterlaufenen Augen zu ihr hoch.

»Geht’s los?«, stammelte er.

»Ich suche die Vorlesung für Gauß.«

Dietrich stützte das Kinn mit den Fäusten. Er war nach England gefahren, um Caroline abzuholen, und hatte sich auf dem Schiff eine üble Krankheit zugezogen. Seine Wangen waren eingefallen, und die grauen Haare gingen ihm büschelweise aus. Caroline hievte den Beutel auf den Tisch, um ihn zu leeren.

»Hilf mir doch.« Da bemerkte sie den Umschlag unter Dietrichs Ellenbogen. »Sag bloß, du hast sie!«

»Weil du mich toll machst mit deiner Angst«, brummte Dietrich. »Jeden Tag wähnst du die verflixte Vorlesung mindestens einmal verloren.«

Eine laute Stimme schallte herein: »Passagiere nach Hannover! Die Pferde sind angeschirrt.«

Endlich. Caroline nahm den Umschlag an sich und verstaute ihn sorgfältig zwischen den anderen Dokumenten. Röcke schleiften, eine Peitsche knallte, Hufe klapperten und Räder polterten in Schlaglöcher. In der Kutsche nahm Caroline auf zweien ihrer Taschen Platz und setzte den Beutel auf ihren Schoß.. Mit den Fußspitzen konnte sie gerade so den Kutschenboden berühren. Für ihre Knie war diese Sitzposition Gift, und bei einer alten Dame wirkte sie vermutlich auch komisch. Ihre Mitreisenden waren heute ein dänisches Paar, das über sie zu tuscheln schien. Am Tag zuvor hatte Caroline selbst mit Witzen für gute Stimmung in der Kutsche zu sorgen versucht.

»Fragt ein Schüler Euklid von Alexandria: Was kann ich verdienen, wenn ich Eure Dinge lerne? Ruft Euklid den anderen zu: Spendet für den armen Mann, er muss Geld verdienen mit dem, was er lernt.«

Allerdings reagierte Dietrich auf Scherze und Plauderversuche zunehmend gereizt. Die Verstauung des Gepäcks ärgerte ihn. Caroline sollte ihren Plunder mit den anderen Kisten auf dem Dach befestigen lassen. Aber es herrschte Herbstwetter. Der Wind konnte die Seile lösen, und die Wachstuchplane würde vielleicht doch Regen durchlassen. Bevor ihre kostbaren Schriften ruiniert wurden, rutschte Caroline lieber auf den Taschen herum.

»Mit dem Gewese, das du um die machst, könnte man glauben, du führst die Kronjuwelen mit dir«, hatte Dietrich gesagt. »Das zieht Diebe an. Du hättest deine Notizen mit dem Haushaltskram nachschicken lassen sollen. Ich verstehe das nicht.«

Nein, du verstehst so vieles nicht.

Weder besaß er Wilhelms Brillanz noch Alexanders Erfindergeist. Als Nesthäkchen verhätschelt, war Dietrich mit halbherziger Anstrengung Musiker geworden.

Was hätte ich für seine Ausbildung gegeben!

Doch statt Dankbarkeit schien Bitternis in dem kleinen Bruder zu sein. Angeblich habe der Vater ihn nicht genug gefördert.

Ich hoffe doch sehr, Dietrichs Laune bessert sich, sobald er wieder bei seiner Familie ist. Sonst wohne ich künftig mit einem Miesepeter zusammen.

Wenn Dietrich sprach, dann von Problemen. Anna, seiner Ältesten, war kurz nach der Niederkunft mit dem neunten Kind der Mann gestorben. Der Gatte der jüngeren Sophia Dorothea war wahnsinnig und konnte nur an guten Tagen als Arzt praktizieren.

Aber so schlimm, wie Dietrich alles darstellt, kann es gar nicht sein.

Caroline versuchte, eine aufrechte Haltung einzunehmen. In ihrem Rücken verklemmte sich etwas. Vorsichtig suchte sie nach einer Position, in der es möglichst wenig zwickte. Gegen Abend erreichten sie Minden. Die letzte Zwischenstation empfing sie mit fad schmeckendem Rübeneintopf und verwanzten Betten.

Am nächsten Morgen musste Caroline Dietrich beim Einsteigen in die Kutsche stützen. Sein Zustand ängstigte sie und verdrängte ihre Sorge um das Gepäck. Erst während einer Pause am Mittag, nachdem sie dem Bruder Bier und einen Apfel besorgt hatte, ging sie wieder den Inhalt der Taschen durch. Der Schreck fuhr ihr ins Kreuz wie eine Axt.

»Die Vorlesung ist weg!«

»Kannnichsein«, murmelte Dietrich in seinen Krug.

Aber so war es. Zwischen verschnürten Blättern fehlte der versiegelte Umschlag mit den neunundvierzig Seiten zur Theorie von Licht und Farben von Thomas Young. Caroline hatte Wort für Wort von der gedruckten Vorlage kopiert. Wer hatte den Aufsatz entwendet? Der magere Junge, der die Pferde versorgte? Der fahrende Händler, dem sie beim Essen von der rauen Fährpassage berichtet hatten? Caroline stampfte auf, wütend über die Sinnlosigkeit des Diebstahls. Würde ein Ungelehrter auch nur zwei Sätze von Young lesen, bevor er seine Beute fortwarf? Hatte er wegen des Siegels Kreditbriefe zu finden gehofft? Oder diplomatische Geheimnisse? Dietrich und sie wirkten doch wirklich nicht wie Leute, denen man so etwas anvertraute! Caroline hätte den Umschlag offen lassen sollen oder außen vermerken, was er enthielt. Hätte, hätte … Müßig, jetzt ihr Versagen als Kurierin zu beklagen. Zwecklos auch, von Dietrich eine Umkehr zu fordern, um Nachforschungen anzustellen.

Während der Weiterfahrt sprach Caroline kein Wort mehr. Nach Haste bemerkte sie den Schmerz in den Fingern. Sie hatte sich an den Taschen festgekrallt. In Seelze hielt die Kutsche ein letztes Mal, um Post aufzunehmen. Die nächste Station wäre Hannover. Caroline versuchte, an etwas Schönes zu denken. Inzwischen waren ihr die Fahrgeräusche vertraut. Hinter ihnen fand sie Stille und hinter der Stille Musik. Die Ouvertüre von Judas Maccabaeus trug sie fort. Geigen, Oboen und Cembalo sangen, die Bassgruppe errichtete im Weiteren eine Mauer gegen jegliche Störung, und einen seligen Moment lang war da nur Georg Friedrich Händels Oratorium, mitreißend und feierlich. Schleichend mischte sich etwas Dumpfes darunter, fernes Grollen, das näher kam und sich in Einzelklänge auflöste, die in die Magengrube zielten. Die Pauken? Viel zu früh. Caroline floh vor ihnen und versteckte sich hinter dem Konzertmeister, aber auch dort erreichten sie die Schläge. Die Luft blieb ihr weg, und Übelkeit stieg in ihr auf. Welche Instrumente konnten derart laut sein? Es musste sich um Spezialanfertigungen handeln, Braukessel bespannt mit Elefantenhaut. Caroline sank zusammen, getroffen, erschossen.

»Wie ist dir?« Dietrich legte eine Hand auf ihre Schulter. Wie das pralle Leben sah auch er nicht aus.

Schwach winkte Caroline ab.

»Ich sehe Schloss Herrenhausen«, rief Dietrich. Etwas Farbe kehrte in seine Wangen zurück. »Gleich sind wir zu Hause. Lass uns morgen einen Spaziergang durch den großen Garten machen, zu den Pavillons und zur Fontäne.«

Die Pauken schwiegen jetzt, aber die Melodie war auch verklungen. Vorsichtig trank Caroline einen kleinen Schluck. Das Brunnenwasser, mit dem sie ihre Flasche am Morgen aufgefüllt hatte, schmeckte abgestanden, und der saure Mief, der Dietrichs Kleidern entstieg, wurde unerträglich. Caroline wandte sich zum Fenster. Das schien Dietrich als Vorfreude auf die alte Heimat zu verstehen.

»Jetzt biegen wir in die Georgstraße ein«, sagte er. »Die kennst du noch nicht. Sie haben den Schutzwall abgetragen, um Platz zu schaffen.«

Sie passierten die Artilleriewache und das Militärgefängnis. Rechts stand ein einzelnes Gebäude. Darauf folgten Baustellen von vier weiteren. Grandios war das nicht. Auch die Breite Straße wirkte mit ihren sieben Häusern wie ein Scherz. Von der Egidienkirche sah Caroline im Vorüberfahren nur den unteren Teil der Fenster und die Grabdenkmäler an den Wänden, darunter das Epitaph für die im Alter von zwei Jahren verstorbene Susanna Magdalena Oldekop. Es stellte sie lebensgroß im Relief dar. Als Kind hatte Caroline den Engel bestaunt, der eine Hand auf die Schulter des Mädchens legte. Früher hatte der Himmelsbote Schutz versprochen, nun kam er ihr viel zu klein vor, um helfen zu können.

»Wir wohnen in der Marktstraße«, sagte Dietrich. »Wie alle wichtigen Familien.«

Das war eine schamlose Übertreibung. Ihr Bruder spielte wohl auf die Volgers an, die als ehemaliges Patriziergeschlecht seit jeher einen Großteil der Straße besaßen. Aber denen gehörte ohnehin die halbe Stadt. Wer wirklich etwas auf sich hielt, hatte früher zwei Querstraßen weiter residiert, beim Königlichen Schloss und Herzoglichen Palais.

Warum sollte sich das geändert haben? Warum sollte sich überhaupt etwas in diesem schrecklichen Hannover verbessert haben? Hier leben bloß unwichtige Abkömmlinge der Königsfamilie, und den Reichen mangelt es an Glanz. Alexander bläst keine Choräle mehr vom Marktturm, sondern liegt neben Vater auf dem Gartenfriedhof. Ich habe die Stadt an keinem einzigen Tag vermisst.

Caroline verspürte wieder kindliche Ohnmacht. Ihr Leben in England kam ihr plötzlich unwirklich vor. Hatte sie sich die letzten Jahrzehnte vielleicht nur eingebildet? Nein, die Tagebücher bewiesen das Gegenteil.

»Hier sind wir«, rief Dietrich.

Die Kutsche hielt. Caroline rutschte von ihren Taschen herunter und legte sich die Riemen über die Schultern. Das Gewicht des Gepäcks zog an ihr wie ein Anker und schien sie an die Kutsche zu ketten. Wie wäre es wohl, einfach weiterzufahren, irgendwohin?

Hinter einem Erdgeschossfenster drückte sich ein Junge von etwa fünf Jahren die Nase platt. Das musste Johann Theodor sein, der Sohn von Sophia Dorothea, die vor den Anfällen ihres Mannes zu ihren Eltern geflüchtet war.

»Geh vor, Dietrich, dir wird gewunken.« Caroline ordnete ihre Haare. »Du weißt ja, Frauen brauchen vor einem Auftritt länger.«

Damit wurde sie ihn los. Was Musik anging, verstanden sie einander. Mit Sternen musste Caroline Dietrich nicht kommen. Auch seiner Frau Catharina nicht. Ob die Schwägerin überhaupt Interessen hatte, bezweifelte Caroline. Aus ihren Briefen ging nur hervor, wer demnächst heiraten oder ein Kind bekommen würde. Als Caroline vor ihrem Neffen John, Wilhelms Sohn, darüber gespottet hatte, in Hannover seien Hochzeiten und Taufen die einzigen Ereignisse, hatte er sie gebeten, Für und Wider eines Umzugs gründlich abzuwägen: »Überstürze nichts.«

Einen Sturz hatte Caroline nicht bemerkt, wohl aber den harten Aufprall. Nun musste sie sich berappeln. Das Publikum wartete und anders als üblich hatte Caroline es bezahlt.

Zur Feier der Rückkehrer hatte Catharina ein Fleischgericht kochen lassen. Der kleine Johann vertilgte zwei Teller davon.

»Kartoffelstampf mit Boulette.« Er sprach das Wort französisch aus. »Meine Leibspeise.«

»Das sind Klopse«, sagte Catharina streng. »Und das Rezept ist von meiner Großmutter. Napoleon hat damit gar nichts zu tun.«

Offenbar hegte sie seit der Besatzungszeit einen Groll gegen die westlichen Nachbarn. Caroline lobte das Essen und nippte am Walnusslikör, den Sophia Dorothea ausschenkte.

»Kann mir Großtante Lina heute etwas vorlesen, Mutter?«, fragte Johann.

»Lass sie doch«, sagte Sophia Dorothea. »Sie wird müde sein.«

Großvater Dietrich schlummerte schon am Ofen in einem Lehnstuhl.

»Nur zwei Seiten.« Johann legte ein Buch vor Caroline hin und öffnete es. Auf dem Titelblatt stand in einem Blumenkranz: Kinder- und Haus-Märchen. Die Schrift auf den nächsten Seiten war leider kleiner.

»Weißt du, meine Augen sind miserabel«, sagte Caroline. »Aber ich kann dir von der Reise berichten. Die Überfahrt hätte uns beinahe das Leben gekostet. Schon in der Themsemündung kam Sturm auf, und es gab Wellen wie auf hoher See. Man warf den Anker. Nachts klammerten wir uns am Rand der Kojen fest, um nicht hinauszufallen. Das Fenster brach, und ein Schwall Wasser durchnässte mein Bett. Mein Magen …«

Sie übersprang die unappetitlichen Details. Johann lauschte mit offenem Mund. Kinder waren doch die besten Zuhörer. Sofern seine Mutter es erlaubte, würde Caroline Johann selbst das Rechnen beibringen. Wenn er erst zur Schule ginge und mit den anderen Schülern im Chor spräche, würde ihm eigenes Denken verleidet.

»Als der Morgen anbrach, fühlten sich die meisten Passagiere mehr tot als lebendig«, fuhr Caroline fort. »Good Heavens! Wie sollte es uns erst auf dem offenen Meer ergehen?«

Catharina gähnte.

»Das verrät Caroline dir morgen«, sagte sie. »Lass sie sich erst einrichten. Außerdem arbeitet sie nachts, oder?«

»Alte Gewohnheit«, sagte Caroline. »Früher waren Wilhelm und ich ab Sonnenuntergang draußen an den Teleskopen. Aber seit einigen Jahren ordne ich hauptsächlich Beobachtungen und reduziere Positionen.«

»Ach ja.« Catharina gähnte erneut. »Schön.«

Caroline strich über den Bucheinband.

»Und ich überlege, meine Memoiren zu schreiben«, sagte sie.

Die Miene der Schwägerin hellte sich auf. »Eine wunderbare Idee.«

Das fand Caroline auch. Mit Lebenserinnerungen konnte sie die schönen Dinge herausstellen, den Schmutz unter den Teppich kehren und die Ereignisse so gefällig erzählen wie ein Märchen. Möglicherweise würde sie die übernächste Generation nicht mehr heranwachsen sehen, aber wenn sie Johann Schriftliches hinterließ, konnte sie ihm zeigen, wie man Widrigkeiten trotzte, und ihn ermutigen, in ihre Fußstapfen zu treten. Sie wollte die Fackel des Wissens weitergeben. Außerdem würde sie mit der Schilderung ihres arbeitsamen Lebens vielleicht Dietrich von seinem Jammern kurieren.

Durch die offene Flurtür sah Caroline das Hausmädchen mit einem Eimer und einem Lappen in Richtung der Treppe trotten, die zu Carolines neuem Reich im ersten Stock führte.

»Putzt sie etwa nass?« Caroline sprang auf. »Das kann warten.«

Dort oben waren ihre Aufzeichnungen. Bei der Ankunft hatte das Mädchen ihr alle Taschen abgenommen und verräumt. Wrang es gerade einen triefenden Lappen neben ihnen aus? Caroline raffte ihre Röcke und nahm trotz knackender Knie zwei Stufen auf einmal. Wasser plätscherte. Mit aufgekrempelten Ärmeln kniete das Mädchen vor einer Kommode und wischte unter den Beinen des Möbelstücks durch. Der gefüllte Eimer befand sich in der Raummitte. Kippte er um, würde die Überschwemmung Carolines Taschen neben dem Sekretär erreichen.

»Halt«, rief Caroline. »Kein Wasser in der Schreibkammer, bitte.«

Das Mädchen sah auf. »Schreibkammer?«

Ja, so wollte Caroline diesen Raum nennen, auch wenn er offenbar dafür gedacht war, Besucher zu empfangen. Neben der Kommode und dem Sekretär gab es drei Sessel und ein Tischchen. Im angrenzenden Zimmer standen ein Bett und ein Schrank.

»Bitte fege nur und staube ab«, sagte Caroline.

Ihre Aufzeichnungen waren in Tinte, und sie hatte einmal mehrere Wochen an Beobachtungen verloren, weil Wilhelm eine volle Teetasse unglücklich abgestellt hatte. Doch das Mädchen ließ sich nicht aufhalten.

»Die gnädige Frau will, dass ich alle zwei Tage feudele. Sonst fängt sie das Husten an.«

Energisch fuhr das Mädchen mit dem Lappen über die Kommode. In Catharinas Haushalt gab es weder Vasen noch Porzellanfigürchen. Theoretisch stünde viel Ablagefläche für Papiere zur Verfügung, aber wenn die Oberflächen freigehalten wurden, um sie regelmäßig wischen zu können, war das für Carolines Zwecke ungünstig.

»Nun, das sind jetzt meine Räume«, beharrte sie. »Und ich möchte es anders haben.«

In einer Geste der Entschuldigung hob das Mädchen die freie Hand.

»Aber die gnädige Frau hat es mir aufgetragen.«

Es ging zum Eimer, tauchte den Lappen ein und verschwand in der Schlafkammer. Eine Tropfspur markierte seinen Weg. Caroline sah sich um. Der Sekretär taugte nur, um darauf Briefe zu schreiben.

Ich brauche einen Tisch, auf dem ich Sternenkataloge und Notizbücher nebeneinanderlegen kann. Außerdem wäre ein Regal von Vorteil.

Caroline schleppte ihr Gepäck zu einem der Sessel. In der Schlafkammer klatschte nasser Stoff auf Holz. Schritte auf der Treppe kündigten Catharina an.

»Ist alles da, was du brauchst?«, fragte die Schwägerin.

»Du hast diese Räume ganz wunderbar für mich eingerichtet.«

Aber ich werde bis zu meinem Lebensende hier wohnen. Dafür habe ich Dietrich meine Ersparnisse überlassen.

»Ich hab nur gedacht«, begann Caroline leise. »Vielleicht könnte ich ein eigenes Dienstmädchen einstellen?«

Ein himmelblaues Kleid

Hannover, 28. Oktober 1822

Wenn Agnes Besorgungen auf dem Markt machen musste, nahm sie nie den direkten Weg, sondern schlenderte am Schloss vorbei und stellte sich vor, hinter einem der hohen Fenster zu erwachen und den Tag auf Seidenkissen gestützt mit einer Tasse Tee in der Hand zu beginnen. Manchmal dehnte sie ihren Spaziergang auch bis zum Reithaus aus, wo im Freien Araberpferde gestriegelt wurden. Hatte sie Glück, exerzierten linker Hand vor der Kaserne an der neuen Brücke Gardegrenadiere in bunten Uniformen. Hannover war einfach die reinste Märchenkulisse und heute spielte Agnes selbst Prinzessin. Sie trug – heimlich und darum mit doppeltem Vergnügen – ein himmelblaues Kleid von Frau Prancke. Wie immer blieb sie gegenüber dem Schloss kurz vor der Auslage der Hahnschen Hofbuchhandlung stehen. Zwei Burschen luden neue Ware aus. Einer pfiff, und Agnes hob das Kinn ein wenig höher. Da hörte sie ihren Spitznamen.

»Nessie!«

Sie drehte sich um.

»Ach, Martin, du bist das. Wie geht’s meinem Bruder?«

»Gut, glaub ich. Donnerwetter, hast du reich geheiratet?« Der Kinderfreund ließ seinen Blick von ihrer weißen Halskrause über das hohe Taillenband bis zum Rüschensaum hinabgleiten. »Heinrich hat gesagt, du bist bei ’ner Familie angestellt.«

»Stimmt auch.« Agnes trat an den Karren heran und nahm ein Wörterbuch aus einer der offenen Kisten. »Darf ich … ganz kurz?«

»Verrat mir erst, wie ein Dienstmädchen zu so piekfeinem Zwirn kommt.«

»Das Kleid gehört der gnädigen Dame. Letzten Monat sollte ich es auf den Speicher räumen, weil es ihr nicht mehr passt.« Agnes blätterte in dem Buch, entdeckte eine interessante Stelle und prägte sie sich ein. »Weißt du, die Prancksche hat die Fresssucht. In der Küche ist täglich Sonntag. Ich muss backen wie für ein Regiment, bekomm aber selbst nur Krumen. Die gnädige Dame gönnt mir nichts. Darum gönn ich mir jetzt selbst was.«

Mit dem Zeigefinger fuhr sie eine Zeile entlang und sprach das Gelesene mit geschlossenen Augen nach. Ja, es saß. Memorieren konnte sie.

Martin nahm ihr das Buch aus der Hand. »Na, dann lass dich nicht erwischen, Nessie.«

»Nee, Madamchen ist heute bei ihrer Schwester. Grüß mir Heinrich, ja? Weihnachten komme ich nach Hause.«

Agnes setzte ihren Weg fort. Auf Höhe der Kramerstraße fiel ihr etwas ein. Wenn sie schon herausgeputzt und nun auch frisch belesen war, warum nicht gleich den Besuch wagen, den sie im Sinn hatte, seit sie zum ersten Mal verstohlen im Salon der Pranckes geschmökert hatte? Bei jeder Gelegenheit spickte sie in die Zeitungen und Zeitschriften, die im Salon lagen, um etwas über die weite Welt zu erfahren. In ihrem Dorf hätte Agnes Bauers- oder Bäckersfrau werden können, und ihr Leben wäre durch die immer gleichen Tätigkeiten bestimmt worden. Das Dasein als Dienstmädchen war zwar auch eintönig, aber sie konnte wenigstens lesend nach Auswegen suchen. Die Zeitungen informierten über Politik und berichteten davon, was in Paris, London und Rom geschah. Wie ein Dienstmädchen zu diesen Orten gelangen konnte, verrieten sie leider nicht. Auch in den Damenzeitschriften, die Frau Prancke in bestickten Schutzhüllen aufbewahrte, fand Agnes keine Ratschläge für ein aufregendes Leben. Darin drehte sich alles um Kindererziehung und Hauswirtschaft. Immerhin hatte die Lektüre Agnes das Formulieren gelehrt. Sie traute sich inzwischen zu, selbst Texte verfassen zu können, und eine sitzende Tätigkeit wäre schon eine Verbesserung.

Die Redaktion des Hannoverschen Merkur befand sich nur einen Katzensprung entfernt in der Knochenhauer Straße, zwischen einem Gemüsehändler und einem Fleischstand. In der Luft hing der Geruch von Sauerkraut und Räucherwaren. Caroline sammelte sich vor einer Platte, auf der Schweineohren und Würste ein Mosaik bildeten. Beherzt klopfte sie an die Tür des Zeitungsbüros und wurde hereingerufen. Der Redakteur thronte hinter einem Schreibtisch, paffte Pfeife und las. Sein Hemd war knittrig, und sein Haar stand über den Ohren vom Kopf ab.

»Leg sie auf den Teller da«, sagte er, ohne aufzublicken.

»Was bitte?«

»Na, die Brötchen.«

Offenbar hielt er Agnes für eine Lieferantin. Sie sah sich erst einmal um. Ein seltsames Möbelstück beherrschte den kleinen Raum an der Fensterseite, ein klobiges Sofa aus Granit. Nein, das war kein Stein. Agnes erkannte hellere Flecken mit schwarzen Buchstaben. Aus verklebten Schnipseln alter Zeitungen war das Sitzmöbel geformt worden. Der Redakteur las immer noch, darum erlaubte Agnes sich, Probe zu sitzen. Das Sofa war hart wie Holz.

»Keine Brötchen?«, blaffte der Mann.

Ertappt sprang Agnes auf.

»Leider nicht, aber …«

Er musterte sie. Offenbar tat das Kleid seine Wirkung, denn die Miene des Mannes wurde freundlicher.

»Kommen Sie wegen einer Anzeige? Ich nehme erst nächste Woche neue auf. Muss bis in zwei Stunden die Mittwochsausgabe zusammengestellt haben und konnte nicht einmal frühstücken. Vom Frankreichkorrespondenten ist nur die Hälfte entzifferbar und jedes dritte Wort abgekürzt. Wenn ich das nicht in eine saubere Form bringe, produziert mir der Setzer wieder Kauderwelsch.«

»Ich könnte Ihnen helfen.«

Der Redakteur legte die ausgehende Pfeife in eine Schale. Sein Magen knurrte wie ein Wachhund.

»Warum nicht? Ich gehe jetzt zum Bäcker, seine Tochter hat mich anscheinend vergessen.« Er schob einen Brief zu Agnes hin. »Probieren Sie, das ins Reine zu schreiben, bis ich zurück bin.«

»Sehr gern.«

Agnes zog einen Schemel zum Tisch, tunkte die Feder in das Tintenfass und machte sich auf einem leeren Blatt ans Werk. Als der Redakteur zurückkam, war sie fertig.

»Ihr Schriftbild ist annehmbar.« Der Mann nuschelte an den Bissen eines Hefeteilchens vorbei. »Was die Abkürzungen betrifft …«

»Da musste ich manche Bedeutung aus dem Zusammenhang erraten. Aber dank Ihnen weiß man ja, was in der Welt vor sich geht. Ihre Zeitung, die ist in Hannover und darüber hinaus …« Agnes präsentierte das Wort wie eine Bestechungsmünze. »… ubiquitär.«

Der Redakteur zwinkerte belustigt. »Und Sie wollen mir gern das omnipotente Schreibfräulein machen?«

»Wenn Sie damit d’accord wären.«

»Versuchen könnten wir es.«

Das war ja leicht gegangen! Agnes kniff sich in den kleinen Finger, um ihre Freude zu verbergen. Es schmerzte mehr als beabsichtigt. Gestern war Waschtag gewesen, und die Haut an ihren Händen war wund gescheuert.

»Was wäre die Bezahlung?«, fragte Agnes.

Ihr Gegenüber lachte. »Seit wann gibt es Geld für Zerstreuungen?«

Er hielt Agnes wohl für eine gelangweilte Bürgerin.

»Ich müsste dafür meine Stellung als Dienstmädchen aufgeben«, sagte Agnes.

»Du siehst gar nicht wie eines aus.«

»Das ist Mimikry.«

»Und die Fremdwörterkrankheit plagt Sie. Wo kriegt man diese Seuche?«

Agnes schmollte. »Wir kommen wohl nicht überein. Schade, mein Herr. Einen schönen Tag noch.«

»Augenblick.« Der Redakteur deutete auf ihre Abschrift. »Du hast sauber und recht schnell gearbeitet. Meine Einnahmen erlauben es mir momentan nicht, jemanden anzustellen. Doch wenn sich das ändert …«

»Ich möchte eigene Texte schreiben«, sagte Agnes.

Der Redakteur schien nicht überrascht.

»Viele wollen das. In unserer verschlafenen Stadt ist wenig Zerstreuung geboten, also blüht die Vorstellungskraft. Aber ich bringe Nachrichten, und selbst Gerüchte brauchen einen wahren Kern. Wären der König und sein Hof nicht dauerhaft in England, gäbe es vielleicht Stoff für eine Damenausgabe, aber so? Woher hier Glamouröses nehmen?«

Der Redakteur glaubte wohl, weibliche Leserschaft sei vor allem an Klatsch interessiert. Er wühlte in dem Papierwust auf seinem Schreibtisch. »Kennst du dieses Fräulein?«

Er hielt die Skizze eines weiblichen Profils hoch, möglicherweise abgezeichnet von einem Scherenschnitt. Dominiert wurde die Silhouette von einer prägnanten Nase. Im Nacken waren die Locken zusammengebunden.

»Caroline Herschel ist das«, sagte der Redakteur. »Seit Kurzem zurück aus Windsor. Hat in den inneren Kreisen des Hofes verkehrt. Die könnte aus dem Nähkästchen plaudern, da bin ich mir sicher. Affären, Verrat, der Wahn des Königs … Wenn du dich bei ihr einschleusen kannst, reden wir.«

»Einschleusen?«

»Als Dienstmädchen. Der Bäcker sagt, sie sucht eines. Spioniere ein bisschen, horch sie aus, aber erwähne unter keinen Umständen meinen Namen.« Er riss die Augen auf. »Unter gar keinen Umständen!«

Der Mann nahm sich ja enorm wichtig. Das Ubiquitär hatte ihm wohl geschmeichelt. Ob seine Zeitung wirklich überall verbreitet war, wusste Agnes gar nicht. Anscheinend sammelten sich ja genug unverkaufte Exemplare an, um daraus Möbel machen zu können. Agnes wäre schön dumm, ihre sichere Stellung bei Frau Prancke aufzugeben, um einem Mann zu helfen, der sie nicht bezahlte. Leichtere, saubere Arbeit hatte sie im Sinn gehabt. Aber bei dieser Herschel bliebe sie die menschliche Verlängerung von Besen und Gemüsemesser. Halbherzig wünschte sie dem Redakteur viel Erfolg mit der Mittwochsausgabe und ging wieder ihrer Wege. Draußen atmete sie flach, bis sie den Sauerkrautschwaden entkommen war. Die Enttäuschung drückte ihre Schultern nach vorn. Bei den Pranckes huschte sie durch den hinteren Garten. Am Eingang rutschte ihr die Türklinke aus der Hand. Jemand musste sie mit fettigen Händen betätigt haben. Mit Butterfingern.

»Du erdreistest dich, mein Kleid zu tragen?« Die Stimme von Frau Prancke war kalt wie das Fruchtsorbet, das Agnes an Weihnachten zubereiten musste. »Pack deine Sachen und geh zurück in dein Kuhdorf.«

Sägespäne

Walcot, England, 5. März 1777

Der Schreiner betrat das Haus, ohne zu klopfen. Mit seinen Sägen und dem Hobel stapfte er in die Küche, als Caroline gerade Feuer im Küchenofen machte, um die Kälte der Nacht zu vertreiben. Dem Mann folgten sein Sohn und ein weiterer Geselle, die Arme voll Holz. Aus den Falten ihrer Kleidung schneiten Sägespäne auf die Dielen.

»Guten Morgen«, sagte Caroline. »Ihr könnt den Tag freimachen. Hat Wilhelm es nicht erwähnt? Ich habe heute Abend meinen ersten Auftritt als Solistin in Bath.« Sie bremste sich und suchte nach Worten, die bescheidener klangen. »Das heißt, Wilhelm und ich singen zusammen in Judas Maccabaeus, und weil er auch das Orchester leitet, wollen wir heute die Partitur ein letztes Mal gemeinsam durchgehen.«

»Können Sie ruhig, stört mich nicht.« Der Schreiner steuerte Wilhelms Schlafzimmer an. »Wir sind da, Meister!«

Etwas polterte zu Boden. Vermutlich waren die Bücher heruntergefallen, über denen Wilhelm eingeschlafen war. Musikalische Themen behandelte keines davon. Wilhelm war seinen jüngeren Geschwistern immer schon einen Schritt voraus. Nachdem er in England ein Auskommen in der Musik gefunden hatte, war es ihm gelungen, Alexander und schließlich auch Caroline nachzuholen. Als Zweiundzwanzigjährige war sie vor fünf Jahren zu ihm gezogen, um Sängerin zu werden, aber noch bevor sie richtig auf der Insel angekommen war, hatte Wilhelm sie während eines Zwischenstopps in der Hauptstadt zu diversen Optikern geschleppt. Dort ließ er sich Linsen und Spiegel für Teleskope zeigen.

Die Astronomie war für ihn von einem Zeitvertreib zu einer Obsession geworden. Er las jede Abhandlung zu diesem Gebiet, derer er habhaft werden konnte, und füllte viele Seiten mit seinen eigenen Beobachtungen. Wenn er eine Pastete aufschnitt, ließ er Caroline die Innenwinkel der einzelnen Stücke ermitteln. Zum Erforschen des Sternenhimmels gehörte Mathematik. Ein wenig konnte Caroline bei den Berechnungen schon helfen.

Sie füllte Wasser für Tee in den Kessel. Bis es kochte, wiederholte sie im Kopf Logarithmengesetze. Das Lernen bereitete ihr Freude, und im Gegensatz zu ihrem Bruder wusste sie, wie es nebenbei gelang. Notizen mit Formeln heftete sie an die Küchenwand und studierte sie beim Rübenschneiden. Um sich kleine Freiheiten zu erschleichen, hatte sie schon als Mädchen Dinge gleichzeitig getan. Leider fehlte Wilhelm diese Fähigkeit. Er hatte nie eine Sonntagsbluse über dem Dampf des köchelnden Eintopfs geglättet, damit später Zeit zum Spielen war. Schweiften seine Gedanken ab, war er nicht in der Lage, sie wieder zu bündeln. Hin und wieder musste Caroline ihn während der Proben anstoßen, weil er stumm ins Leere starrte. Er sollte die Musik ernster nehmen. Sie ernährte sie beide, und als Leiter des Orchesters gab Wilhelm Caroline die Rollen. Erst, wenn sie sich als Sängerin etabliert hätte, könnte sie durch andere Engagements auf eigenen Füßen stehen.

Caroline gab eine sparsam bemessene Portion Teeblätter in die Kanne und goss das heiße Wasser darauf. Ihre größte Sorge war, das Geld könne ausgehen und sie müsse wieder nach Hannover zurück, gerade jetzt, wo es aufregend wurde und ihre Brüder astronomische Instrumente entwarfen, mit denen sie weiter würden blicken können als je ein Mensch zuvor. Mit Alexander, der seinen Lebensunterhalt als Geiger verdiente, hatte Wilhelm ein Teleskop mit einer sieben Fuß langen Röhre gebaut. Es verfügte über eine zweihundertfache Vergrößerung. Sie hatten es kaum aufgestellt, da zeichnete Wilhelm schon Pläne für ein Zwanzigfuß. Bereits das Siebenfuß überragte einen großen Mann und Caroline, die sich erst an die englischen Maße gewöhnen musste, hatte beim Anblick des frisch eingeweihten Siebenfuß rasch im Kopf überschlagen: Das neue Riesenteleskop würde dem Vierfachen ihrer Körpergröße entsprechen! Um so etwas bauen zu können, war allerdings mehr Platz erforderlich, und solcher war für Musiker nur auf dem Land bezahlbar. Seit drei Jahren wohnten Caroline und Wilhelm deshalb im zweieinhalb Kilometer entfernten Walcot. Für Proben und Konzerte nahmen sie eine offene Kutsche nach Bath. Das war die billigste Fahrmöglichkeit, setzte sie aber den Launen des Wetters aus und raubte ihnen Zeit. Alexander war in der Stadt geblieben. Alle paar Wochen besuchte er sie und half bei der Anfertigung des Okulars und anderer Messingteile für das Teleskop.

Caroline wärmte ihre Finger an der Teekanne. Ein Luftzug brachte sie zum Niesen. Sie hatte sich doch hoffentlich keine Erkältung eingefangen, so kurz vor dem wichtigen Abend? Aus Richtung von Wilhelms Schlafzimmer drangen Fetzen einer Diskussion an ihr Ohr, gefolgt von lautem Rumoren. Die Handwerker hatten die Haustür offen stehen lassen. Caroline wollte sie gerade schließen, als sich der nächste Besucher ankündigte.

»Ihr Mist, Fräulein Herschel«, rief eine heisere Stimme. »Wo soll er hin?«

Draußen wartete der Knecht eines Bauern mit einem Handkarren voll Pferdeäpfeln, durchsetzt mit Stroh. Obenauf lag eine Schaufel. Aus dem Mist stellte Caroline Formen für die Spiegel her, die Wilhelm im Keller goss. Die Sonne stand schon fast im Zenit, und Caroline hatte noch viel zu tun. Sie drückte dem Knecht zwei Halfpenny in die Hand und deutete auf ein paar verbeulte Zinnwannen, die an der Wasserpumpe im Garten lehnten.

»Lad alles darein und trag es mir in den Keller.«

Auf seinem Weg durch die Küche würde der Mann den Boden heillos verdrecken, aber das nahm Caroline in Kauf.

Heute mache ich mich nicht schmutzig. Ich werde alles in Ruhe tun und genug trinken, um heute Abend ausgeruht und gut bei Stimme zu sein.

Mit einer Tasse Tee wollte Caroline sich in ihre Schlafkammer zurückziehen und fand sie voller Holz. Die Gesellen mussten es dorthin geschleppt haben, wahrscheinlich auf Anweisung von Wilhelm, weil der Platz neben seinem eigenen Bett schon von dem Tisch mit der Drehscheibe beansprucht wurde, auf der sie die Spiegel polierten. Caroline stieg über Bretter und stand vor ihrem neuen Kleid, das auf einem Bügel an der Vorhangstange hing. Zehn Guineas hatte es bei einem Schneider in Bath gekostet, mehr als aller Stoff zusammen, den Caroline je für ihre bescheidenen Tageskleider vernäht hatte. Es war aus grünem Chintz und würde im Licht der Kerzen glänzen.

Caroline hob ihr Haar an. Ihre Benimmlehrerin Mrs Colnbrooke hatte ihr gezeigt, wie sie es pudern und hochstecken sollte. Heute Abend würde die Witwe im Publikum sitzen und Caroline mit Gesten warnen, wenn sich eine hintere Strähne löste.

Als ob ich nicht schon genug damit zu tun hätte, mir den Text zu merken, meine Einsätze nicht zu verpassen und eine anmutige Haltung zu wahren!

Mrs Colnbrooke verdankte Caroline auch eine Anleitung zur Verschönerung ihres Gesichts: »Mit dem Schminken verhält es sich wie mit dem Malen, meine Liebe. Nur mit der richtigen Technik erzielen Sie den gewünschten Effekt. Eigentlich genügt ein wenig aufhellendes Talkum, dünn aufgetragen, wie die Farben auf einem Aquarell. Aber bei Ihren Pockennarben braucht es pastöses Material, Bleipulver in Fett gelöst, und damit sollten Sie spachteln, bis keine Leinwand mehr zu sehen ist.«

Folgsam hatte Caroline gecremt, bis ihr aus dem Spiegel eine Porzellanpuppe entgegenzublicken schien. Ihre Augen hatten von den Experimenten gebrannt und ihre Haut gejuckt. An manchen Stellen war Blut aus den Poren getreten. Wollte Caroline Geschwüre in Kauf nehmen, wie manche vornehmen Damen sie hatten? Die wären dann gar nicht mehr zu verdecken. Alexander hatte vorgeschlagen, mit Kalk und heller Erde zu experimentieren, aber diese Masse war zu einer Maske ausgehärtet, die beim Singen aufgebrochen und Caroline in Brocken vom Gesicht gefallen wäre. Sie hatte das Schminken aufgegeben. Mit ihrem Aussehen konnte sie ohnehin nicht herausstechen. Bath mit seinen reichen Kurgästen lockte die schönsten Mädchen des Landes an.

Caroline wechselte in ihr schlichtes Tageskleid aus Musselin und knotete sich ein wollenes Tuch um den Hals. Ihre Finger waren klamm. Von der Kälte oder schon von den Nerven?

Nichts kann schiefgehen. Ich habe den heutigen Tag geplant wie eine militärische Operation.

Sie konsultierte das Notizbuch, das auf dem Nachttisch lag.

11:00:  Wilhelm assistieren, Buchführung, Haushalt.

14:00:  Wenn Wilhelm liest: Zeitpuffer für Unvorhergesehenes.

15:00:  Essen kochen.

16:00:  Essen.

16:30:  Wilhelms Kleidung herauslegen. Er soll sich umziehen.

17:00:  Liest Wilhelm wieder? Er soll sich nun wirklich umziehen!

17:10:  Kutsche rufen, selbst ankleiden, Frisur.

18:00:  Abfahrt nach Bath.

19:00:  Letzte Besprechung, Einsingen.

20:00:  BEGINNDERVORSTELLUNG

Den Zeitpuffer würde sie nun also benötigen, um Schinken und Eier zu kaufen. Für die Beköstigung der Handwerker reichten ihre Vorräte nicht.

»Lina«, ertönte Wilhelms Stimme von nebenan. »Ich brauche dich hier.«

Caroline lief in die Kammer ihres Bruders und fand ihn über den Poliertisch gebeugt. Mit einer Hand stützte er sich ab, mit der anderen bewegte er ein Stück Granit in kreisenden Bewegungen über eine runde Metallplatte. Es würde noch Stunden dauern, bis er auf diese Weise einen Hohlspiegel hergestellt hätte.

»Mir geht gleich die Paste aus«, sagte Wilhelm.

»Stärke dich doch erst mal.«

»Keine Zeit. Ich hätte gestern gar nicht aufhören sollen.«

»Dann bringe ich dir etwas«, sagte Caroline.

»Aber auch neue Paste!«

Ganze Nächte hatte Wilhelm schon Spiegel bearbeitet. Seine Hände kannten die Krümmung, die zu erzielen war, und das beste Ergebnis bekam er, wenn er nicht absetzte. Neben ihm stand eine Teetasse, die Siliziumcarbid in einer Bindung aus Öl und Wachs enthalten hatte. Caroline füllte die Polierpaste in der Küche aus einem Tiegel auf, stellte die Tasse auf ein Tablett, schmierte ein Butterbrot, füllte eine weitere Tasse mit Tee und brachte alles zu Wilhelm.

»Ah, danke.«

Mit einem Löffel setzte er einen frischen Klecks der Paste auf den Spiegel. Caroline hielt ihrem Bruder das Brot hin, damit er abbiss. Bevor sie ihm die Teetasse an die Lippen hob, nahm sie selbst einen Schluck, um die Temperatur zu testen. Hinter dem Poliertisch war die Wand fleckig. Dort hatte Wilhelm mit schmutzigen Fingern Halt gesucht. In einem Korb auf dem Boden lagen Bücher. Aus denen las Caroline Wilhelm vor, wenn er von der monotonen Bewegung müde wurde. Zwischen Don Quixote und Tausendundeiner Nacht ragte die Partitur von Judas Maccabaeus heraus. Caroline schlug sie auf.

»Bei unserem zweiten Duett scheint mir Miss Mahon manchmal zu früh einzusetzen«, sagte sie. »Oder bin ich schuld? Halte ich mein letztes h zu lang?« Sie klopfte mit dem Fuß einen Takt auf den Boden und sang: »Come, eversmiling libertyyy.«

Wilhelm schnalzte ungehalten. »Nicht jetzt. Du bringst mich raus.«

Caroline murmelte eine Entschuldigung und vertiefte sich still in die Noten. Plötzlich fühlte sie sich in den Festsaal versetzt. Die erste Arie gehörte ihr! Aber ihr Kopf schien leer zu sein. Caroline las die Worte, aber die Melodie fiel ihr nicht mehr ein. Dann las sie die Noten, aber nun fehlten die Worte dazu.

Ach, die Nerven!

Nein, die Schleiferei war schuld, das nicht abreißende krkrkrk der kleinen harten Körner auf dem Metall. Das hörte sich an wie das Scharren von Hunderten Schuhsohlen, die Geräusche eines Publikums, das ein baldiges Ende herbeisehnte. Doch so würde es heute Abend nicht sein, Caroline war ihrer Rolle gewachsen, das hatte Alexander ihr mehrfach bestätigt.

Sie klemmte sich die Partitur unter den Arm und rückte das Tablett auf einem Schemel näher an Wilhelm heran. Jetzt kam er selbst mit der freien Hand an seinen Tee.

»Ich gehe Schinken kaufen«, sagte Caroline.

»Und Bier.«

Sie nickte, drehte sich im Gehen noch einmal um und verhinderte mit einem Schrei, dass Wilhelm einen kräftigen Schluck vom Siliziumcarbid nahm.

»Falsche Tasse! Ich räume dein Frühstück wohl besser zurück in die Küche.«

Im Flur musste sie sich am Schreiner vorbeiquetschen. Er passte Bretter an Teile eines Pappmodells an, das Caroline als Ersatz für die noch unfertige Teleskopröhre gebaut hatte.

»Der Stand wird viel zu groß, den können wir hier drinnen nicht aufbauen, Fräulein Herschel. Ich brauche mehr Platz.«

Caroline unterdrückte eine scharfe Antwort.

Wo soll ich den bitte schön herzaubern? Seht ihr nicht, dass unser Zuhause schon jetzt Ihrer Werkstatt gleicht?

Erst draußen fiel die Unwirschheit langsam von ihr ab. Als sie mit Schinken und einem vollen Krug Pale Ale heimkehrte, gönnte sie sich eine Pause. Auf der Bank im Vorgarten ging sie abermals ihre Gesangspartien durch. Inzwischen konnte sie in die Musik schlüpfen wie in ein Paar gut eingelaufene Schuhe. Alles passte, sie hatte ja auch wirklich viel geübt, und das neue Kleid würde ihr Stärke verleihen. Dank des Reifrocks darunter nähme sie Platz ein.

Mit neuem Schwung betrat sie das Haus und hörte das Ratschen einer Säge über Holz. Aber wo waren die Männer? Nicht in der Küche und auch nicht im Flur. Der war jetzt frei, bis auf einen Haufen Verschnitt, der vor der geöffneten Tür zu Carolines Kammer lag. Woher kamen die Sägelaute?

Caroline ließ den in Tuch eingeschlagenen Schinken auf den Küchentisch fallen und stellte das Bier ab. Sie ahnte Schlimmes und behielt recht.

»Was tut ihr da?« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »O nein!«

Der Schreiner blickte auf, die Säge in der Hand. Er stand zwischen Carolines Bett und dem Schrank. Sein Sohn und der Geselle knieten. Sie hatten je ein Bein zu provisorischen Böcken aufgestellt und ein Brett daraufgelegt. Der Boden der Kammer war von Spänen bedeckt, aber nicht nur der, auch auf dem Bett fanden sich welche und in den Vorhängen. Der Blick auf das Kleid wurde Caroline durch die breite Brust des Schreiners versperrt.

Bitte lass es nicht wahr sein!

»Ja, das ist mühselig hier«, sagte der Schreiner. »Aber bevor wir alles nach draußen bringen und beim nächsten Regenschauer wieder hinein …«

»Das Wetter ist bestens!«

Caroline hatte die Stimme gehoben. Erschrocken senkte der Mann den Kopf. Er schien zu verstehen, dass es nicht um seine Bequemlichkeit ging, und klopfte die Säge aus, wohl eine Verlegenheitshandlung, aber in diesem Augenblick die denkbar ungeschickteste. Weitere Späne fielen auf das Bett, und als der Schreiner sich bückte, um sie herunterzuwischen, erfasste Caroline das ganze Ausmaß der Katastrophe. Ihr Kleid hing noch immer an der Vorhangstange, aber es war nun hellbraun gesprenkelt. Auf dem Chintz hafteten Sägespäne, und in den spitzenverzierten Aufschlägen der Ärmel steckten sie wie Nadeln in einem Kissen.

»Raus hier!«

Caroline riss ein kleines Teleskop, das Wilhelm irgendwann einmal von einem Gesangsschüler bekommen hatte, von dem Nagel neben der Tür. Beim Beobachten erwies es keine guten Dienste, aber um damit zu drohen, war es hervorragend. Die handliche Röhre ließ sich schwingen wie einen Knüppel. Ein Ende des Bretts polterte zu Boden. Der Schreinerssohn flüchtete hinaus. Sein Vater, immerhin bewaffnet mit der Säge, erhob sich langsam. »Mach sauber«, sagte er zu dem Gesellen.

Er selbst trollte sich. Der Geselle schleppte das Brett in den Flur, schüttelte Bettdecke und Kissen aus und machte sich an der Spitze des Kleids zu schaffen. Mit seinen schwieligen Fingerkuppen zupfte er neben den Spänen auch feine Fäden heraus.

»Geh, du verschlimmerst das nur!«

Tränen schossen in Carolines Augen. Doch sie konnte sich weder verquollene Augen noch eine vom Schimpfen raue Stimme leisten. Mit dem Teleskop in der Hand rannte sie in den hinteren Garten. An der Wand des ehemaligen Schweinestalls lehnte eine Leiter. Manchmal kletterte Wilhelm auf das flache Dach, um von dort aus Sterne zu beobachten. Caroline steckte ihre Hand durch das Lederband am Ende des Teleskops, raffte ihre Röcke und erklomm die Sprossen. Oben setzte sie sich hin und schlang die Arme um die Beine.

Wäre doch Alexander hier.

Er verstünde ihren Ärger über die Gedankenlosigkeit der anderen. Einmal hatte er wochenlang an einer Teleskopröhre gedrechselt, nur um schließlich von Wilhelm eröffnet zu bekommen, es werde für diese nun doch keine Spiegel geben, denn er mache lieber welche mit größerem Durchmesser.

Wilhelm war der Visionär und gab den Plan vor. Die Fleißarbeit überließ er vertrauensvoll seinen Geschwistern. Notizen zu ordnen und sauber zu machen, fiel dabei nicht in sein Aufgabengebiet.

Caroline setzte das Teleskop an und suchte die Spitze des Kirchturms. Aber die Spiegel im Inneren des Instruments, die das Licht fingen und reflektierten, waren unregelmäßig geschliffen und inzwischen auch angelaufen. Sie produzierten nur ein verschwommenes Bild. Caroline ließ das Teleskop sinken, formte ihre Hand zu einer Röhre und sah hindurch. Wolken zogen am Himmel vorbei, und Caroline stellte sich hinter ihnen die Sterne vor. Ihr Atem beruhigte sich. Später, nach der Vorstellung, wollte sie hierher zurückkehren. Sie würde Wilhelm bitten, ein Fünffuß für sie aufzubauen. Den Mond wollte sie damit betrachten, seine Schluchten, Berge und das geheimnisvolle Gebilde, das Wilhelm für einen riesigen Wald hielt. Wenn die Nacht nicht allzu kalt wurde, schweifte sie vielleicht weiter bis zum Jupiter. Die Planeten waren unerreichbar fern, und das war ebenso schade wie schön. Während Wilhelm die Ansicht vertrat, der Mond sei bewohnt, glaubte Caroline nicht daran. Sie wünschte es sich auch nicht. Da oben sollte niemand sein. Es sollte kein zweites Walcot mit einem Haus wie dem ihren geben und keine unverheirateten Frauen, die sich um die Haushalte ihrer Brüder kümmerten.

Das Gefühl von Weite und Grenzenlosigkeit wollte Caroline heute Abend in ihren Gesang legen, und nach ihrem Auftritt würde sie sich ausgiebig am Nachthimmel erfreuen. Wenn sie genug hätte, würde sie zu Bett gehen und auf dem Weg dorthin weder schmutziges Geschirr noch herumliegendes Werkzeug beachten. Kleine und nahe Dinge bereiteten nur Verdruss. Caroline stand der Sinn nach Großem und Fernem.

Kleinod

Hannover, 28. Oktober 1822

In Dietrichs Haus wurde schon vor Sonnenaufgang mit Töpfen geklappert und über Dielen gepoltert, und Caroline hatte das Mädchen bereits zweimal mit einem »Kein Frühstück für mich, danke. Vor elf Uhr nehme ich nie etwas zu mir« und einem »Nein, ich packe selbst aus« wieder fortgeschickt.

Gähnend tat sie das nun. Mit der Kleidung war sie schnell fertig und ging zum Sekretär. Über der Schreibfläche hatte er Fächer und vier Schubladen, von denen zwei abschließbar waren. Aus einer ihrer Taschen zog Caroline ein längliches Päckchen. Sie wickelte das weiche Tuch ab, und zum Vorschein kam ein Fernrohr. Für das musste sie in ihrem neuen Zuhause ein Versteck suchen. Zwar würde Johann, gut erzogen wie er war, es wohl nicht ungefragt an sich nehmen, aber Caroline wollte ihr Kleinod generell vor fremden Blicken schützen. Von seiner Existenz hatte sonst nur Janek gewusst. Caroline legte ihre Wange an das Fernrohr wie an ein Kissen. Es fühlte sich kühl an. Als sie es zum ersten Mal in die Hand genommen hatte, war es von der Sonne aufgeheizt gewesen.