Die Tochter des Optimisten - Eudora Welty - E-Book

Die Tochter des Optimisten E-Book

Eudora Welty

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Beschreibung

Judge McKelva ist tot, der gütigste und gerechteste Richter von ganz Mississippi. Er, der sich immer für einen Optimisten gehalten hatte, dessen Einstellung zum Leben vom Leben selbst durchaus bestätigt worden war, stirbt nach einer Augenoperation. Zu seinem Begräbnis kommen die angesehenen Familien der Kleinstadt zusammen und reden über Bridge, Rosen und Räucherschinken. Zwei Frauen nehmen die Kondolenzen entgegen: Fay, die junge Witwe, eine laute, egoistische Texanerin, die mit ihrer Sippschaft zu all der stillen Vornehmheit ringsum einen störenden, aber ungemein lebhaften Kontrast bildet. Und Laurel, die Tochter des Richters aus seiner ersten Ehe, die älter als ihre Stiefmutter ist und aus dem fernen, kalten Chicago herbeigereist ist. Laurel ist scheinbar ganz heimisch in dieser Welt, sie saugt sich noch einmal ganz voll mit Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Eltern. Und plötzlich wird ihr klar, daß sie unangenehme Vorfälle und schmerzliche Wahrheiten nicht mehr so einfach verdrängen kann.

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Seitenzahl: 215

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Eudora Welty

Die Tochter des Optimisten

Aus dem Englischen von Kai Molvig

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Judge McKelva ist tot, der gütigste und gerechteste Richter von ganz Mississippi. Er, der sich immer für einen Optimisten gehalten hatte, dessen Einstellung zum Leben vom Leben selbst durchaus bestätigt worden war, stirbt nach einer Augenoperation. Zu seinem Begräbnis kommen die angesehenen Familien der Kleinstadt zusammen und reden über Bridge, Rosen und Räucherschinken. Zwei Frauen nehmen die Kondolenzen entgegen: Fay, die junge Witwe, eine laute, egoistische Texanerin, die mit ihrer Sippschaft zu all der stillen Vornehmheit ringsum einen störenden, aber ungemein lebhaften Kontrast bildet. Und Laurel, die Tochter des Richters aus seiner ersten Ehe, die älter als ihre Stiefmutter ist und aus dem fernen, kalten Chicago herbeigereist ist. Laurel ist scheinbar ganz heimisch in dieser Welt, sie saugt sich noch einmal ganz voll mit Erinnerungen an ihre Kindheit und ihre Eltern. Und plötzlich wird ihr klar, daß sie unangenehme Vorfälle und schmerzliche Wahrheiten nicht mehr so einfach verdrängen kann.

Über Eudora Welty

Eudora Welty wurde 1909 in Jackson, Mississippi, geboren. Dort, im amerikanischem Süden, sind auch ihre zahlreichen Kurzgeschichten und Romane zu Hause. Eudora Welty gilt als weibliches Pendant zu William Faulkner und als bedeutende Stimme des amerikanischen Südens. Für »Die Tochter des Optimisten« erhielt sie 1973 den Pulitzer-Preis.

Inhaltsübersicht

Eins1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelZwei1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelDrei1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelVier

Eins

1

Eine Krankenschwester hielt ihnen die Tür auf. Judge McKelva betrat als erster den fensterlosen Raum, in dem der Arzt die Untersuchung vornehmen wollte, dann seine Tochter Laurel, dann seine Frau Fay. Judge McKelva war ein großer schwerer Mann von einundsiebzig Jahren. Seine Brille, die er gewöhnlich an einem Band um den Hals trug, hielt er jetzt in der Hand, als er sich, flankiert von Laurel und Fay, auf dem thronartigen Stuhl vor dem Arztschemel niederließ.

Laurel McKelva-Hand, schlank und mit einem ruhigen, stillen Gesicht, war Mitte Vierzig. Ihr Haar war noch dunkel. Sie trug ein Kostüm, das durch seinen aparten Schnitt und Stoff auffiel. Für New Orleans allerdings war es zu winterlich, und der Rock war zerknittert. Ihre dunkelblauen Augen sahen müde aus.

Fay, klein und blaß in ihrem Kleid mit den Goldknöpfen, klopfte mit der einen Fußspitze auf den Boden. Sie trug Sandaletten.

Es war ein Montagmorgen Anfang März. Sie alle waren fremd in New Orleans.

Dr. Courtland, auf die Minute pünktlich, kam mit großen Schritten durch den Raum und schüttelte Judge McKelva und Laurel die Hand. Er mußte Fay, die erst seit anderthalb Jahren mit Judge McKelva verheiratet war, vorgestellt werden. Dann saß der Doktor auf dem Schemel, die Absätze auf den Quersteg gestützt. Achtungsvollaufmerksam hob er den Kopf, so als habe er hier in New Orleans auf Judge McKelva gewartet – um dem Richter ein Geschenk zu überreichen oder eines von ihm in Empfang zu nehmen.

»Nate«, sagte Laurels Vater, »vielleicht liegt es ja daran, daß ich nicht mehr so jung bin wie früher. Aber ich glaube fast, mit meinen Augen ist etwas nicht in Ordnung.«

Als stünde ihm unbeschränkt Zeit zur Verfügung, faltete der bekannte Ophthalmologe Dr. Courtland seine großen bäuerlichen Hände, deren Finger auf Laurel immer den Eindruck gemacht hatten, als genüge die leise Berührung mit dem Glas einer Uhr, um ihnen die Uhrzeit zu übermitteln.

»Ich habe diese kleine Störung genau seit George Washingtons Geburtstag«, sagte Judge McKelva.

Dr. Courtland nickte, als sei das ein angemessener Tag dafür. »Erzählen Sie mir etwas über die kleine Störung«, sagte er.

»Ich war wieder ins Haus gegangen. Ich hatte ein wenig die Rosen beschnitten – ich habe mich zur Ruhe gesetzt, wie du weißt. Und ich stand hinten in meiner vorderen Veranda und hatte ein wachsames Auge auf die Straße – Fay war nämlich irgendwohin entschwunden«, sagte Judge McKelva und neigte ihr sein mildes Lächeln zu, das einer mißbilligenden Miene so ähnlich sah.

»Ich war nur eben in der Stadt im Schönheitssalon und ließ mir von Myrtis das Haar legen«, sagte Fay.

»Und da sah ich den Feigenbaum«, sagte Judge McKelva. »Den Feigenbaum! Und die alten Blechdinger, mit denen Becky ihn vor Jahren behängt hat, weil sie meinte, das werde die Vögel abschrecken, schossen Blitze!«

Beide Männer lächelten. Sie gehörten verschiedenen Generationen an, waren aber in demselben Ort aufgewachsen. Becky war Laurels Mutter. Jene kleinen selbstgemachten Reflektoren, runde Scheiben aus Blech, hielten keineswegs die Vögel im Juli von den Feigen fern.

»Nate, du weißt so gut wie ich, daß dieser Feigenbaum hinter meinem Haus im Garten steht, nicht weit von der Stelle, wo deine Mutter ihren Kuhstall hatte. Aber er schoß Blitze nach mir, während ich in die entgegengesetzte Richtung sah, zum Rathaus hinüber«, fuhr Judge McKelva fort. »Also war ich gezwungen, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß ich plötzlich rückwärts sah.«

Fay lachte – ein einzelner, hoher Ton, spöttisch wie der Ruf eines Eichelhähers.

»Ja, das ist beunruhigend.« Dr. Courtland rollte auf seinem Schemel ein Stück vor. »Jetzt wollen wir uns das mal genau ansehen.«

»Ich hab schon nachgesehen. Aber ich hab nichts darin entdeckt«, sagte Fay. »Vielleicht hast du eine von diesen Rosenranken ins Auge gekriegt, Schatz, aber ein Dorn ist jedenfalls nicht dringeblieben.«

»Allerdings hatte mein Gedächtnis mich im Stich gelassen. Becky hätte gesagt, es geschehe mir recht. Man soll Kletterrosen nicht beschneiden, bevor sie geblüht haben«, fuhr Judge McKelva im gleichen vertraulichen Ton fort; das Gesicht des Arztes befand sich dicht vor dem seinen. »Aber ich habe festgestellt, daß es Beckys Kletterrose nichts schadet.«

»Kaum«, murmelte der Arzt. »Ich glaube, meine Schwester hat immer noch einen Busch von einem Ableger von Miss Beckys Kletterrose.« Doch sein Gesicht wurde sehr still, als er sich vorbeugte, um das Licht zu löschen.

»Es ist dunkel!« Fay stieß einen kleinen Schrei aus. »Warum mußte er auch in den Garten gehen und sich mit diesem Dornengestrüpp einlassen? Weil ich für eine Minute das Haus verlassen hatte?«

»Weil Washingtons Geburtstag der altehrwürdige Tag ist, an dem bei uns zu Hause die Rosen zurückgeschnitten werden«, sagte die begütigende Stimme des Arztes. »Sie hätten Adele bitten sollen, herüberzukommen und es für Sie zu tun.«

»Oh, sie hat es mir angeboten«, sagte Judge McKelva und tat den Fall Adele mit einer leichten Handbewegung ab. »Ich glaube, mittlerweile dürfte ich den Bogen raushaben.«

Laurel hatte ihm einmal beim Beschneiden der Rosen zugesehen. Die Gartenschere mit beiden Händen haltend, vollführte er gleichsam eine ernste Sarabande: ein Ausfall nach rechts, dann ein Ausfall nach links, als verbeuge er sich vor seiner Partnerin, und der Rosenbusch sah anschließend aus wie ein Fragezeichen.

»Haben Sie seither noch weitere Sehstörungen gehabt, Judge Mac?«

»Oh, eine gewisse Trübung. Nichts, was mich so beunruhigt hätte wie diese erste Sache.«

»Also, warum es nicht der Natur überlassen?« sagte Fay. »Das sag ich ihm ja dauernd.«

Laurel war mit einem Nachtflugzeug aus Chicago gekommen und gleich vom Flughafen hierhergefahren. Das unerwartete Wiedersehen war gestern abend in einem Ferngespräch vereinbart worden. Ihr Vater, in ihrem alten Zuhause in Mount Salus, Mississippi, telefonierte lieber, als daß er schrieb, doch diesmal war das Gespräch, was ihn anging, sonderbar zurückhaltend gewesen. Ganz zum Schluß hatte er gesagt: »Übrigens, Laurel, ich spüre da seit kurzer Zeit eine kleine Beeinträchtigung meiner Sehkraft. Vielleicht sollte ich Nate Courtland einmal nachsehen lassen, ob er was finden kann.« Er hatte hinzugefügt: »Fay sagt, sie will mitkommen und bei der Gelegenheit ein paar Besorgungen machen.«

Das Eingeständnis, daß er sich seiner selbst wegen Sorgen machte, war für Laurel ebenso etwas Neues wie die Tatsache, daß mit seiner Gesundheit etwas nicht stimmte, und so war sie mit dem Flugzeug gekommen.

Das peinigend grelle kleine Auge des Instruments hing noch immer zwischen Judge McKelvas unbewegtem Gesicht und dem in der Dunkelheit verborgenen Gesicht des Arztes.

Endlich leuchtete die Deckenlampe wieder auf, und Dr. Courtland erhob sich und sah Judge McKelva aufmerksam an. Judge McKelva erwiderte den prüfenden Blick.

»Dacht ich mir’s doch, daß ich dir da eine Kleinigkeit mitbringe, die dir zu schaffen macht«, sagte Judge McKelva in dem gleichen verständnisvollen Ton, in dem er, bevor er sein Richteramt niederlegte, gewöhnlich ein Urteil verkündete.

»An Ihrem rechten Auge hat sich die Netzhaut gelöst, Judge Mac«, sagte Dr. Courtland.

»Na schön, das kannst du ja wieder in Ordnung bringen«, sagte Laurels Vater.

»Aber es muß gleich geschehen, damit wir nicht noch mehr kostbare Zeit verlieren.«

»Also gut, wann kannst du die Operation vornehmen?«

»Nur wegen eines Kratzers? Warum sind bloß diese alten Rosen nicht eingegangen!« rief Fay.

»Es handelt sich gar nicht um einen Kratzer. Was hier geschehen ist, hat nicht das Äußere seines Auges beeinträchtigt, sondern die innere Schicht. Das gilt auch für die Blitze. Den Teil, mit dem er sieht, Mrs. McKelva.« Dr. Courtland wandte sich von dem Richter und Laurel ab und bat Fay mit einer Geste an eine an der Wand hängende Schautafel. Eine Parfumwolke verbreitend, ging Fay hinüber. »Hier sehen Sie das Äußere und das Innere unseres Auges«, sagte er und erklärte ihr an Hand der schematischen Darstellung, was getan werden mußte.

Judge McKelva verlagerte sein Gewicht, um zu Laurel zu sprechen, die neben ihm auf ihrem niedrigen Stuhl saß. »Dieses Auge hat uns nicht zum Narren gehalten, wie?«

»Ich begreife nicht, warum das ausgerechnet mir passieren mußte«, sagte Fay.

 

Dr. Courtland geleitete Judge McKelva zur Tür und in den Flur hinaus. »Würden Sie es sich jetzt in meinem Sprechzimmer bequem machen, Sir, und noch einige Fragen meiner Oberschwester über sich ergehen lassen?«

Ins Untersuchungszimmer zurückgekehrt, setzte er sich auf den Patientenstuhl.

»Laurel«, sagte er, »ich möchte diese Operation nicht selbst machen.« Er fuhr schnell fort: »Die Sache mit deiner Mutter ist mir sehr nachgegangen.« Er wandte sich Fay zu und sah sie, wie es schien, zum erstenmal wirklich an. »Meine Familie kennt die seine nun schon so lange Zeit«, sagte er zu ihr – Worte, die nur ausgesprochen wurden, um warnend auf das Unaussprechbare hinzuweisen.

»An welcher Stelle befindet sich der Riß?« fragte Laurel.

»Fast in der Mitte«, sagte er zu ihr. Sie sah ihm fest in die Augen, und er fügte hinzu: »Kein Tumor.«

»Bevor ich Ihnen erlaube, das Geringste zu unternehmen, müßte ich doch wohl wissen, wie gut er danach sehen wird«, sagte Fay.

»Nun, das hängt zunächst davon ab, wie der Riß verläuft«, sagte Dr. Courtland. »Und dann davon, wie gut der Chirurg ihn zu flicken versteht, und dann davon, wieweit Judge Mac gewillt ist, unsere Anordnungen zu befolgen, und dann vom Willen Gottes. Laurel wird sich erinnern.« Er nickte in ihre Richtung.

»Eine Operation überstürzt man nicht. Das weiß sogar ich«, sagte Fay.

»Sie wollen doch sicher nicht, daß er wartet und auf dem einen Auge blind wird. Auf dem anderen bildet sich ein grauer Star«, sagte Dr. Courtland.

»Tatsächlich?« fragte Laurel.

»Ich habe es festgestellt, bevor ich von Mount Salus wegging. Er entwickelt sich schon seit Jahren, er läßt sich Zeit. Dein Vater weiß Bescheid; er glaubt, es werde nicht so weit kommen.«

»Wie bei Mutter. So fing’s auch bei ihr an.«

»Nun, Laurel, ich habe nicht allzuviel Phantasie«, protestierte Dr. Courtland. »Darum bin ich für Vorsicht. Ich stand ihnen ziemlich nahe, damals, als ich noch daheim war, beiden. Ich habe das Ende deiner Mutter aus der Nähe miterlebt.«

»Ich auch. Sie wissen, daß niemand Ihnen einen Vorwurf machen oder sich vorstellen könnte, wie Sie irgend etwas hätten verhindern können –«

»Wenn wir damals gewußt hätten, was wir heute wissen – das Auge war nur ein Teil davon«, sagte er. »Bei deiner Mutter.«

Laurel blickte eine Sekunde lang in das erfahrene, so gänzlich arglose, offene Gesicht. Das Land am Mississippi, das ihn geprägt hatte, lag darin.

Er stand auf. »Wenn du mich darum bittest, werde ich es selbstverständlich tun«, sagte er. »Aber ich wünschte, du würdest mich nicht darum bitten.«

»Vater wird darauf bestehen«, sagte Laurel ruhig.

»Zählt denn meine Stimme gar nicht?« fragte Fay, als sie hinter ihnen den Raum verließ. »Ich bin dafür, daß wir die ganze Sache einfach vergessen. Die Natur ist der beste Arzt.«

»Also gut, Nate«, sagte Judge McKelva, nachdem sie alle in Dr. Courtlands Sprechzimmer Platz genommen hatten. »Wann?«

Dr. Courtland sagte: »Judge Mac, es ist mir gerade gelungen, Dr. Kunomoto drüben in Houston am Telefon zu erwischen. Sie wissen, bei ihm hab ich gelernt. Er hat inzwischen eine radikalere Methode entwickelt, und er könnte übermorgen mit dem Flugzeug kommen –«

»Wozu?« fragte Judge McKelva. »Nate, ich habe mein Haus und meine Bequemlichkeit im Stich gelassen, bin schnurstracks hierhergeeilt und habe mich in deine Hände gegeben, aus einem einzigen simplen Grund: ich habe Vertrauen zu dir. Jetzt zeige mir, daß ich noch nicht zu alt bin, mir ein gesundes Urteil zu bilden.«

»Also gut, Sir, dann soll es so sein«, sagte Dr. Courtland und stand auf. Er fügte hinzu: »Sie wissen, Sir, daß der Erfolg dieses Eingriffs, wer ihn auch ausführt, nicht hundertprozentig vorauszusehen ist?«

»Ich bin Optimist.«

»Ich hab gar nicht gewußt, daß es solche Wesen noch gibt«, sagte Dr. Courtland.

»Man soll nie denken, man habe etwas zum letztenmal gesehen«, spottete Judge McKelva. Er erwiderte das Lächeln des Arztes mit einem Lachen, das wie das triumphierende Knurren eines alten Griesgrams klang, und Dr. Courtland griff nach der Brille, die der Richter auf den Knien hielt, und setzte sie ihm behutsam wieder auf die Nase.

In seinem üblichen Gang, dem Gang eines würdevollen Ackerknechts, führte der Doktor sie durch das überfüllte Wartezimmer. »Ich habe ein Bett für Sie in der Klinik bekommen, der Operationssaal ist für mich reserviert, und ich bin ebenfalls bereit«, sagte er.

»Er kann Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn’s darauf ankommt«, sagte seine Oberschwester bissig, als sie in der Tür an ihr vorbeigingen.

»Gehen Sie gleich rüber in die Klinik und richten Sie sich dort häuslich ein.« Als die Fahrstuhltüren sich öffneten, berührte Dr. Courtland Laurel leicht an der Schulter. Dann sagte er: »Ich habe den Krankenwagen bestellt, Sir, er wartet unten auf Sie – das ist sicherer.«

»Warum ist er so zuvorkommend?« fragte Fay, als sie hinunterfuhren. »Ich wette, daß die Rechnung weniger zuvorkommend sein wird.«

»Ich bin in guten Händen, Fay«, sagte Judge McKelva. »Ich kenne seine ganze Familie.«

Ein scharfer kalter Wind blies durch die Canal Street. Zu Hause hatte Judge McKelva immer ganz Mount Salus ein Beispiel gegeben, indem er am »Tag des Strohhuts« seinen Winterhut beiseite legte, und jetzt stand er hier mit seinem cremefarbenen Panama. Doch obwohl sein Bauch inzwischen dicker war, sah er weniger frisch und rosig aus, wirkte er schmaler im Gesicht als an seinem Hochzeitstag, dachte Laurel: damals hatte sie ihn zuletzt gesehen. Die pilzfarbenen Flecke unter seinen Augen waren ihr vertraut, eine Familieneigentümlichkeit wie die schwarzen, überhängenden McKelvaschen Brauen, die über der Nase fast zusammenstießen aber was sah er? Sie überlegte, ob er wohl mit seinem weiten, starren, wenn auch gütigen Blick Fay oder sie selbst oder überhaupt jemanden wirklich sah. Während er in dem kalkweißen, grellen Licht von New Orleans auf den Krankenwagen wartete, ohne nach dessen Notwendigkeit zu fragen, erschien er ihr zum erstenmal, solange sie denken konnte, als ein Mann, der in seinem Verhalten eine leichte Unsicherheit erkennen ließ.

»Wenn Courtland wirklich so fabelhaft ist, sollte er sich lieber etwas genauer auf den Erfolg des Unternehmens festlegen«, sagte Fay. »Und so vollkommen ist er auch wieder nicht – ich hab gesehen, wie er dieser Schwester einen Klaps hintendrauf gab.«

2

Fay saß am Fenster, Laurel stand in der Tür; sie warteten in dem Krankenzimmer darauf, daß Judge McKelva von der Operation zurückgebracht wurde.

»Auch eine Art, sein Versprechen zu halten«, sagte Fay. »Als er mir versprach, er würde einmal mit mir nach New Orleans fahren, sagte er, wir wollten uns den Karneval ansehen.« Sie starrte aus dem Fenster. »Und der Karneval ist mitten im Gange. Nur, näher als hier werden wir wohl keinem Umzug kommen.«

Laurel sah wieder auf ihre Uhr.

»Er hat es geschafft! Er hat es prächtig überstanden!« rief Dr. Courtland. Er kam mit großen Schritten ins Zimmer. Er sah Laurel an, sein schweißtriefendes Gesicht strahlte. »Und ich glaube, mit ein wenig Glück werden wir dem Auge einen Teil der Sehkraft erhalten.«

Das tischähnliche Bett, auf dem Judge McKelva angeschnallt lag, wurde ins Zimmer gerollt. Er wurde an den zwei Frauen vorbeigefahren. Beide Augen waren verbunden. Um seinen Kopf hatte man Sandsäcke placiert, und das Laken war so straff über den großen regungslosen Körper gespannt, daß er gleichsam gefesselt war.

»Sie haben mir nicht gesagt, daß er so aussehen würde«, sagte Fay.

»Es geht ihm gut, es geht ihm ganz ausgezeichnet«, sagte Dr. Courtland. »Er hat jetzt wieder ein wunderschönes Auge.« Er öffnete den Mund und lachte. Er sprach erregt, noch ganz beflügelt, als käme er gerade von einer Party.

»Man erkennt ihn ja kaum unter all dem Zeug. Er ist ja verpackt wie eine Mumie«, sagte Fay und starrte auf Judge McKelva.

»Er wird uns noch alle in Erstaunen setzen. Wenn wir’s schaffen, daß es so hält, wird er besser sehen, als er’s zu hoffen gewagt hat! Das ist ein wunderschönes Auge!«

»Aber sehen Sie ihn doch an«, sagte Fay. »Wann wird er wieder zu sich kommen?«

»Oh, er hat eine Menge Zeit«, sagte Dr. Courtland im Hinausgehen.

 

Judge McKelvas Kopf wurde von keinem Kissen gestützt, was seinen ältlichen bloßen Hals noch länger erscheinen ließ. Nicht nur die großen dunklen Augen, sondern auch die starken Brauen darüber und die tiefen Schatten darunter blieben unter dem dichten Verbandmull verborgen. So vieler dunkler und heller Töne beraubt und mit dem schlafenden Mund, der so farblos war wie die Wangen, sah sein Gesicht wie erloschen aus.

Es war ein Doppelzimmer, doch Judge McKelva hatte es, vorläufig, für sich allein. Fay hatte sich vor einer Weile auf dem zweiten Bett ausgestreckt. Die Oberschwester war gekommen und hatte ihren Dienst angetreten; sie saß da und häkelte ein Babyschuhchen – so mechanisch, als tue sie es im Schlaf. Laurel ging im Zimmer umher, wie um sich zu vergewissern, daß auch alles in Ordnung war. Doch es gab nichts zu tun, noch nicht. Sie kam sich vor wie im Nirgendwo. Selbst die Dächer, die man von dem hohen Fenster aus sah – farblos, mit Teer ausgebessert, und hier und da mit kleinen Regenwasserspiegeln – hätten Dächer jeder beliebigen Stadt sein können. Anfangs machte sie sich nicht klar, daß das, was sie dort undeutlich in der Ferne aufragen sah, die Brücke war; ihre besondere Funktion ließ sich kaum erkennen, so daß man den Eindruck hatte, sie sei lediglich ein weiteres Gebäude. Der Fluß war nicht zu sehen. Sie ließ die Jalousie herunter, um den weiten weißen Himmel auszusperren, der das Wasser reflektierte. Ihr war, als sei der jetzt grau gewordene anonyme Raum seinerseits eine Spiegelung der »Störung« Judge McKelvas, eine Spiegelung seiner Sehstörung, die ihn hierhergebracht hatte.

Judge McKelva knirschte mit den Zähnen.

»Vater?« Laurel trat an das Bett.

»Das ist bloß seine Art aufzuwachen«, sagte Fay vom anderen Bett her, ohne die Augen zu öffnen. »Das kriege ich jeden Morgen zu hören.«

Laurel stand wartend in seiner Nähe.

»Wie lautet der Urteilsspruch?« fragte ihr Vater bald darauf mit ausgedörrter Stimme. »Na, Polly?« Er nannte Laurel bei ihrem Kindernamen. »Was hat deine Mutter dir über mich gesagt?«

»Sieh mal hierher!« rief Fay. Sie sprang auf und trippelte auf Strümpfen an sein Bett. »Wer ist das?« Sie deutet auf den goldenen Knopf über ihrem Brustbein.

Ohne mit ihrer Häkelnadel innezuhalten, sagte die Schwester von ihrem Stuhl her: »Nicht in die Nähe des Auges, Kindchen! Daß ihn mir keiner berührt oder sich an seinem Auge zu schaffen macht. Und auch sein Bett darf nicht angerührt werden, bis Dr. Courtland es erlaubt, sonst hat hier jemand nichts zu lachen. Dr. Courtland würde mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen.«

»Stimmt«, sagte Dr. Courtland, der gerade ins Zimmer kam. Er beugte sich dicht über das entgeisterte Gesicht und sagte eindringlich: »Meine Arbeit ist getan, Sir! Die Ihre fängt jetzt erst an! Und Ihre wird schwerer sein als meine. Sie müssen still liegen! Keine Bewegung. Kein Umdrehen. Keine Tränen.« Er lächelte. »Nichts! Nur die Zeit verstreichen lassen. Wir müssen abwarten und uns ganz Ihrem Auge fügen.«

Als der Doktor sich wieder aufrichtete, sagte die Schwester: »Ich wünschte, er hätte abgewartet, bis ich ihm einen Schluck Wasser geben konnte, ehe er sich wieder davonmachte.«

»Nur zu. Befeuchten Sie ihm die Kehle, er ist wach«, sagte Dr. Courtland und ging auf die Tür zu. »Er tut bloß so.« Er winkte Laurel und Fay nach draußen.

»Hören Sie mir jetzt bitte gut zu. Sie müssen ihn im Auge behalten, und zwar ab sofort. Abwechselnd. Es ist nicht so einfach, wie man sich das vorstellt, still zu liegen und nichts anderes. Ich werde Mrs. Martello überreden, daß sie die Nachtwache übernimmt. Laurel, wie gut, daß du genügend Zeit hast. Wir werden uns ganz besonders sorgsam um ihn kümmern, wir wollen bei Judge Mac keinerlei Risiko eingehen.«

Nachdem er sich verabschiedet hatte, ging Laurel zu dem Münzfernsprecher im Flur. Sie rief ihr Studio in Chicago an; sie arbeitete in Chicago als Musterzeichnerin für Textilien.

»Kein Grund, daß du hier bleibst, bloß weil der Doktor es gesagt hat«, sagte Fay, als Laurel den Hörer einhängte. Sie hatte zugehört wie ein Kind.

»Wieso, ich wäre auch sonst geblieben«, sagte Laurel. Sie beschloß, die übrigen notwendigen Anrufe auf eine spätere Gelegenheit zu verschieben. »Vater wird darauf angewiesen sein, daß wir beide soviel wie möglich für ihn da sind. Er eignet sich nicht sehr gut dazu, angebunden dazuliegen.«

»Schön, aber schließlich geht es ja nicht auf Leben und Tod, nicht wahr?« sagte Fay in gereiztem Ton. Sie gingen ins Krankenzimmer zurück. Fay beugte sich über das Bett und sagte: »Ich bin froh, daß du dich selbst nicht sehen kannst, Schatz.«

Judge McKelva stieß ein erschreckendes, rauhes Geräusch aus, eine Art Schnarren, und sein Mund wurde hart. Er fragte: »Wie spät ist es, Fay?«

»Das klingt schon eher nach dir«, sagte sie, antwortete jedoch nicht auf seine Frage. »Als er vorhin zu sich kam, sprach nur dieser gräßliche Äther aus ihm«, sagte sie zu Laurel. »Er hat Becky nie auch nur erwähnt, ehe ihr, du und Courtland, ihn darauf gebracht habt.«

 

Die Fahrt zum »Hibiscus« mit der einzigen noch existierenden Straßenbahnlinie der Stadt nahm eine halbe Stunde in Anspruch. Mit Hilfe einer Stationsschwester hatten Laurel und Fay dort für die Woche Unterkunft gefunden. Es war eine heruntergekommene, ehemals herrschaftliche Villa an einer im Wandel begriffenen Straße; die einst als Zwillingshaus errichtete Nachbarvilla erteilte dem »Hibiscus« jetzt eine Lehre: sie war schon zu einem großen Teil abgerissen.

Laurel bekam kaum je einen der anderen Gäste zu Gesicht, obwohl die Haustür nie verschlossen und im Badezimmer ständig Betrieb war; zu den Stunden, da sie selbst kam und ging, schien das Haus allein in der Obhut einer angeketteten Katze zu stehen, die über die geborstenen Blumenfliesen im vorderen Eingang auf und ab schritt. Seit langem gewohnt, früh aufzustehen, sagte Laurel, sie werde um sieben bei ihrem Vater sein und bis drei Uhr bleiben – bis Fay kam, um ihrerseits bis elf am Bett des Kranken zu sitzen; Fay konnte dann ungefährdet in Begleitung der Schwester, die in der Nähe des »Hibiscus« wohnte, mit der Straßenbahn zurückfahren. Und Mrs. Martello sagte, sie werde die Nachtwache übernehmen einem einzigen Menschen, nämlich Dr. Courtland, zuliebe. Somit war die Tageseinteilung festgelegt.

Diese Regelung bedeutete, daß Laurel und Fay kaum je zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren, außer während der Stunden, in denen sie beide schliefen, jede in ihrem Zimmer. Ihre Zimmer lagen nebeneinander – eigentlich waren es nur halbe Zimmer, und zwischen ihren Betten befand sich lediglich eine dünne, vom Besitzer eingezogene Trennwand. Wo keine Vertrautheit bestand, scheute Laurel vor jedem Kontakt zurück; sie scheute sich vor der dünnen Wand und vor der vagen Vorstellung, sie könnte Fay eines Nachts wie eine Fremde über etwas weinen oder lachen hören, wovon sie selbst lieber nichts wissen wollte.

Frühmorgens knirschte Judge McKelva mit den Zähnen, Laurel sprach ihn an, er erwachte, fragte Laurel, wie es ihr gehe und welche Zeit ihre Uhr zeige. Sie gab ihm sein Frühstück; während sie ihn fütterte, las sie ihm aus dem Picayune vor. Anschließend, wenn er gewaschen und rasiert wurde, ging sie in die Cafeteria im Tiefgeschoß, um selbst zu frühstücken. Nur kam es darauf an, Dr. Courtlands Blitzvisiten nicht zu verpassen. Wenn sie Glück hatte, fuhr sie im Fahrstuhl mit ihm hinauf.

»Es klärt sich langsam«, sagte Dr. Courtland. »Aber es braucht seine Zeit.«

Inzwischen mußte nur noch das operierte Auge bedeckt sein. Ein Verband wie ein kleiner Bienenkorb ragte darüber auf. Judge McKelva schien gewillt, nach wie vor auch sein gesundes Auge geschlossen zu halten. Vielleicht konnte es, wenn er es öffnete, den Verband auf dem anderen sehen. Er lag da, wie man es von ihm verlangte – ohne sich zu rühren. Er erkundigte sich nie nach seinem Auge. Er erwähnte sein Auge nie. Laurel folgte seinem Beispiel.

Auch nach ihren Dingen fragte er sie nicht. Seine frühere Neugier hätte Antwort auf ein Dutzend präziser Fragen verlangt: wie sie es einrichtete, hier zu sein, was sich oben in Chicago tue, von wem sie ihren letzten Auftrag bekommen habe, wann sie abreisen müsse. Sie hatte ihre augenblickliche Arbeit – den Entwurf eines Vorhangs für ein Repertoiretheater – im Stich gelassen. Die Fragen ihres Vaters blieben ungestellt. Doch beide wußten sie, und aus dem gleichen Grund, daß man schlimme Tage besser überstand, wenn nichts gefragt wurde.

Er hatte es gern gemocht, wenn man ihm vorlas, früher. Zuversichtlich brachte sie einen Stapel Taschenbücher mit und begann mit dem neuesten Kriminalroman seines Lieblingsautors. Er hörte zu, ohne sich jedoch weiter darüber zu äußern. Sie griff auf einen der alten Krimis zurück, die sie beide geschätzt hatten, und er hörte mit größerer Ruhe zu. Mitleid durchbohrte sie. Muteten sie ihm jetzt alle zuviel zu?