Die Totenuhr - Kjell Eriksson - E-Book
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Die Totenuhr E-Book

Kjell Eriksson

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Beschreibung

Tod in der Förde.

Ann Lindell will ein paar unbeschwerte Tage auf Gräsö verbringen, nur eins lässt ihr keine Ruhe: Cecilia Karlsson gilt seit vier Jahren als vermisst, doch jetzt ist sie angeblich zurück auf der Insel. Kurz vor ihrem Verschwinden soll ihr Freund Casper in der Förde ertrunken sein – kein Wunder, dass es Ann nun in den Fingern juckt, dem ungelösten Fall auf den Grund zu gehen. Dabei ahnt sie nicht, dass Cecilia, versteckt in einer Hütte im Wald, einen perfiden Plan schmiedet, um endgültig mit der Vergangenheit abzuschließen … 

»Kjell Erikssons Kriminalromane gehören zu den allerbesten.« Henning Mankell.

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Seitenzahl: 393

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Über das Buch

Ein leeres Motorboot treibt auf dem Meer, kurz darauf gilt Casper Stefansson als vermisst. In der Förde ertrunken, meinen die Bewohner der Insel Gräsö zu wissen, doch auch vier Jahre später ist der Fall weiterhin ungeklärt. Seine damalige Freundin Cecilia Karlsson hingegen, die nur ein Monat nach seinem vermeintlichen Tod spurlos verschwand, soll zurück in Schweden sein. Das glaubt zumindest Ann Lindell, die eigentlich ein paar erholsame Tage auf Gräsö verbringen will, deren Neugierde aber endgültig geweckt ist, als ein alter Schulkamerad von Cecilia berichtet, die junge Frau gesehen zu haben. Während Ann Ausschau nach Cecilia hält, schlägt diese ihr Lager in einer Hütte im Wald auf. Umgeben von Erinnerungen aus ihrer Kindheit und ihrem jungen Erwachsenenleben, fasst sie einen Entschluss: Jemand muss sterben.

Über Kjell Eriksson

Kjell Eriksson, geboren 1953, lebt in der Nähe von Uppsala. Für seinen ersten Kriminalroman um die Ermittlerin Ann Lindell erhielt er 1999 den schwedischen »Krimipreis für Debütanten«. Sein Roman »Der Tote im Schnee« wurde zum »Kriminalroman des Jahres 2002« gekürt, eine Ehrung, die bereits Autoren wie Liza Marklund, Henning Mankell und Håkan Nesser zuteilwurde.

Im Aufbau Taschenbuch ist sein Roman »Die Nacht des Feuers« lieferbar.

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Kjell Eriksson

Die Totenuhr

Ein Fall für Ann Lindell

Roman

Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Mai 2015

August 2019

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Impressum

Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...

Mai 2015

Du kannst nicht entkommen! Dieser Gedanke war erregend. In ihm lagen Angst und Macht; in dem Gefühl, die absolute Macht über einen anderen Menschen zu haben, lag auch die Angst. Wie bei dem Henker, der die Hände um die zum Hieb erhobene Axt geschlossen hat.

Die Blutspur zeigte den Weg. Kleine, aber verräterische dunkle Tropfen auf Moos und Laub, noch feucht glänzend, zarte Gewächse, die in ihrer Frühlingslust zertreten, besudelt worden waren.

Wie ein ins Wasser gefallener Hund, dessen Spürsinn ausgeschaltet worden ist, war er losgetaumelt, aber die Frage war, wie lange seine Kräfte reichen würden. Zehn Minuten vielleicht, höchstens eine Viertelstunde. Das Terrain war überwuchert und unwegsam. Und wohin hätte er sich wenden sollen? Wenn er zum Strand hinunterginge, würde er von Geröll und Weißdorngestrüpp empfangen werden. Und wenn er auf die Idee käme, ins Wasser zu gehen, wäre er unwiderruflich verloren.

Hoffte er auf Gnade? Vielleicht.

Es dauerte fünfundzwanzig Minuten, ihn zu finden, eine überraschend lange Zeit, wenn man bedenkt, wie stark er verletzt war. Halbliegend an einer schief gewachsenen, windgebeutelten Föhre. Sein Kopf hing herab, die Hände lagen überkreuzt auf dem Bauch, wo der zweite Hieb ihn getroffen hatte. Es war ein schönes Bild, wie die Sonne des späten Nachmittags seine Gestalt einrahmte. Es hätte ein Gemälde von Oskar Bergman sein können, wenn man sich also den Sterbenden wegdachte. Bald würde er verschwunden sein, und damit wäre das Werk vollendet.

Er hob den Kopf. Alle Menschlichkeit schien aus seinem ausdruckslosen Gesicht getilgt zu sein. Die Augenlider flatterten. In den Augen gab es nichts mehr, keine Angst, keine Hoffnung auf Versöhnung oder auch nur Gnade. Er war im Grunde schon tot, und das wusste er, und er wusste, warum. Für einen Moment konnte man sich zu dem Glauben verleiten lassen, dass er es so wollte.

Auf der Überfahrt zur Insel waren nicht viele Worte gefallen. Es war eine Insel, die beide sehr gut kannten, zu der keine Kommentare nötig waren, es war wie eine alltägliche Tour mit einer U-Bahnlinie in Stockholm oder mit dem Fernbus von Alunda nach Öregrund, eine Fahrt, die erledigt werden musste. Es war kein Problem gewesen, ihn ins Boot zu locken, durch die Bucht, in dem Glauben auf Vergessen und Vergeben. »Geh weiter!«, hatte er noch einmal gesagt und genickt. Der Idiot! Erst als ihn der Hieb im Nacken getroffen hatte und er herumfuhr, nur, um sich dem zweiten Angriff zu stellen, dem entscheidenden, hatte er begriffen. Es ging um das Messer. Ein Messer bedeutete eine Nähe, die eine Schusswaffe niemals geben konnte. Ein Messer wurde hineingerammt und blieb dort für einen Moment oder für immer. Darin lagen die Kraft, die Entschlossenheit und, nicht zuletzt, die Nerven.

Jetzt saß er da. Blut, das aus dem Mund quoll, Blasen, die barsten. Die Augen, die plötzlich weit aufgerissen waren, die Hände, die nach vorn griffen, als ob er eine Stütze suchte, um sich aufzurichten. Spürte er, dass der Tod zupackte, das Messer umdrehte? Passierte es jetzt, war das der Übergang?

Es war kein schöner Anblick: Die Wangen hatten all ihren Glanz verloren und die vorher so frische Sonnenbräune war verblasst, die Bartstoppeln, die er immer für sexy gehalten hatte, wirkten nunmehr spärlich und starr, die jetzt halb geschlossenen Augen starrten in eine ewige Finsternis, und zwischen den malmenden Kiefern war die Zunge wie ein widerliches, weidwundes Tier zu erahnen. Für einen Moment war der Schatten von etwas zu sehen, bei dem es sich um Zweifel handeln mochte, aber es war eher wie ein Hauch von Unlust, ein Kräuseln auf dem Wasser der Bucht.

Auf seinen Leichnam zu pissen, was als endgültige Erniedrigung gedacht gewesen war, war plötzlich nicht mehr wichtig. Jetzt galt es, sich zusammenzureißen. Weiterzugehen. Er lag im Sterben, war gestorben. So sollte es sein.

»Ich bin nicht verrückt!« Das war laut und deutlich zu hören, jede Silbe wurde mit einer Überzeugung herausgepresst, die ein Lächeln hervorlockte. Ein Lächeln wie früher. Die Süße des Sieges. Die Freunde hatten gesagt: Dein Lächeln kann alles bezwingen.

Er schlug die Augen auf, die Lippen bewegten sich, vielleicht wollte er etwas über das Siegeslächeln sagen, das Letzte, was er im Leben sah.

Es war schwer und anstrengend, ihn zum Strand und dann ins Boot zu schaffen, aber das Tempo half, das pure Adrenalin.

Ohne weiteres Getue wurde er über Bord gehievt, wie ein alter Sack mit verrostetem Schrott aus einem Stall, der im Meer entsorgt wird. Ein Arm beschrieb einen Bogen in Richtung Himmelsgewölbe, wie in einem letzten Gruß. Innerhalb weniger Sekunden hatte das schwarze Wasser ihn verschlungen. Das Letzte, was noch zu sehen war, war sein weißes Hemd.

Es war ein guter Tag. Ein schöner Tag. Jetzt konnte das Leben weitergehen.

August 2019

Alles hatte in Lissabon angefangen. Ann Lindell war ab und zu von dem Gedanken überwältigt, wie sich das Leben von Zufällen lenken ließ: ein Glas Wein in einem Parkcafé, ein ehemaliger Kollege, der sich unerwartet zu erkennen gab und mehrere Anzeichen von Fixierung und Verwirrung zeigte, und schon saß man fest.

»Warum?«, hatte Edvard wissen wollen.

Ann hatte gelacht, ja, warum? »Warum bist du vor fast zwanzig Jahren in meinen Dienstraum bei der Polizei in Uppsala gekommen?«

»Weil ich im Wald eine Leiche gefunden hatte«, lautete Edvards selbstverständliche Antwort. »Es war Mord, aber eine Frau, die vor einigen Jahren von Gräsö verschwunden ist und das vermutlich aus freien Stücken, warum willst du dir darüber den Kopf zerbrechen?«

Dieser Edvard Risberg, der zu ihrer großen Qual geworden war, aber auch zu ihrer großen Liebe. Nun saßen sie einander gegenüber an seinem Küchentisch, beide mittleren Alters, von der Zeit gezeichnet, wie ein Paar. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seine.

»Natürlich hast du recht, das müsste mir total egal sein, aber es gibt Dinge, die mich nicht in Ruhe lassen; wenn jemand verschwindet, zum Beispiel. Betrachte es als Gehirnjogging. Und dann habe ich auch einen Grund, auf Gräsö zu sein. Auf deiner Insel, Cecilia Karlssons Insel. Der Insel, von der oder zu der man verschwindet.«

Edvard sah sie einen Moment lang an, dann schaute er wieder hinaus auf den Hofplatz. Liebt er mich?, war der Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, und die alte Unruhe erwachte. Wie zur Antwort drehte er seine kräftige Hand um und griff nach ihrer schmalen. Es war keine Liebeserklärung, aber doch ein Zeichen von Vertrauen, von Vertraulichkeit? Sie sehnte sich nach einem Glas Wein, wusste aber, dass das unmöglich war.

Verstohlen musterte sie ihn. Vieles musste verstohlen geschehen, oder gar nicht, aber nicht auf eine negative Art und Weise, es geschah eher aus einer Rücksichtnahme, die sie gelernt hatte; ab und zu reduzierte sie ihre eigene Bedeutung, trat einen Schritt zurück. Der Gewinn lag auf der Hand.

Hätte sie erzählen sollen, dass sie selbst »eine Cecilia gemacht« hatte? Und zwar, als sie Edvard noch nicht kannte, als sie ungefähr so alt gewesen war wie Cecilia, aber es war nicht die Rede von mehreren Jahren und von Südeuropa gewesen. Sondern von Kopenhagen und zwei Wochen. Danach musste es reichen, hatte Ottosson gemeint, ihr Chef bei der Gewalt, und er hatte einen pensionierten Kollegen vom Betrug losgeschickt, der handgreiflich für ihre Rückkehr nach Uppsala sorgte. Ottosson kehrte die ganze Sache unter den Teppich, versuchte, Gerede und Schaden zu begrenzen. Das hatte er später noch mehrmals wiederholen müssen.

Es gab ein schwarzes Loch in ihrem Leben, in dem vieles hätte verschwinden können, nicht zuletzt ihre Karriere bei der Polizei. Sie hatte zwei Wochen in den Straßen von Kopenhagen gehabt, niemals zuvor oder danach war sie so viel spazieren gegangen, aber was war passiert? Was hatte sie dazu gebracht aufzubrechen, unterzutauchen? Das wusste sie noch immer nicht ganz genau.

Edvard würde es vielleicht nicht verstehen. Doch, sagte sie sich, er hatte ja auch alles aufgegeben und sich nach Gräsö abgesetzt. Es lag vielleicht in der Natur mancher Menschen, aufzubrechen, um nicht zu zerbrechen? Ann wollte Cecilia kennenlernen, war es so einfach?

1

»Das ist ihres.« Die Frau blieb zögernd in der Tür stehen, ehe sie beiseitetrat. Sie war »apart«, dieses Wort fiel Ann jetzt ein, aber mit einem fast mädchenhaften Bewegungsmuster. Ihre bloßen Schultern berichteten von Selbstvertrauen und Stärke.

Ihr Mann war auf der Treppe stehen geblieben und hatte eine Hand auf das Geländer gelegt, mitten in der Bewegung erstarrt, als müsse er zu Atem kommen. Ann betrat das Zimmer, das unerwartet groß war, vielleicht dreißig Quadratmeter, spärlich möbliert. Vor der einen Wand stand ein Bücherregal, gefüllt mit einer Mischung aus alten Bänden in Halbleinen, Buchclubbüchern aus den siebziger Jahren und Taschenbüchern. Es war keine Sammlung, sondern ein zufälliges Sammelsurium von vielerlei Herkunft, dachte sie jetzt. Auf der gegenüberliegenden Seite dominierte ein großes Bett im gleichen massiven Stil wie das Regal. Ein beachtlicher Schreibtisch, die einzige moderne Zutat, stand vor dem Fenster.

»Sie ist sehr ordentlich, das war schon immer so«, sagte die Mutter, und Ann begriff, dass sie sich an Edvard richtete. Die beiden hatten einander sofort verstanden, vielleicht, weil Edvard auf Gräsö lebte. Das hier war nicht ihre erste Begegnung, er hatte den Hof mehrmals zusammen mit Victor besucht.

Ann trat ans Fenster und konnte von dort ein kleines Stück Meer sehen. Eine eingedämmte Bucht und ein für seine ursprüngliche Funktion unbrauchbares Bootshaus, das von der Eindeichung berichtete.

»Sie liebt diese Aussicht«, erklärte der Vater, der unbemerkt das Zimmer betreten hatte und dicht hinter Ann stand. »Aber jetzt gehen wir nach unten, Gunilla. Mir ist ja klar, dass Sie als alte Polizistin in Ruhe gelassen werden wollen. Um zu denken.«

Ohne weitere Zeremonien verließ er das Zimmer und nahm seine Frau mit ins Erdgeschoss. Sie wäre sicher gern geblieben, um von ihrer Tochter zu erzählen, von deren Leben und Besitztümern. Sie war die Sorte Mensch, die sich über alles verbreitete, das war Ann sofort klar gewesen. Edvard ließ sich auf einem Holzstuhl nieder.

»Er hat zu viele Fernsehserien gesehen«, sagte er, aber Ann war dankbar dafür, dass die beiden gegangen waren. Der Vater hatte vollkommen recht, sie wollte in Ruhe gelassen werden, um sich ohne vorgefasste Meinungen umzusehen, und ohne, dass jemand ihr alles unter die Nase schob.

Schon seit sie und Edvard in Lissabon Folke Åhr begegnet waren, hatte sie ab und zu an Cecilia Karlsson gedacht und was wohl aus ihr geworden sein mochte. Seit vier Jahren verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, wie einer von Edvards Nachbarn es ausgedrückt hatte. Ihr Verschwinden hatte natürlich auf Gräsö großes Aufsehen erregt. Ihre Eltern waren bekannt, Rune Karlsson war ein erfolgreicher Mittelstreckenläufer gewesen, und Cecilias Mutter war mehrfache internationale Meisterin im Bogenschießen.

Folke Åhr verbrachte seine Sommer auf der Insel und hatte nach seiner Pensionierung von der Zentralen Mordkommission angefangen, sich für Cecilias Schicksal zu interessieren. Sein Engagement war nicht geringer geworden, als ein alter Schulkamerad von Cecilia behauptet hatte, sie zweimal in Lissabon gesehen zu haben. Beim ersten Mal hatte er geglaubt, im Estrelapark eine Doppelgängerin vor sich zu sehen, aber als er einige Tage später diese Frau noch einmal erblickt hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass es Cecilia war. Sie war in eine Straßenbahn gestiegen, er selbst hatte auf einer Parkbank gesessen, war sofort aufgesprungen und hatte versucht, die Bahn noch zu erreichen, aber das war aussichtslos gewesen. Die Straßenbahn hatte den Platz verlassen und war verschwunden.

»Sie war es, ganz bestimmt«, hatte er eigensinnig behauptet, als Ann ihn angerufen hatte. Er war offenbar alkoholisiert gewesen, hatte aber versucht, sich zusammenzunehmen. Ann kannte diese Anzeichen sehr gut. Es war ein Problem, das hatte auch Åhr betont, Nils »Blitz« Lindberg war oft betrunken. War er es auch in Lissabon gewesen?

»Wie können Sie so sicher sein?«, hatte Ann Lindell gefragt.

»Der Hintern«, hatte Lindberg, ohne zu überlegen, geantwortet, und sie hatte grinsen müssen. »Sie hat so einen phantastischen Hintern, hatte den immer schon. Diese Formen.« Das hätte sexistisch klingen können, aber er hatte es mit solcher Wärme in der Stimme gesagt, dass ihr klar war, dass sich in dieser Antwort große Liebe verbarg.

»Sie war die Erste in der Klasse, die einen BH tragen musste«, fügte er hinzu, wie um Ann Cecilia Karlssons physischen Vorzüge noch mehr zu verdeutlichen.

»Warum ist sie verschwunden?«, hatte sie gefragt, und die Antwort war nach einem gewissen Zögern gekommen. »Dieser Casper.« Danach war er verstummt, hatte kein weiteres Wort mehr sagen wollen.

Ann erinnerte sich an ihr Gespräch mit »Blitz«, wie der Zeuge auf der Insel genannt wurde, als sie sich einige gerahmte Fotos im Bücherregal ansah. Sie nahm eins nach dem anderen heraus. Es waren die üblichen Bilder von Festen und Partys, und Ann konnte sich davon überzeugen, dass der Mann die Wahrheit gesagt hatte. Cecilia hatte Kurven, und das auf eine Weise, die zweifellos Männerblicke anzog. Sah sie gut aus? Ja und nein. Das Gesicht hatte sympathische Züge, die dicht sitzenden Augenbrauen verstärkten den Eindruck von Willenskraft. Sie ähnelte einer mexikanischen Künstlerin, an deren Namen Ann Lindell sich nicht erinnern konnte.

Das Regal mit den Fotos und einigen nichtssagenden Ziergegenständen war staubfrei. Ann dachte, dass sie kein solches Arrangement von Fotos ihrer selbst, ihrer Eltern oder ihres Sohnes Erik besaß. War das gut oder schlecht? Sowohl als auch, fand sie. Sie blieb mitten im Zimmer stehen.

»Schau mal hinter den Büchern nach«, sagte Edvard.

Ann fühlte sich an früher erinnert. Damals war es ihr Kollege Sammy Nilsson gewesen, der solche Kommentare und Aufforderungen von sich gab. Sie gehorchte, schob zögernd eine Hand zwischen die aufrechtstehenden Bücher, suchte dann eine Regalfläche nach der anderen ab. Im letzten Fach, hinter Jahrbüchern der Schwedischen Tourismusvereinigung, stieß ihre Hand gegen etwas. Sie ahnte sofort, worum es sich handelte.

»Briefe«, sagte sie und zog vorsichtig eine dünne Sammlung heraus, zusammengebunden mit einer roten Kordel und mit Schleife, was einen backfischhaften Eindruck machte. Edvard erhob sich von seinem Stuhl. »Soll ich?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte, und sie zog vorsichtig an einem Kordelende.

»Nein«, sagte Edvard.

»Wie meinst du das?«

»Das sind ihre.«

»Aber …«

»Überlass das der Polizei«, sagte Edvard. »Oder den Eltern.«

Er hatte nicht unrecht. Wenn Cecilia Karlsson noch lebte oder wenn sie Selbstmord begangen hatte, wäre es im Prinzip eine ungesetzliche Handlung, ihre Briefe zu öffnen. Wenn sie ermordet worden war, war es die Angelegenheit der Polizei.

»Die Adresse ist ein Postfach in Uppsala«, sagte Ann. »Seltsam, sie hat doch auf der Insel gewohnt, hier im Haus?« Sie schlug eine Ecke des obersten Umschlags um und sah dann die anderen an, alle waren an dieses Postfach gerichtet. »Es sind vier Briefe.«

Ihre Blicke begegneten sich. Ann spürte seinen Widerstand. »Ich muss mir das ansehen«, sagte sie.

Er verließ das Zimmer und ging mit schweren Schritten die Treppe hinunter. Sie löste eilig die Schleife, öffnete vorsichtig einen Umschlag und zog eine Briefkarte von edler Papierqualität heraus, mit gekräuseltem Rand und beschrieben in großzügiger Handschrift in geraden Linien. Sie fasste die Karte mit spitzen Fingern an einer Ecke an und las:

Dear!

Das war wirklich nett. Es war wie immer schön, und ich wünschte nur, wir hätten etwas mehr Zeit gehabt. Nur eins hat mich überrascht: was du über die Sache auf Hasselbacken erzählt hast. Ich glaube, Rune hat das alles nicht so gemeint, er hatte sicher einiges getrunken. Denk nicht weiter an dieses Malheur. Können wir uns nächste Woche treffen? Ich muss dann nach Sundsvall. Wir können uns im Knaust einlogieren, du weißt, das Hotel mit der Treppe. Du hast doch wohl irgendwelche Verwandten da oben im Lappenland und kannst behaupten, du müsstest sie besuchen?

Sei umarmt!

Keine Unterschrift, kein Datum. Sie musterte den Umschlag, kein leserlicher Stempel mit Datum. Rune, ihr Vater, was hatte der gesagt? Malheur, was war damit gemeint?

Von unten her war das Klirren von Porzellan zu hören. Cecilias Mutter hatte vorgeschlagen, Kaffee zu kochen. Anne zog vorsichtig die restlichen Briefkarten aus den Umschlägen, legte sie auf dem Schreibtisch nebeneinander und machte mit der Kamera ihres Mobiltelefons Bilder davon. Als sie gerade alle Karten zurückgesteckt und die Kordel zusammengebunden hatte, hörte sie Schritte auf der Treppe. Ann ließ die Briefe hinter die Bücher des Tourismusverbandes fallen.

»Trinken wir jetzt eine Tasse Kaffee?«

»Das tun wir«, sagte Ann.

»Haben Sie etwas gefunden?« Die Frau sprach leise. In ihrer Stimme lag eine neue Vertraulichkeit. »Rune ist manchmal deprimiert«, fügte sie unvermittelt hinzu. »Er geht nie in ihr Zimmer, es hat mich überrascht, dass er mit heraufgekommen ist.«

»Deprimiert wegen Cecilia?«

»Ja, das wird es wohl sein, weil sie sich nicht melden will oder kann. Wir hätten sie so gern wieder hier.«

»Sie glauben, sie lebt noch?«

Cecilias Mutter sah sie an, und ohne etwas zu sagen, gab sie ihr eine Antwort. In ihren sonst so weichen Gesichtszügen lag eine Schärfe, in der keinerlei Zurückhaltung zu erkennen war; sie war überzeugt davon, dass ihre Tochter noch lebte.

»Aber jetzt gehen wir nach unten, sonst wundert sich Rune.«

Sie fasste Ann unter den Arm. »Er will alles unter Kontrolle haben, wie mit den Rundenzeiten, damals bei den Wettkämpfen, oder jetzt, wenn er sich all diese Sportveranstaltungen im Fernsehen anschaut.« Ann fiel ein, dass der Mann früher Läufer gewesen war.

»Nein, ich habe nichts gefunden.«

»Warum sind Sie hier?«

»Vielleicht aus Neugier«, sagte Ann.

»Das war eine ehrliche Antwort«, sagte Gunilla Karlsson, die für einen Moment auf der Treppe stehen blieb.

»Ich kann Rätsel nicht leiden«, sagte Ann.

Der Kaffeetisch war in der Küche gedeckt. Rune saß halb abgewandt am Fenster, die Hände lagen zu beiden Seiten der Kaffeetasse. Die schmalen, fast nicht vorhandenen Lippen waren fest zusammengepresst, er hatte eine kräftige Falte über der Nasenwurzel und sein Blick reichte weit über das hinaus, was einst eine Meeresbucht gewesen war. Er machte einen betagten Eindruck, obwohl er gar nicht so alt sein konnte. Ein Patriarch. Fünfundsechzig? Er sah noch gut aus, als junger Mann auf der Aschenbahn hatte er sicher einen attraktiven Anblick geboten. Das Auffälligste an ihm war die kräftige Nase.

Seine Frau war um einiges jünger, sie musste dennoch ein gutes Stück über fünfzig sein, beim Gedanken an Cecilias Alter. Bogenschützin. Ann assoziierte das mit Olympischen Spielen. Wie erfolgreich mochte Gunilla gewesen sein? Das würde sie googeln müssen. Eine mit Pokalen gefüllte Vitrine hatte im Wohnzimmer gestanden. Gunilla Karlsson schob die eine Hüfte auf seltsame Weise vor. Vielleicht ein Überbleibsel aus ihrer Zeit als Bogenschützin?

Edvard saß Rune gegenüber. Bald würde auch er dort sein, im Alter. Und sie selbst ebenfalls. Es war schwer, sich das vorzustellen. Würden sie zusammen alt werden? Ein Gefühl von Unlust ließ sie wünschen, sich verabschieden, das Haus und damit die Frage von Cecilias Verschwinden hinter sich lassen zu können. Eigentlich hatte sie hier doch nichts zu suchen. Sie hatte keine Zeit für die Rätsel anderer Leute.

»Ich bin hier geboren«, sagte Rune Karlsson plötzlich. »Ich und meine Geschwister. Wir waren fünf Brüder, einer ist nicht mehr da.«

»Martin?«

»Ach was, du hast ihn gekannt?«

»Ja, wir haben einmal in Forsmark zusammengearbeitet«, sagte Edvard. »Er war ein tüchtiger Maler.«

»Der beste«, sagte Rune mit einem Lächeln, das ihn fast fünfzehn Jahre jünger machte.

Edvard schmunzelte, wie dann, wenn er ohne ein Wort zustimmte und nichts hinzuzufügen hatte.

»Damals konnten wir Netze auslegen und das Boot im Nu mit Strömming füllen. Jetzt fegen die Trawler alles leer, die holen hundertmal mehr Strömming herauf als die lokalen Fischer. Alles geht als Schweinefutter nach Dänemark. Schweinefutter! Und auch noch für Schweine, die in der Hölle leben, eingesperrt in Käfige.«

Edvard nickte. Damit kannte er sich aus. Ann wusste, dass er in seinem früheren Leben in der Schweinezucht tätig gewesen war.

»Bitte sehr«, sagte Cecilia und stellte noch eine Schüssel auf den Tisch. Ihre kräftige Hand – Bogenschützin, dachte Ann wieder – beschrieb eine einladende Bewegung über dem Tisch.

»Und dann die Weiden, die alten Zäune und die alten Trockenscheunen, das ist alles fast ganz verschwunden. Wenn Sie wüssten, was es hier früher für Orchideenwiesen gegeben hat. Es gibt ein Buch, Daheim in der Armut, heißt es …«

»Jetzt trinken wir Kaffee«, fiel seine Frau ihm ins Wort. Ann ahnte, dass Gunilla Karlsson wusste, es würde kein Ende nehmen, wenn er weiterreden dürfte. Rune Karlsson seufzte, warf Edvard einen Blick zu, fügte sich aber und hob die Kaffeetasse. Trotz seiner offenkundigen Stärke strahlte seine Gestalt auch tiefe Resignation aus.

Ein vorsichtiges Gespräch kam in Gang, bei dem Edvard die antreibende Rolle übernahm. Ann verspürte kein Bedürfnis, sich einzumischen. Seine gute Seite, dass er mit seinesgleichen plaudern konnte, wobei er die großen Worte außen vor ließ, sein Lächeln, das war mehr als genug für sie, und vor allem half es, die Stimmung aufzulockern. Die Karlssons entspannten sich. Als nachgeschenkt wurde, versuchte Ann, das Gespräch auf Blitz zu lenken, der behauptete, Cecilia in Lissabon gesehen zu haben, aber damit kam sie nicht weiter. Stattdessen war nun die Rede von einer kürzlich verstorbenen Frau.

»Das ist zu traurig. Hast du Olga Palm gekannt?«

»Wir sind uns einige Male begegnet«, sagte Edvard. »Sie war wohl schon gebrechlich?«

»Diabetes. Am Ende mussten sie ihr beide Beine abnehmen. Sie hatte Cecilia sehr gern. Die wäre sicher gern bei der Beerdigung dabei. Die beiden haben sich immer gut verstanden«, sagte Gunilla.

»Cecilia hat für Olgas Sohn Adrian gearbeitet«, fügte sie dann hinzu. »Sie kamen nicht immer so gut miteinander aus, aber er brauchte sie, das war ihm klar, und deshalb musste er sich zusammenreißen.«

»Hat er eine Firma?«

»Ja, irgendetwas mit Elektronik, Leitsysteme in der Industrie und so. Cissi hat sich mit Computern ausgekannt. Sie sind viel gereist.«

Hotel Knaust in Sundsvall, dachte Ann. Hatte dieser Adrian die Briefe geschrieben, die sie eine Treppe höher gelesen hatte? Es hatte keine Unterschrift gegeben, aber der Absender hatte Cecilia gut gekannt.

»Sie haben gesagt, er musste sich zusammennehmen, wie haben Sie das gemeint?«

»Er konnte ein bisschen streitsüchtig sein«, sagte Gunilla.

»Auch gewalttätig?«

»Nein, nein, wirklich nicht, aber er hat in den meisten Dingen sehr klare Ansichten.«

»Jetzt ist er angeblich auf den Philippinen«, sagte Rune, »und da kann er bleiben. Oder war es Hongkong?«

»Er kommt natürlich zur Beerdigung.«

»Das glaubst du?«, fragte Rune mit triefender Verachtung. Er wurde sofort fünfzehn Jahre älter.

»Hatten Adrian und Cecilia etwas miteinander …«

»Niemals«, sagte Rune. »Mit dem doch nicht!«

Edvard warf Ann einen schwer zu deutenden Blick zu. Sie beschloss, das Thema zu wechseln. »Blitz hat etwas über einen Casper gesagt, kennen Sie den zufällig?«

»Casper?«, fragte Gunilla vorsichtig und warf ihrem Mann einen Blick zu, aber der hatte offenbar das Interesse an dem Gespräch verloren. »Nein, nicht dass ich wüsste. Hatten die denn Kontakt?«

»Darüber weiß ich nicht viel«, sagte Ann, »aber er kannte offenbar Cecilia und auch Adrian Palm, wenn ich Blitz richtig verstanden habe.« Die Lüge kam Ann problemlos über die Lippen, ein wenig dick aufzutragen war eine alte Berufskrankheit.

Ann hatte den Eindruck, dass Gunilla Karlssons Miene sich verdüsterte. Der Name Casper hatte etwas bei ihr in Bewegung gesetzt, eine Alarmglocke schrillen lassen, das bildete Ann sich jedenfalls ein. Auch das war wohl eine alte Berufskrankheit, einer Aussage zu misstrauen.

Sie bedankten sich für den Kaffee und erhoben sich. »Willst du ein schönes altes Foto sehen?«, fragte Rune Karlsson und wandte sich dabei an Edvard. Noch immer hatte ihn die Erinnerung an die alten Zeiten nicht losgelassen. »Auch mein Bruder Martin ist darauf.«

Sie gingen ins Wohnzimmer. Gunilla schnitt eine Grimasse, die alles bedeuten konnte, winkte Ann aber, mitzukommen. Rune zeigte auf ein vergrößertes Foto, das an der Wand hing. Es zeigte Familie Karlsson, wie er erklärte. Mutter und Vater und die fünf Söhne. Sie standen vor einem Bootshaus. An der Wand hinter ihnen hingen zwei Paar Ruder. »Du siehst, wie sich das hier verändert hat«, sagte Rune. Vielleicht wollte er darauf hinweisen, dass der Wasserstand damals um einiges höher gewesen war oder dass es eine Zeit gegeben hatte, in der die Familie zusammengehalten hatte, in der ihr nichts anderes übrig geblieben war. Aber es war ein Foto, das Geborgenheit ausstrahlte, das ging Ann auf, während Rune auf die Personen zeigte und ihre Namen nannte. Er selbst stand ganz rechts und hielt einen seiner Brüder an der Hand. Schwedische fünfziger Jahre auf dem abgelegenen Gräsö. Kein Überfluss, aber in vielerlei Hinsicht eine Idylle, das hatte Ann schon Violas Erzählungen entnommen. Eine Zeit, in der lokale Fischerei und Landwirtschaft sich noch rentiert hatten.

»Du siehst«, wiederholte Rune Karlsson und seine Stimme klang ein wenig brüchig, »damals gab es Landwirtschaft und Fischerei, die diese Namen verdienten. Damals gab es ein Leben, das diesen Namen verdiente.«

»Und davon redest du viel zu oft«, sagte seine Frau, aber ohne Spitze in der Stimme, eher als sachliche Feststellung.

»Jetzt geht es doch zum Teufel mit der Insel. Alle diese verdammten Sommerhäuser. Alle diese verdammten Spekulanten.«

So machte er noch eine Weile weiter, an Edvard gewandt, den er offenbar für einen Verbündeten hielt, obwohl Edvard gar nicht auf Gräsö geboren war. Ann glaubte, das alles schon gehört zu haben, und verlor das Interesse. Sie schaute sich um. An der gegenüberliegenden Wand waren die Preise aufgestellt, jede Menge Pokale in allen Größen. Sie las einige der Plaketten, aber ohne wirkliche Neugier. Gunilla Karlsson verlor kein Wort zu der Vitrine, die zwei erfolgreiche sportliche Karrieren enthielt. Ann fand das schon ein bisschen seltsam.

Neben der Vitrine stand ein Teewagen mit zwei Fächern, beide gefüllt mit Flaschen und Karaffen, die Ann mit größerem Interesse musterte. Alles sah teuer und ein bisschen protzig aus, als ob sie zeigen wollten, dass sie regelmäßig ins Ausland reisten und sich im Duty-free-Shop eindeckten, aber vielleicht nicht im selben Tempo konsumierten. Es war ein Wagen für Besuch, aber Ann hatte den Eindruck, dass das Wohnzimmer zumeist leer stand. Die Karlssons wirkten nicht wie passionierte Gesellschaftsmenschen.

»Schönes Bild«, sagte Edvard vor einem großen gerahmten Foto, das neben dem Schnapswagen hing. Er trat näher und las vor: »Khumbu Glacier, wo liegt der?«

»Nepal«, sagte Gunilla Karlsson und legte Ann den Arm um die Taille, wie um sie aus dem Raum zu führen.

»Mein Bruder Sven-Åke war dort, aber das ist lange her.« Gunillas Seufzer war deutlich zu hören.

»Ist er Bergsteiger?«

»Damals ja, sie haben nach dem gesucht, der den Mount Everest bezwungen hatte.«

»Diesem Engländer oder dem Sherpa? War der verschwunden?«

»Keiner von denen«, sagte Rune. »Es gab noch zwei, die sehr viel früher da waren.« Dann folgte eine Geschichte über zwei weitere Engländer, Mallory und Irvine, die, so Rune, schon in den zwanziger Jahren den höchsten Berg der Welt bestiegen hatten, beim Abstieg dann aber ums Leben gekommen waren. Mallorys Leichnam war in den neunziger Jahren gefunden worden.

»Sven-Åke hat mit Nepalesen zusammengearbeitet. Er wohnt jetzt dort. Hat Frau und drei Kinder.«

»Interessant«, sagte Edvard und schien es zu meinen.

»Reizende Kinder«, sagte Gunilla.

»So ist meine Verwandtschaft«, sagte Rune. »Alle haben Gräsö verlassen. Nur ich habe mich hier festgekrallt. Du kannst dir ja denken, wie schwer das für meinen Vater war.«

»Aber dein Bruder Martin, der war doch in Forsmark und schien da Wurzeln geschlagen zu haben?«

»Das glaubst du, aber da hatte er sich bereits fünfunddreißig Jahre lang in aller Welt herumgetrieben. Er musste dann nach Schweden zurückkommen. Krebs. Diese verdammte Farbe, die die Reedereien benutzt haben, hat ihn umgebracht, aber das wollte er niemals zugeben. Er hat hier vielleicht noch ein Jahr gewohnt, dann war Schluss.«

»Hier ist es zu eng, zu dicht besiedelt«, sagte Gunilla. »Martin hat viel gesehen, er war zufrieden mit seinem Leben.«

»Eng?«

»Wir gehen raus«, sagte Gunilla. Es war deutlich, dass sie diesen Klagegesang schon oft gehört hatte und ihren Mann ein wenig zur Ordnung rufen wollte.

»Zufrieden mit seinem Leben«, murmelte Rune Karlsson.

Die Karlssons begleiteten sie hinaus auf den Hofplatz. Als Edvard sich ins Auto setzte, trat Rune zwei Schritte dichter an Ann heran.

»Hör auf, in unserem Leben herumzuschnüffeln«, fauchte er und machte auf dem Absatz kehrt. Gunilla war verschwunden, sie stand mit der Hand auf der Türklinke oben auf der Treppe. Hatte sie gehört, was ihr Mann da von sich gegeben hatte? Und hatte Edvard es gehört?

Schweigend saßen sie im Auto. Ann zählte die Wagen, die ihnen entgegenkamen. Das machte sie schon seit ihrer Kindheit, damals hatte sie ihren Vater auf seinen Touren mit dem Getränkewagen durch die Sommerlandschaft von Östergötland begleitet. Sie konnte sich noch immer an den Rekord auf der Strecke Ödeshög – Borghamn erinnern: 137 Autos, seither eine magische Zahl. Eine andere war 24, die Anzahl von Briefkästen zwischen ihrem Elternhaus und dem Konsumladen. Auf diese Weise hatte sie Ordnung geschaffen.

Nun waren es 22 Autos bis zur Abfahrt zum Campingplatz, aber die Ordnung wollte sich nicht einstellen. Edvard brach das Schweigen.

»Die lügen«, sagte er, und Ann lächelte verstohlen.

»Worüber?«

»Über diesen Casper, zum Beispiel, die wissen sehr wohl, wer das ist.«

»Hast du gesehen, wie ordentlich es in Cecilias Zimmer war, nicht ein Staubkorn?«

»Die wollen sicher die Erinnerung an sie pflegen«, sagte Edvard.

»Das stimmt vermutlich, aber das ist mehr als ein Museum, das ist, als ob sie jede Minute mit ihr rechnen.«

»Aber sie ist ja auch noch nicht seit so vielen Jahren verschwunden«, sagte Edvard. »Dein alter Bullenkumpel hat sich mit den Jahren total vertan. Was hat er noch gesagt, 2009 oder so?«

»Ja, er wirkte auch ein bisschen verwirrt, als wir zuletzt miteinander gesprochen haben. Jedenfalls ist sie 2015 verschwunden.«

»Bei ihm setzt so langsam die Demenz ein, habe ich gehört.«

»Aha, das erklärt natürlich alles«, sagte Ann und fand es schlimm, das zu hören. Ihr Vater war denselben Weg gegangen.

»Ich muss da kurz was erledigen«, sagte Edvard. Er hatte einen Job auf dem Campingplatz erwähnt. Es gab immer etwas für ihn zu tun. Auf der kurzen Strecke kamen ihnen drei Wohnmobile entgegen.

»Hauen die jetzt ab?«

»Ja, so langsam, aber viele bleiben noch eine Weile.«

Auf diese Weise wurde Ordnung geschaffen, Zusammenhang. Ann saß gern im Auto auf dem Weg zu einem Auftrag, den er möglicherweise erhalten würde. Sie waren gemeinsam unterwegs. Er dachte an Holz und daran, Beton zu gießen, sie zählte Wohnwagen. Und dann war da die Begegnung mit einem Elternpaar, das sich nach seiner Tochter sehnte. Ann wusste, dass zu Hause bei Cecilia weiter darüber geredet werden würde. Könnte sie selbst zurückkehren, trotz der Abschiedsworte Rune Karlssons? Sicher, alles andere wäre ein Dienstvergehen, wenn sie also noch im Dienst wäre. Vielleicht würde er sich provozieren lassen?

»Wann wird Olga Palm begraben?«

»Samstag«, sagte Edvard.

»Wird spannend, ihren Sohn Adrian zu sehen, wenn der nun von den Philippinen auftaucht.«

»Willst du hingehen?«

»Ich kann ja ein bisschen bei der Kirche herumlungern.«

»Vor der Kirche von Gräsö kann man nicht einfach herumlungern«, sagte Edvard.

»Ich wohl«, sagte Ann, und etwas von ihrer alten Arbeitsfreude flammte in ihr auf, zusammen mit einem Bild von früher, auch das von einer Beerdigung, selbst wenn sie sich nicht an die Einzelheiten erinnerte. Würde sie jemals an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren können, vorausgesetzt, sie wollten sie zurückhaben? Nein, sicher nicht, das hatte sie sich immer eingeredet, wenn sie über diese Frage nachgedacht hatte, sie würde nie wieder als Polizistin arbeiten. Jetzt bereitete sie in einer Meierei bei Gimo Käse zu und war damit vollkommen zufrieden.

2

Im Haus roch es nach Schimmel. Dort, wo früher das Wohnzimmer gewesen war, regnete es herein. Sie hatte einen Eimer auf den Boden gestellt. Das kleine Schlafzimmer war in besserem Zustand, auch wenn die Deckenpaneele große Feuchtigkeitsflecken aufwiesen und sich bedenklich wellten. Das Himmelbett war in eine Ecke geschoben worden, wo in der Wand etwas kratzte und knabberte, die Totenuhr, so hieß das, glaubte sie, war das ein Käfer? Eine Uhr, die tickte, den Countdown führte. Die Tapeten waren aus den sechziger Jahren, das Rollo immer heruntergezogen. Ein Stuhl diente als Nachttisch. Darauf stand eine Kerze. Andere Beleuchtung gab es nicht. Inzwischen las sie kaum noch, und sie war lichtscheu. Sie wollte nicht gesehen oder gehört werden.

Telefon und Rechner lud sie im Auto auf. Den kleinen Gaskocher benutzte sie nur selten, kochte Nudeln, eine Suppe oder eine Dose mit einem Fertiggericht. Es gab eine Dose mit Keksen, Pulverkaffee, eine Flasche Amaretto und ein kleines Glas auf einer niedrigen, grün gestrichenen Bank. In einem Schrank bewahrte sie ein paar Flaschen Wein auf. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe, an die sie sich von früher her erinnerte.

Über dem Haus ruhten Friede und Dunkelheit. Der Spätsommer schlich sich heran, umarmte Bäume und Sträucher, die immer näher gekrochen waren, die mit der Zeit alles übernehmen würden, das Haus würde in sich zusammensinken. In fünfzig Jahren würden nur noch der alte Eisenherd, verwitterte Backsteine und vom Frost zerfressene Dachziegel von einer Wohnstätte berichten. Hildingstorp. Sie hatte keine Ahnung, wer dieser Hilding gewesen war, vielleicht wusste das niemand mehr. So viel ihr bekannt war, gehörte das Haus dem alten Mann, der der Holländer genannt wurde und der seit einem Schlaganfall vor einigen Jahren in einem Altersheim in Öregrund lebte. Er würde auf keinen Fall hier vorbeischauen.

Einige Sommer lang hatte sich eine Familie aus Gävle hier eingemietet, und auf dem schmalen Weg durch den Wald war ihr die Tochter dieser Familie begegnet, ein mageres Mädchen namens Rafaela. Rafaela hatte dunkle Haare, war ein bisschen schüchtern, wurde nach und nach aber lebhafter. Mit ihren Eltern sprach sie nur Spanisch. Es war wie eine Geheimsprache. Drei Sommer lang hatten sie sich fast täglich getroffen. Vorsichtige Spiele am Waldrand, auf den Weiden im Süden der Hütte, aber niemals allein am Wasser, das hatte Rafaelas Mutter verboten. Ab und zu dachte sie an ihre frühere Spielkameradin, was wohl aus ihr geworden war, wie man eben so denkt. Sie hatte sogar von ihr geträumt. Sie hätte sie im Internet gesucht, wenn sie nur ihren Nachnamen gekannt hätte.

Die ersten Tage waren hart gewesen, als die Erinnerungen über sie hereingebrochen waren wie feuchtkalter Nebel, dazu die zunehmende Dunkelheit und nicht zuletzt die ungewohnte Stille. Vor kurzer Zeit noch Großstadt, jetzt eine abgelegene Insel in einem dünnbesiedelten Land. Sie hörte das Meer als sanftes Rauschen, ab und zu in der Ferne Autos, ansonsten nichts. Jetzt ging es besser, obwohl noch immer das seltsame Gefühl vorherrschte, mittendrin zu sein und trotzdem am Rand zu stehen. Sie lebte in einem Vakuum, und so würde es sicher noch lange bleiben, vielleicht für immer. An die Zukunft zu denken, hatte sie in den letzten Jahren zu vermeiden versucht, und es war ihr relativ gut gelungen, sie hatte von einem Tag auf den anderen gelebt, war Beziehungen eingegangen und hatte sie wieder verlassen, mit einer Leichtigkeit, die sie anfangs überrascht hatte, die aber bald zu einem Lebensstil geworden war. Über lange Zeit hinweg konnte sie sich sorglos fühlen, vor allem in der Zeit in dem kleinen Ort im Alentejo, die ihr inzwischen als die glücklichste seit ihrer Kindheit erschien.

Jetzt führte sie ein Doppelleben. Die Perücke lag auf einem Stuhl. Die war sicher von keiner besonders guten Qualität und verlor bereits ihre Form, sie müsste sie wohl häufiger auf den Perückenständer setzen, aber sie erfüllte dennoch ihren Zweck. Zusammen mit der Rauchglasbrille und der unförmigen und nichtssagenden Kleidung hatte sie funktioniert, niemand hatte auf irgendeine Weise signalisiert, sie erkannt zu haben. Im Konsum in Öregrund war sie zwei alten Bekannten begegnet, die nicht reagiert hatten, obwohl sie mit ihnen in derselben Kassenschlange gelandet war. Auf der Fähre hatten Insulaner und Sommergäste, die sie ihr Leben lang gekannt hatte, sie gleichgültig angesehen, eine Fremde eben. In gewisser Hinsicht war sie das ja auch. Sie war sich selbst sogar eine Fremde. Seit mehreren Jahren spielte sie ein Spiel; hatte das Lügen, Ausweichen und die vielen Aufbrüche zu ihrem Lebensstil gemacht. Einmal wäre fast alles schiefgegangen. Auf ihrem täglichen Spaziergang durch den Estrelapark hatte sie auf einer Bank Nils Lindberg entdeckt! Ausgerechnet Blitz! Das konnte doch nicht sein! Er, der früher nur mit großem Widerwillen das Festland besucht hatte, saß auf einer Bank in Lissabon! Mit abgewandtem Gesicht war sie an ihm vorbeigelaufen, war zur Straßenbahn fast gerannt, hatte ihn aber rufen hören. Geschockt und mit zitternden Knien hatte sie sich in den überfüllten Wagen gedrängt. Ihr elender Zustand war offenkundig gewesen, denn sofort hatte ihr ein älterer Mann seinen Platz angeboten, und dankbar hatte sie sich auf die Bank sinken lassen.

Seither hatte sie diesen Park, in dem sie so gern spazieren gegangen war, nie wieder aufgesucht. Ihr relatives Gefühl von Freiheit war wie weggeweht, und ihr war klar, dass sie sich in Bewegung setzen musste. Sie hätte sich einen Flug nach Südamerika oder Asien buchen können, aber sie wollte die Situation mit Adrian aussitzen.

Sie war durchaus nicht dazu gezwungen, sich von Schweden fernzuhalten, aber es hatte sich so ergeben, und nach einiger Zeit, als sie zur Besinnung gekommen war, hatte sie begriffen, dass es ihren langfristigen Zielen sogar entgegenkam. Jetzt war es an der Zeit, den Plan in die Tat umzusetzen.

Das gegrillte Hähnchen und die Plastikdose mit dem Kartoffelsalat standen auf dem Tisch. Sie müsste essen, aber hatte den Appetit verloren, stocherte mit der Gabel in dem fettigen Salat herum, blieb sitzen und starrte mit leerem Blick aus dem Küchenfenster. Eine Spinne lief über die Fensterbank. Das war die Gesellschaft, die sie hatte. Glück und Verrat. Einsamkeit und Rache. Das waren die Wortpaare, mit denen sie zu tun hatte. Es war ein Kampf gewesen, aber in ihrem tiefsten Herzen war sie stark, das wusste sie.

Sie erhob sich, um sich von ihren Gedanken loszureißen, verließ die Hütte und ging hinunter zum Wasser. Die Bucht war unruhig. Dort war Casper in der Tiefe verschwunden. Niemals gefunden worden. Es war vier Jahre her, und er fehlte ihr noch immer, was sie überraschte. Er war ein unzuverlässiger Dreckskerl gewesen, aber immerhin ein charmanter.

Sie schaute über das Wasser zu den Inseln und Felsen im Nordosten hinüber, dort lagen Norr-Gället und Kullaskäret. Dorthin waren ihre Eltern oft mit ihr gefahren. Sie kannte jede Untiefe im Meer und jeden Stein am Strand. Ihr Vater hatte Krafttraining betrieben und war zwischen den Schären geschwommen, während ihre Mutter einsam meditiert hatte, das sei gut für das Schießen, hatte sie behauptet, aber Cecilia hatte den Verdacht, dass es vor allem darum gegangen war, wegzukommen, den Anforderungen von Mann und Tochter zu entfliehen. Sie selbst hatte am Strand eine endlose Anzahl von Steintürmen gebaut. Weiter oben, wo das Eis nicht hingelangt war, standen wohl noch einige da wie Denkmäler und verlockten sicher die heutigen Besucher zu Spekulationen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals gleichaltrige Gesellschaft gehabt zu haben. Gunilla hatte Lärm und Kindergeschrei immer nur schwer ertragen können, und Cecilia hatte nur selten Spielkameradinnen mit nach Hause bringen dürfen. Sicher war deshalb die Erinnerung an Rafaela so lebendig, bei Rafaelas Familie war immer eine Menge los gewesen.

Inzwischen war Cecilia klar, was ihre Kindheit – dieses rigide System mit der täglichen Pflicht, zu berichten, was sie getan hatte und noch tun wollte – mit ihr gemacht und wie sie ihre Beziehungen zu anderen Menschen beeinflusst hatte. Das war in den Jahren in Portugal noch deutlicher geworden, da ihre Eltern dort nicht in ihr Leben eingreifen konnten. In der ersten Zeit hatte sie sich automatisch gefragt, was Gunilla und vor allem Rune über dies und jenes, was sie unternahm, denken würden. Nach und nach war ihr das vergangen, sie fühlte sich immer aufsässiger und schließlich frei. Ihr ansteckendes Lachen war in den Straßen von Lissabon und in den Gassen von Serpa immer häufiger zu hören gewesen.

Rune hatte immer ein gewaltiges Kontrollbedürfnis gehabt; vor jedem Besuch im Supermarkt musste eine Liste aufgestellt werden, vor Reisen, vor Einladungen zu Festen, vor den meisten Lebensäußerungen der Familie, alles musste aufgeführt und abgehakt werden. Nachlässigkeit und Schlamperei waren verboten. Von ihm bei den Hausaufgaben abgehört zu werden, war eine Tortur, und das waren auch seine Versuche, in ihren Teenagerjahren ihre Clique und die ersten Freunde zu überprüfen.

Cecilia hatte schon früh festgestellt, dass er die SMS und Mails seiner Frau las. Cecilias Passwort hatte er nie herausgefunden, sonst hätte er auch bei ihr geschnüffelt, da war sie sich sicher.

Nun hatte er keine Kontrolle mehr über sie, und seine Frustration musste ungeheuer groß sein. Er wusste, dass sie noch lebte, aber nicht, wo und wie, und auch nicht, mit wem sie sich traf, mit wem sie vögelte.

Der Stein, den sie am Strand aufhob, war schwarz, aber hell geädert. Sie ließ den Zeigefinger über die unebenen Ränder laufen. Aus solchen Steinen hatte sie ihre Türme gebaut. Die runden waren viel zu glatt, es war unmöglich, damit etwas Sinnvolles zu errichten. Sie ging in die Hocke, hob einen Stein nach dem anderen auf, baute aber keinen Turm, sondern legte sie auf dem Boden zu einem Kreuz.

In einigen Tagen war die Beerdigung. Sie ahnte, dass ihre Unruhe und ihr fehlender Appetit daran lagen. Sie würde sie alle sehen, die alten Freunde und Bekannten, und auch ihre Eltern. Vielleicht Blitz, ihn, den letzten der Insulaner, der sie gesehen und erkannt hatte. Die Frage war, ob er es wieder tun würde. Adrian würde in Spitzenform sein, er stand zu gern im Mittelpunkt.

Musste er sterben? Diese Frage ging ihr schon lange durch den Kopf. Ja, hatte sie bisher jedes Mal geantwortet, und jetzt, da Olga tot war, hatte sie freie Bahn.

3

Aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz hatte Nils »Blitz« Lindberg seinen Führerschein noch immer. Wie oft er schon betrunken über Gräsö gefahren war, ließ sich nicht mehr zählen, aber Glück, loyale Freunde und nicht zuletzt der Mangel an Polizeikontrollen hatten ihn und andere vor Unfällen und dem Verlust der Fahrerlaubnis bewahrt. Die Vorsehung hatte das Ihre getan. Einige Besuche im Straßengraben und in der Vegetation hatte er absolviert, in manchen Fällen hatte ein Traktor zur Rettung des Fahrzeugs geholt werden müssen, eines schon lange nicht mehr begutachteten Simca Pick-up von unbestimmbarem Jahrgang. Zuletzt wäre es in einer trickreichen Kurve kurz vor Malmen fast schiefgegangen. Zum Glück war ein Traktor in der Nähe gewesen, es war zu der Zeit, in der die Boote zu Wasser gelassen wurden.

Die Insel hatte schon lange ihre eigenen Gesetze, die nicht unbedingt mit denen des Staates Schweden übereinstimmten. Die Lage hatte sich im Laufe der Zeit zwar ein wenig geändert, soziale Kontrolle und das Bedürfnis der Insulaner nach Arbeitsplätzen auf der anderen Seite von Öregrundsgrepen hatten die Sesshaften Schritt für Schritt ausgenüchtert, jedenfalls auf den Straßen. Das galt auch für Blitz.

Deshalb stand er mit seinem Fahrrad auf der Fähre. Immer backbords. Immer mit einer Schirmmütze der Firma Lantmännen in Piteå. Fast immer mit einigen Tüten aus dem staatlichen Alkoholgeschäft in den Taschen zu beiden Seiten des Gepäckträgers. Er sah ein bisschen zurechtgemacht aus, hätte fast für einen Sommergast gehalten werden können, doch das Fehlen von Pastelltönen in seiner Kleidung entschied den Fall: Er war einer von Gräsö, dort war er geboren und dort würde er sterben. Was Letzteres anging, konnte es niemand mit Bestimmtheit sagen, doch die Gefahr, dass er auf dem Festland ins Gras beißen könnte, war doch sehr gering. Er verbrachte seine meiste Zeit auf der Insel. Es gab Ausnahmen; seine Reisen nach Lissabon waren zweifellos das Aufsehenerregendste, was er jemals unternommen hatte.

Seine Besuche in der portugiesischen Hauptstadt hatten seinem Leben in gewisser Weise eine neue Richtung gegeben. Von außen betrachtet, war er derselbe, nur wenige hatten eine wirkliche Veränderung sehen können, er hatte im Prinzip dasselbe Bewegungsmuster wie immer, hielt sich an dieselbe Diät, aber bei Blitz waren die Körperflüssigkeiten ausgetauscht worden. Inwieweit die gesunden die Leitung übernommen hatten, stand noch aus.

Seine Mutter, die in einer Kate in Klockarboda lebte, hatte natürlich etwas bemerkt. »Alles wie immer«, so hatte Blitz leicht gereizt und schroff ihre Fragen abgewehrt. Sie machte sich nicht gerade Sorgen, war eher unsicher, was das alles zu bedeuten hatte. Vielleicht ist da eine Frau im Spiel, dachte sie, und das stimmte.

Es war in Lissabon passiert. Er hatte einen Tipp bekommen, und der hatte dazu geführt, dass Blitz zum ersten Mal in seinem Leben einen Pass beantragt hatte. Es war sein Bruder Axel, der sich, als die Dunkelheit sich über Vidsel in Norrbotten gesenkt hatte, bereit erklärte, eine Reise nach Portugal zu unternehmen. Er und seine Frau hatten eine Woche in Lissabon verbracht und sich, laut Axel, überraschend wohlgefühlt. Dort hatte er im Gewimmel Cecilia Karlsson gesehen, er war jedenfalls »fast sicher«, dass sie es gewesen war. Für Blitz war das genug. Axel war nie angetrunken, oft beherrscht und fast immer ein zuverlässiger Zeuge.