Die Traumjäger - Stefan Müller - E-Book

Die Traumjäger E-Book

Stefan Müller

0,0

Beschreibung

Unglaublich, was alles passieren kann, wenn ein bizarrer Trupp chaotischer Leute den ultimativen Coup zu landen versucht: John durchlebt mit seinem illustren Freundeskreis – einem Kunstmaler, einem Rockmusiker, einem jungen Punk und einem Partygirl – wilde, aber unbeschwerte Zeiten, bis sie irgendwann auf die Idee kommen, daß John sich für einen international bekannten, exzentrischen englischen Künstler ausgeben und in dessen Namen einen lukrativen Vertrag mit der Stadt Saarbrücken abschließen soll ... Die Protagonisten dieses autobiographisch geprägten Romans bilden ein buntes und lebhaftes Kaleidoskop unterschiedlichster Charaktere auf der Suche nach dem ultimativen Glück. Am Ende blickt der Erzähler staunend auf eine scheinbar bekannte Welt zurück, die sich plötzlich als völlig fremd entpuppt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 387

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Stefan Müller

Die Traumjäger

Wenn alles daneben geht....

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Frankfurt und ein wankender Gigant

2. Jenny und die wilde Horde

3. Die Geburt einer niederträchtigen Idee

4. Seltsamer Tag

5. Die letzten Vorbereitungen

6. Alltagsgeschichten

7. Das Verbrechen beginnt

8. Intermezzo mit Hindernissen

9. Die entscheidende Phase

10. Die Katastrophe

11. Südfrankreich: Der letzte unbeschwerte Trip

12. Ein neues Leben beginnt

Impressum neobooks

1. Frankfurt und ein wankender Gigant

Prolog

Nun sitze ich hier in einer noblen Hotelsuite mitten in Hongkong. Mein Name ist, oder besser war Johannes Becker, doch jeder nannte mich nur Jonny B, oder einfach nur John. Das war bevor das alles geschah, wovon ich nun berichten möchte. Mein Geist ist momentan recht angenehm von teurem Whiskey benebelt. Darum schreibe ich hier und jetzt die höchst eigenartigen Ereignisse nieder, die mich in eine fremde Stadt fernab meiner Heimat brachten. Ich bin nun unglaublich reich und berühmt, doch wer bin ich? Wohin wird mich mein Schicksal noch führen? Diese Tatsache und meine chronische Schlaflosigkeit sind ein Grund mehr, mit diesem Rückblick der Geschehnisse und Gedanken zu beginnen, die damals unausweichlich in das sichere Chaos führten. Ich hoffe, ich halte lange genug durch, bis das Ende meiner Geschichte erzählt ist. Vielleicht will ich mir nur selbst damit beweisen, daß alles nur ein Zufall war. Möglicherweise hoffe ich aber auch insgeheim, jemand wird dieses Skript lesen und etwas Verständnis für einen jungen Mann aufbringen, der bloß etwas Spaß und Freude haben wollte in einer Welt, die für Träumer und harmlose Spinner nur wenig übrig hat.

Ich halte die Ereignisse und den Frust in Frankfurt für einen der ursprünglichen Auslöser dieser Misere. Ein kleiner losgetretener Schneeball, der zu einer gewaltigen Lawine anschwellen sollte.

Es begann an einem sonnigen Montag. Der Wecker hatte gerade wieder gerappelt. Das bedeutete natürlich aufstehen und zur Arbeit gehen. Den ganzen Tag, die ganze gottverdammte Woche an der Waschstraße am Einkaufszentrum wie ein Idiot ein paar Mark verdienen gehen. “Aaaargh, zum Teufel!” Mit etwa diesen oder ähnlichen Worten begrüßte ich wie immer unflätig schreiend den neuen Morgen. Der feindselige Wecker wurde mit ein paar gezielten Schlägen außer Gefecht gesetzt, und der eigene Körper ohne jede Grazie aus dem Bett gehievt, so wie jeden Morgen. Ich griff nach der Packung Lucky Strike, die neben meinem Bett lag, zog den Rollladen hoch und wurde von den ersten Sonnenstrahlen wie von einer Laserkanone getroffen und augenblicklich wieder flachgelegt. Es herrschte monotone, Nerv tötende Stille und mir wurde klar, daß dies kein normaler Tag werden würde. Die Zigarette noch immer im Mundwinkel, alle Viere von mir getreckt starrte ich die Decke an. Viel gab es nicht zu sehen, außer vergilbten, schäbige Styroporplatten und ein Stromkabel, an dem eine blanke Fassung mit einer mickerigen 40-Watt-Birne baumelte. Ach ja, und eine fette schwarze Spinne, die auf das Frühstück lauernd regungslos in ihrem Netz wartete.

“Verdammt brummt mir der Schädel”; mag ich wohl gemurmelt haben. Aufstehen, Waschen, Anziehen und Frühstücken, alles lief mit automatischer Präzision ab. So verließ ich mein kleines Appartement und hoffte im Stillen, mein Fiat möge doch wenigstens an diesem Tag einmal anspringen, ohne daß ich den verhaßten Nachbarn um Starthilfe bitten müßte. Unsere beiderseitige Ablehnung resultierte aus einer einfachen Tatsache. Dieser Schnösel verachtete alles, woran ich glaubte, und im direkten Gegenzug stellte ich für den ehrenwerten Prokuristen einer renommierten Firma geradezu das Paradeexemplar einer degenerierten, verkommenen, arbeitsunwilligen Jugend dar, ohne Sinn für Zucht und Ordnung. Unnötige Konfrontationen vermeidend, zeigte er sich jedoch meist kooperativ, konnte er doch so den Ruf als Mr. Hilfsbereit untermauern, auf den er schließlich viel Wert legte. Wie dem auch so sei, auch wenn es nicht unbedingt das ideale nachbarschaftliche Verhältnis war, so lebten wir in friedlichem Einklang nebeneinander her und bot durch korrektes Verhalten dem Widersacher keine Blöße. Ansonsten mieden wir einander und gingen unsere eigenen getrennten Wege. Die klafften meilenweit auseinander und es bestand nicht das geringste Risiko, sich außerhalb des Mietshauses in die Quere zu kommen.

Wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, hielt ich bei meiner Lieblingsbäckerei an, kaufte mir zwei belegte Brötchen für die knapp bemessenen Pausen und ausnahmsweise noch die Tageszeitung. Keine Ahnung warum, vielleicht hatte mich ein seinerzeit besonderes Ereignis interessiert, oder einfach nur der langweilig geschriebene Sportteil. Egal, mißmutig wie immer fuhr ich durch Saarlouis, meine geliebte Stadt, heimliche Hauptstadt des Saarlandes. An einer roten Ampel - irgendwie sind morgens alle Ampeln rot - fiel mein Blick auf die Seite mit den Stellenannoncen, die zufällig aufgeschlagen auf dem Beifahrersitz lag. Eine dick umrandete Anzeige sprang mir sofort unwiderstehlich ins Auge. Sie bot eine, wenn auch nur geringe Hoffnung, dem alten trostlosen Trott zu entrinnen, dem ich stets so hartnäckig zu entkommen versuchte.

Damals habe ich natürlich noch nicht gewußt, daß es wieder nur ein vielversprechender Versuch werden sollte, in die große weite Welt hinauszuziehen. Und natürlich wurde ich bei meinem idealistischen Kreuzzug an eben dieses genagelt. Dabei sah doch alles so gut aus, in der Zeitung. Die Firma: PAXTON ENTERPRISES. Der Job: Abteilung Marketing, gute Englisch- und EDV-Kenntnisse. Die Stadt: Frankfurt.

Endlich ein solider Beruf, geregeltes Einkommen, gesellschaftliche Anerkennung, dachte ich. Und eine Stadt, die nicht zur Ruhe kommt, die meinen unersättlichen Drang nach Entfaltung hätte stillen können.

Das Problem: Eine mickerige Ausbildung zum Industriekaufmann, ein abgebrochenes BWL-Studium, sowie ein halbes Dutzend belangloser Angestelltenverhältnisse, von denen kaum eines die Dauer eines Jahres überlebt hatte.

Die Lösung: Ich mußte bloß ein kleines bisschen nachhelfen und meinen bescheidenen Lebenslauf etwas aufpäppeln. Das war es schließlich, was man von einem Angestellten einer Marketingabteilung erwarten durfte. Nämlich ein durchschnittliches Produkt, in diesem Fall mich selbst, als das Nonplusultra zu verkaufen. Und abgesehen davon war ich der beste Mann für diesen Job. Da war ich mir ganz sicher.

Trunken des eigenen Mutes machte ich mich noch am selben Abend an das Werk; die Bewerbung.

„So, jetzt wird mal so richtig vom Leder gezogen, die alten Säcke in der Personaldirektion wird es vom Hocker hauen“, dachte ich, ohne zu ahnen, daß genau das noch früh genug passieren sollte.

Euphorisch beflügelt erstellte ich eine Bewerbung, die eher in die Sagenwelt gehört hätte, als auf irgend eines Bosses Schreibtisch. Meine anfänglichen Übertreibungen steigerten sich ins Maßlose. Faustdicke Lügen rundeten das Bild zur vollkommenen Frechheit ab.

„Hauptsache ich mache auf mich aufmerksam“, dachte ich. „Denen werde ich schon zeigen, was ich drauf habe“, meinte ich unbekümmert. So nahm das Unglück seinen Lauf. Die Bosse, von meiner Dichtkunst beeindruckt, luden mich auch prompt zu einem Vorstellungsgespräch ein. Der gute, fast nie getragene Anzug war schnell entmottet, das schulterlange, rotbraune, zottig gelockte Haar wurde kurzerhand auf ziviles Niveau reduziert. (Was nimmt man nicht alles in Kauf). Die feinen Schuhe wurden sofort nach Auffinden, also nach zwei Stunden intensiver Suche, ordnungsgemäß poliert und der alte Fiat durch die Waschstraße geschickt. Dennoch nahm ich mir vor, ihn aufgrund diverser optischer Mängel sicherheitshalber mindestens einen Block weit weg zu parken.

An einem ansonsten unbedeutenden Donnerstag machte ich mich also auf den Weg. Es war ein herrlicher Frühlingstag, alles roch gut und die Welt erwachte nach dem kalten Winter zu neuem Leben. Neugierig drang die Sonne durch die Windschutzscheibe und erwärmte sanft mein Gesicht. Das alte, abgehalfterte Kassettentape krächzte optimistisch “We are the champions.” Ich kannte Frankfurt nur von einigen Besuchen bei Freunden her, die allesamt in furchtbaren Besäufnissen endeten und enorme Geld- und Gedächtniseinbußen zur Folge trugen. Natürlich war ich sehr nervös; erst recht, als das mächtige Paxton-Gebäude vor mir aufragte und seine ganze einschüchternde, furchterregende Monstrosität entfaltete, als ich die ersten Stufen des Portals erklomm. Es erschien mir wie ein Gigant, ein Bollwerk, eine kraftstrotzende Ansammlung von Beton, Stahl und eloxiertem Glas. Willens und bereit, jeder Wirtschaftskrise zu trotzen und jedem Bombardement standzuhalten. Jedoch nichtsahnend, welchen gefährlichen Virus es sich damit mir einzuhandeln drohte.

“Herbert Pohl, Personalabteilung. Sie sind sicher Johannes Becker, wenn ich richtig informiert bin.” Johannes, Johannes Becker. Mein Gott wie lange hatte ich diesen elenden Namen nicht mehr gehört. Wie schon gesagt, man nannte mich meistens einfach nur John. Und so fühlte ich mich auch. Ich glaube auch heute noch, jeder sollte das Recht haben, sich seinen Namen selbst aussuchen zu dürfen. Jedenfalls erhöhte sich schlagartig die Anzahl der Plätze, an denen ich mich zu diesem Zeitpunkt lieber aufgehalten hätte und strebte zielsicher gegen Unendlich.

“Bitte nehmen sie doch Platz, Herr Becker,”

“Danke.”

“Johannes Becker, 25 Jahre alt, ...aha, ...mmmmh, soso! Bemerkenswerte Bewerbung, Herr Becker, wirklich außerordentlich bemerkenswert.” Logisch, mit einem Lebenslauf so hochfrisiert wie ein Formel 1 Rennwagen.

“Wie ich sehe arbeiten Sie bereits seit mehreren Jahren bei der Saarmilch GmbH in einer ähnlich verantwortungsvollen Position.”

“Ja, das ist richtig”, log ich selbstbewußt, denn das war nicht richtig, sondern total falsch. Diese vorzügliche Referenz stammte von Frank, meinem guten Kumpel und Zechkumpan. Frank Hardfort, Sohn des millionenschweren Joghurtkönigs und uneingeschränkten Herrschers der Saarmilch GmbH, Gottfried Hardfort. Zu dessen Entsetzen fand Frank dummerweise Milchprodukte zum Kotzen, pfiff auf die ihm zugedachte Rolle als Kronprinz, strebte lieber eine Karriere als Rockmusiker an und umgab sich mit unwürdigen Kreaturen wie mir.

Jedenfalls spulte ich bei dem Vorstellungsgespräch mit traumwandlerischer Sicherheit mein Programm ab, log, daß sich die Balken bogen und seifte den ohnehin schon schleimigen Personalleiter so tüchtig ein, daß dieser verzückt auf seinem Sessel hin und her glibberte und zufrieden grunzte. Mit stolzgeschwellter Brust und dem erhabenen Gefühl, einen triumphalen Sieg und einen exzellenten Vertrag errungen zu haben, verließ ich anschließend den Paxton-Komplex, der bei weitem nicht mehr so einschüchternd und unbezwingbar auf mich wirkte wie noch ein paar Stunden zuvor.

Einen knappen Monat später kehrte ich mit ein paar Habseligkeiten und den besten Vorsätzen nach Frankfurt zurück und mietete mich im Dachgeschoß einer Altbauwohnung ein. In den ersten Arbeitswochen schien es noch so, als könne ich mich doch tatsächlich zu einem brauchbaren Mitarbeiter entwickeln. Zwar wurden meine Vorschläge stets abgewiesen, meist mit der Begründung sie seien zu gewagt oder zu extrem. Aber jeder konnte sehen wie eifrig ich immer zu Werke ging. Und wirklich, man mochte mich; einen 170 cm großen schmächtigen Zausel mit treuen dunkelbraunen Augen, der stets die besten Jokes auf Lager hatte und immer für die besten Lacher in seiner Abteilung sorgte.

Meinen großen Auftritt hatte ich dann bei der Betriebsfeier zum 50jährigen Firmenjubiläum. Ich saß an einem Tisch mit ein paar lockeren Jungs aus dem Vertrieb und einer Klasse aussehenden Brünetten von der Buchhaltung, auf die ich schon eine ganze Weile ein Auge geworfen hatte. Es war furchtbar langweilig und ich war schon ziemlich blau. Mein eigens für diesen Anlaß besorgter Schlips schnürte mir die Kehle zu und unterbrach allmählich den verbleibenden Rest der Sauerstoff- und Blutzirkulation. Also lockerte ich etwas den Knoten, trotz der durchaus begründeten Gefahr, mein rumorender Magen könne die so entstandene Situation dazu mißbrauchen, um sich der Unmengen alkoholischer Getränke zu entledigen, die ich bereits intus hatte. Die vier geschniegelten Idioten von Musikern in ihren schwul wirkenden Anzügen hatten gerade ihr letztes Stück beendet, bedankten sich höflich für den erhaltenen Applaus und verließen artig die Bühne. Jedoch natürlich nicht, ohne vorher die obligatorische Floskel zu erwähnen, was für ein reizendes Publikum man doch gewesen sei, und wie sehr sie sich darüber freuen würden, wenn sie wieder irgendwann einmal für uns spielen dürften. Das klang für mich eher wie eine ernstzunehmende Drohung als ein nettes Angebot. Außerdem erzielte ich noch immer keine nennenswerten Fortschritte bei meiner auserwählten Brünetten; was mich damals besonders ärgerte. Da ich meine Felle davonschwimmen sah, mußte augenblicklich etwas geschehen. Die Zeit dazu war reif. Der Laden benötigte dringend mehr Schwung.

“Hey Karin, wie wär’s mit einem kleinen Ständchen”, posaunte ich der jungen Frau ungestüm entgegen und deutete auf die verlassene Bühne, auf der nur noch die Instrumente standen und auf ihren Abtransport warteten.

“Mensch John, mach bloß keinen Quatsch, ...John!” Doch zu spät, ich war bereits schnurstracks Richtung Bühne unterwegs. Kippte drei randvolle Gläser Champagner auf ex, die das Pech hatten, auf dem Weg zum Ziel in meine Reichweite zu gelangen. Wobei ich die verdutzt dreinschauenden eigentlichen Besitzer der Getränke noch hämisch angrinste und rülpste. Auf der Bühne angelangt schnappte ich eine E-Gitarre der Blues Boys, drehte den Verstärker auf Maximum und ließ mit einer mächtigen Rückkopplung den Saal erbeben. Zufrieden betrachtete ich mein Publikum, das mich entsetzt und fassungslos anstarrte, verharrte einen Moment und legte richtig los. Schrilles Quietschen, verzerrtes Gejaule gepaart mit tödlich wüsten Rhythmuswechseln und immer wieder eingestreuten Rückkopplungen. So fesselte ich mein paralysiertes Publikum, das wie angewurzelt dasaß, unfähig einer Bewegung, unfähig auch nur einen Mucks von sich geben zu können. Wie im Rausch spielte ich eine Melodie, oder das was davon übrig blieb, denn von richtigem, vernünftigem Gitarrenspiel hatte ich eigentlich keine Ahnung. Doch auch diese Nebensächlichkeiten verdrängte ich ebenso gekonnt wie die letzte Spur vornehmer Zurückhaltung. Ich entlockte meinem Instrument die exotischsten Töne, die von dem Verstärker gnadenlos in die hilflos wirkende Schar von Opfern geprügelt wurde. Den Song, den ich spielte, erkannten die meisten wenigstens im Ansatz als das Firmenintro, welches seit einigen Wochen in Rundfunk und Fernsehen den neuen Werbeblock der Paxton Computersoftware einleitete. Nur präsentierte ich das gute Stück à la Jimmy Hendrix, der seinerzeit in Woodstock die amerikanische Nationalhymne in ähnlicher Weise “verunglimpft” hatte. Das Massaker war zu diesem Zeitpunkt bereits in vollem Gange und ich richtete mit einem wahrhaft diabolischem Crescendo ein akustisches Blutbad an. Als Zugabe wählte ich dann noch ein Stück von den Ramones. Mein Publikum hatte mich dazu nicht aufgemuntert, dessen bedarf es wohl keiner Erwähnung. Blankes Entsetzen, wohin man nur schaute, Chaos lag in der mit Heavy Metal hochgradig angereicherten Luft, Panik im Anflug. Ein paar Beherzte erhoben sich, bereit zu töten, wenn es sein mußte, denn diesem höllischen Szenario mußte umgehend ein Ende bereitet werden. Kawummm... Just in diesem Moment explodierte der hoffnungslos überlastete Verstärker mit einem gewaltigen Knall und erstarb in einem farbenfrohen sich über die Bühne ergießenden Funkenmeer. Die mir nahenden Angreifer setzen unbeirrt ihren Weg zur Bühne fort. Die Gefahr schien nun zwar gebannt, aber es paßte ihnen nicht, daß ich als Urheber noch immer am Leben war. Zum einen mußten sie ein gewaltiges Potential an Aggression und Mordlust abbauen, zum anderen glaube ich, die Meute wollte sich einfach nicht umsonst in Bewegung gesetzt haben. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mit offenem Mund ungläubig den geborstenen Kasten anstarrte, der kapitulierende Rauchschwaden von sich gab, hervorgerufen durch eine kleine bläuliche Flamme, die in seinem Inneren loderte. Das Todeskommando hatte mich nun fast erreicht und bereits die Arme nach mir ausgestreckt, als es urplötzlich dunkel wurde. -Kurzschluß-.

Die Hauptsicherung hatte sich verabschiedet. Das Gebäude mußte wohl eine Art Gegenwehr entwickelt haben, nachdem es erkannt hatte, welche Gefahr von dem Strom auszugehen vermochte. Die Angreifer griffen ins Leere und fielen reihenweise auf die Schnauze, wie die meisten der gepeinigten Gäste übrigens auch, die jetzt nicht nur taub, sondern zu guter Letzt auch noch blind waren. Sie tasteten sich an den Wänden und Tischen entlang. Entlang durch die Salatschüsseln, über die Mayonnaise verschmierten Teller hinweg, dann wieder durch ein paar Gesichter und Dekolletés; stets auf der Suche nach einem Weg ins Freie. Manche leisteten ganze Arbeit, indem sie beim Hinfallen gleich den ganzen Tisch mitrissen. Andere wiederum begnügten sich damit, die Gläser und Flaschen einzeln umzustoßen. Viele hielten es für das Beste, auf dem Boden, der mittlerweile im Morast zu versinken drohte, entlangzukriechen, da man sich über kurz oder lang sowieso immer wieder dort befand. Wohl dem, der einen guten Orientierungssinn besaß. Und auch mir gelang schließlich im Scheppern, Poltern, Wimmern, Weinen und Fluchen unerkannt die Flucht.

Mein Kopf dröhnte mir den ganzen nächsten Morgen, und die Hoffnung, die ich heimlich hegte, ich habe das alles nur geträumt, verblaßte augenblicklich, als ich das Paxton-Gebäude betrat. Man mied mich und ging mir aus dem Weg. Ich konnte regelrecht spüren, wie hinter meinem Rücken über mich geredet wurde. Teils grimmig, teils kichernd, jedoch immer mit vorgehaltener Hand. Also doch, Pech, dachte ich und schleppte mich an meinen Arbeitsplatz. Dort angekommen sank ich in den Bürosessel, fixierte mit meinen Blicken starr und bewegungslos die Tischlampe, als wollte ich sie hypnotisieren. Ich wartete auf das Exekutionskommando, welches mich zum Boß zerren und mich hinrichten würde. Und ich mußte nicht einmal lange darauf warten.

Wie ein Häufchen Elend saß ich im Büro des Chefs, als dieser mich zur Minna machte.

“Was zur Hölle haben sie sich denn dabei gedacht?”

“Äääh.. na ja..”

“Wissen sie überhaupt was für einen Schaden sie da angerichtet haben?”

“Öööh, also.” Meine Verteidigung verlief eher sporadisch. Was kann man auch schon tun, so erniedrigt an den Pranger gestellt? Außerdem war mir eh alles egal, mein Schädel brummte, und wenn dieser cholerische und humorlose Chef meinen Kopf haben wollte..., na bitte, meinetwegen, dann sollte er ihn eben kriegen. In diesem Zustand wäre ich ihn sowieso lieber losgewesen. Doch entgegen meiner Einschätzung der Situation ließ er Milde walten.

“Sie werden die nächsten Monate im Archiv mit Ablagen und mit der Ausgangspost verbringen. Da können sie in Ruhe über den Mist nachdenken, den sie verzapft haben. Und dort können sie wenigstens keinen Schaden mehr anrichten.” Diese Fehlinterpretation war wohl der folgenschwerste Irrtum, den mein Boß je in seinem Leben begangen hatte, wie sich später herausstellte sollte.

Verärgert über die kleinliche Reaktion meines Chefs räumte ich also das Feld und verschwand ins Exil. Aber am meisten ärgerte ich mich wieder einmal über mich selbst. Bravo, ich hatte es erneut geschafft. Wieder einmal hatte ich meinen Launen nachgegeben und einfach nur das getan, wonach mir einfach zumute war. Mein Motto lautete stets: Pfeif drauf, was andere sagen, scher dich einen Dreck um das, was andere denken, tu einfach nur das, wozu du in Stimmung bist. Eine Lebensphilosophie, die zwar nachvollziehbar erscheint, aber einem fünfundzwanzigjährigen Mann doch einige Probleme bereitet. Einem Teenager verzeiht man eher exzentrische oder naive Untugenden als einem jungen Mann im leicht fortgeschrittenen Alter, bei dem bereits Vernunft und Verantwortungsbereitschaft erwartet werden durfte. Die logische Folge: Ich machte mich zusehends chronischer Unreife verdächtig. Dennoch ging ich immer unbeirrt meinen Weg, gleich was da kam, gleich was es kostete, gleich wie oft ich mit dieser Einstellung Schiffbruch erlitt. Integration bereitete mir schon immer gewisse Probleme. Die Vorstellung, Menschen müssen mit militanter Präzision gehorsame, gut geölte Zahnräder der Gesellschaft sein, ließ mich erschauern. Das bedeutete für mich den Tod jeder Art von Individualismus und Kreativität. Folglicherweise mußte ich gleich die ganze Gesellschaft in Frage stellen. Meine leicht paranoiden Vorstellungen von dem, was schlicht als “leistungsorientierte Gesellschaft” bezeichnet wird, machte es mir damals echt nicht leicht. Es bedeutete schlichtweg eine Art von persönlichen Hochverrat, mich vor anderen Leuten als etwas darzustellen, das ich nun mal nicht war. “Ich bin, wer ich bin, und wer mich so nicht mag, der soll es eben bleiben lassen.” Mit diesen Worten beendete ich oft total danebengegangene Tage. Doch wenn ich in dieser Welt überleben wollte, mußte ich mir etwas einfallen lassen. So schuf ich mir eine Figur, in die ich je nach Bedarf schlüpfen konnte. Mit dieser Hilfe mogelte ich mich immer irgendwie durch. Diese Karikatur eines netten jungen Mannes von nebenan wurde mir im Laufe der Jahre so vertraut, daß ich jeden aufs Kreuz legen konnte. Oft genug hatte ich so das Spielchen der “normalen Leute” mitgespielt, wie beispielsweise bei dem Einstellungsgespräch. Natürlich genoß ich es, wie ein Chamäleon in eine Rolle zu schlüpfen und einfältige Spießer an der Nase herumzuführen. Meist gelang mir das auch, aber dummerweise war der Erfolg nur auf Dauer begrenzt, bis mein wahres Ich wieder durchschlug und ich mich wieder zum Idioten machte.

Sie gefiel mir eigentlich ganz gut, die kleine Besenkammer, welche man mir zugewiesen hatte, die mich in Schach halten und isolieren sollte. Hier ging es weit weniger stressig zu, als im Marketinggroßraumbüro. Und ich nutzte die Zeit für die endlosen Tagräume, Spinnereien und Philosophien, die mich schon ein ganzes Leben begleiten. Sogar ein PC war mir geblieben, den ich auch weiterhin fleißig gebrauchte, um massenweise eigenartige Werbeslogans zu produzieren. Nur diente der Zweck dieser Arbeit ausschließlich meiner eigenen Belustigung. Mit lausbubenhaftem Grinsen zauberte ich so die unverschämtesten Parolen auf Diskette, die je ein krankes Gehirn verbrochen hatte, und dann kringelte ich mich anschließend vor Lachen.

“Welche Spinnerei ist dir denn jetzt schon wieder eingefallen?” Cindy aus der Verwaltung brachte wie jeden Tag gegen 3.00 Uhr ihre Post vorbei, deren Weiterleitung ja nun mein neuer Job war. Sie konnte mich durch ihre großen Brillengläser sehen, wie ich wiehernd und brüllend vor Lachen auf dem Tisch hing und mit der Faust auf die Tischplatte einhämmerte. Mit der anderen Hand winkte ich ihr zu, rappelte mich mühselig auf meinem Stuhl auf, wischte mir eine Lachträne von der Backe, hielt einen Moment lang inne und legte anschließend wieder voll los. Jedesmal wenn ich glaubte, mich gefangen zu haben, wand ich mich Cindy zu, wollte etwas sagen, blickte dabei in ihr verdattertes Gesicht und sofort war wieder alles vorbei. Dieses lustige Spielchen wurde noch einige Male wiederholt, ehe ich etwas Verständliches hervorbringen konnte.

“Hey Cindy, nix für ungut, komm rein.” Die hochgewachsene schlanke Frau nahm Platz, hob eine Augenbraue, schüttelte kaum merklich den Kopf und lächelte sanft.

“Oh John, du verrückter Vogel, wirst du denn nie erwachsen?”

“Natürlich nicht! Jedenfalls nicht bevor ich wenigstens einen Stimmbruch hatte. Der steht mir schließlich zu. Bis dahin befinde ich mich in meiner vorpubertären Phase und pflege meine Pickel”, sagte ich und gewann allmählich die Fassung zurück, schluckte die letzten aufkommenden Gluckser runter und putzte mir die Nase.

“Das Leben kann wirklich sehr komisch sein, Cindy, es sind immer die Kleinigkeiten, auf die es ankommt, die das Leben lebenswert machen. Sei mal etwas lockerer und spontaner, dann siehst du es auch”, tönte ich übermütig und leider nicht sonderlich taktvoll.

“Ich kann genauso locker und spontan sein wie jeder andere auch!” konterte mein zurecht leicht gekränktes Gegenüber.

“Für mich gibt es wenigstens noch erstrebenswertere Ziele, als aus dem Leben einen einzigen Zirkus zu veranstalten. Mach dir lieber mal Gedanken um deine Zukunft. Als Pausenclown bringst du es weder hier noch sonstwo zu etwas.” Aua, das tat weh. Die agile junge Frau knallte mir unwirsch die Post vor die Nase und verließ energisch den Raum, ohne sich noch mal umzuschauen. Ich Idiot saß noch eine ganze Weile stumm und mit offenem Mund da und grübelte, was Cindy wohl damit gemeint haben könnte. Der einzige Schluß zu dem ich kam war der, daß ich es in Zukunft tunlichst vermeiden würde, Frauen als unspontan zu bezeichnen. Eigentlich mochte mich Cindy ja ganz gerne, weil ich ihr gegenüber stets charmant war, und weil ich sie immer aufmuntern konnte, wenn es ihr nicht gut ging. Aber sie hatte sich im Leben alles hart erkämpfen müssen, und es brachte sie auf die Palme, wenn sie sah, wie ich mich mit meiner ignoranten Art über alles lustig machte und nichts und niemanden ernst nahm. Mir schien wirklich gar nichts heilig zu sein, und heute glaube ich, Cindy grübelte insgeheim darüber, ob es wohl irgendetwas in meinem Leben geben würde, was mir wichtig sei, oder ob etwas existieren könnte, woran ich wohl glaubte.

Der Kaffeeautomat in der fünften Etage wurde bestimmt nur aus einem einzigen Grund dort errichtet, nämlich zum Töten meiner Geschmacksnerven. Ein weites Mosaik in einem teuflischen Plan, der mich in den Wahnsinn treiben sollte. Oder hatten sich etwa selbst die primitivsten technischen Geräte gegen mich verschworen? Ich beäugte argwöhnisch und angeekelt die braune Flüssigkeit in meinem Plastikbecher und würgte sie anschließend in kleinen Schlucken runter. Meine Blicke wanderten aus dem Fenster. Der Sommer war mittlerweile gegangen, und der Herbst ließ von der stolzen Pracht der mächtigen Eichen nur noch ein paar verdorrte Blätter übrig. Und selbst die würde er sich noch nehmen, dachte ich, bevor er dem Winter endgültig weichen und das Land der Kälte und der Trostlosigkeit überlassen müßte. Warum um alles in der Welt ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich Geldmünzen in diesen hundsvermaledeiten Kasten steckte, wohl wissend, daß dabei niemals etwas anderes zutage kommen könnte als das, was ich einmal mehr mit schmerzverzerrter Miene geschluckt hatte. Noch ehe ich mir selbst eine passende Antwort auf diese hochwichtige Frage geben konnte, laberte mich jemand von der Seite an.

“Hier hängst du also rum und träumst vor dich hin. Ich hab dir die Diskette mit der neuen überregionalen Werbeannonce auf den Schreibtisch gelegt. Mach Kopien davon und laß sie den üblichen Magazinen und Tageszeitungen zukommen. Und gib mal ein bißchen Gas, wir sind diesmal spät dran. Morgen ist bei den meisten Redaktionen Annahmeschluß!” Dieser elende Mensch mit dem Ton der Autorität war einst mein Arbeitskollege gewesen. Doch nachdem er sich der lästigen Konkurrenz entledigt wußte, trampelte er auf mir nach Herzenslaune herum und kommandierte und jagte mich durch die Gegend. Für ihn war ich bereits geschlagen und lag niedergerungen auf dem Boden.

“Bin ja schon unterwegs”, antwortete ich reumütig und flüchtete leise fluchend in Richtung Besenkammer. “Verrecke, Elender”, murmelte ich und begann mit dem Kopieren der Diskette, während meine Gedanken längst wieder um einen heimtückischen Automaten kreisten, der absichtlich ungenießbare Getränke produzierte.

Wenige Tage später explodierte dann die Bombe. Der ganze Gebäudekomplex war in heller Aufruhr. Sämtliche Leitungen standen nicht mehr still, die Telefone rappelten unaufhörlich. Dem kompletten Netz drohte der Kollaps. Paxton Industries befand sich in der größten Krise seit der Gründung vor fünfzig Jahren, und zu diesem Zeitpunkt schien es mehr als fraglich, ob es das einundfünfzigste noch erleben durfte. Eine Notstandssitzung wurde einberufen. Sie sollte erörtern, wie der bevorstehende Untergang noch abzuwenden sei. Eingeschaltete Topanwälte sollten Pläne vorlegen, wie der entstandene Schaden auf erträglichem Niveau gehalten werden konnte. Schon in den frühen Morgenstunden bekamen alle Vorstandsmitglieder Anrufe, mit der freundlichen Bitte, einen Blick auf die gerade erschienene Tageszeitung zu werfen. Ihnen schossen augenblicklich 5000 Volt durch die vor Schreck erstarrten Körper. Das Blut verließ ihre Eierköpfe und verkrümelte sich in tiefere Regionen, ließ blasse Nasen zurück. Unfaßbar, was da geschrieben stand. Zwanzig Minuten später traf man im Präsidium ein, ließ eine Analyse erstellen, schätzte das tatsächliche Ausmaß des Desasters ab und zitierte mögliche und unmögliche Verantwortliche hinzu, die ihre Berichte zu dem ereigneten Vorfall ablegten. Der Schuldige für diesen ganzen Schlamassel, nämlich ich, lag währenddessen friedlich schlafend im Bett meiner Dachwohnung. Natürlich hatte ich nicht den geringsten Schimmer davon, daß ich praktisch im Alleingang den Riesen namens Paxton in den Grundfesten erschüttert und ihn gefährlich nahe an den Rand des Abgrundes gebracht hatte. Also zog ich die Decke über den Kopf und ergaunerte noch ein paar Minuten Schlaf, ehe ich aufstehen und einem ganz normalen Arbeitstag entgegentreten wollte. Aber was genau war eigentlich geschehen? Eigentlich unterlief mir nur ein klitzekleiner Fehler, allerdings mit verheerender Wirkung. Ich Unglücksrabe hatte nämlich die falsche Diskette kopiert und verschickt, und so gelangte anstatt des von Profis sorgsam ausgearbeiteten Werbeslogans mein letztes Juxwerk an die Öffentlichkeit. Und das in allen großen Tagesblättern.

GEWALT, BLUT, HORROR, SEX

PAXTON SOFTWARE BRINGT ES JETZT

Ein Sturm der Entrüstung brach über Paxton Industries ein, es hagelte Proteste und Drohungen. Gerichtliche Schritte wurden eingeleitet. Von verantwortungsloser Jugendgefährdung und groben Verstößen gegen Moral und guten Sitten war die Rede. Paxton landete auf diversen schwarzen Listen von Verbraucherverbänden, die durch Boykottaufrufe das Unternehmen in die Knie zu zwingen versuchten. Die Medien hatten endlich etwas worauf sie sich stürzen und was sie zerfleischen konnten. Was sie übrigens auch sehr effektiv taten. Paxton Industries war in aller Munde. Mit mir wurde kurzer Prozeß gemacht. Ein weiteres halbes Dutzend Köpfe fielen ebenfalls dem Skandal zum Opfer. Mit Entschuldigungen, Bedauerungen, Beteuerungen, Versprechungen und diversen anderen ...ungen suchte man einen erträglichen Weg aus der Affäre. Auch wenn es noch eine sehr lange Zeit dauern sollte, bis sich die erhitzen Gemüter wieder beruhigten, so zog doch allmählich wieder der Alltag ein bei Paxton Enterprises. Natürlich ohne mich, denn ich wurde mit Schimpf und Schande aus der Stadt gejagt, und ich verließ Frankfurt bei Nacht und Nebel. Still und leise trat ich den weiten Weg nach Hause in das Saarland an.

2. Jenny und die wilde Horde

Hundemüde und total ausgebrannt erreichte ich die rettende Heimat. Es ging mir wirklich nicht gut, und ich hatte nur noch das Bedürfnis nach endlosem Schlaf und nach den schützenden Wänden meines kleinen Appartements, welches ich in wohlweislicher Voraussicht sicherheitshalber behalten hatte. Mein Plan war es, bis in das Jahr 2000 zu schlafen. Denn so lange würde es sicherlich dauern, dachte ich, bis ich die tiefen Wunden geleckt haben würde. Und bis ich von dem herben Schlag rehabilitiert sein sollte, den mir die in die Enge getriebene Bestie Paxton zugefügt hatte.

“Ich wußte, daß du wieder kommst. Was hat dich aufgehalten? Es dauert doch sonst nicht so lange bis du gefeuert wirst.” Ein fünfzehnjähriges leichtgewichtiges Mädchen mit struppigen Haaren und zerrissenen Jeans saß vor mir auf der Treppe, ließ eine Kaugummiblase explodieren und schaute mich mit großen dunklen Augen neugierig an. Das verwahrloste Fellknäul von Promenadenmischung zu ihren Füßen wedelte freundlich mit dem Schwanz, der einzigen Reaktion, zu der sich das Hundetier hinreißen ließ.

“Hey Jenny, hallo Hund. Hätte mich auch gewundert wenn ich euch nicht als Empfangskomitee hier angetroffen hätte.” Jenny, der kleine Wildfang aus dem zweiten Stock und ihr Hund namens Hund. Ich freundete mich vor zirka vier Jahren mit ihr an, als ich das Appartement bezog. Damals noch mit langen Zöpfen und einem dicken Teddy unter dem Arm, wuselte sie immer um mich herum, bis ich aufgab und den nervenden Quälgeist in meiner Nähe duldete. Das kleine eingeschüchterte Mädchen wurde von ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, meistens vernachlässigt, und über den Verbleib ihres Vaters weiß ich bis auf den heutigen Tag noch nichts genaues. Nach und nach verbrachte sie mehr und mehr Zeit bei mir, bis ich ihr einen Nachschlüssel meiner Wohnung gab. Ich sorgte für einen gefüllten Kühlschrank und ließ sie meine Klamotten tragen. Jenny unterdessen hielt mein Appartement ein wenig in Schuß, was wirklich kein leichter Job war, da ich sehr schlampig und unordentlich bin. Zwar redete man über das “ungleiche Paar”, aber bei der allgemeinen Gleichgültigkeit, die in diesem Hause herrschte, schenkte man uns keine weitere Beachtung. Jedenfalls mauserte sich das kleine Schwesterchen, das ich in ihr sah, zu einem bildschönen Teenager, und ihr Körper blühte zu wohlgeformter Weiblichkeit heran.

In der vertrauten Umgebung meiner vier Wände ging es mir schon direkt besser. Wohlig suhlte ich mich im meinem Sessel und legte die Füße auf den Tisch. Jenny verschwand in der Küche und holte Bier, für sich und mich, den erschöpften, erfolglosen Kreuzritter. Es folgte ihr der Hund namens Hund, der vergeblich hoffte, daß bei Jennys Weg zum Kühlschrank auch für ihn was herausspringen könnte. Mit kurzen, präzisen Sätzen erstattete ich Jenny Bericht zu den jüngsten Ereignissen. Natürlich nicht ohne mein klägliches Versagen auf ein erträgliches Maß herunterzuspielen. Jenny saß vor mir im Schneidersitz auf dem Boden und kicherte an einigen Stellen, an denen ich trotzdem saublöd dastand.

“Sag mal John, wie kommt es, daß du nie was zu Ende bringst, was du anfängst?” fragte sie mich schließlich.

“Weiß ich nicht, wahrscheinlich liegt es daran, daß ich nach einer gewissen Zeit das Interesse an einer Sache verliere, unaufmerksam werde und Scheiße baue”, antwortete ich richtigerweise. Denn genau da lag der Hund begraben. Für alles Neue war ich schon immer leicht zu begeistern. Ich stürzte mich dann mit leidenschaftlichem Elan auf eine neue Herausforderung, doch leider hielt dieser Schwung nie lange an. Ich liebte das Neue, und auch wenn ich in der Schule nur Mittelmaß gewesen bin, so lernte ich doch stets gerne. Meine Neugier kannte schon als Kind keine Grenzen, und wenn ich erst mal Blut geleckt hatte, ließ ich nicht eher locker, bis ich wußte wie ein Ding ablief. War aber erst der Lernprozeß abgeschlossen, wurde alles zur banalen Routine, die ich wie die Pest hasse. Ich kann ganz einfach nicht aus banalen Automatismen heraus monoton eine Arbeit verrichten. Damals empfand ich dieses Gefühl noch viel stärker als heute. Ich brauchte Inspirationen, die mich weitertrieben, ständig neue Impulse, die meinen Motor auf Touren hielten. Nur solange ich mich mit einer Sache auseinandersetzen konnte, war ich wirklich gut. Höchstwahrscheinlich hätte ich den Job in Frankfurt sowieso bald geschmissen, wären mir die Bosse nicht zuvorgekommen, denn Frankfurt erwies sich nicht als das erhoffte Nirwana, und Großraumbüros machen mich eh krank.

“Komm, ich helfe dir die Koffer auszupacken. Hast du neue Klamotten gekauft?” quietsche Jenny in freudiger Erwartung. Ich war jedoch zu müde und zu schlapp für eine Antwort. Doch ich konnte aus dem Blickwinkel sehen, wie Jenny ohnehin schon kopfüber in den beiden Reisetaschen steckte und alles rauszupfte, wobei sie einige erlesene Stücke für ihren eigenen Gebrauch beiseite legte.

“Schreibst du wieder an deinem Buch weiter?” fragte Jenny, ohne ihre Aufmerksamkeit von der Kleidermusterung abzuwenden. Richtig, mir fiel plötzlich wieder ein, daß ich ein Jahr zuvor damit angefangen hatte, meine Erlebnisse in Romanform niederzuschreiben. Aber wie mit allem anderen verlor ich auch dabei schnell die Laune und ließ das Unternehmen “John schreibt einen Bestseller” wieder einschlafen.

“Mal sehen, warum eigentlich nicht. Zeit genug dazu habe ich jetzt ja wieder”, antwortete ich ihr trocken, ohne es wirklich ernst zu meinen.

“Und was sind deine nächsten Pläne?” frage Jenny weiter. Ich holte tief Luft und blies sie langsam wieder aus. Konkrete Gedanken über meine weitere Zukunft hatte ich mir natürlich noch keine gemacht.

“Schätze, ich suche mir einen neuen Job und ..., oh nein, nicht auch noch das Seidenhemd.” Zu spät, Jenny war sofort in das kostbare Stück verliebt gewesen, und ich wußte nur zu gut, daß keine zehn Pferde sie von ihrer Beute hätten abbringen könnten. Zufrieden mit dem guten Fang, den sie gemacht hatte, verschwand Jenny wieder Richtung zweite Etage.

“Komm Hund, es wird Zeit für uns.” Schon draußen steckte sie den Wuschelkopf noch einmal durch den Türspalt ins Zimmer und sprach mit sanfter und etwas verlegener Stimme.

“Schön, daß du wieder da bist, ich habe dich vermißt.”

“Ich dich auch, du Frechdachs. Ich sehe dich dann morgen. Gute Nacht.” Die Tür schloß sich und ich war wieder allein. Komisch, aber genau in diesem Moment krochen die dunklen Erinnerungen an einen Berg in mir auf und verdichteten sich zu einem konkreten Bild. Dieser Berg lag hinter dem Wohnviertel, in dem ich aufwuchs. Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich noch sehr klein war und unbedingt versuchte, diesen unüberwindlichen Steinklumpen zu erklimmen. Mit verdreckten Hosen, blutigen Ellenbogen und verkratzten Armen hatte ich es dann eines Tages schließlich geschafft. Nicht daß ich Bergsteigen liebte, nein, ich wollte lediglich wissen, was hinter diesem Berg zu sehen sei, der eine natürliche Grenze darstellte. An dem offensichtlich die Welt an ihrem Endpunkt angelangt zu sein schien. Sollte das etwa der rote Faden in meinem Leben sein, dachte ich. War das die Leitidee in dem Bühnenstück, das meinen Namen trug? War ich verdammt? Sollte ich in meinem Leben etwa ständig Berge bezwingen, besessen von der Idee, ich müsse wissen, was sich hinter ihnen verbirgt, wohl wissend, daß hinter jedem zehn weitere Berggipfel aufragen würden? Die Augen stets sehnsüchtig auf den Horizont gerichtet und immer auf der Suche nach dem einen Platz, dem einen Ort, der für mich bestimmt sein mußte. Würde ich ihn jemals finden, oder sollte ich niemals zur Ruhe gelangen, ständig weitergetrieben von einer höheren Kraft, die ich nicht beschreiben konnte. Diese irren Gedanken jagten mir durch den Schädel, doch das Bett erreichte ich jedenfalls nicht mehr, der Schlaf übermannte mich in meinem Sessel.

Eine Woche später fand ich schließlich Arbeit bei einer Tag- und Nachttankstelle in Saarlouis. Nichts aufregendes, aber es war ja auch nur für den Übergang gedacht und brachte vorübergehend die notwendige Kohle. Nach sechs weiteren belanglosen Monaten in stiller, trister Monotonie spürte ich es wieder, das Kribbeln, ich wurde unruhig. Ich spürte, daß ein Punkt vor mir lag, an dem sich einiges ändern sollte. Und tatsächlich schildert das folgende Abenteuer den eigentlichen Auslöser für die unglaubliche Wende in meinem Leben.

Tröööt, ...Tröööt.

Die impertinente Hupe eines abgewrackten Audis erkannte ich sofort. Und prompt kam auch schon der schlaksig wirkende Frank Hardfort zur Tür des Tankstellenstores hereingestiefelt, in dem ich arbeitete. Wie immer die langen schwarzen Haaren nach hinten gekämmt und mit der Lederjacke bis zu den Ellenbogen hochgezogen. Und dem mir bestens vertrautem Gesicht eines gutaussehenden Mädchenschwarms.

Der führt doch wieder irgendwas im Schilde, mal sehn was es diesmal ist, dachte ich, als ich den heranbrausenden Frank begrüßte.

“Hallo Frank, wie geht’s?”

“Stell dir vor John, bei dem Punkfestival am Wochenende in Saarbrücken ist eine Band ausgefallen, nun rate mal wer als Ersatz einspringt?”

“Die Rolling Stones?”

“Quatsch, wir, “The late experience”, coole Sache was.” Wie elektrisiert tänzelte Frank, der mich gut um eine Kopflänge überragt, zickig und zackig durch die engen, mit Zeitschriften und Schokoriegeln beladenen Regale.

“Na prima, das Wochenende ist gerettet, sieh zu, daß du ein paar Freikarten bekommst, Frank. Ich trommele unsere Bande zusammen, und dann lassen wir nach eurem Auftritt die Sau raus.”

“OK, geht klar, sobald ich die Karten habe, komme ich bei dir vorbei.” In seiner unnachahmlichen Art sauste Frank zum Ausgang, doch auf halbem Weg machte er auf dem Absatz kehrt und kam wieder angestürmt.

“Ach, wo ich schon mal hier bin, kann ich auch ein Sixpack Bier mitnehmen. Oder warte, bringe mir am besten gleich zwei, ja?”

Samstag: Ich trieb den schwerfälligen Fiat voran, Lautsprecher krächzten heiser die Songs der Kassette herunter, die ich eingelegt hatte. Die “Wilde Horde” war wieder in Bewegung. An meiner Seite Joe, ein athletischer Mann Anfang Dreißig, Zweckoptimist und echter Althippie, mit allem was dazugehörte. Lange aschblonde Haare, Schlaghose, Nickelbrille, Peaceamulett usw. Eine sehr gelungene Mischung aus John Lenon und Rasputin. Nicht einer Modeerscheinung folgend, nein, aus tiefster Überzeugung zelebrierte er den Stil der Sixties. Niemand, der ihn kannte, sah ihn je anders, läßt man mal die Gerichtsverhandlungen außer Betracht, zu denen er mit regelmäßiger Kontinuität vorgeladen wurde. Sei es als Rädelsführer von nicht genehmigten Demos, Widerstand gegen die Staatsgewalt, oder wegen kleinerer Marihuanadelikte. Joe hatte sich seinen Platz als echter Rebell der Gesellschaft wirklich redlich verdient. Auf der Rückbank gammelte Peter, der zwanzigjährige Punk- und Technofreak, mit üblich gelangweilter Miene. Neben ihm war Babs, ein auffälliges, verführerisches Partygirl, das immer zur Stelle war, wenn irgendwo ein Faß aufgemacht wurde. Ihr unendlich langes blondes Haar floß geschmeidig an ihrem Körper herab. Frank und seine Band waren bereits vor Stunden aufgebrochen, erkundeten die Lage und checkten das Equipment. Unsere illustre Gesellschaft verband eigentlich absolut nichts miteinander, außer der Tatsache, daß es sich bei uns um potentielle Außenseiter handelte, die irgendwann einmal mit dem erklärten Ziel “Wir wollen Spaß” zusammen gefunden hatten. Wie das so genau funktionierte, wußte keiner von uns, aber wir tolerierten einander, natürlich nicht ohne die üblichen kleinen Scharmützel. Doch wir hielten immer zusammen wie Pech und Schwefel, das war uns auch das Wichtigste. Wir gaben einander Halt, und so entstand eine kleine, vom Rest der Gesellschaft abgesonderte, Gemeinschaft.

Blödelnd, singend und jauchzend erreichten wir das Festivalgelände, bewaffnet mit Frisbees, einem Football, Unmengen von Bier und einer Tüte Chips. Die ersten Bands vom Kaliber “wir probieren es auch mal” hatten ihren Gig bereits beendet und mächtig Prügel bezogen. Das hatten wir verpaßt, wirklich schade.

“Hoffentlich macht es Frank besser, sonst ist der wieder eine Woche lang nicht ansprechbar”, murmelte Joe, sich nicht die Bohne darum kümmernd, daß er vor der Nase eines Ordners einen riesigen Joint baute. Diverse menschliche Mutationen und außerirdische Wesen standen scheinbar gleichermaßen unter dem allmächtigen Bann der hypnotischen Wellen, die von der Bühne ausgingen. Die Empfänger auf diesen audiovisuellen Punkt ausgerichtet liefen sie alle synchron. Mit den von ihnen individuell favorisierten Narkotika betäubt, folgten sie willig wie die Lemminge programmiert in die Bahnen, in die sie die jeweilige Band leitete. In friedlicher Koexistenz kommunizierten sie auf diese Weise miteinander.

Peter tanzte wie ein wilder Derwisch, alles um sich herum vergessend. Seine schmuddeligen, halblangen, schwarzgefärbten Haare umrissen das blasse Gesicht eines kränklichen, mageren Jungen. Babs war wegen eines Paar Ohrringe, die ihr freches Gesicht zur Geltung bringen sollten, in einen wilden Streit mit einem der unzähligen Standverkäufer vertieft. Unterdessen konnte ich Frank in einer kleineren Gruppe von Menschen ausfindig machen. Er wirkte sichtlich nervös und noch hektischer als gewohnt. Ich steuerte auf ihn zu.

“Are you ready for Rock’n Roll?” posaunte ich schon von weitem, um ihn etwas aufzulockern.

“Eh John, da seid ihr ja endlich, wie spielen als nächste Band. Wird keine leichte Sache, aber wie bringen das schon, ...hoffe ich wenigstens.”

“Na klar, ich hol mir noch schnell ein Bier, dich sehe ich dann nach dem Auftritt.”

Die “Late Experience” lieferten solide Arbeit, der Applaus gab ihnen recht. Sie waren damals auf dem richtigen Weg, das konnte ich wirklich sehen und hören. Erleichtert und mit seiner Leistung zufrieden fand uns Frank nach seiner Vorstellung um einen Kasten Bier versammelt.

Selbstverständlich wurde die anschließende Nacht wild. Alle, die noch nicht genug hatten, trafen sich auf der großen Wiese vor dem Stadion und feierten ausgelassen weiter. In Zelten, Schlafsäcken und Autos wurde campiert, oder man verzichtete gleich ganz auf den Schlaf und machte die ganze Nacht durch. Schlug der Versuch wachzubleiben fehl, blieb man einfach an der Stelle liegen, an dem man diesen Kampf verlor. Peter schluckte irgendwann zuviel von irgendwas und kackte ab. Joe fand wie immer einige Opfer, denen er die Ohren vollabern konnte, betreffs seiner Vorstellung von einer heilen Welt. Jedenfalls bis die Diskussion seinen Kontrahenten, Skinheads aus Saarbrücken, zu dumm wurde und sie ihm aufs Maul schlugen. Babs flippte wie ein wildgewordener Flummi durch die Menschenmenge, sammelte eine ganze Schar an Verehren und ließ dann einen nach dem anderen wieder abblitzen. Ich redete noch bis Sonnenaufgang mit Frank über seinen Traum, Musiker zu werden und wie er diesen Wunsch seinem alten Herrn endlich verständlich machen könnte.

Muffig und verkatert begannen wir den nächsten Tag, oder besser das, was noch davon übrig geblieben war. Bis auf Babs, die wie unberührt vom Treiben der letzten Nacht fröhlich rumhüpfte und pfiff. Sie wirkte wie ein moderner Engel, in ihrem bunten Kleid aus Farben und Licht. So wie ein Schmetterling im Sonnenschein, für den der Sommer niemals ein Ende findet.

“Kommt schon in die Gänge Jungs, laßt euch nicht so hängen, wir fahren runter zum Fluß picknicken.”

“Warum eigentlich nicht, los geht’s.” Die notwendigsten Utensilien für ein provisorisches Picknick waren schnell besorgt, und die Fahrt zum Saarufer dauerte auch nur einige wenige Minuten. Frank hatte keinen Hunger. Er ließ seinen Auftritt vor seinem inneren Auge Stück für Stück, bis ins kleinste Detail, noch einmal Revue passieren.

“Wißt ihr”, platzte er ohne Vorankündigung heraus, “da oben auf der Bühne gestern habe ich es gespürt, ganz deutlich, ehrlich ich schwöre es euch, da ist was passiert.”

“Was ist denn passiert, eh?” fragte Peter, der hinter einem Gebüsch zum Vorschein kam, in das er sich lauthals übergeben hatte, just in dem Moment, in dem Frank aus seinem Kokon engmaschig gewebter Gedanken schlüpfte und zur verheißungsvollen Kunde ausholte.

“Ich habe die Energie gespürt, wißt ihr was ich meine?”

“Öööh, ...nicht so ganz, erzähl mal weiter.”

“Na die ganze gottverdammte Energie, die von den Menschen auf dem Gelände ausgegangen ist. Ich habe sie mit jeder Faser meines Körpers gefühlt, sie strömte durch mich durch. Es war ..., es war ..., wie .., es war wie ein Orgasmus. Versteht ihr? Versteht ihr?” Selbstverständlich verstand niemand von uns, was Frank damit gemeint haben könnte. Doch Joe fand einmal mehr die passenden Worte.

“Klar man, du warst Eins mit dem Universum, du warst im Zustand der totalen Bewußtseinserweiterung, und dabei hast du nicht einmal einen Trip eingeworfen, echt cool.” Tja, Joe, der Experte der psychedelischen Bewegung der sechziger Jahre und deren meist durch Drogen provozierten Experimenten, nickte verständnisvoll. Wenn auch mit einer dicken Lippe wegen dem Hieb, den er ja abbekam.

Die Bäume wiegten sich in rhythmischen Bewegungen zu dem Takt, den der Wind angab, die Sonne verlor zusehends an Kraft. Der Abend nahte. Ich ließ flache Steine auf der Wasseroberfläche der Saar tanzen. Vier-, fünf-, sechsmal sprangen sie auf, ehe sie der Fluß zu packen bekam, sie in die Tiefe riß und sie wohl für eine sehr, sehr lange Zeit des Tageslichtes beraubte. An einen alten Brückenpfeiler kritzelten wir mit Babs Lippenstift auf den blanken Beton: “Frauenpower”, “Punk’s not dead”, “John was here”, „Stoppt die AKW’s”.

Dennoch kam bei mir keine richtig gute Laune auf, wie sonst immer, wenn ich mit der wilden Horde unterwegs war.

“Was ist denn los mit dir John, guck nicht so ernst aus der Wäsche, das steht dir nicht.” Frank machte einen besorgten Gesichtsausdruck und hielt mir eine Flasche Bier unter die Nase, wie man einem kleinen Kind einen bunten Lolli offeriert, um es aufzumuntern.

“Weiß auch nicht, welcher Furz mir quer liegt, aber irgendwie fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut.”

“Na dann rück ihn mal raus , den Furz.”

“Ich komme einfach nicht vorwärts, jobbe hier und da, aber finde einfach keinen richtigen Platz im Leben, nichts was mich ausfüllt und befriedigt.”

“Was würdest du denn gerne machen, was würde dich denn erfüllen?” fragte Babs voller Anteilnahme.

“Ich habe keine Ahnung, ehrlich, ich dachte eines Tages finde ich es schon, doch im Moment bin ich davon nicht mehr so überzeugt. Showmaster beim Fernsehen wäre nicht schlecht, aber nur so lange wie ich die Geheimratsecken verbergen kann, danach geh ich zum Rundfunk über.” Ich grübelte weiter. “Buschpilot wollte ich auch schon immer werden, mit einer alten zweimotorigen Maschine aus dem zweiten Weltkrieg, die aus diversen Flickstücken zusammengeschustert und zusammengeklebt ist. Dann kann ich im Dschungel Missionen und Krankenhäuser versorgen, mit Medikamenten und der Post. Und manchmal wird auch geschmuggelt, das ziemt sich so für einen echten Buschpiloten. Den Rest des Tages liege ich auf meiner Hängematte am Strand neben meiner Bambushütte und lasse mir von hübschen jungen Frauen Wind zufächeln und gekühlte Drinks servieren. Ihr wißt schon, die mit den netten Schirmchen obendrauf.” Das verheißungsvolle Flackern in meinen Augen erlosch, als mir bewußt wurde, was für einen Blödsinn ich da wieder am Spinnen war. Ich ließ betrübt den Kopf hängen.

“Leider habe ich vom Fliegen keinen Plan, und ich spreche weder Spanisch noch Portugiesisch. Und mit meinem Orientierungssinn gehe ich sowieso baden.

“John du spinnst ja wieder.” Babs lachte und gab mir einen freundschaftlichen Klaps.

“Richtig, ist ja auch nur so ein Traum. Aber im Ernst, ich weiß wirklich nichts mit meinem Leben anzufangen.”

“Ich weiß was du meinst, mir geht es im Grunde ja nicht anders als dir.” Frank setzte sich zu mir und schaute tief in seine Flasche, Ausschau haltend nach einem mitteilsamen Geist.

“Wenn das mit der Musik nicht klappt, sieht es schlecht aus bei mir, was mache ich dann?”

“Ich dachte es läuft doch bestens mir dir und der Band.”