Frau Merian und die Wunder der Welt - Ruth Kornberger - E-Book
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Frau Merian und die Wunder der Welt E-Book

Ruth Kornberger

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Beschreibung

Sie folgte den Schmetterlingen – und fand die Liebe ihres Lebens

Niederlande, Ende des 17. Jahrhunderts: Um der Enge ihrer unglücklichen Ehe zu entfliehen, versucht die Malerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian in Amsterdam den Neuanfang. Ihr großer Traum ist es, von dort eine Überfahrt ins ferne Surinam zu ergattern, um im tropischen Regenwald die faszinierende Vielfalt der Schmetterlinge zu studieren. Der Start in der großen Stadt allerdings ist holprig. Die erwarteten Malschülerinnen bleiben aus, und Financiers für eine Forschungsreise nach Übersee finden sich auch keine. Aber Maria gibt nicht auf. Hartnäckig rennt sie Türen ein, knüpft Kontakte und bringt ihre ältere Tochter unter die Haube. Doch als es endlich so weit ist, zögert sie – denn mit dem geheimnisvollen Jan de Jong, der immer wieder ihren Weg kreuzt, gibt es nun jemanden, der sie in der Heimat hält …

Atmosphärisch und sinnlich, mit viel Gespür für Details, zeichnet Ruth Kornberger ein Portrait der Künstlerin und Forscherin Maria Sibylla Merian – einer faszinierenden Frau, deren Wagemut keine Grenzen kannte und die ihrer Zeit weit voraus war.

»Ein Roman, der genauso detailverliebt und schillernd ist wie die Zeichnungen der Künstlerin.« Freundin

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Seitenzahl: 623

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Als Forscherin ging Maria Sibylla Merian gegen alle Widerstände – als Künstlerin schenkte sie uns einen neuen Blick auf die Welt.

Niederlande, Ende des 17. Jahrhunderts: Um der Enge ihrer unglücklichen Ehe zu entfliehen, versucht die Malerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian in Amsterdam den Neuanfang. Ihr großer Traum ist es, ins ferne Surinam zu reisen, um dort die faszinierende Vielfalt der Schmetterlinge zu studieren und die Freiheit zu finden, die ihr in Europa immer verwehrt wurde. Der Start in den Niederlanden allerdings ist holprig, die erwarteten Malschülerinnen bleiben aus, und Financiers für eine Forschungsreise nach Übersee finden sich auch keine. Aber Maria gibt nicht auf. Hartnäckig rennt sie Türen ein, knüpft Kontakte und bringt ihre ältere Tochter unter die Haube. Doch als es endlich so weit ist, zögert sie – denn mit dem enigmatischen Jan de Jong, der immer wieder ihren Weg kreuzt, gibt es nun jemanden, der sie in der Heimat hält …

Ruth Kornberger wurde 1980 in Bremen geboren und studierte Angewandte Medienwissenschaft in Ilmenau. Ihre Kurzgeschichten sind in Literaturzeitschriften und Anthologien erschienen. Sie ist Mitglied der Autorenkollektive Junge Literatur Mannheim und Qindie. Mit ihrer Familie lebt sie in Weinheim.

RUTH

KORNBERGER

Frau Merian

und die Wunder

der Welt

ROMAN

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© Ruth Kornberger 2021

© 2021 C. Bertelsmann

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Buch wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Michael Gaeb

Redaktion: Sarvin Zakikhani

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildungen: © Christie’s Images Ltd/Artothek;

© Christie’s Images/Bridgeman Images

Vor- und Nachsatz: ©Bridgeman Images

Karte: Algemeene kaart van […] Suriname … [etc.].

Amsterdam, Covens & Mortier, nach 1758.

Allard Pierson, Bibliothek der Amsterdamer Universität,

HB-KZL 105.20.03

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-26695-0V004

www.penguin-verlag.de

Prolog

Plantage La Providentia (Surinam), Mai 1700

Es war dunkel im Zimmer, und durch die dünnen Holzwände drang das Rufen fremder Tiere. Die Bewohner des Urwalds sangen, kreischten und zirpten noch immer, lockten, warnten und drohten einander. Sobald die Affen und Vögel endlich ihre Schlafplätze aufgesucht hatten, würde es ein wenig stiller werden.

Oder lärmten sie nicht immer noch, sondern schon wieder? Maria war, als hätte sie im Bett nur kurz die Augen geschlossen, aber dieses Gefühl täuschte sie häufig. In den tropischen Nächten fand sie oft nur leichten Schlaf und erhob sich kaum erholter, als sie sich niedergelegt hatte. Jetzt wurden die Sklaven zur Arbeit gerufen. Zuerst erscholl die Stimme von fern, aber nach zwei Wiederholungen war sie direkt am Fenster. Der Morgen war angebrochen.

Maria stand auf und scheuchte den Papagei fort.

»Von mir bekommst du nichts!«, rief sie.

Jemand hatte den Fehler begangen, das Tier zu füttern, und nun wurde man es nicht mehr los. Es äffte den Aufseher der Plantage nach und begleitete die religiösen Lieder der Labadisten mit schrillen Tönen.

Ein schmaler Streifen Helligkeit zeigte sich am Horizont. Kaum hatte Maria ihre Röcke angezogen und die Bluse geschnürt, war der Raum in Licht getaucht. In Surinam begann der Tag nicht mit der Gemächlichkeit eines niederländischen Sonnenaufgangs. Aus Richtung der Sklavenquartiere erklang Gesang. Die Arbeiter zogen auf die Felder. Hühner gackerten aufgeregt.

Maria trat an Dorotheas Bett. Sanft legte sie ihrer Tochter eine Hand auf die Stirn und lächelte. So weckte sie ihr Kind seit zweiundzwanzig Jahren.

»Was ist?« Dorothea blinzelte unwirsch und gähnte.

»Du schwitzt.«

»Natürlich. Du etwa nicht?«

»Doch. Aber geht es dir sonst gut? Keine Kopfschmerzen?«

Damit hatte die Krankheit bei der Labadistenschwester Liese angefangen, und innerhalb von vier Tagen war ihr Bett für Dorothea frei geworden.

»Du redest es noch herbei, Mutter.«

»Nun denn, gehen wir zur Morgenandacht.«

Dorothea verzog das Gesicht. »Ich glaube, mir ist doch ein wenig unwohl.«

Maria schmunzelte. »Ich entschuldige dich, ausnahmsweise.«

Die Gemeinschaft betete in der Kapelle. Auch Marias Mund sprach die vertrauten Worte, doch ihr Geist widmete sich schon dem Werk des Tages. In der Kühle dieser ersten Stunden gelang das Denken am besten. Später wurde das Blut in den Adern dick und der Kopf schwer, man garte in der Hitze wie Gemüse in einer Brühe, und bei Anbruch der Nacht konnte man nur noch ermattet auf das Lager sinken.

Zum Morgenmahl, das aus wässrigem Getreidebrei und dünnem Tee bestand, kam Dorothea als Letzte. Sie murmelte eine Entschuldigung und bot an, den Spüldienst zu übernehmen.

Die Brüder und Schwestern zerstreuten sich. An diesem Vormittag wollten sie ein neues Gemüsebeet anlegen und den Bootssteg erneuern.

Während Dorothea Schalen und Löffel wusch, füllte Maria Wasser in einen ledernen Trinkschlauch. Heute ging es endlich einmal wieder in den Urwald. Sie schärfte ihr Messer und untersuchte die Klinge auf Rostspuren. In den Regenmonaten durchfeuchtete alles, und auch während des übrigen Jahres schritt die Verwitterung viel schneller voran als zu Hause. Schmetterlinge zu spannen war ein zweckloses Unterfangen, die Falter verschimmelten statt zu trocknen, oder fielen Käfern und Schaben zum Opfer. Durch Ritzen und Nähte drangen die Räuberchen, und scheiterten sie doch einmal an einem Behältnis, überließen sie den Schmaus den Kumpanen, die kleiner waren oder über schärfere Beißwerkzeuge verfügten.

Maria spürte einen Blick auf sich. Bruder Paul beobachtete sie vom Flur aus. Während die anderen Gläubigen Maria als sonderbaren Gast abzutun schienen, dessen Marotten einem immer unverständlich bleiben würden, wollte Paul, der erst seit Kurzem bei der Gemeinschaft lebte, Marias Rätsel ergründen. Täglich löcherte er sie mit Fragen:

– Über Aderi, Marias einheimische Begleiterin. (»Uralt. Warum nimmst du keine jüngere Indianerin mit?«)

– Über Marias Bluse (»Aus Seide. Wem hast du die gestohlen?«)

Heute trieb ihn Verwunderung über das Messer um: »Das ist viel zu klein. Welches Tier willst du damit erlegen?«

Maria lächelte. »Ich töte kein Tier damit.«

Paul schien nachzudenken. Kurz sah er hinaus zum Urwald, der sich weiter erstreckte, als jemals ein Weißer vorgedrungen war. Die wilde Landschaft barg Jaguare, Skorpione und ganze Völker, die niemand hier kannte. Es kursierten nur Gerüchte über sie. Im Inneren des Landes sollte es eine Hochebene geben, bewohnt von Stämmen, deren Mitglieder im Gegensatz zu Marias Führerin kriegerisch waren.

Warum bloß, mochte Paul sich denken, soll man weiter in dieses Land eindringen, dessen Küsten allein sich bereits durch Hitze, Krankheit, Piratenüberfälle und Sklavenaufstände für viele Siedler als tödlich erweisen? Paul schien die sicheren Grenzen des Gemüsegartens vorzuziehen.

»Ich gebe dir ein größeres Messer«, sagte Paul.

Ersatz konnte Maria gebrauchen. Paul reichte ihr ein Messer mit graviertem Griff, sein eigenes. Sie lächelte. Freundlich von ihm. Aber eine andere Sache benötigte sie noch dringender.

»Hast du Schnaps?«, fragte sie.

Empört schüttelte Paul den Kopf. Er schien kurz davor, ihr sein Messer wieder wegzunehmen.

»Für die Insekten«, ergänzte sie. »Könntest du ein paar Liter besorgen, wenn ihr demnächst nach Paramaribo rudert? Manche Plantagenbesitzer brennen selbst welchen aus Zuckerrohr. Ich brauche das reine, hochprozentige Destillat, nicht den Punsch, den sie damit mischen.«

»Du weißt, wir sollen uns von geistigen Getränken fernhalten. Das ist eine der wichtigsten Regeln«, sagte Paul. »Wäre Schnaps da, könnte jemand in Versuchung geraten.«

Maria seufzte. »Dann muss ich mit dem auskommen, was ich noch habe.« Sie nickte Paul zum Abschied zu.

»Aderi wartet auf uns.« Die Indianerin betrat das gerodete Gebiet der Plantage nicht, sondern blieb stets zwischen den letzten Bäumen stehen. Ihr Enkel wurde von den Labadisten unterrichtet. Von ihm hatte Aderi Niederländisch gelernt. Einerseits schien sie neugierig zu sein, andererseits legte sie große Vorsicht an den Tag. Maria glaubte verstanden zu haben, dass ihr Misstrauen von der Bibel herrührte. Die Labadisten lasen jeden Tag viele Stunden darin und wollten auch alle anderen dazu bringen, es zu tun. Den Grund dafür begriff Aderi nicht. Ob es ein magisches Ritual sei, hatte sie von Maria wissen wollen. Aber es passierte doch nichts. Also würde der Zauber noch kommen?

Über Marias Wünsche hingegen schien sie sich überhaupt nicht zu wundern. Wollte Maria einen blauen Vogel aus nächster Nähe sehen, zeigte Aderi ihr einen Strauch, von dessen Früchten er naschte. Deutete Maria auf einen Schmetterling, brachte Aderi Tage später die passende Raupe. Nur einmal hatte Aderi nicht weitergewusst. Ein Falter, so groß wie zwei Hände? Solch einen hatte sie noch nie gesehen. Aber es gab diese Art, Maria besaß den Beweis.

Geleitet von der Indianerin, machten Maria und Dorothea sich auf den Weg. Die Eingeborene kannte Pfade durch den Urwald, aber schnell kam man auch auf denen nicht voran. Man stolperte über Wurzeln und verfing sich in Ranken. Die surinamische Natur lehrte Demut, und befolgte man ihre Lektion, beschenkte sie einen reich. Man brauchte ja nur stehen zu bleiben und den Kopf zu heben, um eine vielstöckige Wunderkammer zu erblicken. Sträucher wurden von kleinen Bäumen überragt, und die wiederum bildeten das Unterholz für die alten Riesen, deren Laub den Wald bekrönte. Schlingpflanzen umwickelten Stämme, Vögel bauten ihre Nester in Astgabelungen, Affen jagten sich in schwindelerregender Höhe. Maria bestaunte den scheinbar mühelosen Flug eines Schmetterlings. Auf einem Blatt rastete das Tier. Maria hätte es mit ihrem Netz erreichen können, aber sie ließ ihm die Freiheit. Diese Falterart besaß sie schon. Heute hoffte sie, eine andere zu fangen.

Jäh wurde sie von der Indianerin beiseitegezogen.

»Ori!«

Mit der freien Hand deutete Aderi auf den Boden. Zu Marias Linken ruhte eine rot-weiß-schwarz geringelte Schlangeauf einem abgebrochenen Ast. Sie war zusammengerollt, aber Maria hatte schon gesehen, wie die Tiere blitzschnell vorschossen. Auch Dorothea wich dem Tier mit gehörigem Abstand aus.

»Augen immer unten«, sagte Aderi.

Mit klopfendem Herzen nickte Maria. Diese Ermahnung hatte sie schon oft bekommen. Sie heftete ihren Blick auf Aderis nackte Füße vor sich, die bei jedem Schritt geschmeidig abrollten. Die Indianerin trat nur auf Erde, niemals auf Blätter. Marias Fersen schmerzten. Ihre Strümpfe waren dünn gescheuert und schützten die Haut kaum noch vor dem Leder der Stiefel. Sie müsste sich mal wieder abends zum Stopfen hinsetzen, aber dafür fand sie nie Zeit, es gab immer noch so viele Beobachtungen niederzuschreiben. Einmal hatte sie versucht, barfuß zu gehen wie die Indianerin, aber das war noch schlimmer gewesen. Sie verfügte über zu wenig Hornhaut und bekam Kratzer und Schnitte. Wenn die sich entzündeten, würde sie tagelang gar nicht mehr laufen können.

Aderi blieb stehen und wies auf einen umgestürzten Baum.

»Wir müssen noch keine Pause machen«, sagte Maria.

Aber die alte Frau deutete auf eine Stelle hinter dem Baum. Sie waren am Ziel. Dort wuchsen Ananas, und was für prächtige! Zu ihrer Freude entdeckte Maria inmitten von Schösslingen etliche reife Früchte.

»An denen wäre ich glatt vorbeigelaufen! Machen wir uns an die Arbeit.«

Sie setzte sich, klappte ihr Notizbuch auf und begann, eine Frucht zu zeichnen. Neben ihr nahm Dorothea Platz.

»Sieh doch, Mutter, eine Raupe, dort unten auf dem Stiel.«

»Wunderbar! Halte kurz.« Maria reichte Dorothea Buch und Stift und entnahm ihrem Leinenbeutel ein Glas. »Die habe ich gleich.«

Derweil führte Dorothea die Zeichnung der Frucht fort. Keine Faser würde sie vergessen, kein Blatt des stacheligen Schopfes. Das Handwerk hatte sie von Maria gelernt, und sie ergänzte und vollendete oft die Zeichnungen ihrer Mutter.

Maria setzte sich wieder, verschloss das Glas und stellte es neben sich auf den umgestürzten Baum. Die Raupe kroch an der Wand ihres durchsichtigen Gefängnisses entlang. Wortlos riss Dorothea eine leere Seite aus dem Buch und reichte sie Maria, zusammen mit einer Unterlage aus dünnem Holz und einem weiteren Silberstift. Die Arbeitsaufteilung musste nicht besprochen werden. Maria würde sich um die Hauptsache kümmern, Dorothea um das Beiwerk.

Schweiß stand den Frauen auf der Stirn. Maria schob die Ärmel ihrer Bluse bis zu den Ellbogen hoch. Krempeln musste sie den Stoff nicht, er blieb von selbst an ihrer Haut kleben.

»Diese Ananas duftet viel süßer als die von Frau Block«, sagte Maria.

In der Orangerie der niederländischen Züchterin hatte sie die königliche Frucht zum ersten Mal in natura gesehen.

Aber kann man sagen: in natura? Die Ananaspflanze wuchs in einem Tempel aus Fenstern.

Maria hatte den Auftrag bekommen, das wertvolle Gewächs zu zeichnen.

»Wir glaubten, eine Vorstellung von der westindischenNatur zu haben«, sagte Maria zu Dorothea. »Aber in den Orangerien zieht man exotische Pflanzen in sorgsam gerechten Beeten. Das Entscheidende fehlt: die Üppigkeit drumherum.«

Unvermittelt schlug sie sich auf ihr linkes Handgelenk. Zu spät erwischte sie den Moskito. Das Tier hatte schon gestochen. Es hinterließ einen Blutfleck.

»Auf die Plagegeister könnte ich verzichten«, seufzte Dorothea.

»Ach, die gehören nun einmal dazu.«

Maria nahm ihr Zeichnen wieder auf. Schweigend arbeiteten sie eine Weile Seite an Seite. Aderi wartete etwas abseits, in der breiten Hocke, die für Menschen, die Stühle gewohnt waren, schrecklich unbequem wirkte. Als Maria sich zu ihr umdrehte, lächelte die Indianerin, sammelte etwas von einem Stamm, steckte es sich in den Mund und kaute.

Aus Stolz über ihre züchterische Meisterleistung hatte Frau Block eine Silbermedaille schlagen lassen. Die Inschrift verkündete: »Können und Arbeit bringen hervor, was die Natur nicht vermag.«

Daran schien Dorothea zu denken, denn sie sagte: »Außerdem werden die Pflanzen hier viel größer als in jedem Gewächshaus in den Niederlanden, und sei es auch noch so gut beheizt.«

»Richtig, aber um das zu sehen, muss man erst einmal hierhergelangen.«

Es hatte Maria viel Mühe gekostet, diese Reise in die Wege zu leiten. Als sie endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, ihre Forschungsreise anzutreten, war ihre ältere Tochter, Johanna, bereits in Amsterdam verheiratet gewesen, und Dorothea, die jüngere, hatte ihren Traum, diesen fremden Kontinent einmal mit eigenen Augen zu sehen, schon lange aufgegeben.

Die Raupe war grob skizziert. Eine Abbildung mit allen Details würde noch Stunden erfordern, doch solche Feinarbeit konnte man hier nicht ausführen.

Maria verstaute ihre Zeichensachen sorgsam im Beutel und holte den verkorkten Schnaps und das Messer hervor.

Von der Seite blickte sie Dorothea an. Wenn sie ihr noch eines mitgeben wollte, dann die Bedeutung von Beharrlichkeit. Ihre Tochter spürte ihren Blick und hob nur die Schultern. Ihr Haar war bereits schweißdurchtränkt.

Maria stand auf. »Du bist fertig, ja?«, sagte sie laut. »Dann köpfe ich jetzt.«

Sie schnitt eine der Früchte im obersten Drittel auf. Nun mussten sie nur noch warten. Das Einzige, was einem in dieser Hitze leichtfiel. Sie teilten das Wasser mit Aderi und tranken schweigend. Ein Schmetterling torkelte heran. Auf der Oberseite schmückte seine Flügel ein Muster aus dunklen Linien, gefüllt mit einem hellen Grün, ähnlich dem des Schopfes der Ananasfrucht. Von unten waren sie gelb wie das Fruchtfleisch. Das wurde sichtbar, als das Tier sich niederließ, sie hochklappte und vom süßen Saft der Ananas naschte. Maria hätte den Bewegungen des zarten Wesens stundenlang zusehen können. Wenn es jetzt aber davonflog, konnte Maria ihm unmöglich folgen. Mit einem kurzstieligen Netz fing sie den Schmetterling ein und betäubte ihn, indem sie seinen Körper zwischen zwei Finger nahm und kurz zudrückte. Das Flattern hörte auf. Dorothea hatte das Raupenglas bereits geöffnet. Maria setzte den Schmetterling vorsichtig hinein. Einen Augenblick lang betrachtete sie das nun wieder einsetzende panische Schlagen der Flügel gegen die Innenseite des Glases. Dann goss sie vier Fingerbreit Rum hinein. Schade war es zwar schon, den Schmetterling töten zu müssen, aber nur indem Maria ihn konservierte oder präparierte, konnte sie ihren Kunden seine Schönheit nahebringen. Außerdem gab es in den Wäldern und auf den Wiesen so viele der Tierchen, dass wohl niemals Mangel an ihnen herrschen würde. Mit dem nächsten Schiff würde der Schmetterling nach Amsterdam reisen und dort hoffentlich einen guten Preis erzielen. Die letzten Objekte waren verdorben, weil der Rum in den Gläsern angeblich während der dreimonatigen Fahrt verdunstet war. Maria hatte daraus gelernt. Von nun an würde sie ihren Kisten eine Extraration Schnaps für die Mannschaft beilegen.

Maria stand auf, packte zusammen, wickelte die aufgeschnittene Ananas in ein Tuch, um sie später zu verzehren, und nickte der Indianerin zu. Auf dem Weg zurück kamen sie langsamer voran als am Morgen. Bleigewichte schienen an Händen und Füßen zu hängen, und selbst das Atmen war in der regenschwangeren Luft mühsam. Maria strauchelte und suchte Halt an einer Staude, die sich unter ihr bog. In den pfannengroßen Blättern hatte sich Wasser vom letzten Niederschlag gesammelt. Es ergoss sich auf Marias Kopf, durchnässte ihr aufgestecktes Haar und den gesamten Rücken. Was für eine Erfrischung!

Auch ihr rechter Unterarm war nass geworden, und Maria ließ die Tropfen herunterrinnen, über die Hand, zwischen die Finger, wo sie einen angenehmen Schauder verursachten, wie damals die erste Berührung von Jan. Sie schloss die Augen, und einen Moment lang war es, als könnte sie zwischen dem Kreischen und Rufen, Rauschen und Summen des dichten Urwaldes seine Stimme heraushören, die ihren Namen flüsterte.

ERSTER TEIL

Schmetterlinge

Schloss Waltha in Wieuwerd (Niederlande), April 1691

Bis kurz vor Ostern hatte Schnee gelegen. Den Malern von Winterlandschaften mochte das zuträglich gewesen sein, aber Maria hatte die Schmelze kaum abwarten können. Sie beugte sich über einen Schmetterling, den ersten, der ihr in diesem Jahr unterkam. Sein kurzes Leben war bereits vorüber, aber seine hellgrünen Flügel hatten noch immer die Farbe junger Blätter. Um die Tarnung zu vervollständigen, waren die Ränder braun gesprenkelt. Am Vortag hatte Maria das Tier im Kräutergarten aufgelesen, äußerlich vollkommen, aber steif. Nach einer Nacht in einem mit feuchtem Sand gefüllten Tontopf hatte sich die Totenstarre gelöst. Nun fixierte Maria den Körper des Schmetterlings mit Nadeln auf einer Holzplatte und machte sich daran, die nach oben geklappten Flügel zu spreizen, eine Arbeit, die vollste Konzentration erforderte.

»Entschuldigen Sie«, sagte eine männliche Stimme aus Richtung der offenen Tür. »Ich möchte zu den van Sommelsdijks.«

»Die sind in der Andacht«, murmelte Maria ohne aufzusehen. »So wie alle anderen.«

Die Zeiten, wenn die Labadisten zusammenkamen, um zu beten oder in der Bibel zu lesen, waren ihr die liebsten. Dann ruhte die Arbeit auf den Äckern, den Ställen und in der Küche, und Maria durfte sich ihrer Leidenschaft widmen.

Sie spannte einen Bindfaden zwischen den Fingern und versuchte, damit den rechten Flügel des Schmetterlings Richtung Platte zu drücken.

»Und warum sind Sie nicht in der Andacht?«, fragte der Mann.

»Tagsüber bin ich davon befreit. Nur am Morgengebet nehme ich teil.«

Damit ich forschen kann.

Der Flügel bog sich unter dem Faden durch und richtete sich wieder auf. Verärgert biss Maria auf ihre Unterlippe. Beim Präparieren sollte man schweigen, nur dann behielt man eine ruhige Hand.

»Warten Sie doch im Garten«, sagte Maria. »Der Hahnenfuß blüht gerade sehr hübsch.«

»Aber es regnet.«

Absätze klangen auf dem Steinboden. Der Mann schien den Inhalt der Regale zu betrachten.

»In der Laube haben Sie es trocken.« Maria unternahm einen neuen Versuch, den störrischen Flügel zu bändigen.

»Was ist in den Schachteln?«, fragte der Mann. Er wartete die Antwort nicht ab. Kurz darauf entfuhr ihm ein entsetzter Laut. »Sie halten sich Ungeziefer? In Ihrem Schlafzimmer?« Er wagte einen zweiten Blick. »Lebende Würmer?«

Ganz recht, Sie Dummkopf! Tote Raupen verpuppen sich schließlich nicht mehr.

Mit dieser Entgegnung auf der Zunge sah Maria hoch und vergaß, was sie hatte sagen wollen. Dunkle Locken fielen dem Herrn bis auf die breiten Schultern. Seine Haut war gebräunt.

Er arbeitet draußen. Also gehört er nicht zur Oberschicht.

Andererseits verrieten der Hut, den er in der Hand hielt, und seine Kleidung Wohlstand. Zu einer wadenlangen Hose und Stulpenstiefeln trug der Mann ein Hemd und eine Weste aus Brokat in leuchtendem Rot, Blau und Gelb.

Farben, die einen Schmetterling zieren könnten.

Einem Herrn wie diesem tuschelten die Frauen hinterher. Maria, die seit Jahren fast nur Labadisten in grauen, unförmigen Gewändern zu Gesicht bekam, genoss die Abwechslung. Der Besucher schien den Umschwung der Stimmung zu bemerken und wandte sich ihr zu. Seine Augen hatten die Farbe von Walnussholz. Er verbeugte sich.

»Mein Name ist Jan de Jong.«

Jan der Jüngere. Ein Bauernname, der nicht zum Äußeren seines Trägers passen wollte. Jeder dritte Niederländer hieß hier so. Zur Unterscheidung würde er jetzt gleich noch den Geburtsort anfügen.

Jan de Jong aus Amersfoort? Jan de Jong aus Maastricht?

Maria wartete, aber der Besucher sprach nicht weiter. Darum ergriff sie das Wort.

»Sehr erfreut. Ich bin Maria Sibylla Merian. Aus Nürnberg.«

Kein Zeichen des Erkennens bei ihrem Gegenüber. Er hatte wohl noch nie von ihren Werken gehört.

»Mein Vater war Matthäus Merian der Ältere«, sagte Maria. »Er zeichnete Stadtansichten.«

»Aber Sie haben sich auf Kleines spezialisiert.« Herr de Jong wies auf den Schmetterling. »Ich will gar nicht stören. Wenn ich Sie nur still beobachten darf, bis der Regen nachlässt …«

»Bitte. Nehmen Sie sich den Schemel dort.«

»Jawohl.«

Jan de Jong setzte sich ihr gegenüber. Etwas an ihm, vielleicht die Stiefel, roch nach Bienenwachs. Maria nahm ihre Arbeit wieder auf, fasste den Faden, atmete aus und hielt die Luft an wie eine Bogenschützin beim Zielen. Die Stille im Zimmer war vollkommen. Auch Herr de Jong hatte das Atmen eingestellt. Maria glaubte, seinen Blick zu spüren. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Aus den Augenwinkeln erkannte Maria, dass Jan de Jong sich vorbeugte und seine Unterarme auf den Tisch legte. Seine Hände befühlten etwas. Maria hörte ein Rascheln und im nächsten Moment: »Oh, das wollte ich nicht.«

Herr de Jong hatte eine getrocknete Blüte auf dem Gewissen. »Die ist einfach zerbröselt.«

Maria seufzte. »Sie sind fragil, darum rahmt man sie hinter Glas. Was ich mit dieser nun nicht mehr tun werde.«

»Ich ersetze Ihnen den Schaden.«

»Sprechen wir darüber, wenn ich mit dem Schmetterling fertig bin.«

»Verstanden, ich schweige.«

Er legte die Hände auf die Beine, und Maria verlangsamte ihren Atem erneut. Unter dem sanften Druck des Fadens fügte sich der Schmetterlingsflügel allmählich. Als er flach an der Platte anlag, wollte Maria die Fadenenden befestigen, doch da bewegte sich erneut etwas am Rande ihres Blickfelds. Ein Stapel Skizzen kam ins Rutschen und begrub Platte und Schmetterling unter sich.

»Also wirklich!«, rief Maria.

»Verzeihung, ich wollte nur … Solch feine Zeichnungen habe ich noch nie gesehen, und ich komme viel herum. Ihre Striche sind zart wie Spinnweben. Sie zaubern mit dem Stift.«

Er versuchte, das Durcheinander zu ordnen und den Schmetterling frei zu graben. Das Tierchen war unbeschädigt.

»Überlassen Sie mir das«, sagte Maria.

Sie wollte seine Hand zurückschieben, aber er wich nicht. Ihre Finger glitten ineinander. In Maria entflammte etwas. Gleichzeitig spürte sie Gänsehaut auf ihren Armen.

»Sie frösteln ja.« Herr de Jong fasste ihre Hand fester. »Sind Ihnen die Holzscheite ausgegangen? Soll ich welche hacken?«

»Im Frühjahr zu heizen gilt bei uns als dekadent.«

»Eine Dame darf nicht frieren. Würde ich hier wohnen, hätten Sie Teppiche, Felle und immer heißen Tee.«

»Dann würden Sie aber nicht lange hier wohnen. Bei den Labadisten …«

Bestimmt unterbrach er sie. »Aber Sie sind Künstlerin.«

Er hatte mit Inbrunst gesprochen, so, als wäre alles andere absurd und hieße, die Sonne als Mond zu bezeichnen.

Für Maria, die in einer Gemeinschaft lebte, die sich einerseits mit dem Namen Merian schmückte, ihr andererseits aber verbot, die hauseigene Druckerpresse für ihre Werke zu benutzen, waren diese Worte wie eine Umarmung.

»Danke«, sagte sie.

Herr de Jong räusperte sich. Er schien sein Herz geöffnet zu haben und nun verlegen zu sein. Abrupt ließ er Maria los. Der Moment war vorbei.

»Und entschuldigen Sie nochmals«, sagte Herr de Jong. »Taue aufrollen kann ich, aber für feine Arbeiten habe ich kein Talent.«

»Alles eine Frage der Übung. Auch Sie könnten einen Schmetterling präparieren.«

»Vorher würde ich hundert zerstören.«

Maria lächelte verschmitzt. »Ich würde Sie nicht gleich an Tieren üben lassen. Meinen ungestümen Mädchen hat ein Spiel geholfen.«

Herr de Jong stützte die Arme auf den Tisch und blickte Maria erwartungsvoll an.

»Zeigen Sie es mir.«

Das ließ sich Maria nicht zweimal sagen. Sie schnitt eine Elle Faden ab und legte sie auf den Tisch. »Spannen Sie den Faden zwischen ihren Händen. Er soll straff sein, aber darf nicht reißen.« Sie nahm eine Ausgabe ihres ersten Raupenbuchs aus dem Regal und legte es aufgeschlagen in Herrn de Jongs Schoß, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Jede Bewegung schien mit Bedeutung aufgeladen zu sein und eine Lawine von Ereignissen auslösen zu können.

»Versuchen Sie, mit dem Faden umzublättern«, sagte Maria. »Aber immer nur eine Seite auf einmal.«

Herr de Jong mühte sich redlich. Nach mehreren Anläufen brachte er den Faden unter die nächste Seite und konnte umschlagen.

»Gut«, sagte Maria. »Und nun weiter bis zum Ende und zurück, während ich den Schmetterling versorge.«

Für eine Weile erklang nur das Wispern von Papier. Maria fixierte die Flügel des Schmetterlings und betrachtete ihr Werk zufrieden. Die Zeit würde den Rest erledigen. Wenn der Schmetterling erst wieder vollständig getrocknet war, behielt er seine Form auch ohne die Fäden.

Doch was war mit Jan de Jong geschehen? Reglos saß er über der Abbildung einer Gartenpappelrose, unter der braune Raupen lagen. Seine Miene drückte Verwunderung aus.

»Den Schmetterling, zu dem die hier werden, habe ich in natura da«, sagte Maria. »Möchten Sie ihn sehen?« Eilfertig fügte sie hinzu: »Das meiste in diesem Raum steht zum Verkauf.«

»Eigentlich mache ich mir nichts aus Bildern«, sagte Herr de Jong. »Aber Ihre sehen schön aus, obwohl sie Ungeziefer zeigen.«

»Die Raupen erfüllen eine Aufgabe«, sagte Maria. »Sie leben von den Pflanzen, aber ich bin überzeugt, die Pflanzen brauchen sie auch. Die Zusammenhänge müssten noch genauer erforscht werden, von studierten Herren. Ich beobachte ja nur.«

Herr de Jong nickte und schien einem Gedanken nachzuhängen. Maria erwartete einen Widerspruch. Doch der Besucher sah sie an und sagte: »Malen Sie mich!«

Maria glaubte, sich verhört zu haben.

»Was soll ich malen?«, fragte sie.

»Mich«, beharrte Herr de Jong.

Er setzte sich in Positur und spähte in eine unbestimmte Ferne.

Wie gern Maria ihn gezeichnet hätte! Gar nicht sattsehen konnte sie sich an ihm. Inzwischen hatte sie Gegensätzliches entdeckt. Die extravagante Weste offenbarte Sinn für Mode, aber ein Schönling war Herr de Jong nicht. Der Schatten eines Bartes verlieh ihm etwas Verwegenes, und eine Perücke zu tragen wäre ihm wohl auch nicht eingefallen. Er wirkte windzerzaust, reiste wahrscheinlich nicht per Kutsche, sondern galoppierte mit einem schnellen Pferd über die Felder. Ob er Tänze beherrschte? Für ihn würde Maria die Figuren des Menuetts lernen. Auf dem Parkett hatte man einen Vorwand, einander nahe zu kommen, und …

Du schwärmst ja wie ein junges Mädchen! Bist wohl über den bußgebeugten Brüdern mannstoll geworden.

Aber nein, schuld ist mein Blick, geschult, nach Schönheit zu suchen. Malte ich Herrn de Jong, könnte ich ihn ungeniert betrachten.

Doch du kannst ihn nicht malen. Sag ihm das!

»Zu gern würde ich den Auftrag annehmen.« Maria rieb sich nervös die Hände. »Nur sind Menschen nicht mein Gebiet. Mein Stiefvater bildete mich aus, Jacob Marrel, und der war Blumenmaler.«

»Aber finden Sie Personen nicht interessanter?«

Maria zuckte mit den Schultern. Sie war in Frankfurt geboren worden, Frauen durften dort keiner Gilde beitreten und konnten schon deshalb keine lukrativen Porträtaufträge ergattern. Außerdem gab es noch ein anderes Problem.

»Die Darstellung von Körpern übt man am Akt«, sagte Maria.

»Oh. Aber ich beabsichtigte doch nicht … Meine Kleider behielte ich natürlich an.«

Maria schmunzelte. »Davon gehe ich aus. Ich wollte nur sagen, dass man Mädchen keine nackten Modelle zur Übung vorsetzt, jedenfalls nicht in meiner Heimat.«

»Und wenn Sie mich nur vom Hals aufwärts malten? An Gesichtern werden Sie sich doch sicher schon versucht haben.« Fragend legte er den Kopf schief. Im Braun seiner Augen entdeckte Maria moosgrüne Sprenkel. »Oder sind Ihnen als Nonne auch Porträts verboten?«

»Ich bin doch keine Nonne!«

»Aber das hier ist ein Kloster.«

»Die Labadisten sind eine Glaubensgemeinschaft. Wir leben hier wie die ersten Christen. Darum dürfen wir natürlich – «

» – Porträts malen«, sagte Herr de Jong.

Er machte eine übertrieben ernste Miene und brachte Maria damit zum Lachen.

»Ganz recht«, antwortete Maria.

Herr de Jong nickte, setzte aber nichts hinzu. Stattdessen schien er auf einen Vorstoß Marias zu warten. Sie sagte aber nichts, sondern blickte Herrn de Jong nur an, immer noch fassungslos darüber, für eine Nonne gehalten worden zu sein. Herr de Jong sah weg und dann wieder zu ihr hin, diesmal tief in ihre Augen, fünf schnelle Herzschläge lang. Dann zwinkerte er.

Ich mache nur Spaß, schien er damit zu sagen. Oder doch nicht? Entscheiden Sie selbst.

Jedenfalls weiß er zu schäkern! Wie ich das vermisst habe.

»Was Ihren Wunsch betrifft …« Maria sortierte ihr Arbeitsmaterial um den Schmetterling herum. Die Längsseiten seiner Flügel befanden sich im rechten Winkel zu den Kanten des Bretts. Äußere Ordnung half beim Denken. »Ihr Wunsch nach einem Bild ist leicht zu erfüllen.« Sorgsam vermied Maria das Wort Porträt. »In Leyden, Den Haag oder Amsterdam finden Sie bestimmt einen Maler. Es muss ja nicht gleich Godefridus Schalcken sein. Eine ordentliche Arbeit von einem aufstrebenden Künstler bekommen Sie an jeder Ecke zu einem erschwinglichen Preis.«

»Über Zahlkraft verfüge ich.« Herr de Jong war wieder ganz ernst. Die Angelegenheit musste ihm wichtig sein. »Aber ich will kein Ölbild, wie jeder Kaufmann es hat, geschönt und austauschbar. Sie, Frau Merian, zeichnen Insekten, als wären sie Kleinode, und ich möchte wissen, wie Sie mich sehen. Wie kann ich Sie überzeugen?«

Er hob die Augenbrauen. Maria versuchte, den Ausdruck im Geiste in Linien zu übersetzen, doch es gelang ihr nicht recht. Ein Porträt wäre eine Herausforderung. Zudem würde es eine hübsche Summe einbringen. Gelegentlich verkaufte Maria präparierte Schmetterlinge an Durchreisende, die gehört hatten, man könne bei den Wieuwerder Labadisten Sammelobjekte erwerben. Der Erlös sollte der Gemeinschaft zukommen, doch Maria zweigte stets ein wenig für sich ab. Irgendwann würde das heimlich Gesparte reichen, um fortzugehen. Schloss Waltha hatte von Anfang an nur eine Zwischenstation sein sollen, ein Zufluchtsort für sie, die Mädchen und ihre Mutter, der sich anbot, weil ihr Halbruder Caspar schon dort lebte. Aber Caspar war nun seit fünf Jahren tot, die Mutter seit einigen Monaten, und Maria drängte es weiter, in eine der großen Städte, von denen die Labadisten bloß im Zusammenhang mit Laster und Gottlosigkeit sprachen. Doch gab es dort auch reiche Kaufleute, und deren Wohlstand düngte den Boden, auf dem Wissenschaft und Kunst wuchsen. Marias Talente würden endlich wieder gesehen werden.

Die Veröffentlichung meines letzten Buches ist acht Jahre her. Ich klebe meine Zeichnungen in ein Studienbuch, in dem nur meine Töchter blättern. Und was für eine Zukunft erwartet Dorothea und Johanna? Unsere Kunst wird hier bloß geduldet, nicht geschätzt.

»Über den Preis kämen wir gewiss überein«, sagte Herr de Jong.

Maria lehnte sich zurück und senkte die Lider.

Ob mir das Schäkern auch noch gelingt?

»Dieser Nachmittag wird uns nicht genügen«, sagte sie. »Sie müssten wiederkommen.«

Herr de Jong lächelte komplizenhaft. »Selbstverständlich.«

»Außerdem brauche ich Leinwand, Öl und Pigmente.«

»So viel Sie wollen.«

Maria fand Gefallen an diesem Spiel.

»Und meine Finger wären geschmeidiger, besäße ich Pulswärmer aus Kaninchenfell.«

»Lassen Sie mich Ihre Größe messen.«

Er öffnete auffordernd die Hand, und Maria streckte ihren Arm aus. Herr de Jong schob den Blusenärmel hoch, drehte ihren Unterarm mit der Innenseite nach oben und formte mit Daumen und Mittelfinger einen Reif um ihr Handgelenk. Beinahe konnte er die Finger schließen, doch er übte keinen Druck aus. Maria entspannte die vom Zeichnen strapazierten Muskeln und erlaubte ihrem Arm, schwer zu werden. Ihre Finger krümmten sich in eine lockere Haltung zurück. Sanft ließ Herr de Jong ihre Hand auf die Tischplatte gleiten und strich mit dem Daumen über ihre Handfläche. Ein Prickeln lief Marias Arm hinauf bis in die Schulter, breitete sich von dort über die Schlüsselbeine aus und rieselte tiefer.

Lärm erklang aus dem Flur. Maria zog ihren Arm zurück.

»Vergessen Sie die Pulswärmer«, sagte sie schnell. »Mit denen käme ich mir albern vor. Aber Pigmente sind unerlässlich.«

Die Andacht war vorüber, und die Gläubigen kehrten wieder, allen voran Dorothea. Maria hörte ihre jüngere Tochter kichern. Vor zwei Monaten war sie dreizehn Jahre alt geworden und gebärdete sich manchmal schon wie eine Erwachsene, nur um im nächsten Moment mit ihrer Freundin Tess zu flüstern und herumzualbern.

»Mama, wer ist das?«

Dorothea blieb im Türrahmen stehen und starrte Marias Besucher mit unverhohlener Neugierde an. Herr de Jong erwiderte den Blick. Sicher fragte er sich, ob es noch weitere Kinder gab und wo deren Vater war.

»Das ist Jan de Jong, er möchte mit Anna, Maria und Lucia sprechen.«

Als Maria dieses Ansuchen wiedergab, merkte sie, wie seltsam es war. Den drei adligen Van-Sommelsdijk-Schwestern gehörte Schloss Waltha. Lucia, die jüngste, war mit Jean de Labadie, dem Gründer der Labadisten verheiratet gewesen. Die Gemeinschaft hatte an verschiedenen Orten gelebt. Als Jean gestorben war, hatte sein langjähriger Freund Pierre Yvon dessen Nachfolge angetreten, und Lucia hatte den Frauen und Männern vorgeschlagen, sich auf das Familiengut zurückzuziehen. Während Pierre predigte, kümmerten sich Lucia und ihre Schwestern um die praktischen Angelegenheiten und packten auch selbst mit an. Durch Fleiß wollten sie Gott gefallen.

Was konnte ein weltlicher Mann wie Herr de Jong, der offenbar kaum etwas von dieser Gemeinschaft wusste, von ihren Leiterinnen wollen?

»Bist du auch eine Künstlerin?«, fragte Herr de Jong Dorothea.

»O ja. Mutter meint sogar, ich sei besser als Johanna, und die ist schon erwachsen!«

»Johanna ist meine ältere Tochter«, sagte Maria. »Wir leben zu dritt hier.«

Als Erklärung sollte das genügen. Die Abwesenheit eines Gatten ließ üblicherweise zwei Schlüsse zu. Entweder waren die Kinder unehelich, oder der Vater war gestorben.

Hätte sie es endlich in die Stadt geschafft, wollte Maria sich als Witwe ausgeben. Als solche würde sie mit Respekt behandelt und dürfte ihr Geld selbst verwalten. Sie könnte ganz offen die Rolle des Ernährers übernehmen und würde damit einige Privilegien zugestanden bekommen, die ansonsten nur Männern vorbehalten waren.

»Darf ich den Herrn zu den Schwestern führen?«, fragte Dorothea.

»Das wäre lieb«, sagte Maria.

Dorothea strahlte, stolz, sich nützlich machen zu können.

Herr de Jong stand auf. »Sprechen wir später noch einmal, Frau Merian.«

»Wegen des Auftrags, ja.« Maria versuchte, förmlich zu klingen, tauchte eine Schreibfeder in Tinte und kritzelte eine Reihe sinnloser Kürzel auf ein Stück Papier.

Ihr Herz sang wie ein Vogel im Frühling.

Maria harrte in ihrer Kammer aus, bis Herr de Jong von den Van-Sommelsdijk-Schwestern zurückgekehrt war. Lange musste sie nicht warten. Sie legte einen Silberstift und Papier für die Vorskizze zu dem Porträt zurecht, und schon war der Besucher wieder da. Er wirkte unzufrieden und blieb auf der Schwelle zu der Kammer stehen. Sein Blick hatte etwas Rastloses.

»Wie verlief Ihre Unterredung?«, fragte Maria.

»Ich hatte mir mehr versprochen. Es scheint, als wäre ich umsonst hergekommen. Hier werde ich keine Geschäfte machen.«

Maria verspürte einen Stich.

Umsonst hergekommen?

Das klang nach einem weiten Weg. Herr de Jong hatte Taue erwähnt. Woher kam er? Wohin wollte er? Immerhin war da noch der Porträtauftrag. Dafür würde Maria mehrere Stunden mit Herrn de Jong verbringen. Der Lohn, den sie für ihre Arbeit erwarten konnte, würde den Abschied versüßen und ihr einen Neuanfang ermöglichen.

Maria zückte den Stift. »Setzen Sie sich vor das Fenster, dort ist das Licht gut.«

»Leider muss ich gehen.« Er blickte über die Schulter, wie um sich zu vergewissern, ob ihm jemand gefolgt war. »Ich soll das Schloss unverzüglich verlassen.«

»Aber … Ihr Bild!«

Er straffte die Schultern. »Glauben Sie mir, auch mir tut es leid.«

Schwere Schritte erklangen auf dem Flur. Sie konnten nur Jost Brönkel gehören, einem Bären von einem Kerl, der in der Kapelle zwei Plätze belegte.

»Dann ein andermal?«, fragte Maria.

»Man verbot mir wiederzukommen.« Herr de Jong machte zwei rasche Schritte in die Kammer hinein. Maria lief ihm entgegen. Voreinander blieben sie stehen, unschlüssig, wie sie sich verabschieden sollten, zwei Fremde immer noch.

Jost stampfte herbei und nahm im Flur Aufstellung, die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt.

»Ich bin im Wirtshaus in Winsum abgestiegen«, flüsterte Herr de Jong. »Kommen Sie morgen dorthin.«

Mit einem kaum merklichen Nicken gab Maria ihr Einverständnis, obwohl sie keineswegs sicher war, wie sie diesen Besuch wagen sollte. Zwar unternahm sie oft ausgedehnte Wanderungen, um Raupen zu suchen, und konnte sich unter diesem Vorwand davonstehlen, aber in Winsum würde sie gesehen werden. Die Leute tratschten. Zwar lebten die Labadisten abgeschieden, aber gelegentlich kam doch jemand vorbei, der Hufschmied etwa und das Mütterchen, das Annas Rheumasalbe brachte. Die van Sommelsdijks würden erfahren, wessen Gesellschaft Maria gesucht hatte. Warum sie wohl so zornig auf Herrn de Jong waren? Was konnte er falsch gemacht haben? Wie Maria sie kannte, würde das nicht zur Sprache kommen.

Jost schnalzte. »He«, rief er. »Raus jetzt!«

»Bis bald.« Entschlossen, als müsste er sich losreißen, wandte Jan de Jong sich um und folgte Jost hinaus.

Am Fenster stehend, sah Maria ihn den Schlosshof überqueren. Er blickte nicht zurück, doch auf halbem Wege bückte er sich, sammelte etwas Kleines auf und legte es auf die Bank. Jost überholte Herrn de Jong und trieb ihn mit energischen Armbewegungen zur Eile.

Maria nahm ihr Schultertuch vom Haken und ging nach draußen. Auf der Bank fand sie einen Marienkäfer. Reglos lag er auf dem Rücken. Wahrscheinlich war er zu früh geschlüpft und dem Nachtfrost zum Opfer gefallen. Maria hauchte ihn an. Sieh da, ein Zittern durchlief die Flügel! Das Tierchen bewegte die Beine, krabbelte Marias Ringfinger hinauf und flog von dort in den weiten Himmel.

Aufbruch nach Amsterdam

Friesland in den Niederlanden, zehn Tage später

»Mutter, warum halten wir schon wieder an?« Dorothea lugteaus dem Kutschenfenster. »Ich will endlich die Grachten sehen!«

Sie wippte mit den Beinen und stieß an Marias Knie. Ihr schlaksiger Körper schien sich über Nacht erneut gestreckt zu haben. Gerade erst hatte Maria für sie die Säume ihrer Kleidung ausgelassen, und nun war der Rock schon wieder zu kurz. Mit der Ungeduld einer Zweitgeborenen, die einen Vorsprung aufzuholen versucht, schien Dorothea alles Kindliche loswerden zu wollen. Täglich wurden Dinge zu klein, zu eng und zu langweilig.

Ihre Schwester stützte den Kopf in die Hände.

»Mir ist übel«, stöhnte Johanna. »Lange ertrage ich dieses Schaukeln nicht mehr. Der Weg besteht wohl nur aus Schlaglöchern.«

Maria sah zwischen ihren Töchtern hin und her. Johanna würde im Mai ihren dreiundzwanzigsten Geburtstag feiern. Zehn Jahre Altersunterschied lagen zwischen ihr und Dorothea. Die beiden waren nie Spielkameradinnen gewesen und hatten oft gegensätzliche Bedürfnisse. Aus der Schachtel, die auf ihren Knien stand, nahm Maria ein gezacktes Blatt und reichte es Johanna.

»Kaue noch etwas Minze, die hilft.«

»Ich soll das Raupenfutter essen?«

»Die haben reichlich.« Maria durchfurchte mit den Fingern das Grün in der Schachtel. Darunter lagen zwei reglose Raupen. Eine dritte kletterte an der Pappwand empor, dem Licht entgegen. Behutsam stupste Maria sie zurück. »Die armen Tierchen sollten sich dieser Tage einspinnen. Aber dafür brauchten sie Ruhe. Ich hoffe, die Reise bringt sie nicht durcheinander.«

Johanna stöhnte. »Um die Raupen sorgst du dich mehr als um uns.«

»Bald sind wir ja da, Liebes.« Maria strich Johanna über die blassen Wangen.

Ihre Große besaß einen empfindlichen Magen, und das üppige Frühstück schien ihr nicht gut bekommen zu sein. Am Morgen hatte Maria die Mädchen aufgefordert, sich ordentlich satt zu essen. Die Fahrt nach Amsterdam würde drei Tage dauern und beschwerlich werden. Wie bestellt, war die Kutsche bei Sonnenaufgang vor das Tor von Schloss Waltha gerollt. Die anderen Labadisten sprachen gerade das erste Gebet, als Maria und ihre Töchter den Ort verließen, der ihnen sechs Jahre lang Zuflucht geboten hatte. Die Schwestern und Brüder hatten kaum Überraschung gezeigt, als Maria ihre Entscheidung verkündet hatte. So ganz hatte sie nie zu ihnen gehört. Wo sie denn hinwolle?

»Nach Amsterdam zu Jacob«, sagte Maria. »Johannas Liebster wird uns helfen, eine Wohnung zu finden.«

Daraufhin hatten sie keine Fragen mehr gestellt. Bei Jacob handelte es sich um ein weiteres verlorenes Schäfchen, einen jungen Mann deutscher Herkunft, der die Labadisten verlassen hatte, um Kaufmann zu werden. Johanna vermisste ihn schmerzlich und hatte gefordert: »Wenn wir gehen, dann in seine Stadt!«

Die ersten Meilen hatten sie rasch hinter sich gebracht. Doch gegen Nachmittag hatte der Kutscher sich an den Vorderrädern zu schaffen gemacht und Verwünschungen gemurmelt. Seit diesem Halt rollten sie in gedrosseltem Tempo durch die friesische Landschaft.

Dorothea rutschte auf ihrem Sitz herum. Ihre Wangen waren gerötet. Sie hatte etwas von der Rastlosigkeit einer Ameise an sich. Was Johanna auf der Reise an Kraft fehlte, hätte sie ihr doppelt abgeben können.

»Du bist nur liebeskrank, Schwesterherz.« Dorothea grinste. »Wäre dein Jacob hier, würdest du dich tapfer geben. Erst letzte Woche hast du per Brief beteuert, ihm in jedes Abenteuer zu folgen.« In einer Nachahmung von Verzückung verdrehte sie die Augen und sprach mit schwärmerischer Stimme: »Natürlich begleite ich dich nach Westindien! Seeungeheuern, Piraten und Stürmen wollen wir gemeinsam trotzen.«

»Du dummes Kind.« Johanna hob die Faust. Sie wollte Dorothea auf den Arm schlagen, brachte aber nur ein schwaches Knuffen zustande.

»Seetauglich bist du wirklich nicht, meine Große«, sagte Maria. »Wenn dich schon eine Kutschfahrt derart mitnimmt …«

»Kein Schiff kann schlimmer schwanken als dieses Höllengefährt«, murmelte Johanna.

»Jetzt stehen wir ja erst einmal wieder.« Maria erhob sich. »Ich erkundige mich, wann es weitergeht.«

Sie raffte ihre Röcke, kletterte aus der Kutsche und krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch.

»Kann ich helfen?«, fragte sie.

Der Kutscher kauerte neben dem Vorderrad. Seine Hände waren schwarz von der Schmiere. Am Wegesrand grasten die abgespannten Pferde.

»Aber nein, werte Dame, machen Sie sich nicht schmutzig.«

Als hätte sie seine Worte überhört, hockte Maria sich neben ihn und spähte hinter das Rad.

»Die Achse ist verbogen«, sagte sie.

»Ja, aber das haben wir gleich.«

»Wie wollen Sie die reparieren? Dafür brauchen wir einen Schmied.«

»Ich justiere die Aufhängung.«

Mit einer Zange hantierte der Kutscher hinter den Speichen des Rades. Maria prüfte den Unterbau des Gefährts von der Vorderseite.

»Sie machen alles nur schlimmer«, sagte sie. »Gibt die Achse in der Mitte nach, ist das Eisen ermüdet. Sie müssen sie schleunigst austauschen. Bricht sie während der Fahrt, kippen wir in den Graben. Mit einer Weiterfahrt riskieren Sie unser aller Leben.«

»Sachte, ich würde niemals …«

Maria richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Um den Zustand Ihrer Kutsche wissen Sie doch schon lange Bescheid. Wahrscheinlich bekommen Sie keine anderen Fahrten mehr. Aber Sie dachten wohl, für Labadisten ist dieser Haufen rollenden Schrotts noch gut genug. Fromme Leute sind leichte Opfer, die bitten den Himmel um Beistand, wenn es Schwierigkeiten gibt.«

Nun endlich sah der Kutscher zu ihr hoch.

»Verehrteste, ich versichere Ihnen, dass …«

Doch Maria nahm Fahrt auf. »Da sind Sie bei mir an die Falsche geraten. Man erwartet mich in Amsterdam. Nun werde ich mich verspäten. Wer vergilt mir die verlorene Zeit? Sie?«

Auf die Stirn des Mannes traten Schweißperlen. »Die unebenen Wege ruinieren das Fahrwerk. In diesem Teil des Landes tut man wenig für Reisende. Aber das ist nicht mein Versäumnis.«

»Ausflüchte und Gejammer!« Maria warf die Hände in die Luft. »Keinen einzigen Gulden werde ich für den Transport bezahlen. Sie haben uns arglistig getäuscht. Meine Mädchen und ich gehen zu Fuß weiter. Aus dem nächsten Dorf lasse ich Ihnen Hilfe schicken. Dafür liefern Sie aber unser Gepäck nach. Darauf kann ich doch vertrauen?«

Der Kutscher bedachte sie mit einem feindseligen Blick. »Als ob ich Bündel mit Weibertand stehlen würde.«

»Nun denn.« Maria ging zurück zur offenen Tür der Kutsche. »Johanna, Dorothea, wir laufen. Nehmt nur mit, was ihr für die Nacht braucht.«

Erhobenen Hauptes schritt sie ihren Töchtern auf dem Weg voran. Im Rücken spürte sie den Blick des Kutschers. Ihr Herz pochte. Sie hatte sich forsch gegeben, um den Mann zu überrumpeln. Wüsste er, wie leicht ihre Börse war, hätte er ihre Beschwerde verlacht.

Maria hatte einen Teil ihres wenigen Geldes für die erste Zeit in der Stadt vorgesehen und darum die günstigste Reisemöglichkeit gewählt. Bliebe die heutige Fahrt aber kostenlos, konnten die Merians den Rest des Weges sogar in einem anständigen Postwagen zurücklegen.

»Warte, Mutter«, rief Dorothea, die ein Bündel Kleidung schleppte. »Warum hast du nichts mitgenommen?«

Erschrocken blieb Maria stehen und vergewisserte sich mit einem Blick nach unten der Raupenschachtel in ihren Händen. »Habe ich doch«, sagte sie.

»Du brauchst dein wollenes Schultertuch. Wirst du nicht frieren, wenn die Sonne untergeht?«

Vor ihnen flammten bereits violette Streifen den Horizont. Das reizvolle Naturschauspiel erinnerte Maria an die Farben der Semper Augustus, einer Tulpensorte, die nur in den Beeten der reichsten Kaufleute wuchs. Als Kind hatte Maria einmal Blütenkelche im Garten des Nachbarn abgeschnitten, um Modelle für eine Zeichnung zu haben. Das hatte ihr Schelte eingebracht. Zur Wiedergutmachung musste sie das fertige Kunstwerk an den Geschädigten abtreten. Sein Lob angesichts der sorgsam aquarellierten Pflanze war ihr noch immer im Ohr. Seitdem wusste sie: Ein Bild schenkt der Künstlerin zweimal Freude, erst beim Erschaffen und später durch die Bewunderung der Betrachter.

»Mir ist warm genug«, sagte Maria.

»Beeilen wir uns.« Johanna überholte sie. »Wenn es dunkel wird, sollten wir nicht mehr draußen sein. Ich wäre lieber in der Kutsche geblieben.«

»Wieso?«, fragte Dorothea. »Laufen beruhigt deinen Magen.«

»Aber die Aussicht, Räuber zu treffen, beunruhigt ihn noch mehr.«

»Johanna Helena! Unterstehe dich, deiner Schwester Furcht einzujagen«, sagte Maria. »Dort vorne sehe ich schon Kaminrauch. Überlegt mal, Mädchen. Könnte nicht auch der Kutscher Böses im Schilde geführt haben? Vielleicht hat er einen Pakt mit Wegelagerern und trödelt, damit uns seine Kompagnons bei einbrechender Dunkelheit um Hab und Gut erleichtern können.«

»So etwas hatte er gewiss nicht vor«, sagte Johanna. Ihren Schritt beschleunigte sie trotzdem weiter.

»Vor unredlichen Kutschern muss man sich hüten«, sagte Maria. »Möchte der Mann auch weiterhin Fahrgäste haben, soll er lieber schleunigst unser Gepäck nachliefern und uns den vollen Fahrpreis erlassen. Andernfalls könnten wir andere Reisende vor ihm warnen. Wäre das nicht sogar unsere Pflicht?«

»Ich verstehe«, sagte Johanna. »Du bist gerissen, Mutter.«

»Was denn nun?«, fragte Dorothea. »Soll ich mich fürchten oder nicht?«

»Freu dich auf ein königliches Nachtmahl«, sagte Maria.

Eine halbe Stunde Fußmarsch später erreichten sie das Dorf. Vor der Herberge Zum Ochsen mischte sich der Duft gebratener Würste mit Pferdegeruch aus dem angrenzenden Stall zu einem deftigen Bouquet. Maria rückte die schwarze Haube über ihren Haaren zurecht.

»Wirtsleute sind neugieriges Volk«, sagte sie zu den Mädchen. »Sprechen wir mit ihnen nur das Nötigste. Werden wir gefragt, sind wir in Trauer und unterwegs zu unserer Familie nach Amsterdam.«

»Aber dort haben wir niemanden«, sagte Dorothea. »Jacob gehört ja noch nicht – «

»Schweig du lieber«, sagte Johanna.

»Aber warum?«

Johanna legte den Kopf in den Nacken und atmete genervt aus.

»Du weißt auch gar nichts. Weil ehrbare Frauen in männlicher Begleitung reisen müssen. Nur wenn etwas Unvorhergesehenes eintritt, wie ein Todesfall …«

»Großmutter fehlt mir«, sagte Dorothea.

Maria strich ihr über das Haar. »Mir auch. Aber erwähnen wir sie nicht. Reden wir nur allgemein von Trauer.«

»Weshalb?«

»Ach …« Maria warf einen Hilfe suchenden Blick zu ihrer älteren Tochter. Wenigstens Johanna schien zu begreifen, dass Maria als Witwe durchgehen wollte. Von Dorothea konnte man nicht verlangen, die Existenz ihres Vaters zu verleugnen, lebte Johann doch gesund und vermutlich auch recht munter in Nürnberg. Wahrscheinlich versuchte er, eine Scheidung zu erwirken, und wäre die vollzogen, würde er sich neu vermählen.

Kriegt der arme Johann endlich eine gute Frau, würden die Gratulanten raunen. Wo Maria ihm doch so zugesetzt hat. Obwohl er ihre Malerei immer unterstützt hat, packt sie eines nachts die Koffer und flieht mit den Kindern in die Niederlande. Bei einer Gemeinschaft versteckt sie sich, Labadisten oder so ähnlich. Johann hat sie sogar noch aufgesucht und gebeten zurückzukommen. Aber die Brüder und Schwestern da haben seine Ehe für nichtig erklärt, weil Johann ihren Glauben nicht teilt. Die haben ihn einfach wieder weggeschickt. Welch durchtriebenes Weibsstück!

»Aus der Küche riecht es herrlich«, rief Maria. »Ich habe Hunger, und ihr? Treten wir ein, bevor sie die Pfannen spülen.«

Sie verlagerte die Raupenschachtel auf ihren linken Arm und hielt ihren Töchtern die schwere Tür zur Gaststube auf. Bevor sie selbst eintrat, blickte sie noch einmal zurück. Kaum war sie fort aus Schloss Waltha, konnte sie kaum noch sagen, wo die letzten sechs Jahre geblieben waren. Durch die immer gleiche Abfolge von Beten, Arbeiten, Essen und Schlafen waren die Tage gleichförmig verlaufen und schienen ihr jetzt zu einem einzigen zu verschmelzen. Nur wenige Ereignisse stachen hervor, darunter Trauriges, wie die Beerdigungen der Mutter und Caspars, und kleine Glücksmomente, wie die Gelehrigkeit der Mädchen beim Zeichnen oder der sonnentrunkene Flug der ersten Schmetterlinge im Frühling. Und zuletzt die Begegnung mit Jan de Jong. Seine Zeichnung lag zusammengerollt zwischen Schmetterlingsskizzen in einem Schutzumschlag aus Wachstuch. Maria hatte sie so oft betrachtet, dass ihr jede Linie im Gedächtnis war.

Die Wirtin des Ochsen begrüßte Maria und ihre Töchter mit einem Ausmaß an Widerwillen, das sie wohl nur noch hätte steigern können, wären drei streunende Hunde in ihrer Gaststube aufgetaucht. Offenbar war sie aber auf Gäste angewiesen, denn sie zog ihr Buch heran und zückte die Schreibfeder.

»Namen?«, fragte sie.

Beim Sprechen bewegte sie die Lippen kaum. Maria, der in den Jahren auf Schloss Waltha die unterschiedlichsten niederländischen Dialekte begegnet waren, verstand sie trotzdem.

»Maria Sibylla Merian.«

»Maria kenn ich, aber Si… bitte?«

»Das ist deutsch. S, I, B …«

Die Wirtin schob das Gästebuch über den Tresen. »Tragen Sie es selbst ein.«

Maria tauchte die angebotene Feder in die Tinte und malte die Buchstaben in ihrer schönsten Schrift auf das Papier. Sollte sie Witwe hinzufügen?

Ich müsste allmählich zu alt sein, um für eine herumziehende Dirne gehalten zu werden!

Sie erwähnte die liegen gebliebene Kutsche und bat die Wirtin, jemanden zu schicken, der beim Tragen des Gepäcks helfen konnte.

Derweil bestaunte Dorothea ein Ölgemälde, das eine Ansicht von Delft zeigte.

»Welch schönes Stück«, sagte sie. »Für das Blau des Himmels wurde Ultramarin genommen, kein Azurit, oder?«

»Möglich«, sagte die Wirtin. »Das Bild war ein Geschenk meines Onkels zur Hochzeit. Der ließ sich nicht lumpen. Aber woher weißt du so etwas?«

»Ich bin selbst Malerin.«

Dorothea bat Maria um die Feder, beugte sich über das Gästebuch und bannte einen Schmetterling auf das Papier, der wirkte, als würde er sich gleich in die Luft erheben. Das gezeichnete Tier schien so vollkommen wie der Einfall des lieben Gottes, nach dem die Kreatur geformt worden war.

Dagegen ist die Wirklichkeit voller Fehler, dachte Maria. Flügel reißen, Beinchen knicken, und das Leben zehrt an den Schmetterlingen wie an jedem von uns.

»Ihr Mädchen hat eine Gabe«, sagte die Wirtin.

Die senkrechte Falte auf ihrer Stirn glättete sich, und ihr Mund stand in einem Ausdruck des Staunens halb offen.

Maria wollte erwidern, neben ein klein wenig Begabung brauche es vor allem viele Hundert Stunden fleißigen Übens, unermüdlicher Wiederholung und Hartnäckigkeit, um derlei Fertigkeit zu erlangen. Doch sie besann sich und zog es vor zu schweigen. Die Menschen liebten Wunder, und es konnte nur von Vorteil sein, wenn die Wirtin dachte, Dorothea sei vom Himmel beschenkt worden.

»Könnten wir noch Speis und Trank bekommen?«, fragte Maria stattdessen.

»So viel ihr wollt.« Die Wirtin zog das Buch wieder zu sich herüber, sorgsam darauf bedacht, die feuchte Tinte nicht mit ihrem Ärmel zu verwischen. »Ich lasse einen Fisch für euch braten.«

Als sie beim Essen saßen, brachten der Kutscher und ein Bursche das Gepäck. Von der Wirtin, der Johanna noch einmal ausführlicher erzählt hatte, was geschehen war, wurde er böse beschimpft. Er verzichtete auf seine Bezahlung und entfernte sich unter Entschuldigungen.

Die Nacht verbrachten die Merians auf frisch gefüllten, noch flohfreien Strohsäcken. Am nächsten Morgen erwachten sie ausgeruht und setzten ihre Reise mit dem Postwagen fort. Ihre nächste Station war Nijkerk, und von dort ging es am dritten Tag weiter in die große Stadt. Zwar wurde Johanna bis zur letzten Meile von Übelkeit geplagt und musste Minzblätter kauen, um das Schlimmste zu verhindern, aber kaum war sie vor Jacobs Haus ausgestiegen, besserte sich ihr Zustand deutlich. Das Wiedersehen mit ihrem Liebsten zauberte eine zarte Röte auf ihre Wangen.

»Sieh mal, Mutter!«

Dorothea deutete zum Kanal, der parallel zur Straße verlief. Zahlreiche Boote befuhren ihn. Gerade hielt eines an einem Haus, unterhalb eines Eingangs, in dem schon eine Magd wartete. Der Ruderer griff einen eisernen Ring, der in die Mauer eingelassen war, ein Bursche lud zwei Kisten aus, hob grüßend die Hand, und dann setzten die beiden ihren Weg fort. Auf dem Wasser herrschte mehr Verkehr als zu Lande.

»Ja, die berühmten Grachten.« Maria drückte ihre Töchter an sich. »Wir sind im Venedig des Nordens.«

Der erste Schritt war geschafft.

Die Kupplerin

Amsterdam, Juni 1691

Die Wohnung, die Jacob den Merians vermittelt hatte, war klein, aber gut gelegen, im ersten Stock eines Hauses in der Vijzelstraat. Nur wenige Steinwürfe von ihnen floss die Amstel. Da Maria und ihre Töchter keine Möbel mitgebracht hatten, mussten sie sich vorerst mit dem wenigen begnügen, das die Vormieter zurückgelassen hatten. Maria saß an einem wackligen Tisch am Fenster zur Straße, Pergament und Silberstift neben sich, und starrte auf ein hellgrünes Etwas, das sich in einer Schachtel befand.

Von den drei Raupen, die mit ihnen nach Amsterdam gekommen waren, hatte nur eine überlebt und sich verpuppt. Wann würde endlich der Falter schlüpfen? Nach ereignislosen Tagen konnte innerhalb von Minuten ein schillernder Schmetterling aus der starren Hülle hervorbrechen. Manchmal wartete Maria vergebens, und wickelte sie schließlich das Päckchen aus, fand sie darin nur die vertrockneten Überreste des einstigen Bewohners. Die Tierchen lehrten ihre Beobachterin Geduld und Demut, und davon brauchte Maria gerade reichlich. Bei ihrer Ankunft in Amsterdam waren sie durch Gassen gefahren, an denen die Verkaufsstände für Bilder dicht an dicht standen. Landschaftsaquarelle und Hafenansichten waren besonders beliebt, und die kleinformatigen Stücke wurden feilgeboten wie Fisch und Gemüse.

Die Stadt an der Amstel beherbergte Hunderte Maler. Jedem Meister gingen mehrere Schüler zur Hand, und in den großen Ateliers wurde auf diese Weise beinahe täglich ein Bild fertiggestellt, wie Maria staunend erfuhr. Für die bummelnden Passanten mochte die Zurschaustellung der feinen Kunst prächtig sein, doch einer Malerin konnte das Überangebot den Mut nehmen. Aber Maria wollte nicht verzagen. Ihr Ziel waren Läden für feine Stoffe, Porzellan und Silberwaren, Orte, an denen wohlhabende Bürgerinnen verkehrten. Den Ladeninhabern überließ sie ein kleines Aquarell, wenn sie dafür einen Aushang anbringen durfte, der verkündete, sie gebe Mädchen und Frauen Zeichenunterricht und verschönere Gemälde.

Manchmal ertappte sie sich selbst dabei, wie sie eine Gracht entlanglief und sich darin übte, Kundinnen in ein Gespräch zu verwickeln: »Da haben Sie aber einen geschmackvollen Kerzenleuchter ausgewählt, Gnädigste! Der wird sich herrlich auf der Tafel machen. Verraten Sie mir, welche Kunst man in Ihrem Speisezimmer bewundern kann? Ein Blumenarrangement, in Öl gemalt? Pflanzen erfreuen doch jedes Gemüt! Nur schade, dass ein solches Motiv nichts Besonderes mehr ist. Ich kann mir denken, Ihre Gäste haben schon lange kein Wort der Bewunderung mehr darüber verloren, weil sie inzwischen selbst solche Bilder besitzen. Wie ärgerlich, nicht? Sie möchten doch etwas Einzigartiges besitzen. Dabei kann ich Ihnen helfen. Die Verschönerungen, die ich anbiete, beherrscht keine Zweite in der Stadt. Ich füge Ihrem Stillleben Bienen oder Schmetterlinge hinzu. Wie viel aufregender wirkt ein derart ergänztes Bild! Man glaubt, das Summen zu hören, die Blüten zu riechen und die Sonne auf der Haut zu fühlen. Ah, ich merke, Sie können sich das vorstellen. Mein Name ist Maria Merian, Sie finden mich in der Vijzelstraat.«

Ein erster Auftrag hätte Maria nachts ruhiger schlafen lassen, aber auch Malschülerinnen hätten schon geholfen. Erfahrungsgemäß genügte eine einzige höhere Tochter, die zufrieden von dem sprach, was sie in wenigen Stunden unter Marias Anleitung aufs Blatt gezaubert hatte, um weitere Interessentinnen anzulocken.

Schritte auf der Treppe! Das Haus war tagsüber unverschlossen. Maria stand auf, öffnete auch die Wohnungstür und kontrollierte noch rasch die Sauberkeit ihrer Fingernägel. Auf Schloss Waltha war sie oft bis zum Sonnenuntergang durch die Felder gelaufen und hatte es danach unnötig gefunden, die Hände gründlich zu schrubben. Sie wurden ohnehin wieder schmutzig, wenn sie am nächsten Tag Ameisengänge freilegte oder lose Rinde abzupfte, um zu sehen, welche Käfer sich dahinter verbargen. Aber das ging hier nicht mehr.

Auf den Stufen kam Johanna in Sicht.

»Ach, du bist es nur.« Maria setzte sich wieder zurück an ihren Tisch. »Ich hatte auf Kundschaft gehofft.«

Ihre Tochter stellte einen mit Gemüse gefüllten Korb auf die Dielen und zog einen Schemel unter dem Tisch hervor. Auf ihrem Haar perlten feine Regentropfen. Sprühregen, ergänzte Maria im Geiste. Im Norden unterschieden die Menschen den Niederschlag genauer. Hier nieselte es, pladderte, schüttete oder es regnete sich fest.

»Ich bin mit Dorothea an den Bilderständen vorbeigeschlendert«, sagte Johanna. »Wenn man all die Leinwand aneinandernähte, reichte sie, um eine ganz Flotte mit Segeln zu bestücken. Wusstest du, dass sich manche Künstler inzwischen auf aberwitzig kleine Nischen spezialisiert haben? Willem Kalf soll nur noch die Überreste von Frühstücken malen. Wie viele Variationen geschälter Apfelsinen kann man sich ausdenken?«

»Er wird mit dem Licht und den Texturen spielen.«

»Mag sein, aber die lebendige Natur ist doch viel interessanter. Jacob wollte mir gestern die Radierung einer Katze kaufen, aber dann meinte er, ich könne viel besser zeichnen, und er wolle das Geld lieber für unseren gemeinsamen Hausstand sparen.«

»Zu diesem Thema ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.«

»Ich weiß, Mutter.«

Johanna senkte den Kopf zu einem halben Nicken und schlug die Augen nieder. Was den Eindruck von Fügsamkeit vermittelte, war lediglich ein vorübergehender Rückzug. Maria kannte die Strategie ihrer Ältesten. Traf Johanna auf Widerstand, blies sie den Angriff ab und sammelte ihre Kräfte, um bei ruhiger See von einem anderen Winkel aus erneut anzugreifen. Wo Dorothea protestiert und getrotzt hätte, setzte Marias Erstgeborene auf vermeintliche Kooperation und versuchte, den Willen ihrer Mutter zu zermürben, indem sie Bitten immer und immer wieder vorbrachte.

Maria räumte die Kartoffeln aus Johannas Korb in eine Schale und begann, die Erde abzuwaschen.

Zwei Jahre lang liebte Johanna Jacob schon, und in all der Zeit hatte Maria an dem jungen Mann noch nichts auszusetzen gefunden. Bei den Labadisten hatte sie den Deutschen als brav und tüchtig kennengelernt. Er hatte an den Andachten teilgenommen, aber seinen Tagesablauf darüber hinaus nach eigenem Gutdünken gestaltet. Statt am Morgen zuerst zu beten, stand er stets vor allen anderen auf und hackte Holz, wobei er jeden Schlag auf Niederländisch mitzählte, um sich in der fremden Sprache zu üben. Danach machte er Feuer im Herd. Jacob schien einen gesunden Sinn für das Praktische zu besitzen und Marias Abneigung gegen religiösen Eifer zu teilen. Auch sah Maria ihn nie die Hand gegen ein Kind erheben, obwohl dies bei den Labadisten gang und gäbe war. Dorothea wurde einmal gezüchtigt, weil sie Kuchen aus der Vorratskammer stibitzt hatte. Maria hatte die Begebenheit vor Augen, als wäre es gestern erst passiert. Sie konnte die Strafe nicht verhindern, und ihr blieb nur, die von Stockschlägen brennenden Handflächen zu kühlen und ihrer Tochter Trost zu spenden.

»Gleich wird es besser. Nächstes Mal zügelst du deine Gier. Konntest du nicht bis zum Nachtmahl warten?«

»Doch. Aber Hanne verteilt den Kuchen ungerecht. Sie selbst isst zwei Stücke, und für den Kindertisch bleiben nur Krumen.«

»Nicht einmal die wirst du wegen deiner Dummheit nun bekommen.«

»Das ist gemein!«

Maria hatte das zwar auch so gesehen. Doch ihr war es nicht möglich gewesen, die Regeln der Labadisten zu ändern. Nicht jedem gefiel, welche Sonderstellung sie einnahm. Begehrte sie auf, würde sie vermutlich nichts erreichen und zudem ihre kleinen Freiheiten verlieren. Aber wie machte man das einem Kind begreiflich?

»Wenn man ein kleines Tier im Wald ist, nimmt man sich vor den Großen in Acht«, sagte Maria. »Bleibt man unauffällig, bemerken sie einen nicht, und man kann tun, was einem beliebt.«

»Tarnung«, murmelte Johanna, die an der Skizze eines Reihers saß, neben sich Jacob, der mit beglücktem Gesichtsausdruck beobachtete, was ihre Hand zu Papier brachte.

»Zukünftig wartest du einfach, bis Hanne ihren Mittagsschlaf hält, Dorothea«, sagte Jacob. »Dann musst du nicht einmal leise sein. Ihr Schnarchen übertönt alle anderen Geräusche.«

Er hatte schauerlich gegrunzt und Dorothea zum Lachen gebracht.

Gewiss, er war ein feiner Kerl, dieser Jacob Hendrik Herolt, aber das allein garantierte Johanna kein Eheglück. Viele merkten erst, nachdem sie sich fürs Leben gebunden hatten, wie unvereinbar die Bedürfnisse waren. Da offenbarte der