Die Tempelritter-Saga - Band 11: Die Macht der Worte - Clemens Albon - E-Book
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Die Tempelritter-Saga - Band 11: Die Macht der Worte E-Book

Clemens Albon

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Beschreibung

„Er begriff, dass dieses Turnier ihn zum Nachdenken bewegen sollte. Er musste entscheiden, welche Richtung er einschlagen wollte. Musste sein Herz befragen – ob er ein Kämpfer oder ein Dichter war.“ Auf der Flucht vor seinen Verfolgern gelangt der schottische Tempelritter Henri de Roslin zusammen mit seinen Gefährten in die von Frankreich unabhängige Provence. Hier, in der Wiege der europäischen Dichtkunst, entdeckt er die Macht der Worte. Getarnt als fahrender Minnesänger gelangt er zu Ruhm und Ansehen. Selbst der eitle Poet und berüchtigte Casanova Kyot D’Arles muss Henris Meisterschaft anerkennen – und zitiert ihn nach Paris zu einem Wettstreit. Henri schöpft einen schrecklichen Verdacht … und ahnt nicht, dass es bereits zu spät ist, um der Falle zu entkommen! Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!

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Über dieses Buch:

Auf der Flucht vor seinen Verfolgern gelangt der schottische Tempelritter Henri de Roslin zusammen mit seinen Gefährten in die von Frankreich unabhängige Provence. Hier, in der Wiege der europäischen Dichtkunst, entdeckt er die Macht der Worte. Getarnt als fahrender Minnesänger gelangt er zu Ruhm und Ansehen. Selbst der eitle Poet und berüchtigte Casanova Kyot D’Arles muss Henris Meisterschaft anerkennen – und zitiert ihn nach Paris zu einem letzten Wettstreit. Der misstrauische Templer schöpft einen schrecklichen Verdacht. Doch da ist es bereits zu spät …

Die Tempelritter, der mächtigste Orden des Mittelalters: Eine packende Abenteuer-Saga, die mehrere Kontinente und Jahrzehnte umspannt!

Über den Autor:

Der französische Autor Clemens Albon ist ein Experte für die Geschichte der Provence als Wiege der europäischen Dichtkunst. Nicht nur die Zeugnisse der mittelalterlichen Minnesänger, auch die Artus-Epik mit ihren Legenden der Gralssucher boten ihm einen breiten Fundus, aus dem er sich für die Tempelritter-Saga geschickt bediente.

Clemens Albon lebt und arbeitet im französischen Lirey, nahe Troyes in der Champagne, wo der Tempelritterorden Anfang des 12. Jahrhunderts gegründet wurde.

Für die Tempelritter-Saga schrieb Clemens Albon folgende Bände:

Die Tempelritter-Saga – Band 7: Die gestohlene Reliquie

Die Tempelritter-Saga – Band 10: Das Reich der Khasaren

Die Tempelritter-Saga – Band 11: Die Macht der Worte

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Neuausgabe Februar 2015

Copyright © der Originalausgabe 2006 bei Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Copyright © der Neuausgabe 2014 bei dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/antipathique und shutterstock/Kiselev Andrey Valerevich

ISBN 978-3-95520-788-5

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Clemens Albon

Die Macht der Worte

Die Tempelritter-Saga

Band 11

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ERSTER TEIL

1

Ende 1317. Musik

Sean of Ardchatten wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte lange vergeblich gewartet. Mit jedem weiteren Tag fiel es ihm schwerer zu glauben, dass die Gefährten noch eintreffen würden. An das Schlimmste wagte er gar nicht zu denken. Vielleicht hielten sie sich noch in einer dringenden Angelegenheit in der Fremde auf. Möglich auch, dass die Winterstürme die Überfahrt verzögerten. Oder hatten sie ihn einfach vergessen?

Bei diesem Gedanken spürte Sean einen Kloß im Hals. Nein, das war unmöglich, sein Herr würde ihn niemals vergessen! Da er zum längst überschrittenen verabredeten Zeitpunkt nicht erschienen war, musste etwas Unvorhergesehenes geschehen sein.

Sean stand auf und ging an dem von einer grob verfugten Steinmauer eingefassten Hafenbecken entlang. Er blickte über die schwankenden Schiffe, die im Hafen von Marseille ankerten. Ihr Schwanken empfand er als Spiegelbild seines Zustands, auch der Boden unter seinen Füßen schien ihm nicht sicher. Das Furchtbare kann doch geschehen sein, dachte er. Das Heilige Land birgt zahllose Gefahren. Menschenleben zählen dort wenig. Männer verschwinden plötzlich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wenn Henri de Roslin und seine Freunde tot waren, dann war auch sein Leben sinnlos.

Was sollte er dann tun? Er war doch immer nur Henris Knappe gewesen. Ohne ihn fühlte er sich nutzlos.

In diesem Moment konnte Sean gut nachempfinden, wie sich ein nasser Hund fühlt, der im kalten Wind am Rand des großen Meeres stand. Er fror, er schüttelte sich. Der schlimme Gedanke kroch wie mit kalten Fingern an seinem Körper empor, weiter und weiter bis hoch in seinen Kopf, wo er sich festkrallte und nicht mehr wegwollte.

Sean of Ardchatten warf noch einen Blick in Richtung Horizont. Kein Schiff war zu sehen. Und wie sehr sehnte er den Anblick eines von Südosten kommenden Seglers herbei, der in Marseille anlegte. Seit Wochen waren Schiffe angelandet, ihre schweren dunklen Leiber tanzten über das lichte, manchmal dunstige Wasser heran, ihre Segel blähten sich im frischen Wind des Spätherbstes, sie näherten sich mit rauschendem Bugschot wie ein Versprechen. Jedes Mal empfand Sean die aufregende Verheißung von Abenteuer beim Anblick der sich nähernden fremden Schiffe. Aber sie alle kamen aus Richtungen, die ihn nicht interessierten, vor allem aus Westen. Auch Lateiner, die unter dem roten Tatzenkreuz segelten, waren darunter gewesen. Sie kamen aus Iberien und brachten maurische Gefangene, die als Arbeitssklaven verkauft oder als Geiseln gegen christliche Gefangene im Osten eingetauscht wurden.

Jedes Mal hatte Sean das Flicken der Fischernetze aufgegeben und war in den Hafen der Großsegler zur neuen Mole gestürzt, wo er mit brennenden Augen wartete, bis der letzte Reisende über das Fallreep an Land gegangen war. Er sah, wie die Sklaven in Ketten mit Peitschenhieben vom Schiff zu einem Lager neben dem Hafen getrieben wurden. Erst, wenn die Matrosen begannen abzutakeln, wandte er sich ab. Und jedes Mal ging er dann mit schweren Schritten und finsteren Gedanken zu den anderen zurück.

Manche der Fischerjungen bedauerten und trösteten ihn, andere lachten ihn aus. Besonders Jacques machte sich einen Spaß daraus, ihn zu verspotten. Der gemeine Kerl mit dem feuerroten Schopf und den unzähligen Pickeln rund um den fleischigen Mund war ganz allein in Marseille. Seine Eltern waren tot, und seine drei älteren Brüder hatte es in alle Winde verstreut. Wenn Sean am traurigsten war, boxte Jacques ihn am heftigsten oder stellte ihm heimtückisch ein Bein. Anfangs hatte Sean sich tüchtig gewehrt, war auf Jacques losgegangen und hatte lange mit ihm gerungen. Mit der Zeit nahm Sean Jacques' Gemeinheiten jedoch widerstandslos hin.

Wenn Jacques besonders niederträchtig war, fing Sean an zu singen, nicht laut, sondern still und leise vor sich hin. Jeden Tag erfand er ein neues Lied und dichtete einen Text dazu. So kam es, dass Sean of Ardchatten inzwischen ganz erfüllt war von leisen Liedern, von Gedichtzeilen, die ihn trösten sollten, und von schwerelosen Melodien, die er manchmal auf seiner Lochflöte nachspielte. Der Schmerz, dachte er, ist doch der beste Dichter und Komponist.

Aber Sean wäre lieber glücklich gewesen.

Oh, wie bedrückt es mich, dachte er, während er nun am Hafen entlangging und einen Schwarm gen Süden ziehender Wildgänse beobachtete, dass der edle Herr Henri nicht bei mir ist. Wäre er doch nur hier, würde er doch nur all das in Worte fassen, was ich empfinde, er würde sich weitaus gewählter und wohlgefälliger ausdrücken als ich. Seine Worte wären funkelnde Edelsteine, wo meine bloß stumpfe Steine sind. Oh, wie sehr benötige ich doch den Rat und die Hilfe meines Herrn!

Sean summte ein Lied zu diesen Worten. Er hörte in Gedanken seine dreilöchrige Knochenflöte dazu spielen, so als spielte ein anderer ihm vor. Sean hatte sich während des Wartens inmitten des Kreises der Fischer, für die er arbeitete, seit er vor zwei Monaten in Marseille angekommen war, angewöhnt, zu seinem Herrn zu sprechen, als sei dieser anwesend. Auf diese Weise wurde seine Trauer über dessen Abwesenheit nicht zu groß. Was ich beginne, Herr Henri, würde weitaus besser, dachte er, wenn du mit deiner Lebenserfahrung und Kunstfertigkeit meinem geringen Können aufhülfest ...

Auch wenn Henri de Roslin ein Tempelritter ist, dachte Sean weiter, so beherrscht er doch auch die Kunst der Erzählung. Wie oft hat er mich schon getröstet, wenn ich Liebeskummer hatte. Worte können große Trostspender sein! So wie jetzt, wo ich einsam bin und an Angelique denke, die in der Bretagne auf mich wartet. Und wie die Dinge liegen, werde ich das süße Mädchen vielleicht nie mehr wieder sehen!

Sean seufzte, nahm sich ein neues Netz und begann, es zu flicken. Der dunkle Manuel, dem er zu gehorchen hatte, beobachtete ihn eine Weile aus zusammengekniffenen Augen, um zu sehen, ob er geschickt genug war. Dann wandte er sich zufrieden ab. Sean besaß flinke Finger, mit denen er den Faden durch die schadhaften Stellen führte. Das Netz war groß und deshalb schwer, aber Sean war kräftig genug, damit umzugehen. Schon mehrere Jahre lang hatte er gelernt, seine Arme und Hände geschickt zu gebrauchen, zunächst als Page, dann als Knappe seines Herrn, der sich seine Schwertleite verdiente. Er war schlank und drahtig und dabei überaus zäh und schnell. Aber diese Eigenschaften waren für den Kampf gedacht und für die Übungen mit seinem Herrn, in denen er die Waffentechnik des Panzerreiters und das Turnierreiten erlernte. Hier konnte er nur die Finger spielen lassen.

Während er so nachdachte, warf Jacques plötzlich einen toten stinkenden Fisch zu ihm herüber; er landete dicht neben ihm. Sean beachtete diese Provokation jedoch nicht. Er nahm das glitschige Tier am Schwanz und warf es achtlos zur Seite.

»Er hat Angst vor dir, er kneift!«, stachelte ein Fischerjunge mit flachsblondem Haar Jacques an.

Jacques ließ ein kehliges, zufriedenes Grunzen ertönen, und seine Pickel tanzten im grinsenden Gesicht. »Das will ich auch hoffen!«

Sean blickte kurz zu ihm hinüber. Er hatte nichts als Verachtung für den plumpen Rothaarigen übrig, er dachte nicht daran, sich mit ihm zu messen. Aber wenn er nur wollte, würde er ihn in den Boden stampfen.

Warum eigentlich nicht, dachte Sean plötzlich. Ich werde es ihm einmal zeigen, dann lässt er mich in Ruhe. Und dann kann ich mit den Sorgen um meinen Herrn endlich allein sein. Sean sprang auf. Wortlos ging er zu Jacques hinüber. Die Gespräche in der Runde der Fischer und ihrer Jungen verstummten sofort. Sean trat vor Jacques. Der blickte ihn ungläubig an. Sean riss ihn mit einem einzigen Ruck am Jackenkragen hoch, dann schlug er ihm ins Gesicht. Die beiden klatschenden Ohrfeigen ließen Jacques' Wangen sofort rot anlaufen.

Jacques heulte auf. Er stellte sich in Position, dann sprang er Sean an. Der Knappe wich aus. Jacques stürzte an ihm vorbei. Sean trat ihm seitlich gegen das Bein. Jacques fiel in den Sand. Er rappelte sich wieder auf und sprang erneut auf Sean zu. Der empfing ihn mit zwei schnellen Fausthieben, eine Kombination, die er von Henris Freund Uthman ibn Umar, dem Sarazenen, gelernt hatte. Sean traf den Magen seines Angreifers und fast gleichzeitig dessen Kinn, woraufhin Jacques mit einem dumpfen Laut zu Boden fiel. Anschließend rührte er sich nicht mehr.

Weder die Fischer noch die Jungen sagten etwas, und keiner griff ein. Die Jungen starrten nur mit offenem Mund auf die Szene, und die Fischer schienen Sean stillschweigend zu gratulieren. Sean ging zu seinem Netz zurück und setzte sich so, dass er Jacques den Rücken zuwandte. Nach einer Weile hörte er, wie der Niedergeschlagene sich wieder aufrappelte. Sean war sich sicher, dass Jacques jetzt klein beigeben würde. Er traute sich nur etwas, wenn er die anderen hinter sich wusste, aber das war im Moment nicht der Fall. Und Sean sollte Recht behalten. Jacques wischte sich das Gesicht ab, hockte sich mit untergeschlagenen Beinen auf seinen Platz und fuhr ohne ein Wort mit der Arbeit fort. Nach und nach nahmen die anderen ihre Gespräche wieder auf und setzten ihre Tätigkeiten fort. Und nach einer Weile schien der Vorfall vergessen zu sein.

Seans Anspannung ließ langsam nach. Er flickte sein Netz, blickte über das Meer und in den Himmel, an dem sich erste Regenwolken zeigten. Er würde weiter warten. Er fühlte sich nicht erleichtert, er war so allein wie noch nie in seinem jungen Leben.

Um seine mutlose Stimmung zu vertreiben, brachte er sich die Erzählungen seines Herrn über die frühen Tage des Templerordens in Erinnerung – ein Orden, der auch gegen die Mutlosigkeit gegründet worden war. Die geistlichen Ritter im weißen Ornat mit den roten Tatzenkreuzen auf beiden Schultern hatten keine Schwäche gekannt und deshalb auch keine geduldet. Im Gegenteil, für ihre Ideale hatten sie freiwillig Armut und Entbehrungen auf sich genommen. Und dabei hatte sich sicher keiner von ihnen je so elend gefühlt wie er.

Sean wurde von diesen Gedanken sogleich gestärkt. Er bewunderte die Tempelritter. Der Gedanke an sie ließ ihn die Nähe seines Herrn spüren, und er hörte im Geiste dessen Ermahnungen. Einmal mehr versuchte er, sich vorzustellen, wie es damals gewesen war. Hätte er doch nur ein einziges Mal erleben dürfen, wie die Ritter im Heiligen Land gekämpft hatten. Welch ein Anblick von Kraft, Stärke und Edelmut musste das gewesen sein!

Sean erinnerte sich an Henris Worte. Sein Herr hatte oft und gern erzählt, und seine Erzählungen hatten Bilder einer faszinierenden, farbigen Welt voller Abenteuer heraufbeschworen. Die Ritter hatten keine Zeit vergeudet. Sie hatten sich während des ersten Kreuzzuges nach Jerusalem zusammengefunden und eine verschworene Laienbruderschaft gegründet. Schnell hatte sich eine tatkräftige Zelle entwickelt, die von dem französischen Ritter Hugo von Payens angeführt wurde. Die Brüder hatten Armut, Keuschheit und Gehorsam gelobt. Und sie hatten sich Templer genannt, weil sie in der Nähe des Felsendoms residierten, dort, wo der Tempel des alten israelischen Königs Salomon gestanden hatte. Ihr voller Name war deshalb auch »Die armen Brüder Christi vom Tempel Salomonis« gewesen. Sie hatten die Grenzen zu den feindlichen Nachbarländern bewacht, anreisende Pilger geschützt, die Kranken und Verletzten im Hospital gepflegt. Und sie hatten Waffen getragen, die sie wirkungsvoll einzusetzen wussten.

Sean sah über die Schulter zurück zu Jacques. Der Junge stierte ihn unverwandt aus geröteten Augen an. Sean erschrak über den Hass in seinem Blick. Dieser Feind würde ihm bleiben.

Wie war das damals in Jerusalem gewesen? Dort in der Fremde hatte es unzählige Feinde gegeben, jeder von ihnen zehnmal gefährlicher als der tumbe Jacques. Das waren Feinde gewesen, die töten wollten, um nicht selbst getötet zu werden. Die Tempelbrüder waren deshalb bemüht gewesen, ihre Macht auszuweiten. Sie hatten bei jeder Gelegenheit ihre Waffen gezeigt, sodass die Feinde bald vor ihnen erzitterten. Der Dienst im Hospital war den Templern schon nach wenigen Jahren unwürdig erschienen und zugunsten der Kämpfe auf den Schlachtfeldern immer mehr vernachlässigt worden. Wer die Templer zu dieser Zeit im Kampf unterstützte, dem war ein Platz im Himmel garantiert worden. Und so hatten die armen Brüder Christi bald unzählige Geschenke, Stiftungen und Privilegien erhalten. Edelmänner, Pilger und Herrscher aus dem Abendland hatten ihnen Ländereien übertragen, ja sogar ganze Ortschaften, Burgen und kleine Städte, vor allem in Frankreich, aber auch in Spanien, Portugal und Italien. Und der einflussreiche Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux hatte in ganz Frankreich für die Unterstützung der neuen Ritterschaft geworben.

Bernhard hatte die Templer ausdrücklich wegen ihrer Tugenden gelobt und die übrige Ritterschaft getadelt. Sean erinnerte sich an die Worte, die er in der Schrift des bedeutenden Abts gelesen hatte. Die Lektüre seines in lateinischer und französischer Sprache abgefassten Büchleins mit dem Titel De laude novae militiae war Teil seiner Ausbildung gewesen. Bernhard schrieb dort: Ihr behängt eure Pferde mit seidenen Decken, prunkvolle Gewänder reichen von eurer Rüstung bis auf den Boden; eure Sporen und Zügel glitzern von Juwelen und erregen die Gier eurer Feinde, auf die ihr euch tollkühn und wie von Sinnen stürzt – und so reitet ihr in den sicheren Tod. Nicht in edler Absicht stürzt ihr in die Schlacht, sondern mit tierischer Wut und wilder Ruhmsucht. Oder ihr reitet in den Kampf weil ihr den Reichtum und die Habe des Nächsten begehrt.

Ja, dachte Sean, so waren die wilden Ritter des Abendlandes gewesen – und viele von ihnen waren auch heute noch so. Sean hatte einige von ihnen in der Bretagne, in der Provence und auch in England kennen gelernt. Unter anderem waren sie ihm als Feinde seines Herrn begegnet, als krasses Gegenteil von Henri de Roslin, der ein Krieger Christi und des Himmels war und ihm auf immer ein leuchtendes Vorbild sein sollte.

Und doch, Sean seufzte auf, in einer Sache verstand er ihn nicht: Henri de Roslin kam nie mit Frauen zusammen, er lebte fröhlich und nüchtern, war nie müßig, verfiel niemals weltlichen Freuden, lehnte das Würfelspiel ab, mochte keine Gaukler und Narren, keine ausgelassenen Lieder. Das bereitete Sean oft Probleme im Umgang mit seinem Herrn. Er selbst hegte nämlich starke Gefühle für seine Liebsten. Er lachte mit den Mädchen und weinte mit ihnen. Ihnen zu entsagen schien ihm undenkbar. Er sehnte sich so sehr nach der Nähe einer Geliebten, dass er oft überlegt hatte, ihretwegen den Knappendienst aufzugeben. Er hatte es nicht getan – aber so manches Mal war er nahe davor gewesen. Sein Herr hingegen würde so etwas nicht einmal denken. Sean wusste, dass er viele Tugenden besaß. Er war ein mutiger Mann, ein tatkräftiger Mann, der keine Mühen scheute und jedem zu Hilfe eilte, der ihn rief. Wie oft schon hatten seinen von Staubkrusten bedeckten und von der Sonne verbrannten Körper deshalb zahlreiche Wunden gezeichnet.

Auch jetzt noch, wo der Tempel zerstört war, trug Henri im Herzen seinen Glauben und in der Hand sein Schwert. Denn die Feinde des Tempels lauerten überall. Henri de Roslin vereinte in sich die Sanftmut des Lamms mit der Kühnheit des Löwen, sodass Sean oft nicht wusste, ob er ein Mönch oder ein Ritter war. Henri war immer beides zur gleichen Zeit, und das faszinierte den Knappen sehr.

Henri hatte ihm oft vom Pomp römischer Prälaten erzählt, von hurenden Priestern und von Klostergemeinschaften, bei denen Moral und Ordnung immer weniger zählten. Das hatte ihn gewaltig geärgert. Für Henri waren diese Menschen Verräter an ihren eigenen Idealen. Voller Verachtung hatte er Sean von Kirchenmännern berichtet, die längere Zeit im Heiligen Land verweilt und sich, wie es bei den Einwohnern Sitte war, Harems zugelegt und versucht hatten, es reichen Rittern gleichzutun. Sie hatten gelernt, den Luxus zu schätzen, seidene Gewänder, Pelze, Schmuck. Sie hatten sich Sklavinnen und Tänzerinnen gehalten, Trinkgelage gegeben, um immer höhere Einsätze gewürfelt und Geld für die Falkenjagd verplempert. Oft hatte Henri auch geklagt, dass es selbst unter den kämpfenden Templern Missratene gebe. Dass das Heilige Land zu einem Sammelbecken für Verbrecher und Schurken geworden sei, für Bösewichter und Gottlose, Diebe und Landstreicher, Totschläger, Vatermörder, Meineidige, Ehebrecher, Verräter, Hurenböcke, Trunkenbolde, Spielleute, Possenreißer und Schauspieler, für abtrünnige Mönche und Nonnen, die gemeine Huren geworden waren, für Weiber, die wegen eines schnöden Vorteils ihre Männer verlassen hatten und in Bordellen hausten, und für Männer, die ihren Ehefrauen davongelaufen waren. Es sei eine besondere, wilde, eigenmächtige Brut, hatte Henri gesagt, die hohe Ideale nur vortäuschte. Sie alle suchten Zuflucht vor dem Gesetz im Heiligen Land.

Sean drehte sein Netz herum. Jetzt musste er nur noch eine Stelle flicken, wo vor zwei Nächten ein Katzenhai hineingebissen hatte. Er hatte die Seile mit seinem kräftigen Gebiss regelrecht zersägt. Es gab viele Katzenhaie hier vor den Küsten, und sie brachten großen Gewinn. Manuel war daher schon ganz versessen darauf, das reparierte Netz am Abend wieder auszuwerfen. Neben Haien würde er vielleicht auch Thunfische, Kraken, Makrelen und Riesengarnelen fangen.

Das Meer blieb grau, die Wolken hingen tief, Seans Gedanken brandeten weiter dahin wie schwere Wellen, und er überließ sich ihnen.

Die Tempelherren waren für Sean immer Vorbilder gewesen, und sein Herr war für ihn der Verehrungswürdigste von allen. Sean war überglücklich gewesen, als seine Mutter ihn vor vielen Jahren zur Erziehung in den schottischen Tempel gebracht hatte. Die zu einer Elite aufgestiegenen Templer, die sich, nicht zuletzt durch ihren Todesmut, militärisch ausgezeichnet hatten, waren bald schon zu seinem Ideal geworden.

Sean wusste, dass das Heilige Land für die Christenheit längst verloren war. Aber die Tugenden der Templer waren gerade jetzt, in Zeiten, in denen zwar Frieden herrschte, aber alles durcheinander geriet, besonders gefragt. Denn es war ein trügerischer Friede, der mit dem Blut von Tausenden ermordeten Templern erkauft worden war. Wie sehr brauchte man in solchen Zeiten Männer, die nichts ihres persönlichen Vorteils wegen taten. Männer, die handelten, weil sie an das Wohl der Gemeinschaft dachten!

Sean beendete sein Flickwerk und schleppte das Netz zu Manuel hinüber. Er zog es kräftig durch den Sand, wirbelte Staub auf und stand für einen Moment im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der Fischer wartete, bis Sean das Netz vor ihm ausgebreitet hatte, prüfte es aufmerksam und nickte dann wortlos. Das Netz wurde zusammengerollt und mit vereinten Kräften auf Manuels Boot gezogen. Es war eine der vielen kleinen Barken, die im Hafen lagen, mit viereckigem Segel und Handruder.

Die Barken dümpelten in einer auffrischenden Brise einher, die die Schreie zahlloser Möwenschwärme zum Ufer wehte.

Henri de Roslin war tot. Es konnte nicht anders sein. Er kam nicht. Und niemand brachte eine Nachricht von ihm.

Sean of Ardchatten erinnerte sich deutlich an seine Worte. Es war im Herbst des vergangenen Jahres gewesen. Henri hatte gesagt, dass sie sich in genau einem Jahr treffen wollten. »Im Hafen, dort, wo die Großsegler aus dem Osten anlegen. Wo die Schiffe anlegen müssen, die aus dem Heiligen Land kommen.«

Sean war froh, dass die Fischer ihn als Gehilfen genommen hatten. So hatte er wenigstens ein Dach über dem Kopf und musste nicht Hunger leiden. Auch wenn seine Kammer in Manuels Kate winzig war und keine Fensteröffnung besaß.

Henri kam nicht und auch nicht seine Gefährten. Das Heilige Land schien sie verschluckt zu haben.

Nach einer weiteren Nacht auf See, an Bord einer über das schwarze Meerwasser schwankenden Barke, fragte Sean sich ernsthaft, was er tun sollte. In Marseille konnte er nicht ewig bleiben. Ein Leben als Fischerjunge konnte er sich nicht vorstellen. Den Knappenlohn, den er einst als Vorschuss für ein Jahr von seinem Herrn erhalten hatte, hatte er längst aufgezehrt. Er besaß zwar einen Golddukaten aus der Schenkung eines Grafen der Champagne an den Tempel, den er an einer Kette um den Hals trug, aber der war nur für äußerste Notfälle gedacht. Er würde sich also einen anderen Ritter suchen müssen, der ihn ausbildete und für seine Dienste entlohnte.

Jedes Mal, wenn er so dachte, hörte Sean jedoch tief in sich eine seltsame Melodie. Er versuchte, sie nachzusingen. Inzwischen fragte er sich, ob er nicht eher zum Minnesänger taugte als zum Ritterknappen. Die Tugenden der Tempelritter schienen ihm das Maß aller Dinge zu sein – aber war er für ihr Dasein nicht viel zu sinnlich veranlagt, viel zu gefühlvoll? Konnte er sich ein Leben in Enthaltsamkeit überhaupt vorstellen?

Viel mehr als an seine ritterlichen Pflichten dachte er an sein Liebesglück. Er sah Angelique vor sich, legte im Geiste die Hände auf ihre weichen Äpfelchen, auf ihr wunderbares Gesäß und küsste sie überall. Diese Bilder verfolgten ihn bei Tag und Nacht. An seinen Ritter dachte er mit Bewunderung. Aber erst danach – und das weckte in ihm Schuldgefühle.

Wenn Sean an Angelique dachte, hörte er auch Musik. Überall war dann Musik. Sean wusste, dass auch die Gestirne und Sphären ständig Musik zum Lob Gottes ertönen ließen. Dies war die wahre Musik. Die Klänge der Musikanten waren nur die Versuche, sie nachzuspielen. Die sphärische Musik war der gleichförmige Klang der Sterne, die sich der Knappe als kristallene Hohlkugeln vorstellte. Mit jeder Sphäre war ein Ton der Tonleiter angeschlagen, ein harmonischer Gesamtklang. Und wenn er selbst die Flöte spielte oder Musikanten zusah, die auf der Knieharfe, der Fiedel, der Lira oder dem Scheitholt spielten, dann fühlte er sich eins mit der Schöpfung.

In dem Augenblick, in dem Sean so dachte, begann es in ihm zu singen. Text und Melodie kamen aus der Tiefe seiner Seele: Der Mann, sehr traurig, nahm den Abschied an, sie kamen sich ganz nah, mit heller, glatter Haut. So sah der Tag schon früh Tränen – um so süßer die Frauenküsse! Und sie wurden eins mit Lippen, Brust, mit Armen, nackten Beinen. Ihr Glück war zwar von Leid getrübt, doch liebten sie sich bis zum Morgen. So ist die Liebe ...

Es war das Lied eines Provenzalen. Als Sean es vernahm, wurde er sogleich von einer neuen Liebessehnsucht übermannt. Er sah Angelique fast leibhaftig vor sich. Sean seufzte und zog ein Tuch aus der Jackentasche, welches das Angesicht seiner Geliebten zeigte. Ihr Vater, ein Buchmaler aus Brest, hatte es gemalt, und Angelique hatte es ihm vor einem Jahr geschenkt. So war Sean diesem lieben Gesicht immer ganz nahe.

Sean starrte es an. Er strich mit den Fingerspitzen darüber. Das Gesicht bewegte sich leicht, als lächele es. Wie schön – und wie traurig zugleich. Es war nur ein Tuch!

Sean hatte sich oft gefragt, wie die Liebe in einem Mann entsteht, und je älter er wurde, desto drängender wurde diese Frage. Immer wieder versuchte er, sie zu klären.

Zunächst denkt man an ein Mädchen, man denkt über es nach, und je länger die Angebetete die Gedanken beherrscht, umso mächtiger wird sie. Es ist ein überwältigender Vorgang, dachte Sean. Bald verliert man sich ganz in der Vorstellung an sie, man fragt sich, wo sie gerade ist und was sie tut, man stellt sich ihren süßen Körper vor, sieht dieses betörende Geheimnis ständig vor sich. Der Wunsch, ihn zu besitzen, wird schließlich übermächtig, alles drängt danach, man ist ausgefüllt von dieser Begierde und gibt nicht eher Ruhe, bis sie gestillt ist.

Doch da fängt die Qual erst an, dachte Sean. Denn die Angebetete wird die Erfüllung verweigern. Sie kann gar nicht anders, sonst verliert sie ihre Würde. Deshalb wird der kluge Mann versuchen, seine Liebesqual zu mildern und sich mit ihren Seufzern und Blicken zu begnügen – nicht mit mehr.

Sean war verwirrt, wenn er darüber nachdachte. Alles ist zunächst nicht körperlich, es geschieht in der Seele, dachte er, so verlangt es die Sitte. Es geht aber trotzdem immer um die Eroberung, sie ist das Ziel. Es ist ein Zeichen der wahren, der höheren Liebe, dass sie gewissermaßen wie ein Spiel zelebriert wird, das andere ist niedere Minne, das machen die Bauern und Tagelöhner in den Ställen, im Heu und auf den Feldern.

Erfüllte sich wahre Liebe nicht sogar völlig darin, auf Erfüllung zu verzichten? Sean wusste, dass die Minnesänger landauf, landab davon sangen. Der Minnesang, der die Mauern der Burgen im Abendland erfüllte, war doch die schönste Blüte der unerfüllten Liebe!

Und doch hatte ihm einer der jungen Mönchschreiber im Zisterzienserkloster, der moralische Traktate aus dem Italienischen abschrieb, erzählt, dass auch das Körperliche sehr weit gehen konnte, ohne zur Vereinigung zu führen. Es war noch erlaubte keusche Liebe, wenn man sich küsste, sich umarmte, sich auszog und sich überall berührte, wo der Leib nackt war. Vor dem Allerletzten musste man sich allerdings beherrschen.

Diese Gedanken besänftigten Sean. Er fühlte, dass er sich seiner Begierden wegen nicht zu schämen brauchte. An diesem Morgen quälte ihn die Sehnsucht jedoch besonders schlimm, und daher brachen seine Grübeleien nicht ab.

Sean wusste, dass er niemals heiraten würde, wenn er bei seinem Herrn Henri blieb. Vielleicht schlug man ihn auch niemals zum Ritter und verlieh ihm niemals den Schwertgürtel, denn Henri de Roslin konnte sich in der Öffentlichkeit nicht als Tempelritter zu erkennen geben, ohne in Lebensgefahr zu geraten. Musste Sean deshalb nicht augenblicklich den Knappendienst aufgeben? Er war ja kein Dienstmann des Tempels mehr, zu keiner Gefolgschaft verpflichtet, ja nicht einmal dazu berechtigt. Er war frei, frei wie ein Vogel, aber auch ein Vogel brauchte einen Futterplatz, sonst führte seine Freiheit zum Tod. Sean wusste, wie Henri war auch er nur durch sein Wort gebunden. Er konnte das Vertrauensgelöbnis jederzeit lösen.

Aber sollte er das wirklich tun? Tatsache war, dachte Sean, dass andere Jungen in seinem Alter viel mehr Freiheiten hatten als er, die meisten besaßen sogar längst eine Frau. Manche wurden sogar schon mit sieben Jahren verheiratet, wenn die Familien es so beschlossen. Sollte er also seinen Herrn verlassen und wie seine Altersgenossen das Glück in der Liebe suchen? Oder sollte er als Liedersänger durch die Welt ziehen, wie er es in der Provence kennen gelernt hatte?

Es musste etwas geschehen! Entweder Henri de Roslin und seine Gefährten kamen an, um ihn abzuholen und zu weiteren Abenteuern mitzunehmen – oder Sean würde allein losziehen.

Aufgewühlt von all diesen Gedanken, beschloss der Knappe, an diesem Abend nicht in seinem trübseligen Zimmer zu verkümmern, sondern das Mädchen aufzusuchen, das er vor einigen Abenden an der Mole getroffen hatte. Mit betrübtem Blick hatte sie aufs Meer hinausgestarrt, in Richtung der großen Gefängnisinsel vor Marseille. Das Mädchen hieß Varende und war siebzehn Jahre alt, ebenso alt wie er. Varende hatte ihm erzählt, dass man ihren Cousin auf dieser Insel gefangen hielt, weil man ihn mit einer verheirateten Frau im Bett erwischt hatte. Die Frau hatte sich das Leben genommen, und Varendes Cousin verfaulte gerade in einem muffigen Kerkerloch hinter mannsdicken Mauern.

Sean lief es bei dem Gedanken daran jedes Mal eiskalt den Rücken runter. Nachdem alle Netze geflickt waren und Manuel ihn entlassen hatte, machte er sich auf den Weg. Ein Geschenk für Varende hatte er nicht, nicht einmal ein kleines Seidenband oder ein Haarband, und einen Fisch wollte er ihr nicht schenken. Aber er hoffte, dass sie ihn trotzdem gern empfangen würde.

Varendes Vater besaß mitten im Handwerkerviertel von Marseille die Werkstatt eines Knochenschnitzers.

Sean genoss den Lärm und das bunte Treiben in der Hafenstadt. Nach einigen heftigen Schauern in den vergangenen Tagen waren die engen, gewundenen Gassen nass und an vielen Stellen matschig. Die Frauen überquerten sie auf kleinen Holzpodesten, die sie unter ihre Füße geschnallt hatten. Wenn sich die Straße abwärts neigte, rutschte der Matsch nach unten, und man musste aufpassen, nicht hinzufallen. Überall stank es nach altem Fisch, und auf den Abfällen, die überall in den Gassen lagen, saßen Trauben von bläulichen Fliegen. Handwerker hämmerten, Nachbarn stritten sich vor ihren kleinen, wegen der ständigen Feuergefahr in leichten Abständen zueinander gebauten Häusern, zwischen denen sich hier und da kleine Kräutergärten befanden. In Marseille konnte jeder vor seinem Haus verkaufen, was er wollte. An Verkaufsständen, die meist nur aus einem Brett bestanden, das über zwei Hölzern lag, wurde Fleisch gehackt, Fischer schleppten Körbe mit dem Fang der letzten Nacht heran, vor einer Räucherei wurden lange Speckstreifen in einem Holzrahmen präsentiert, und zwischen all diesem Treiben tummelten sich gackernde Hühner.

Im Handwerkerviertel sah es nicht anders aus. Dort waren einige Hausfundamente rot oder blau angemalt, es standen noch mehr Karren und Pferdewagen herum, und Lieferanten luden Waren ab. Sean erreichte die Werkstatt und sah Varende schon von draußen neben ihrem Vater sitzen. Er trat durch eine niedrige Tür, grüßte scheu und trat dann näher.

Varende blickte ihn herausfordernd an, in ihren Augen lag ein Glitzern. Sie sah zierlich aus, aber ihre Glieder waren lang und hell, und ihre blonden Haare lagen wie eine Art Krone auf ihrem hübschen Kopf. Sean gab ihr die Hand und sog den Duft ihres Körpers mit allen Sinnen ein, diesen Geruch nach Wärme, nach glatter Haut, nach den geheimen Stellen. Der Vater blickte nur kurz auf und beugte sich dann über seine Knochen. Er stellte Reliquiare, Spielzeug, Kämme und Waffengriffe her, manchmal auch gute Würfel für die Hafenarbeiter, obwohl das verboten war.

Sean setzte sich hinter Vater und Tochter und sah ihnen bei der Arbeit zu. Varende arbeitete ihm geschickt und wortlos zu. Manchmal blies sie den Knochenstaub weg, dann beugte sie sich vor, und Sean konnte in ihren Ausschnitt sehen. Es war warm in der Werkstatt, die für den Knochenschnitzer auch eine Wohnstatt war. Er schlief hier auf großen Kissen, die an der Wand lagen, nahm hier seine Aufträge entgegen und führte sie aus.

Seans Blicke flogen über eine eisenbeschlagene Truhe und wenige Hocker. Auf der Tischplatte, die auf zwei Böcken lag, befanden sich ein Dokumentenkästchen, Wachstafeln und Schreibgriffel, mit denen Varende den Lohn errechnete und notierte. Das Mädchen konnte auch lesen und schreiben, Sean besaß einen Brief von ihr, in dem sie von ihren Erwartungen für die Zukunft erzählte. Und sie deutete an, dass Sean ihr gefiel. Dieser erblickte nun auf dem Tisch zwei reich verzierte Minnekästchen. Gehörten sie Varende? Bargen sie ihre Briefe? Vielleicht bewahrte aber auch nur ihr Vater darin die persönlichen Briefe an seine Familie auf.

Sean lehnte sich behaglich zurück. Es roch nach Leim und Knochenstaub, nach Holz und Schweiß. Durch die Ritzen der Bretter, die das Viereck der Werkstatt bildeten, fielen Sonnenstrahlen, auf denen übermütig Staub tanzte. Sean sah eine junge Katze, die sich behaglich leckte.

Der Knappe wurde allmählich ruhiger, seine Pein und Unrast fielen von ihm ab. Seine Liebessehnsucht wich der Freude, Varende ansehen zu dürfen.

Sean dachte daran, dass die Liebe und das Begehren auch dann schön waren, wenn sie Beschwernisse mit sich brachten, und dass die Menschen ihrer Natur nach immer das Mühevolle suchen.

Er war zwar noch sehr jung, aber nicht anders als die anderen. Er wollte nicht anders sein.

Sean fühlte sich wohl. Er hätte sich nicht mehr bewegen wollen. Es gab nichts zu tun, was des Tuns wert gewesen wäre. Er ging ganz auf im Betrachten der schönen Varende.

2

Ende 1317. Die blutrote Fackel

Das Schiff kämpfte mühsam gegen die Stürme an. Haushohe Wellen bauten sich vor dem Segler auf und stürzten über ihm ein. Die zusammengewürfelte Mannschaft aus Orient und Okzident arbeitete hart bei Tag und bei Nacht. Wenn die Elemente übermächtig zu werden schienen, half nur noch das Gebet. Am Morgen des dritten Tages ebbte das Unwetter endlich ab, und die Sonne kam hervor. Henri de Roslin, Uthman ibn Umar und Joshua ben Shimon gingen an Deck und genossen die wahrscheinlich letzten warmen Stunden des Jahres.

Sie reisten in der Kluft der Handelsleute, um nicht aufzufallen. Obwohl sie keine Waren mit sich führten und ihr Gepäck spärlich war, wirkten sie wie Kaufherren, die nach erfolgreichen Geschäften aus Palästina und Syrien mit einer Zwischenstation in Konstantinopel, der byzantinischen Stadt auf den sieben Hügeln, ins Abendland zurückkehrten.

Vier Wochen lang war die Reise ruhig verlaufen, doch dann war im Labyrinth der griechischen Inseln plötzlich Sturm aufgekommen. Der Wind hatte aus wechselnden Richtungen auf sie eingeschlagen. Die Segel hatten gerefft werden müssen. Die Mannschaft war eine ganze Nacht lang damit beschäftigt gewesen, Wasser aus dem Unterdeck zu schöpfen. Nach zähem Ringen war die lange Reihe halb nackter Männer schließlich erfolgreich gewesen. Sooft es nötig gewesen war, hatten die Gefährten mit angepackt und den Matrosen bei ihrer schweißtreibenden Arbeit geholfen.

Nach achtunddreißig Tagen hatten sie Sizilien passiert. Und als sie anschließend Kurs gen Norden genommen hatten, hatte die Gefährten jene Unruhe befallen, die sich immer einstellt, wenn man sich nach Wochen auf See einem vertrauten Hafen nähert.

Henri de Roslin war besonders ungeduldig, die Zeit wurde knapp, aber ihr Schicksal lag in Gottes Hand. Joshua ben Shimon kam oft zu ihm, um mit ihm über seinen Knappen Sean zu sprechen – würde er in Marseille auf sie warten? Sean war leicht zu beeinflussen und vielleicht in schlechte Gesellschaft geraten. Uthman ibn Umar legte in der Zwischenzeit unter Deck seinen Gebetsteppich aus und sprach zu Allah. Anschließend schärfte und polierte er immer wieder sein Schwert aus Damaszenerstahl.

Dann endlich traten die Umrisse Marseilles aus dem Dunst hervor, und sie kamen der Stadt allmählich näher. Alle stürzten zur Reling. Sie passierten das vorgelagerte Felseneiland mit der schwer bewachten Kerkerfestung des Königs. Der Segler lief ruhig in den Hafen ein, und der Anker wurde an einem der Landeplätze in den Schlick hinunter geworfen. Henri blieb an der Reling stehen und suchte die Mole ab. Dort sammelten sich immer mehr Menschen.

Von Sean war nichts zu sehen. Sollten sich seine Befürchtungen bewahrheiten und Sean ein weiteres Mal seine Pflichten vergessen haben? Aber Henri musste zugeben, dass er selbst es war, der nicht pünktlich kam. Die Stürme auf See hatten seinen Zeitplan gehörig durcheinander gebracht.

Das Gepäck der Freunde stand schon bereit. Während andere Reisende ihre Reitpferde und Packesel mit Holzkränen aus dem Unterdeck hieven ließen, gingen Henri und seine beiden Gefährten mit ihren Taschen von Bord. Ihre Sorge um Henris Knappen wuchs zusehends.

»Ich spüre, dass es schon seit einiger Zeit in dem Jungen brodelt«, sagte Henri. »Einerseits möchte er aus seinem Knappendasein ausbrechen, andererseits liebt er unsere Gemeinschaft und will mit uns zusammen sein. Vielleicht hätte ich ihn nicht in Quimper zurücklassen dürfen.«

»Du wolltest nur sein Bestes«, erwiderte Joshua. »Er begreift es, wenn du milde mit ihm bist und ihm gestattest, mit seiner Angebeteten zusammen zu sein.«

»Du weißt, dass das auf Dauer nicht möglich ist, Joshua. Sean muss sich entscheiden.«

»Wir sollten ihn in Zukunft stärker an uns binden«, meinte Uthman. »Er ist alt genug. Er soll das Gefühl haben, ein vollwertiges Mitglied unserer Gemeinschaft zu sein. Und du musst offen mit ihm sprechen, Henri. Was erwartet ihn an deiner Seite, wenn wir uns immer nur getarnt bewegen können und meistens auf der Flucht vor den Schergen des Königs sind?«

»Er lernt, sich zu verteidigen«, meinte Henri nüchtern.

»Ist das genug?« Uthman schüttelte zweifelnd den Kopf. »Es wäre ausreichend, wenn er sich im ständigen Kampf behaupten müsste, aber die Zeit der Kreuzzüge ist vorbei. Ich denke, Sean lernt insgesamt zu wenig von uns.«

»Du musst ihm zeigen, was du von ihm erwartest«, sagte Joshua. »Aber nicht durch Strenge, sondern durch klare Vorgaben.«

»Das habe ich immer versucht«, entgegnete Henri. »Aber es ist wahr, ich muss ihm noch deutlichere Ziele setzen.«

»Vielleicht sollten wir einmal längere Zeit an einem Ort bleiben«, sagte Joshua. »Sean wird auf diese Weise weitaus mehr lernen können, als nur Waffen zu gebrauchen. Er kann die Bücher studieren und seine Sprachkenntnisse vertiefen. Das ist wichtig für ihn.«

»Das haben wir uns doch schon oft vorgenommen«, erwiderte Henri. »Aber es kam immer anders, irgendetwas vertrieb uns immer von dem Ort, an dem wir uns niederlassen wollten. Das weißt du genauso gut wie ich.«

»Wie dem auch sei, du solltest Sean die Gewissensfrage stellen«, sagte Uthman. »Wenn er bei uns bleibt, kann es sein, dass er niemals Ritter wird. Dafür lernt er andere Dinge. Er muss allerdings selbst entscheiden, ob er dazu bereit ist oder nicht.«

Henri wollte über die Vorschläge seiner Freunde nachdenken. Doch hier am Hafen, unter Hunderten von Menschen, war das kaum möglich. »Suchen wir uns eine Herberge«, schlug er daher vor.

*

Noch vor Anbruch der Dunkelheit hatten die Gefährten ihre Absichten und Pläne besprochen. Die Gefährten wollten Marseille verlassen und in die ehemalige provenzalische Kreuzfahrerstadt Aigues-Mortes reisen. Henri sollte jedoch vorerst in Marseille bleiben, bis er seinen Knappen wieder gefunden hatte. Inzwischen wollten Joshua und Uthman auf dem Schiff, mit dem sie gekommen waren und das am nächsten Morgen weitersegelte, nach Aigues-Mortes vorausfahren, um die dortigen Verhältnisse zu erkunden. Denn wer wusste schon, wem sie an diesem Sammelplatz christlicher Visionäre, Eroberer und Eiferer begegnen würden? Wenn Henri und Sean ankamen, mussten sie über alle Gefahren genauestens Bescheid wissen.

Henri wollte sich nach Tagesanbruch von den Freunden verabschieden. In Aigues-Mortes würde man sich in ein paar Wochen wieder sehen. Dort oder in der näheren Umgebung würde ihr nächster, hoffentlich friedlicher Aufenthaltsort sein.

Im Hafen des winterlich kalten Marseille hatten Kaiarbeiter die ganze Nacht hindurch Waren, Tiere und Menschen entladen. Die meisten Pilger waren ebenfalls von Bord gegangen. Neue Kaufleute stiegen zu, neue Waren wurden aufgenommen und ausgeruhte Pferde und Esel in Gurten mit hölzernen Kränen an Bord gehievt. Uthman und Joshua freuten sich schon wieder auf die See.

Doch von einer Stunde auf die nächste sollte sich ihre Lage ändern.

Am Morgen wurde es am Hafen unruhig. Soldaten in der rotblauen Uniform des französischen Königs zogen auf. Die Front der Bewaffneten bildete rasch eine dichte Reihe vor dem Schiff, mit dem die Freunde ablegen wollten. Jeder, der an Bord gehen wollte, wurde peinlich genau kontrolliert, und wer kein Sendschreiben oder einen schriftlichen Handelsauftrag vorweisen konnte, musste zurückbleiben.

Uthman fluchte leise vor sich hin. »Die Abreise nach Aigues-Mortes können wir vergessen! Sie würden uns sofort greifen.«

»Wen suchen sie?«, überlegte Henri. »Könnten sie uns meinen?«

»Wenig wahrscheinlich«, meinte Joshua. »Woher sollen sie wissen, dass wir an Bord dieses Seglers waren?«

»Haben diese Soldaten überhaupt das Recht, hier in Marseille Waffengewalt auszuüben? Die Provence befindet sich doch außerhalb der Gerichtsbarkeit des Königs.«

»Bisher war es so«, korrigierte Joshua. »Während unserer Abwesenheit könnte sich das geändert haben. Zumindest Marseille als selbständige Republik könnte einen Sonderstatus besitzen.«

»Jedenfalls bleiben wir in Deckung«, erklärte Henri. »Wir gehen kein Risiko ein. Einen erneuten Konflikt können wir uns nicht leisten. Wir bleiben vorerst besser alle zusammen in Marseille.«

»Was für ein Leben!«, fluchte Uthman. »Überall herrscht Unfreiheit. Könnte ich doch alle Soldaten des Königs mit meinem Krummschwert vertreiben!«

Sie gingen in die Herberge zurück und bezogen erneut ihre Zimmer. Der Wirt erhöhte den Preis auf das Doppelte. Joshua und Uthman wollten sich den Tag über in der Stadt nach der aktuellen politischen Lage erkundigen, und Henri machte sich inzwischen auf die Suche nach seinem Knappen Sean.

*

Der Bote des Königs war wegen einer Denunziation des Edlen von Charney aus Lirey auf Henri angesetzt worden. In Paris hatte Geoffroy de Charney erwirkt, dass man den letzten Templer verfolgte. Henri de Roslin hatte ihn beleidigt. Er hatte sich geweigert, sein Grabtuch mit dem Abdruck des toten Jesus Christus als echt anzuerkennen. Das verzieh ihm Geoffroy nicht. Und da der Neffe des letzten Tempelpräzeptors der Normandie wusste, wer Henri de Roslin wirklich war, zeigte er ihn an. Es folgten zähe Verhandlungen mit den immer wieder wechselnden Beamten des Königs. Der Königshof wollte Geoffroy keine Männer abstellen, man brauchte jeden Soldaten wegen der Hungeraufstände in der Île-de-France.

Erst als der Edelmann versprach, das echte Grabtuch Christi in Notre-Dame auszustellen, wo Ströme von Pilgern es anbeten und Geld in Hülle und Fülle nach Paris bringen würden, willigte man gnädig ein. Noch vor Anbruch des Winters machte sich ein Trupp Soldaten auf den Weg von Paris nach Marseille.

Als der Bote des Königs, Gardehauptmann Luis Gawaan, in der Hafenstadt ankam, begleiteten ihn vier Reisige. Drei weitere waren unterwegs bei Scharmützeln mit fanatischen Aufständischen zu Tode gekommen. Gawaan selbst war mit einer Schulterwunde davongekommen, die ihm ein fanatischer Bauer mit seiner Pieke zugefügt hatte. Dafür sollte Henri de Roslin büßen.

Vom Stadtkommandanten in Marseille ließ Gawaan zwölf weitere Leute für sich abstellen. Zuerst weigerte sich der Provenzale, denn Marseille hatte seit dem Jahr des Herrn 1204 eigene Privilegien. Damals war von hier aus der Kreuzzug unter Führung der Venezianer gegen das christliche Byzanz aufgebrochen. Unter falschen Versprechungen war Marseille zur Beteiligung daran verlockt worden. Die Stadt war getäuscht worden, sie hatte Schiffe zur Befreiung des Heiligen Landes bereitgestellt und war schuldlos zum Büttel des kriegführenden Venedig gegen die eigenen Brüder geworden. Die Kreuzfahrer hatten Konstantinopel verwüstet und gebrandschatzt. Diese Schandtat lastete schwer auf der Stadt, und einen solchen Fehler wollte man nicht noch einmal wiederholen. Marseille unterstand seit dieser Zeit nicht mehr dem französischen König.

Aber Gawaan versprach dem Stadtkommandanten reichen Lohn, und so rang der Beamte seine Bedenken nieder. Am nächsten Tag standen die Soldaten im Morgengrauen bis an die Zähne bewaffnet im Hof der Kommandantur, Gawaan, obwohl dazu nicht ermächtigt, schritt die Reihe ab und instruierte die Männer. Anschließend zogen sie zum Hafen und riegelten den Bereich der ankommenden und abfahrenden Schiffe ab.

Ein bereits abgetakeltes Segelschiff lag am Kai. Ein Teil der angekommenen Kaufleute hatte sich schon zerstreut, der Rest wartete auf die Weiterfahrt nach Westen. Man durchsuchte das Schiff. Verdächtige, auf die die Beschreibung Roslins und seiner Kumpane passte, waren von Bord gegangen. Aber ob es tatsächlich die Gesuchten gewesen waren, blieb unklar. Der Hafen war unübersichtlich, täglich liefen Schiffe von überall her ein und in alle Richtungen aus. Zumindest jene, die jetzt noch anlegten, würden genauestens kontrolliert werden.

Die Soldaten bauten sich vor dem Segler auf und blieben wie fest verwurzelt in einem Halbkreis stehen. Gawaan sprach noch einmal mit der Besatzung. Viel war nicht von den Matrosen zu erfahren. Das Schiff war aus Konstantinopel gekommen, und von den vielen Kaufleuten an Bord hatte sich niemand verdächtig verhalten. Gawaan argwöhnte, dass die Matrosen ihm nicht alles erzählten, aber er konnte es nicht beweisen.

Er spürte die Reserviertheit der Männer einem Beauftragten des Königs gegenüber, einen feinen, zähen Widerstand. Das machte ihn wütend. Aber er konnte die Seeleute nicht zwingen, ihm die Wahrheit zu sagen. Dennoch fragte er sich, warum hier keine patriotische Stimmung zu spüren war, wenn es darum ging, die Feinde des Königs festzusetzen. Was hatte das eigene Volk gegen edle Hauptleute des Pariser Königshofs einzuwenden?

Der Hauptmann der königlichen Garde war kein Mann, der Beleidigungen schluckte. Er besann sich seiner geheimen Vollmachten. Kurzerhand ließ er den Steuermann des Seglers verhaften und ins Stadthaus schleppen. Dort verhörte er ihn im Beisein des Stadtkommandanten.

»Wir werden schon noch herausfinden, ob du diesen Henri de Roslin kennst, dieses gefährliche Subjekt, und ob er an Bord deines Schiffes war«, drohte Gawaan. »Solange wir keine befriedigende Antwort von dir haben, wirst du hier schmoren.«

Der Stadtkommandant war keineswegs glücklich über dieses Vorgehen. In Marseille konnte es üble Folgen haben, wenn man einen Bürger – oder einen Fremden – ohne Anklage einsperrte. Die Bewohner der Stadt waren hartgesotten und rebellisch. Die Verhaftung musste also geheim gehalten werden. Deshalb hatte der Stadtkommandant der übrigen Besatzung des Seglers verboten, an Land zu gehen.

»Ich weiß nichts«, sagte der Steuermann, ein schlauer Katalane aus Figueras. »Es waren weiß Gott jede Menge Kaufleute an Bord, und auf drei von ihnen, die zusammensaßen, passt auch die Beschreibung. Aber ich kenne keinen Mann namens Henri de Roslin.«

»Wie sahen die Männer aus, von denen du sprichst?«, bohrte Gawaan nach.

»Der eine war groß und dunkelhaarig mit gestutztem Bart und kräftigen Schultern, sehr tatkräftig, wenn es darum ging, uns zu helfen. Aber er war eindeutig Tuchhändler aus Konstantinopel, der in Marseille Geschäfte machen wollte.«

Gawaan und der Stadtkommandant wechselten Blicke. Sie waren überzeugt, dass der Katalane von ihrem Mann sprach. Der Stadtkommandant fragte: »Wie sahen die Begleiter dieses Mannes aus?«

»Der eine war ein wilder Geselle, ein Orientale, er trug ein Schwert. Der andere war klein, scheu, bebrillt – aber mutig, wenn er anpackte.«

»Sie müssen es sein«, meinte Gawaan. »Henri, Uthman und Joshua ben Shimon, das ganze unselige Trio. Wir sind schon seit Jahren hinter ihnen her.«

»Erinnere dich genauer«, sagte der Stadtkommandant. »Worüber sprachen die Verdächtigen, was hatten sie vor?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete der Steuermann. »Die Überfahrt war stürmisch, wir hatten alle Hände voll zu tun, und die drei halfen uns nach Kräften.«

»Das heißt wohl, du bist auf ihrer Seite«, meinte Gawaan listig, »auf der Seite von Staatsfeinden.«

»Ich bin immer auf meiner eigenen Seite«, brummte der Steuermann, »aber ich schätze hilfsbereite Reisende, die keinen Dünkel vor sich hertragen wie eine weit sichtbare Standarte. Als die Stürme den Segler bedrohten, galt es, mit anzupacken, und das haben die Männer getan.«

»Werde deutlicher«, befahl Gawaan. »Ich bin sicher, du weißt mehr, als du uns sagst. Auch wenn es dir unwichtig erscheint, uns kann alles nützen.«.

Der Steuermann zögerte. »Einmal hörte ich, dass die Männer in Marseille Geschäfte machen und dann weiter westwärts ziehen wollten. Ja, jetzt fällt es mir ein – sie wollten nach Aigues-Mortes. Sie wollten dort Kreuzfahrer treffen, wenn ich mich recht erinnere.«

»Sie sind also tatsächlich mit diesem Schiff gekommen«, resümierte Gawaan. »Es kann gar nicht anders sein. Vermutlich befinden sie sich sogar jetzt noch in Marseille.«

»Erzähle weiter«, forderte der Stadtkommandant den Katalanen auf.

»Ich weiß nichts mehr.«

»Wir lassen dich im Kerker schmoren, bis dir Hören und Sehen vergeht!«, brüllte Gawaan. Der Stadtkommandant hob beschwichtigend die Hand. Der Steuermann blickte verängstigt. Er sagte: »Lasst mich wieder auf mein Schiff! Ich bitte euch! Wir müssen ablegen, alle warten schon!«

»Verrate uns, wo wir Henri de Roslin finden! Du weißt es doch genau, du Halunke!«

Wieder sah der Steuermann Gawaan flehend an. »Ihr hohen Herren, lasst Milde walten! Ich weiß nicht mehr, als ich euch sagte.«

Gawaan stand wortlos auf und schlug dem Katalanen die Faust gegen die rechte Schläfe. Der Mann fiel ohne einen Laut vom Hocker. Als er sich wieder aufrappelte, stand helle Panik in seinem Blick.

»Nun, ist dir etwas eingefallen?«

»Nein.«

Gawaan wandte sich an den Stadtkommandanten. »Ab mit ihm in den Keller, bis er verfault.«

»Ihr hohen Herren! Wartet doch, um Himmels willen! Ich bin unschuldig! Ich decke niemanden! Aber ich muss auf mein Schiff, denn zu Hause wartet meine Familie auf meinen Lohn! Wir leben davon! Ich habe sieben Kinder!«

»Geiler Bock!«, sagte Gawaan ungerührt. »Deine Frau wird sie ohne dich durchbringen müssen.«

Jetzt heulte der Katalane auf. »Ihr wisst nicht, was es heißt, in dieser Zeit mit einer großen Familie zu überleben! Im letzten Jahr hatten wir im Süden eine große Hungersnot, wir mussten unsere Felder aufgeben, und ich ging zur See! Nehmt mir nicht meinen Verdienst, sonst sterben meine Kinder!«

»Die Hungersnot traf alle«, sagte der Stadtkommandant. »Und so groß war sie nicht, es starben nur wenige.«

»Das stimmt«, sagte der Katalane, jetzt wieder gefasst. »Es starben nur wenige, aber diejenigen, die starben, waren arm. Erst war der Sommer vor zwei Jahren verregnet, die Ernte wurde vernichtet, dann folgte ein harter Winter, und schon am Anfang des letzten Jahres waren die Vorräte aufgezehrt. In meiner Heimatstadt Figueras breiteten sich Seuchen aus, weil Heuschreckenschwärme in den Flüssen verendeten und das Wasser vergifteten. Die nächste Ernte verlief auch schlecht, es wurde kaum mehr als die doppelte Menge des Saatgutes geerntet, der Regen machte alles zunichte. Wie soll man so überleben?«

»Dein Gejammer interessiert mich nicht«, sagte Gawaan und rieb sich die Faust. »Ich will Antworten auf meine Fragen.«

Daraufhin verschloss sich der Blick des Katalanen. »Ich weiß überhaupt nichts«, sagte er.

»Führt ihn ab!«, wies der Hauptmann den Stadtkommandanten an. Zwei Büttel packten den Steuermann und zerrten ihn hinaus. Doch noch im Hinausgehen rief er den Beamten über die Schulter zu: »Verflucht soll der Staat sein, der sich gegen seine eigenen Bürger richtet!«

»Der Man hat Recht«, meinte der Stadtkommandant verzweifelt, als die Tür hinter dem Katalanen ins Schloss gefallen war.

Doch Gawaan ging nicht auf diese Gewissensbisse ein. »Wo ist das Viertel der Tuchhändler?«, fragte er unwirsch.

Der Stadtkommandant beschrieb ihm den Weg. »Ihr solltet aber besser nicht mit den Soldaten dorthin gehen«, meinte er. »Die Handwerker und Kaufleute sind allesamt Aufrührer. Sie behaupten, eine Stadt wie Marseille müsse von den Bürgern regiert werden, sie meinen, sie bräuchten keine Ordnungsmacht. Dabei sind unter diesen Leuten etliche, die keinem Händel aus dem Weg gehen und sich von bezahlten Schlägern schützen lassen, die sie überallhin begleiten. Wenn wir diesen Leuten die Straßen überlassen, dann gute Nacht!«

»Ich habe vor dem Pöbel keine Angst«, sagte Gawaan. »Das wäre ja noch schöner.«

»Seid vorsichtig!«, riet der Stadtkommandant noch einmal.

»Ach was! Auch in Paris gibt es jede Menge Pack, das der Staatsgewalt hasserfüllt gegenübersteht. Jämmerliche Existenzen, die ewig unzufrieden sind. Aber wir zähmen sie.«

»Dennoch – haben die einfachen Leute nicht manchmal Recht?«, wiederholte der Stadtkommandant seinen Gedanken. »Magere Ernten, Hunger, Viehseuchen – und wir bieten ihnen keine Hilfe, wir können ihnen nicht mal Erklärungen liefern. Müssen sie dann nicht den Glauben an einen gerechten Staat verlieren, der ihnen Ordnung und Schutz gewährt?«

»Unsinn!«, schimpfte Gawaan. »Solche Katastrophen gab es immer, denkt an die sieben Jahre der Heuschreckenplage, von denen schon die Evangelisten berichten. Es sind Naturereignisse. Kein Staat der Welt ist daran schuld.«

»Das Volk erlebt diese Naturereignisse als Strafgericht Gottes. Gott zieht sein Schwert und bestraft uns, geißelt uns, schickt Stürme, die über Nacht die Körner aus den Ähren schütteln. Und wenn nach solcher Strafe der Staat kommt und seine Willkür walten lässt, seine Bürger in den Würgegriff nimmt und sie einsperrt, dann wächst der Zorn. Das ist sehr gefährlich, davor sollten wir uns hüten.«

»Vielleicht habt Ihr Recht«, entgegnete Gawaan, der sich jetzt wieder etwas beruhigt hatte, dafür aber ein diabolisches Lächeln aufsetzte und dem Stadtkommandanten tief in die Augen blickte. »Aber vergesst nicht, Ihr habt den Steuermann eingesperrt – nicht ich!«

»Was sagt Ihr? Ich ... aber ... ich tat es doch auf Euer Geheiß!«

»Nun, wie auch immer! Regt Euch nicht auf! Es wird deshalb keinen Aufruhr geben. Im Ernstfall werden wir sagen, der Katalane sei schuld an dem Kometen, den ich am Himmel sah, als ich durch Aquitanien ritt, und den das gemeine Volk für so unheilverkündend hält. Dieser Komet zieht über uns hinweg, weil es Sünder wie diesen Steuermann gibt. Das werden wir dem Pöbel sagen. Wir werden ihm die Feinde nennen, und der Pöbel wird uns folgen – so ist es immer gewesen, und so wird es auch bleiben.«

»Täuscht euch nicht!«, warnte der Stadtkommandant mit schwacher Stimme. »Ich habe im letzten Jahr erlebt, wie aus Lämmern Wölfe wurden. Ein langer, harter Winter, die Aussaat verspätet, ein kalter Sommer, in dem das Korn nicht trocknete und reifte – die Menschen aßen das Saatgetreide auf, weil nichts anderes da war. Anfang des Jahres gab es dann gar nichts mehr, und sie plünderten die Kornspeicher der Fürsten. Ich habe persönlich darunter leiden müssen, denn ich besitze ein ausgedehntes Lehen im Norden.«

»Dazu beglückwünsche ich Euch!«

»Die Bauern zogen zuerst bettelnd durchs Land, sie bekamen von Klosterbrüdern gelegentlich eine Suppe, aber die reichte nicht lange. In ihrer Not fraßen sie alles, was ihnen unterkam – Katzen, Hunde, Frösche, Schlangen, Wölfe und Gras, sogar Baumrinde. Bald starben sie wie die Fliegen und verschwanden namenlos in Massengräbern. Und als der Adel im gleichen Augenblick damit begann, in verschwenderischen Festen seine eigene Furcht vor dem Strafgericht Gottes zu betäuben, als überall an den Höfen das Prassen, Huren, Schlemmen und die Völlerei begannen, da schlugen die Bauern los.«

»Ja, ja. Das weiß ich alles.« Gawaan schüttelte die Worte des Stadtkommandanten ab wie lästige Fliegen.

»Es starben viele. Auch Spekulanten, die die Preise für die Nahrungsmittel um das Zwanzigfache in die Höhe getrieben hatten. Aber vor allem starb die Landbevölkerung.«

»Dadurch wurde Platz für die Botmäßigen«, warf Gawaan ungerührt ein. »Die Ernte reichte wieder aus – für die wenigen Überlebenden.«

»Ja, aber versteht, dass der Groll bleibt und wächst. Irgendwann werden wir ihn nicht mehr unter Kontrolle haben. Davor muss ein verantwortungsbewusster Staatsdiener seine Augen nicht verschließen.«

»Ich bekämpfe die Feinde des Staates. Darin besteht meine Verantwortung. Alles andere interessiert mich nicht!«

»Das Volk blutet«, konterte der Stadtkommandant. »Wer etwas gespart hatte, musste es für den Kreuzzug spenden, zu dem jetzt erneut aufgerufen wurde, oder er gab es für Ablässe aus. Denn in Notzeiten sind auch die Schuldgefühle und das Bedürfnis nach Vergebung ungeheuer groß.«

»Zum Glück!«, rief Gawaan. »Und wir müssen dafür sorgen, dass das auch so bleibt, dann richtet sich die Unzufriedenheit der Masse gegen sich selbst – nicht gegen uns!«

»Da habt ihr gewiss Recht«, sagte der Stadtkommandant zögernd. »Aber mir wird ganz mulmig, wenn ich daran denke, wie groß die Wut der Bevölkerung eines Tages sein könnte.«

»Reden wir nicht mehr davon«, schlug Gawaan vor. »Behaltet den Katalanen noch zwei Tage ohne Wasser und Brot in Haft. Dann verhört ihn noch einmal. Droht mit einer weiteren Dunkelhaft. Er wird reden. Was er dann nicht preisgibt, weiß er wirklich nicht.«

»Und was tut Ihr?«

»Ich suche Henri de Roslin und sein Pack. Er muss noch in Marseille sein, ich rieche ihn förmlich. In Paris war ich ihm einige Male ganz dicht auf den Fersen. Der Hund entkam immer im letzten Moment. Aber ich werde ihn finden und ihn seiner gerechten Strafe zuführen! Es ist höchste Zeit! Kein Templer darf in dieser schweren und dunklen Zeit, die uns alle bedrückt, in Freiheit sein!«

»Gott stehe uns bei«, sagte der Stadtkommandant.

*

Auch Sean hatte mittlerweile erfahren, dass sich Soldaten des Königs am Hafen postiert hatten. Es versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Konnte ihr Erscheinen ein Zeichen für die bevorstehende Ankunft seines Herrn sein? Oder war dieser sogar schon angekommen?

Sean eilte zum Hafen und sah das Schiff, das bewacht wurde, als läge es unter Quarantäne. Alle Wimpel und Fahnen waren eingezogen, und die wenigen Matrosen an Deck verrichteten die notwendigen Arbeiten auffallend langsam.

Eine Gruppe von Einheimischen stand dicht gedrängt und schweigend landeinwärts zusammen in Erwartung dessen, was geschehen würde. Nur Schiffe, die im Verdacht standen, eine Seuche an Bord zu haben, wurden sonst so bewacht.

Einige Hunde kläfften die fluchenden Soldaten an. Sean konnte Henri und seine Gefährten nirgendwo erblicken. Niemand verließ das Schiff oder ging an Bord, und so beschloss Sean, mit den anderen zu warten.

Während er so dort stand, erfuhr er Seltsames. Ein Fischer erzählte von einem Kometen, der in diesen Tagen über den Himmel zog und direkt auf sie zuhielt. Sean erinnerte sich, auf seiner Reise von Quimper nach Süden von Bauern gehört zu haben, dass nach dem tausendjährigen Kalender die Ankunft eines solchen Kometen bevorstehe, der das Ende der Welt ankündigen sollte. Dieser Komet hatte ihn allerdings nicht weiter beschäftigt. Seine große Liebe Angelique hatte ihm wesentlich näher gestanden. Sie allein war sein leuchtender Komet, der vor seinen Augen den Himmel durchkreuzte. Für einen anderen Kometen hatte er kein Interesse aufbringen können.

Jetzt jedoch, wo er an diesem kalten Hafen stand, nach seinem Herrn Ausschau hielt und der Komet immer näher kam, war es anders. Mit einem Mal wusste Sean, dass große Augenblicke bevorstanden. Es gab keinen Zweifel. Der Komet kündigte Henri de Roslin an!

In Seans jugendlicher Vorstellungswelt konnte es nicht anders sein. So wie einst die Heiligen Drei Könige nach Bethlehem gezogen waren, weil der Komet am Himmel sie leitete, so wies der Wanderstern mit dem glühenden Schweif und dem Sonnenwind hinter sich jetzt den Weg zu Henri de Roslin und seinen beiden Freunden! Denn er war kein böses Vorzeichen. Diese blutrote Fackel kam vom Himmel!

Auch die Soldaten des Königs schienen dieses Zeichen gesehen und richtig gedeutet zu haben!

Sean überlegte, was zu tun war. Auf dem Schiff, das die Soldaten seit zwei Tagen im Hafen bewachten, waren Henri und seine Freunde sicher nicht – oder zumindest nicht mehr. Sean erzitterte innerlich. War es möglich, dass die Freunde rechtzeitig von Bord gegangen waren und sich, jetzt in der Stadt befanden? Wie konnte er dies herausfinden?

Er musste sich in den Herbergen umhören. Marseille war riesengroß, dichter besiedelt als London und fast so weitläufig wie Paris, aber irgendwo mussten sie abgestiegen sein. Die Herbergen waren Marktplätze für Gerüchte und Informationen.

Wenn er sie dort nicht fand, blieben noch die Klöster. Dort konnten Fremde für wenige Tage übernachten. Es gab zwölf, drei gehörten den Benediktinern, fünf den Zisterziensern, zwei den Dominikanern und zwei den Franziskanern.