Die Tränenkönigin - Jay Lahinch - E-Book
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Die Tränenkönigin E-Book

Jay Lahinch

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Beschreibung

Ich liebe den Regen, denn er macht deine Tränen unsichtbar. Manchmal ist der Tod nicht nur das Ende eines geliebten Herzens, sondern besiegelt zugleich dein Schicksal. Das muss Nava schmerzlich erkennen, als ihr Zwillingsbruder nach dem Tod ihrer Eltern verstummt. Eine Flucht aus Marenna scheint ihr einziger Ausweg und nur der fremde Jayden ist bereit, sie auf dieser Reise ins Ungewisse zu begleiten. Erst ein unglaubliches Angebot der Tränenkönigin gibt ihrem Weg eine Richtung. Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach den Tränen, die nicht nur das Schicksal ihres Bruders, sondern das einer ganzen Welt für immer verändern könnten. Der Auftakt einer zauberhaften Fantasy-Dilogie voller Gefühl und Magie – für alle Fans von Mary E. Pearson und Elvira Zeissler.

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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

eBook-Lizenzausgabe September 2025

Copyright © der Originalausgabe 2023, Bookapi Verlag ek. K., Theodor-Heuss-Str. 5, 89340 Leipheim

Copyright © der eBook-Lizenzausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nina Prömer

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (cdr)

 

ISBN 978-3-69076-530-5

 

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Jay Lahinch

Die Tränenkönigin

Roman | Tränen-Dilogie, Band 1

 

dotbooks.

Für Dani

Denn wenn all unsere Tränen Stufen wären, würden wir in den Himmel steigen und dich zu uns zurückholen.

Prolog

 

Für Mut und Lachen gibt es Masken, die keinem zeigen, dass man zerbricht.

Für Trauer und Tränen jedoch nicht.

Nate

 

Auf dieser Welt werden unzählige Tränen vergossen. An jedem einzelnen Tag. Jede von ihnen ist eine zu viel.

Aus Schmerz, Trauer und Enttäuschung werden die meisten Tränen vergossen. Und sie sind es auch, die als Meere in meinem Himmel schwimmen. Sich dort sammeln und zu unendlichen Weiten werden.

Es ist immer ähnlich. Zuerst ereilt uns das Gefühl, das einen bitteren Beigeschmack hat. Anschließend werden wir selbst in den Sturm unserer Emotionen gerissen und er nimmt jegliche Kontrolle über uns ein. Wir sind nicht mehr wir selbst und Teile unserer Seele werden uns entrissen.

Jede Träne meiner Seelenkinder findet ihren Platz bei mir. Und mit jedem von ihnen leide ich ebenfalls. Jedem verantwortlichen Gefühl gebührt sein eigenes Meer aus zahlreichen Tränen. Die Traurigkeit ist ruhig, beherbergt aber unendliche Tiefen, die immer dunkler und schwerer werden. Dagegen ist die Wut ein tosender Sturm, der stets gut bewacht sein muss. Aus dem Meer, das die Enttäuschung umfasst, kann ich manchmal ein leises Schluchzen hören. Es vergeht kein Tag, ohne dass eine neue Träne in meine Meere fällt. Sie füllen sich unaufhaltsam, sodass mich die Frage, weshalb meine Seelenkinder auf diese Weise leiden, bis tief in mein Inneres quält.

Mit ansehen zu müssen, wie sie Tag für Tag weinen, schmerzt mich sehr. Weil auch mein Herz klagt, wenn sie einen geliebten Menschen verlieren, enttäuscht werden oder den Glauben an die Liebe aufgeben. Denn es ist weitaus mehr als der Grund, den meine Seelenkinder zu kennen meinen. Als Königin der Tränen ist es nicht nur meine Pflicht, die gesammelten Tränen zu hüten und meinen Kindern tiefstes Mitgefühl zu schenken. Nein.

Jede Träne, ob still und leise oder laut schluchzend und schreiend vergossen, ist ein spiegelnder Teil ihrer Seele, der den Körper verlässt und hier in meinem Himmel aus Meeren schwimmt. Das Weinen tausender Tränen beraubt sie ihrer eigenen Seelen.

Mit einem Blick auf meine beinahe unendlichen Meere ergreifen mich Zweifel, dieser unmöglichen Aufgabe gerecht zu werden. Den Menschen dieser Welt ihre Seelensplitter zurückzubringen, um ihre Empfindungen vor dem Verblassen zu retten. Wenn es eines Tages dazu kommt, dass sie all ihre Tränen vergossen haben und nicht länger in der Lage sind zu fühlen – dann dreht sich die Welt für sie zwar weiter, aber was von ihnen bleibt, ist nicht mehr als eine seelenlose Hülle.

Während sich die Meere aus Trauer und Schmerz in meinem Himmel den Krieg erklären, nehme ich an jedem beginnenden Tag das Unmögliche auf mich, um die Hoffnung aufrechtzuerhalten, meine Kinder vor ihrem eigenen Verlust zu wahren.

Kapitel 1

 

Was wir zu Grabe tragen, ist nur unser Erdenkleid, was wir lieben, bleibt für die Ewigkeit.

Nate

 

»Die Zeit heilt alle Wunden«, sagten sie und tätschelten mir dabei vorsichtig auf den Arm. Dies sollte wohl ihr Mitgefühl ausdrücken. Stattdessen klangen ihre Worte hohl und leer und ich fühlte mich einsamer denn je.

Haltlos und verlassen, ein verstoßenes Kind der Gesellschaft. Familienlos. Das war das Wort, das es am besten beschreiben konnte.

In unserer Welt wird alles über den Ruf der Eltern, das Ansehen der Ahnen und die Ehre der Familie entschieden. Wenn all das jedoch abhandenkommt, und sei es auf noch so tragische Weise, ist man in Marenna ein Nichts, ein Ehrenloser. Dazu verdammt, sein restliches Leben allein und abseits der guten Gesellschaft zu verbringen.

Doch zu meinem eigenen Glück – und Unglück – war da Nate, mein Zwillingsbruder. Wir gleichen einander so sehr, dass unsere Eltern damals sagten, wir würden denselben Menschen, aber in verschiedenen Geschlechtern, repräsentieren. Die rot schimmernden, seidigen Haare wie unser Vater und ebenso die blauen Augen unserer Mutter. Jeder einzelne Ausdruck meines Gesichts gleicht seinem. Wie sehr ich sie vermisse, dachte ich. So sehr, dass der Schmerz beinahe mein Herz zerspringen ließ.

Jetzt starrte Nate nur ausdruckslos an die Wand, die sich kahl und leer vor ihm erstreckte. Das strahlende Blau seiner Iris hatte sich in Grau verwandelt. Er bewegte sich nicht, sprach nicht und manchmal hatte ich Angst, er könnte einfach aufhören, zu atmen. Seit dem Tag, an dem wir unsere Eltern zu Grabe tragen mussten, hat er nichts anderes mehr getan. Egal, wie viele Versuche ich wagte, mit ihm zu sprechen – durch diese eiserne Mauer zu ihm durchzudringen. Aber es schien unmöglich und mein Bruder war mir ferner als jemals zuvor. Als hätte ich tatsächlich meine gesamte Familie bei diesem Unglück verloren.

Unsere Eltern waren nicht die wichtigsten Menschen in unserer Stadt gewesen, aber wir hatten auch nicht der untersten Schicht angehört. Mein Vater hatte ein Anwesen im äußeren Zentrum von Marenna besessen und mit vielen, erstschichtigen Personen in Kontakt gestanden.

Aus unserem Zuhause hatte ich ein wunderschönes, kleines, gerahmtes Bild unserer Familie mitgenommen und zwei Kleider, die ursprünglich meiner Mutter gehört hatten. Nicht, weil mir meine eigenen nicht gefielen, sondern weil ich das Bedürfnis hatte, ihr ein wenig näher zu sein. Die Erinnerung, wie Nate durch das Haus wandelte, als befände er sich im Schlaf, war mir unheimlich. Mehrmals hatte ich ihn zur Eile gedrängt, ihn gebeten, die verschiedensten Dinge aus unserem Heim zu retten, weil seine Arme kräftiger waren als die meinen. Ich hatte ihn angefleht, die Tränen waren dabei in meine Augen gestiegen. Trotzdem hatte Nate das Haus mit leeren Händen verlassen, während ich versuchte, noch nach allem zu greifen, was in meine Reichweite geriet.

Heute war der dreiunddreißigste Tag danach und seine Stille trieb mich in die reinste Verzweiflung. Wütend ballten sich meine Hände zusammen und mein Blick verfinsterte sich. Bald würde Madame Patrice uns endgültig vor die Tür setzen und uns dem Schicksal der Mittellosen überlassen. Als einstige Bekannte unserer Mutter hatte sie sich dazu berufen gefühlt, uns bei sich aufzunehmen. Stattdessen zählte sie innerlich sicherlich nicht nur die Tage, bis wir gingen, sondern auch jeden Schluck Wasser, den wir tranken, und scheinbar auch jeden Atemzug, den wir unter ihrem Dach machten. Denn in Wahrheit ging es ihr nur um ihr eigenes Ansehen, das sie steigern wollte.

Langsam löste ich mich aus meiner Haltung und setzte mich neben Nate auf den Boden. Er hatte seine Starre perfektioniert und würde er manchmal nicht doch blinzeln, würde nichts ihn von einer Puppe unterscheiden.

»Nate«, flüsterte ich ihm mit Bedacht zu, als könnte gleich etwas passieren. Dabei wünschte ich mir nichts mehr als irgendeine Reaktion von ihm. Seine Augen hafteten weiterhin an der Wand.

»Nate, wir müssen von hier fortgehen. Schon bald, glaube ich. Du hast ihre Geduld wirklich komplett überstrapaziert, hörst du? Aber ich kann nicht ohne dich gehen. Du musst mit mir kommen. Bitte.« Das letzte Wort fügte ich mit Nachdruck hinzu, dabei hatte es keine Wirkung. Ich strich über die gleichen rotblonden Haarsträhnen, wie ich sie trug, und legte meine Hand danach auf seine. Erleichtert stellte ich fest, wie sein Puls unter meinen Fingern schlug und dass er trotz allen Äußerlichkeiten noch nicht verloren war.

»Bitte, Nate. Du musst zu mir zurückkommen. Ich schaffe das nicht ohne dich.« Meine Stimme war zuvor bereits leise gewesen, doch jetzt war sie nichts mehr als ein klägliches Wimmern.

»Du gibst nicht nur dich selbst auf, sondern auch mich!«, zischte ich ihm zu. Die Tränen stiegen langsam in meine Augen und liefen über mein Gesicht. Unzählige Male hatte ich bereits neben ihm geweint, um meine Eltern getrauert und um meinen verlorenen Bruder. Dafür hatte er nicht eine einzige Träne vergossen.

»Nate, bitte, das ist mein allerletzter Versuch! Du musst nicht sprechen, nichts erklären und nichts rechtfertigen. Aber bitte sieh mich an, damit ich weiß, dass du noch da drin bist. Sieh mich an! Du kannst uns nicht beide aufgeben – bitte!« Ein jämmerliches Schluchzen entwich mir, während Nate weiter regungslos an die Wand blickte und nicht einmal blinzelte.

 

***

 

Für mein Vorhaben hätte ich am besten eine bequeme Hose tragen sollen, allerdings war sie den Frauen in Marenna nicht erlaubt. Außer sie gehörten der untersten Schicht an und besaßen nicht mehr als die Lumpen, die sie fanden oder schon vor Generationen gestohlen hatten. Aber von ihnen sah man im Zentrum der Stadt nie jemanden.

Mit dem nächsten Morgen erwachte mein Entschluss, etwas zu tun, das meinem eigenen Charakter widersprach. Noch nie zuvor hatte ich in meinem Leben einen Menschen bestohlen und bisher wäre mir das niemals in den Sinn gekommen. Auch wenn meine Ehrlichkeit gegen mich ankämpfte, spürte ich bereits den entschlossenen Impuls, es für unseren weiteren Weg zu tun. Für Nate zu tun.

Aus der Auswahl, die mir an Kleidern geblieben war, wählte ich eines, das etwas kürzer, flach und leicht war. Sodass ich bei einer möglichen Flucht losrennen konnte. Jedoch hoffte ich nach wie vor, davon verschont zu bleiben. Innerlich betete ich, jemand möge seine goldenen Münzen offenherzig in einem einfachen Beutel tragen, in dem meine Hand schnell verschwinden konnte, bevor es bemerkt wurde.

Nachdem ich fertig war, spähte ich auf die breite Treppe hinaus und wartete einige Atemzüge ab. Meist herrschten hier aufgeregte Gespräche der Angestellten oder die deutlichen Anweisungen von Madame Patrice, der ich möglichst nicht über den Weg laufen wollte. Ihr müsste ich sonst auf jede einzelne ihrer bohrenden Fragen eine Antwort geben. Und das würde in der Tat eine Herausforderung sein.

Der mittelalterliche Stil des Hauses zeigte sich an den hohen Decken und aufwendigen Verzierungen. Der marmorierte Boden glänzte und die Teppichläufer waren aus einem tiefen Rot. Die große Treppe zum Haupteingang trennte das Anwesen in zwei Bereiche: die Gemächer der Ehrenträger und im östlichen Flügel befanden sich Küche, Speisesaal und weitere Räume, wie unsere Gästezimmer.

Zu meinem Glück war der Gang ruhig, noch war ich zeitig genug auf den Beinen, um das Treiben im Hause zu umgehen. Eilig huschte ich die Treppe hinunter und erreichte gerade die Tür des Hauses, als ich hinter mir ein Geräusch vernahm. Der Klang seiner Schritte verriet mir augenblicklich, wer hinter meinem Rücken die Treppe hinab eilte.

Ich traute mich nicht, über meine Schulter in das fiese Gesicht mit den dunklen Augen zu blicken, und überlegte für den Bruchteil einer Sekunde einfach durch die Tür hinaus zu verschwinden. Mein Davonlaufen würde allerdings mehr Verdacht erregen und ihm weiteren Anlass bieten, mich zu verraten.

»Wohin des Weges zu dieser frühen Zeit?«, sprach Tyler. Dabei verachtete ich bereits die Art seiner Aussprache, seine gestellte Überlegenheit. Wie sehr er doch nach verzogenem Einzelkind klingt, dachte ich bitter und biss mir auf die Lippe. Niemals dürfte ich diese Gedanken laut aussprechen.

»Entschuldige, habe ich dich geweckt?«, entgegnete ich und wandte mich zu ihm um. Obwohl uns nicht einmal ein Jahr Altersunterschied trennte, setzte ich zu einem Knicks an, da er als Sohn des Hauses höhergestellt war.

Seine schmalen Lippen zogen sich zu einem widerlichen Lächeln zusammen und er kam auf mich zu. »Nein, aber du weichst mir aus, Nava. Und ich mag es nicht, wenn man meine Fragen nicht beantwortet«, sprach er weiter und seine Stimme klang dabei so unecht, dass mir nicht mal in den Sinn kam, wir wären beinahe gleich alt. Mein Puls beschleunigte sich und ich hoffte, er würde meine Unruhe nicht bemerken.

»Entschuldige, bitte. Ich muss nun wirklich los, man erwartet mich bereits«, antwortete ich darum bemüht, freundlich zu klingen, und Tyler musterte mich abschätzend.

»Und wer sollte das sein?«, hakte er nach und seine dunklen Augen ruhten schwer auf mir. Er ist seiner Mutter sehr ähnlich, dachte ich, kurz bevor ich seine Frage registrierte. Als einziger Sohn des Hauses trug er die Familienehre mit ganzem Stolz, wenn er den Menschen gegenübertrat. Doch in seinem Innern musste alles so dunkel sein wie seine braunen Augen.

»Ein Treffen mit einer alten Freundin.« Schnell senkte ich den Kopf, als er nahe an mich herantrat.

»Erzähl mehr. Oder darf ich von meiner Zukünftigen nicht alles erfahren?«, forderte er mich mit hässlichem Grinsen auf und fasste mir unters Kinn. Am liebsten, es war für diesen Moment mein größter Wunsch, wollte ich ihm die Hand abschlagen und ihm meinen Widerspruch ebenso aufgebracht entgegenbringen, wie es in mir tobte. Stattdessen blieb ich ruhig und gefasst, sah kurz in sein Gesicht und zwang mich zu einer gespielten Geste.

»Aber, Tyler, es soll doch eine Überraschung für Madame Patrice und euer Haus sein. Ich kann es dir einfach nicht verraten.« Meine Worte klangen langsam, bedacht und wie die einer naiven Frau. Ich konnte ein unruhiges Zucken seiner Mundwinkel erkennen, weil er den Grund für mein Fortgehen nicht erfahren würde.

»Und jetzt entschuldige bitte. Du wirst dieser Überraschung doch nicht ihren Effekt nehmen wollen.«

Tyler blinzelte kurz und straffte die Schultern. »Natürlich nicht, Zukünftige. Wie könnte ich nur. Aber sei rechtzeitig zurück, ich würde es mir nie verzeihen, wenn …«

Mit einem kräftigen Schwung zog ich die Tür hinter mir zu und unterbrach damit Tylers trügerische Lügen.

Draußen versuchte ich, schnell zwischen den Menschen zu verschwinden, falls er durch die Fenster blicken würde, um meinem Weg zu folgen. Ich war jedoch geschickt darin, unterzugehen und unsichtbar zu sein. Ein wunderbares Gefühl.

 

***

 

Das Markttreiben im Zentrum der einzigen Stadt hatte auf den Straßen von Marenna bereits begonnen und viele Frauen waren auf dem Weg zu den Händlern. Trotz ihrer Plaudereien und Gesprächen hallten Tylers Worte wie ein Echo in mir nach.

Zukünftige. Eine unangenehme Bezeichnung, wenn sie so lieblos und kalt ausgesprochen wurde. Andere Worte für unsere Beziehung fielen mir allerdings nicht ein. Sein Verlangen nach mir als seiner Zukünftigen war ebenfalls ein entscheidender Grund, das Haus sobald als möglich zu verlassen. Auch wenn ich noch immer nicht wusste, wie ich Nate dazu bewegen sollte. Immerhin würde es nicht einfach sein, meinen eigenen Bruder zu entführen. Selbst wenn es zu seinem Schutz war.

Mein Vorhaben trug noch immer Risse in sich – ich ahnte nicht, wo ich beginnen sollte oder wie ich es am geschicktesten anstellen konnte, die Geldbeutel meiner Mitmenschen zu erleichtern. Ich brauchte das Geld. Ich brauchte es wirklich. Nate und ich mussten, sobald wir aus dem Haus von Madame Patrice geflohen waren, irgendwie untertauchen. Dazu benötigten wir so viel und nichts davon würde uns einfach in den Schoß fallen.

Denn direkt nach unserem Verschwinden würde die Suche nach uns beginnen, dessen war ich mir sicher. Und es wäre nicht Madame Patrice, die sich um uns sorgte und deshalb nach uns ausrufen lassen würde, sondern Tyler. Egal, wie sehr ich diesen Jungen verabscheute, ich war felsenfest davon überzeugt, dass er jeden Stein in Marenna nach mir umdrehen würde, um mich bis an mein Lebensende an sein Haus zu binden. Zuerst als seine Zukünftige und irgendwann als seine Ehefrau.

Ein Schauer lief mir bei diesem Gedanken über den Rücken und ich schüttelte mich. Es war vollkommen unsinnig, dass er sich auf mich fixiert hatte. Selbst seine Mutter hatte versucht, seine Meinung in etlichen Gesprächen zu ändern. Doch Tyler blieb bei seinem Entschluss und mit dem Tag meiner Volljährigkeit würde ich zu ihm gehören.

Diese Tradition kam in jeder Geschichte der Stadt vor, an die ich mich erinnern konnte. Sobald ein Mann volljährig wurde – was mit dem Erreichen seines achtzehnten Lebensjahres der Fall war –, durfte er sich seine zukünftige Frau erwählen. Das Einzige, was mich vor diesem Schicksal bewahren konnte, war ein anderer Mann, der ebenfalls Anspruch auf mich erhob. So sehr ich diesen Gedanken auch verabscheute, den Wunsch danach bewahrte ich sehnlichst in meinem Herzen auf. Jeder Mann wäre besser als Tyler.

Aber niemand würde mir diesen Wunsch erfüllen. Denn am Ende war ich eine Ausgestoßene, eine Frau ohne Mittel und Wege. Ich hatte keinerlei Attraktivität für eine Heirat zu bieten. Keine Ländereien, kein Anwesen. Keinen Ruf und keine Kammern voller Goldmünzen, die ihm mit unserer Vermählung zustehen würde. Nichts.

Das machte mich für den Heiratsmarkt so uninteressant wie wohl keine andere in dieser Stadt. Nur Tyler schien sich in den Gedanken verbissen zu haben, mich besitzen zu wollen … und niemand verstand, warum.

Bei einer Feierlichkeit meines Vaters hatte er mir einmal etwas ins Ohr geflüstert, das mir heute noch in den Ohren nachklang.

»Es ist, weil du so einzigartig schön bist. Keine in Marenna trägt so helles, kupferrotes Haar und hat so strahlend blaue Augen wie du. Du bist unverwechselbar und jeder soll wissen, dass du zu mir gehörst.«

Ein Zittern überkam meine Hände und ich zwang mich zur Ruhe. Sonst würde es mir unmöglich sein, die guten Leute um ihre Münzen zu erleichtern. Außerdem hatte ich Tyler und seine unheimlichen Worte längst hinter mir gelassen, oder zumindest redete ich mir das ein. Mein Vorhaben sollte dieses Schicksal schließlich von mir abwenden und da konnte ich mir nicht mal die kleinste Ablenkung leisten. Ich würde alles daransetzen, einer anderen den Platz an Tylers Seite zu ermöglichen.

Doch niemand würde mich darum beneiden.

 

***

 

Die Schönen und Reichen mochten den Austausch auf den Märkten, sehen und gesehen werden. Die Frauen trugen prächtige Kleider und hatten ihre Frisuren mit den schönsten Blüten geschmückt. Zur Zeit des Marktes begegneten einem in der Stadt kaum Männer. Aber selbst wenn man dann mal einem über den Weg lief, war dieser stets ebenso gut gekleidet wie sein weibliches Pendant. Voller Stolz präsentierten sie das Wappen ihres Hauses zur Schau und machten damit den Unterschied zwischen den einzelnen Klassen deutlicher – es versetzte mir einen Stich, zu sehen, wie sie sich gaben und mir vor Augen führten, dass ich inzwischen keinen Wert mehr besaß.

Zuerst beobachtete ich das Treiben und wie die Menschen ihre Täschchen aufrissen, um an den Marktständen zu bezahlen. Ich verfolgte daraufhin eine kräftige Frau mittleren Alters, die ihren Beutel nur achtlos in die große Tasche ihres Rocks geschoben hatte. Aufmerksam lief ich hinter ihr her, bildete mir ein, das Klimpern der Goldstücke bereits zu hören. Die Frau kannte ich nicht und soweit ich wusste, war sie auch nicht aus einem erstschichtigen Haus oder eine besonders ehrenwerte Person, denn diese lernte man früh in der Stadt zu kennen. Wie gebannt starrte ich auf ihre Tasche und huschte nahe an sie heran, als sie einer anderen Frau etwas zurief. Beide lachten erfreut und gerade als die unachtsame Dame zu einer leichten Verbeugung ansetzte, glitt ich mit meiner Hand in die Tasche hinein und schnappte nach dem Beutel. Das Adrenalin schoss mir durch die Adern und ich konnte das schnelle Pochen meines Herzens hören, als ich mich zwischen die Menschen drängte, um unbemerkt in der Menge zu verschwinden. Unzählige Fragen und Zweifel schlichen sich in meine Gedanken und ich wurde das Gefühl nicht los, einen Entschluss mit fatalen Folgen gewählt zu haben. Was, wenn jemand mich erkannt hatte und identifizieren würde? Es wäre mein gnadenloser Untergang, wenn Madame Patrice von dieser Tat erfahren würde.

Gerade als ich um die Ecke in eine Seitenstraße bog, blieb ich stehen und lehnte mit dem Rücken gegen eines der Häuser. Die Mauer war kühl und ich beruhigte mit einigen tiefen Atemzügen meine anfängliche Nervosität. Erst jetzt realisierte ich meine Schandtat und betete innerlich, es möge sich gelohnt haben und Nate endlich wach werden lassen. Das hier war nicht ich und doch war es zu meinem Glück einfacher gewesen, als ich anfangs geglaubt hatte.

Mein Atem und Herzschlag hatten sich wieder normalisiert, als eine Hand nach meinem Arm griff und mich festhielt. Erschrocken fuhr ich herum. Ein Junge, nur ein wenig älter als ich, musste so eilig um die Ecke gekommen sein, dass mir keine Zeit geblieben war, um es zu bemerken.

»Psst!«, zischte er und der Schreck zuckte wie ein Blitzschlag durch mich hindurch. Jemand hatte mich tatsächlich bemerkt und war mir ohne Probleme gefolgt, während ich geglaubt hatte, entkommen zu sein. Für den Bruchteil weniger Sekunden wägte ich meine Fluchtmöglichkeiten ab, doch der Fremde hielt meinen Arm fest und war mir körperlich deutlich überlegen. War ich wirklich so naiv gewesen zu glauben, ich könnte, ohne aufzufallen, einen Menschen bestehlen? Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

»Was soll das?«, entfuhr es mir plötzlich und ich musterte ihn. Er war keiner aus der Unterschicht, das sah ich sofort. Die braunen Haare waren, bis auf ein paar wenige Strähnen, die ihm ins Gesicht fielen, ordentlich, die Kleider sauber und sein dunkelgrüner Umhang hochwertig und mit dem Wappen eines Ehrenhauses bestickt. Deshalb verwirrte er mich umso mehr, denn er machte nicht den Anschein, als hätte er es nötig, mich auszurauben. Stattdessen hatte er sicherlich vor, mich an die Wachen auszuliefern und meinen Diebstahl zu verraten.

»Bitte, ich werde dir nichts tun«, sagte er mit ruhiger Stimme und ich blickte ihn mit deutlicher Verwirrung an. Weshalb war er mir dann gefolgt und hielt mich fest?

»Loslassen!« Ich zerrte an meinem Arm, doch sein Griff war stark, ohne aber schmerzhaft zu sein.

»Erkläre dich und ich werde dich nicht weiter aufhalten.«

Ich war mir nicht sicher, ob das ein Scherz sein sollte. Sicherlich hatte er meine Tat bemerkt und forderte nun mein Geständnis, um mich den Wachen zu übergeben. Verdammt. Was, wenn auch weitere Personen gesehen hatten, wie ich die Münzen aus der Tasche gezogen hatte? Ohne meinen Kopf zu heben, spähte ich die Seitengasse entlang und versuchte, einen Fluchtweg zu finden, bevor er mich an eine Wache ausliefern konnte.

»Nennst du das hier eine Erklärung, Mädchen?« Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen. Er wirkte so freundlich und ich wusste nicht, was mich daran mehr überraschte. Wieso jemand freundlich zu mir war, obwohl ich gestohlen hatte, oder warum ein Fremder überhaupt diesen Anstand einer Diebin gegenüber wahrte.

»Nenn mich nicht so«, zischte ich.

»Du meinst Mädchen?«, hakte er nach und ich nickte. Auch wenn ich mich gerade nicht in einer günstigen Position befand, schien es mein gutes Recht zu sein, darauf zu bestehen.

»Dann verrate mir deinen Namen«, sagte der Fremde und ließ meinen Arm los. Überrascht sah ich auf und betrachtete seine funkelnd grünen Augen.

»Damit du mich anzeigen kannst?«, fragte ich ungehalten und zog beide Arme hinter meinen Rücken.

»Ganz schön misstrauisch für eine Diebin. Mein Name ist Jayden. Und ich werde dich nicht verraten, wenn du mir deinen Namen sagst. Und dein Handeln erklärst.« Wieder dieses Lächeln, das mich kurz innehalten ließ.

»Nava«, erwiderte ich und wandte meinen Blick erneut zu Boden. Er wiederholte meinen Namen zweimal mit weicher Stimme.

»Ich habe dich beobachtet, Nava, und doch werde ich dich gehen lassen. Meine Mutter lehrte mir einst, dass das Vergeben vergangener Taten – neue, bessere erwachen lässt.« Jayden lächelte mir hoffnungsvoll zu. Meine Mutter wäre entsetzt, wenn sie mich hier und jetzt gesehen hätte. Jahrelang hatte sie uns bestes Benehmen und ehrenhaften Anstand gepredigt. Schamgefühl stieg in mir auf und ich hob nur zaghaft den Blick zu Jaydens Gesicht.

»Entschuldigung. Auch meine Mutter lehrte mich Anstand und das Wahren von Ehre und Gerechtigkeit«, wiederholte ich ihre Worte, die ich auswendig kannte. Sogar den Klang ihrer Betonung hatte ich noch im Ohr.

»Deine Tat sei verziehen und ich werde dir die Chance überlassen, eine bessere daraus wachsen zu lassen.« Er nickte mir freundlich zu, als Zeichen, dass er sich verabschiedete.

»Entschuldigung, ich war wohl nicht ich selbst«, sprach ich und deutete ebenfalls ein Nicken an.

»Nenn mich Jayden«, bat er und grinste mich vorsichtig an.

»Unsere Wege werden sich nie wieder kreuzen in dieser großen Stadt, also wieso sollten wir –«

Doch er unterbrach mich mitten im Satz. »Unsere Wege werden sich kreuzen, wenn es das Schicksal möchte, Nava. Aber selbst wenn nicht, möchte ich nicht nur der Namenlose in deinen Erinnerungen sein, der dich zur Vernunft gebracht hat.« Jayden nickte dann zum Abschied und ging durch die Seitengasse direkt wieder in die Richtung des Marktgeschehens.

Nachdem er verschwunden war, begannen meine Gedanken sofort, sich aufgeregt zu drehen. Für einige Momente hielt ich inne und versuchte zu verstehen, was soeben passiert war. Dass der Fremde mich erwischt hatte, brachte mich noch immer durcheinander und ich begann, das innere Chaos zu ordnen. Vielleicht war es ein zu voreiliger Entschluss gewesen, ihm mit demselben Misstrauen wie Tyler gegenüberzutreten. Ein Schauer glitt mir über den Rücken und ich verscheuchte den Gedanken an diesen Jungen. Tylers Frau zu werden, wo ich ihn nicht liebte, nicht einmal eine minimale Zuneigung empfand und auf eine gewisse Art sogar verabscheute, widerte mich an. Diese Ungerechtigkeit unter dem Regime des Majors, dass junge Mädchen wie Tiere verkauft und gegen ihren Willen verheiratet wurden, bestätigte die Entscheidung für meinen begangenen Diebstahl. Als müsste ich mein Gewissen damit besänftigen, dass ich das Richtige tat, indem ich gegen dieses vorgegebene Schicksal ankämpfte. Zuerst versicherte ich mich, allein in der Seitengasse zu sein, dann zählte ich die Münzen im Beutel, den ich der Frau entrissen hatte. Vierzehn vergoldete Münzen waren nicht gerade wenig, jedoch würde es nicht einmal reichen, um ein Lasttier zu kaufen. Ein tiefer Atemzug füllte meine Lunge und ich sah auf. Außerhalb der Stadt wäre das Überleben sowieso nicht in Gold zu bezahlen. Nur in Mut und Tapferkeit, dachte ich.

Erst dann begann ich in die entgegengesetzte Richtung zum Haus von Madame Patrice zu laufen. Meine Beine trugen mich, so schnell sie konnten, und ich warf keinen einzigen Blick zurück.

 

***

 

Außer Atem erreichte ich das Anwesen und trat vorsichtig durch einen ruhigeren Seiteneingang ein. Eine auffällig durchdringende Stimme hallte durch das Gebäude, sodass ich für einen Moment überlegte umzukehren. Gerade rechtzeitig wischte ich die Schweißtropfen von der Stirn, als Madame Patrice auch schon an der obersten Treppenstufe erschien.

»In Ordnung, kümmert Euch bitte eilig darum, ja?« Ihre Adleraugen fanden mich und sie legte den Kopf leicht zur Seite, als hätte sie bereits ihre nächste Beute fixiert.

»Nava, sag, wo seid Ihr gewesen?« Hastig setzte ich zu einem Knicks an und senkte den Blick.

»Entschuldigt, ich war auf dem Markt, um eine Überraschung vorzubereiten«, sagte ich, ohne den Blick zu heben.

»Ist das wahr? Tyler erwähnte es bereits. Aber nun beeilt Euch. Der Hohe Rat wird in Kürze eintreffen. Und so werdet Ihr ihm nicht unter die Augen treten.« Mit diesen Worten ließ sie mich zurück.

Dieser Mistkerl. Natürlich hatte Tyler es Madame Patrice erzählt. So sehr ich mich darüber aufregen wollte, es blieb keine Zeit dafür. Also atmete ich einfach nur einige Male tief ein und aus und erinnerte mich, dass es nicht mehr lange dauern würde. Schon bald würden Nate und ich von hier verschwinden und irgendwo anders unterkommen. Schnell eilte ich die Treppe nach oben und schloss mein Zimmer hinter mir ab. Ich sehnte mich nach einem Moment der Ruhe, um meine Gedanken zu ordnen. Meine Mutter wäre erschrocken und enttäuscht zugleich. Zweifel kamen auf, ob ich zu weit gegangen war. Vielleicht würde Nate gar nicht mit mir fortgehen, stattdessen manövrierte ich mich immer stärker in weitere Schwierigkeiten. Ungläubig legte ich mich auf das Bett und starrte an die Decke. Ich hatte einen Menschen bestohlen und einem freundlichen Fremden gegenüber unangemessen gesprochen, obwohl er mir meine Freiheit gelassen hatte. Mein Verhalten nahm merkwürdige Formen an und ich … Ein heftiges Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken.

»Nava?«, rief Tyler und ich rappelte mich umgehend auf.

»Einen Moment, ich ziehe mir noch das Kleid an«, entfuhr es mir mit nervöser Stimme.

»Der Rat wird gleich eintreffen und meine Mutter erwartet, dass wir ihn gemeinsam empfangen«, erklärte er und ich verdrehte die Augen. Tyler hatte mir gerade noch gefehlt.

Während ich in dem Wandschrank nach einem passenden Kleid suchte, fiel mein Blick kurz auf das Kleid meiner Mutter, das ich vor der Versteigerung hatte retten können. Ein wunderschönes, schulterfreies Ballkleid, dessen Stoff graublau schimmerte. Nur über dem ausgestellten Rock lag eine dünne Schicht aus dunkelblauer Spitze, übersät von zahlreichen glitzernden Kristalle. Es erinnerte mich immer an einen Sternenhimmel, in der Farbe zwischen Dämmerung und Nacht.

Bisher hatte ich kein einziges Kleid meiner Mutter getragen und Madame Patrice wäre sicherlich nicht erfreut, wenn ich zum Empfang des Hohen Rates keines ihrer gekauften Kleider trug. Einen Augenblick zögerte ich zwischen der Vernunft und meinem Wunsch. Tyler pochte nochmals gegen die Tür und plötzlich wusste ich genau, was ich wollte. Ich griff nach dem Sternenhimmelkleid. Egal, was Madame Patrice davon halten würde, an diesem Tag brauchte ich den stillen Trost meiner verstorbenen Mutter einfach.

Einige Minuten später trat ich endlich zu Tyler hinaus. Für eine Sekunde klebte sein Blick überrascht an dem Kleid.

»Oh«, brachte er hervor.

»Na los, wir wollen deine Mutter doch nicht mit Unpünktlichkeit verärgern«, sagte ich mit fester Stimme und hakte mich vorbildlich an seinem Arm ein. Tyler nickte und wir machten uns auf den Weg zur großen Treppe.

 

***

 

Der Hohe Rat stellte sich als ein beträchtlicher, hagerer Mann heraus. Er musste alt sein, so alt, dass er vielleicht seinen Namen vergessen hatte – denn niemand kannte diesen und wenn er sich vorstellte, dann immer nur mit seiner offiziellen Bezeichnung. Wenn in einem der Ehrenhäuser eine wichtige Entscheidung anstand, zog man ihn oft zu Rate. Man ehrte den Hohen Rat, das Gesetz der Stadt, ebenso, wie man ihn fürchtete.

Als er die Treppe betrat und uns keines Blickes würdigte, setzte ich zu einem höflichen Knicks an. Tyler straffte neben mir voller Stolz die Schultern. Doch der Hohe Rat nahm auch ihn nicht wahr.

Hinter dem verschlossenen Mann folgte sein rundlicher Gehilfe, der einige Bücher mit sich trug und auf der Hälfte der Treppe eine kurze Pause einlegte, um heftig nach Luft zu schnappen.

Dann erschien die Hausherrin, deutete ebenfalls einen leichten Knicks an und reichte ihm anschließend die Hand. Der Hohe Rat verzog keine Miene und sprach kein einziges Wort, während sein Gehilfe Madame Patrice hektisch begrüßte.

Wir folgten ihnen in den goldenen Saal. Es war der prachtvollste Raum in diesem Anwesen, denn die Wände waren mit Gold verziert und es hing ein großer Kronleuchter von der Decke. Das riesige Gemälde an der Wand zeigte den ehemaligen Ehrenträger des Hauses, Tylers Vater. Ein stattlicher Mann, dessen ernste und kühle Ausstrahlung selbst von dem Bild aus auf mich wirkte. Eine lange Tafel war aufgestellt, an der jeder seinen Platz einnahm. Als Tylers Zukünftige war ich dazu angehalten, neben ihm Platz zu nehmen. Auch wenn mir dieser eine Gedanke die Brust zuschnürte, setzte ich mich, nachdem er mir den Stuhl zurecht geschoben hatte.

Bevor eine unangenehme Stille aufkam, blätterte der Gehilfe bereits ungeschickt in den Büchern und legte sie dem Hohen Rat vor. Danach richtete er das Wort an Madame Patrice, obwohl man nicht überhören konnte, wie sehr er noch außer Atem war.

»Der Hohe Rat begrüßt Euer Ehrenhaus des lodernden Feuers mit aller Weisheit, um Eurer Entscheidung beizustehen. Bitte bringt Euer Anliegen vor.« Der Gehilfe schnappte schnell wieder nach Luft, während Madame Patrice kurz nickte.

»Wir danken Euch zutiefst für Euer Kommen, Hoher Rat. Euer weiser Ratschlag wird dringend benötigt – wir sorgen uns um die Nachfolge unseres Hauses, die mein Sohn in aller Ehre übernehmen wird.« Alle Blicke richteten sich auf Tyler.

»Er ist längst volljährig und die Wahl seiner zukünftigen Frau überfällig. Marenna bietet derzeit viele Mädchen, aus sehr ehrenwerten Häusern, die in ihrer Volljährigkeit zur Verfügung stehen.« Sie machte eine Pause, ihre zusammengekniffenen Augen ruhten auf mir. »Aber wie Ihr sehen könnt, hat mein Sohn seine Wahl bereits getroffen und ist nicht mehr davon abzubringen. Allerdings ist die gewählte Zukünftige noch nicht volljährig.« Madame Patrice atmete hörbar laut aus und der Hohe Rat räusperte sich. Ich spürte, dass nach ihrem letzten Satz eigentlich ein weiterer hätte folgen sollen. Nämlich einer, der außerdem erklärte, dass ich eine mittellose, von der Gesellschaft ausgestoßene Frau war.

»Keine ungewöhnliche Sache, wenn man sich schon so lange mit diesen Angelegenheiten beschäftigt wie ich. Tatsächlich ist es möglich, dass ein Mann eine Frau als seine Zukünftige erwählt, die noch nicht das achtzehnte Lebensjahr erreicht hat. Aber es braucht auch die entsprechenden Gründe dafür«, sprach der Hohe Rat langsam und bedacht, während mir eine Gänsehaut über den Rücken lief.

Ich hatte es bereits befürchtet, jedoch trotzdem gehofft, dass es in dem heutigen Gespräch um den Verkauf einiger Ländereien ging oder um wichtige Dokumente und nicht darum, dass Tyler unbedingt mich zu seiner Frau machen wollte. Mir wurde warm und ich wollte am liebsten den Raum verlassen. Stattdessen bemühte ich mich, ruhig sitzen zu bleiben, mir nichts anmerken zu lassen.