Die Traumweber - Alexandra Maibach - E-Book

Die Traumweber E-Book

Alexandra Maibach

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Beschreibung

Celia ist eine Traumweberin, die in der Traumfabrik menschliche Träume erschafft. Unvorhergesehen bricht Unheil über die Fabrik herein: Alle Träume verwandeln sich in Albträume und niemand kennt den Grund dafür. Nur Außenseiter Elias, der wegen seiner entstellten Flügel von allen gemieden wird und eine rätselhafte Verbindung zu Celia hat, scheint mehr zu ahnen. Gemeinsam machen sich die beiden auf die gefährliche Suche nach dem Ursprung der Albträume, die sie auf die Spur finsterer Träumer führt.

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1. Federn und Blut
2. Die bücherlose Bibliothek
3. Die Fabrik
4. Die Prüfung
5. Flora
6. Der erste Traum
7. Die Entflügelten
8. Fragen
9. Das Foto
10. Das Traumauditorium
11. Die Ausgangssperre
12. Floras Geschichte
13. Die Träumer
14. Die Traumprojektion
15. Elias
16. Wissen
17. Gebrochene Flügel
18. Geheimnisse
19. Der Diebstahl
20. Albträume
21. Die andere Stadt
22. Der Klartraum
23. Nach dem Erwachen
24. Zurück
25. Die Bibliothek
26. Im vergifteten Traum
27. Der Architekt
28. Der letzte Traum
29. Nach dem Erwachen

Alexandra Maibach

Die Traumweber

Abgründe der Nacht

Dieser Artikel ist auch als Taschenbuch erschienen.

Die Traumweber: Abgründe der Nacht

Copyright

© 2023 VAJONA Verlag

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Lektorat und Korrektorat: Désirée Kläschen

Umschlaggestaltung: Julia Gröchel,

unter Verwendung von Motiven von rawpixel

Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz

ISBN: 978-3-98718-088-0

VAJONA Verlag

Für meine Eltern, die immer an unsere Träume geglaubt haben – auch dann, wenn wir es gerade nicht konnten.

1. Federn und Blut

Traum.

Abfolge von Bildern, Gefühlen, Ereignissen und Erlebnissen, die im Schlaf auftreten und die Träumer und Traumweber teilen.

– Lexikon für Traumweber, nach H.

Ein Tropfen Blut drang zwischen den Daunen hervor und bahnte sich seinen Weg über die Federn nach unten. Es war nur ein einzelner roter Fleck auf dem Weiß, eine winzige schimmernde Kugel, doch Celia konnte die Augen nicht davon abwenden. Langsam, dann immer schneller, rollte der Tropfen hinab, und erst als er sich vom Rand des Flügels gelöst hatte und auf dem Boden aufgeprallt war, bemerkte sie, dass sie den Atem angehalten hatte.

Sie stieß die Luft aus und beugte sich über ihren Tisch nach vorn. »Elias«, zischte sie. »Elias!«

Der Traumweberlehrling, der vor ihr saß, wandte sich um. Wie immer lagen unter seinen Augen tiefe Schatten, doch das war es nicht, was Celia an seinem Anblick am meisten erschreckte. Es waren seine Flügel. Seine Flügel, die einmal so vollkommen gewesen waren wie die ihren. An dem Tag, an dem sie gemeinsam hier an der Schule für Traumweber begonnen hatten. »Was ist?«

»Du blutest!« Sie zeigte auf die roten Flecken auf dem Boden. Es waren mittlerweile mehrere.

Elias presste die Lippen so fest zusammen, dass sie nur noch eine schmale Linie waren. »Konzentriere dich auf den Unterricht, Celia. Meine Flügel sollten dich nicht interessieren.« Um seine Worte zu unterstreichen, rückte er die Schwingen auf seinem Rücken gerade. Doch das Einzige, was geschah, war, dass zwei Federn zu Boden segelten.

Celia schluckte und versuchte, das dumpfe Gefühl in ihrer Magengegend zu ignorieren. Er hatte recht, sie sollte sich auf den Unterricht konzentrieren. In letzter Zeit hatten sie viele Prüfungen hinter sich gebracht und das Tempo, mit dem sie neuen Stoff lernen mussten, schien sich jeden Tag zu steigern. Aber Elias’ Anblick zerstreute jegliche Konzentration, so sehr sie sich auch bemühte, der Lehrerin zu folgen. Er sah krank aus. Schwach und krank. Sie musste nach dem Unterricht noch einmal mit ihm reden. Vielleicht würde er ihr doch verraten, was mit ihm los war.

Als Elias und sie gemeinsam in die Schule gekommen waren, hatten sie sich sehr nahegestanden. Celia hatte das Gefühl gehabt, ihn blind zu verstehen – und war sich sicher gewesen, dass es ihm genauso ging. Doch seitdem hatten sie sich beständig voneinander entfernt, was hauptsächlich an Elias gelegen hatte. Er war schweigsam geworden und hatte sich zunehmend abgeschottet, zuerst von ihren Klassenkameraden und schließlich auch von ihr. Es hatte Celias Herz gebrochen, als er sie zum ersten Mal ausgesperrt hatte. Seitdem hatte sie immer wieder versucht, zu ihm durchzudringen, doch er ließ es nicht zu.

Dennoch war sie nicht dazu bereit, aufzugeben. Sie war nicht dazu bereit, ihn aufzugeben.

»Celia«, sagte die Lehrerin. »Könntest du mir bitte die Prinzipien eines guten Traums noch einmal erläutern?«

Celia stieß den Atem aus, den sie unwillkürlich wieder angehalten hatte. Sie spürte, wie sich die Blicke ihrer Klassenkameraden auf sie richteten. Hatte Frau Moja bemerkt, dass sie nicht aufgepasst hatte? Die Lehrerin war eine einschüchternde Frau, deren Alter man nur an ihren Flügeln erahnen konnte: Während die von Celia und ihren Klassenkameraden schneeweiß waren, waren Frau Mojas von so dunklem Grau, dass man sie fast für schwarz halten konnte. Die Flügel eines Traumwebers färbten sich mit jedem Träumer, den er begleitet hatte, kaum merklich dunkler. Die Lehrerin musste schon unzählige Träumer bis zu deren letzten Tag begleitet haben.

»Die Prinzipien eines guten Traums«, wiederholte Celia, um Zeit zu gewinnen. Glücklicherweise hatte sie gestern ein Buch über Traumtheorie gelesen, um sich vorzubereiten, während sie darauf gewartet hatte, dass ihr Übungsträumer endlich einschlief. »Ideenreichtum und Präzision. Die beiden Dinge sollten immer vorhanden sein, weil ein Traum scheitert, wenn nur eines davon da ist.«

»Kannst du das erläutern?«

Celia nickte. »Wenn es dem Traumweber an guten Ideen mangelt, kann er so präzise sein, wie er möchte, aber der Traum bleibt farblos und platt. Allerdings helfen alle Ideen der Welt nicht, wenn man sie nicht umsetzen kann, weil man nicht genau genug arbeitet. Deswegen braucht man immer Ideenreichtum und Präzision.« Sie hatte sich unwillkürlich auf ihrem Stuhl aufgerichtet und ihre Flügel ein klein wenig aufgeplustert.

Frau Moja nickte und kam auf sie zu. Auf der Höhe von Elias’ Tisch blieb sie stehen, ihre glänzenden Schuhe waren nicht weit von den Blutflecken und verlorenen Federn auf dem Boden entfernt. Was würde sie tun, wenn sie sie bemerkte? Doch sie sah nicht nach unten, ihr Blick galt nur Celia. »Gibt es noch ein Prinzip, das dir einfällt?«

Celia richtete sich ein wenig weiter auf. »Ja«, sagte sie schnell. »Das Prinzip der Träumernähe.«

»Das da wäre?«

»Es besagt, dass man seinen Träumer kennen muss, um ihn wirklich begleiten zu können. Träume sind nicht nur bunte Bilder, sie müssen auf den Träumer zugeschnitten sein. Wir können ihm Hinweise geben oder Dinge aufleben lassen, die verdrängt wurden und verarbeitet werden müssen. Nur wenn man seinen Träumer gut kennt, kann man so etwas für ihn tun.« Sie holte tief Luft, um weiterzusprechen. »Außerdem ist da noch immer das Unterbewusstsein des Träumers. Auch daraus projizieren sich Bilder in den Traum, mit denen der Traumweber umgehen muss. Je besser er seinen Träumer kennt, umso besser kann er diese Bilder verarbeiten.«

Ein schmales Lächeln erschien auf Frau Mojas Gesicht. »Bravo, Celia. Das war absolut richtig.« Sie drehte sich um, ohne das Blut zu bemerken, und ging wieder nach vorn an die Tafel. »Wenn du aufgepasst hättest, hättest du gewusst, dass wir diesen Stoff noch gar nicht durchgenommen haben. Träumernähe ist etwas, mit dem wir uns erst in der höheren Traumtheorie beschäftigen, und die ist nicht für Lehrlinge wie euch gedacht.«

Celia wurde rot und sank in sich zusammen. Also hatte Frau Moja doch mitbekommen, dass sie sich mit Elias unterhalten hatte. Tino, der einen Tisch weiter saß, grinste ihr zu. »Du Streber.«

Sie funkelte ihn an und sah dann eisern nach vorn, an Elias’ zerrupften Flügeln vorbei. Es fiel ihr immer noch schwer, ihnen keine Beachtung zu schenken, auch wenn sie gerade vor der ganzen Klasse für ihre Unaufmerksamkeit gerügt worden war.

Isabella hob die Hand. Sie war neu, doch Celia wusste, dass sie sich bemühte, den Stoff nachzuholen, den ihr die anderen voraus waren. »Müssen wir auch dann noch weiterlernen, wenn wir fertige Traumweber sind?«

»Wer ein guter Traumweber sein möchte, sollte sein Leben lang lernen«, erwiderte Frau Moja schlicht. »Auch für mich gibt es immer noch viel zu lernen.« Sie schenkte Isabella ein flüchtiges Lächeln.

»Und … wie sollen wir lernen, wenn wir fertige Traumweber sind? Dann haben wir ja keine Schule mehr.«

Die Lehrerin lehnte sich an ihr Pult. »Willst du uns verraten, wie du an das Wissen über die höhere Traumtheorie gelangt bist, Celia?«

Wieder richteten sich die Blicke der Klassenkameraden auf sie. Nur Elias drehte sich nicht um. Obwohl sie dankbar war, dass nicht alle sie anstarrten, versetzte es ihr einen Stich. »Ich war in der Bibliothek.«

Frau Moja nickte. »Ein guter Tipp für alle. Vor allem für die, die in den Prüfungen eher weniger gut abgeschnitten haben.«

Tino seufzte leise. »Damit könnte sie mich meinen.«

»Vielleicht solltest du es zur Abwechslung mit Lernen versuchen«, schlug Celia vor.

»Langweilig.«

Frau Moja räusperte sich. »Wie ich sehe, ist eure Konzentration für heute aufgebraucht. Dann dürfte Folgendes eine gute Nachricht für euch sein: Morgen wird kein Unterricht stattfinden.«

Die Klasse brach in Gemurmel aus. Seit sie hier waren und zu Traumwebern ausgebildet wurden, war der Unterricht noch nie ausgefallen. Was konnte der Grund dafür sein?

»Haben wir den Tag dann frei?«, wollte Tino wissen.

Frau Moja schüttelte den Kopf. »Nein. Wir treffen uns alle um die übliche Zeit in der Versammlungshalle.«

»Warum?«

Die Lehrerin lächelte Isabella zu. »Das werdet ihr schon sehen. Der Unterricht ist für heute beendet. Bitte geht bald in den Übungsraum und verspätet euch nicht wieder!«

Die Klasse begann lautstark ihre Taschen zu packen. Tino stieß einen übertriebenen Seufzer aus, während er das Heft in seinen Rucksack warf.

Celia warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Lass mich raten, beim letzten Mal warst du derjenige, der zu spät gekommen ist?«

»Nein, das war Elias.«

Sowohl Celia als auch Elias zuckten zusammen, als Tino den Namen aussprach. Elias warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Lass ihn in Ruhe«, sagte Celia. »Wir hatten das Thema doch schon.«

Tino hob die Schultern. »Ja sicher, du hast eben ein Herz für den Fr…«

Celia trat ihm auf den Fuß, bevor er weitersprechen konnte. Wahrscheinlich wusste Elias sowieso, was er hatte sagen wollen. Viele Mitschüler bezeichneten ihn als Freak, und auch wenn er keine Miene verzog, wenn er so genannt wurde, drehte es Celia jedes Mal den Magen um.

»Autsch«, sagte Tino unbeeindruckt. »Du solltest noch ein paar Kilo zulegen, wenn du jemanden richtig treten willst.«

»Mach so weiter und ich denke darüber nach.«

Er zwinkerte ihr zu. »Ich fürchte mich schon. Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mir einen Tipp geben kannst, Celia. Mein Übungsträumer hat gerade irgendwelche Probleme, die sich auf seine Träume auswirken.«

Celia runzelte die Stirn. »Depressionen oder Drogen?«

»Hä?«

»Fällt es dir schwer, bunte Farben zu erzeugen, oder sind die Bilder unscharf?«

»Ähm … ich denke beides. Kann man da was machen?«

»Keine Ahnung. Ich habe dazu schon etwas gelesen, aber alles nur in Theorie. Du solltest Frau Moja fragen, vielleicht weiß sie eine Lösung.«

Sie hatten ihre Sachen mittlerweile zusammengepackt. Celia stellte mit einem prüfenden Blick fest, dass auch Elias seine Tasche geschultert hatte. Die Federn waren vom Boden verschwunden und die Blutstropfen zu bräunlichen Schlieren verwischt. Elias’ dunkle Augen begegneten ihren.

»Geh doch schon mal vor, Tino.«

Dieser öffnete den Mund, doch sie gab ihm einen Schubs, bevor er etwas sagen konnte. Er machte gerne bissige Kommentare, doch im Grunde wollte er niemanden damit verletzen. Wahrscheinlich durfte sie sich noch öfters anhören, dass sie eine Schwäche für den Freak hatte, doch das würde sie aushalten.

»Willst du mir sagen, was passiert ist?«, fragte sie, als Tino außer Hörweite war.

Elias schüttelte den Kopf. Der Blick seiner dunklen Augen war eindringlich und Celias Herz stockte unwillkürlich, als sie sich auf ihre richteten. Wenn er sie ansah, war es ihr immer, als wäre da Musik, die nur sie beide hören konnten. Doch sein barscher Tonfall zerriss die leise Melodie in ihrem Kopf. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass du dich aus meinen Angelegenheiten heraushalten sollst.«

»Vielleicht sollte ich einfach mit Frau Moja sprechen …«

»Nein!« Unwillkürlich hatte er die Stimme gehoben.

»Du bist verletzt«, sagte sie. »Und es sieht gefährlich aus. Deine Flügel …« Sie verstummte, unfähig, die richtigen Worte zu finden.

»Meine Flügel gehen niemanden etwas an. Du darfst mit niemandem darüber sprechen, hast du verstanden?«

»Früher oder später werden es alle sehen, Elias! Es ist ein Wunder, dass es noch niemandem aufgefallen ist!«

Seine Miene verfinsterte sich. »Vielleicht kümmern die anderen sich nur um ihren eigenen Kram.«

Celia verzog das Gesicht. »Aber …«

»Elias, Celia, kommt ihr beide bitte her?«

Sie drehten sich um. Das Klassenzimmer war bereits leer, nur Frau Moja stand noch am Pult. Widerstrebend gingen sie nach vorn. Der prüfende Blick der Lehrerin glitt über sie und Celia schien es, als würde er für einen Moment an den Flügeln ihres Begleiters hängen bleiben.

»Gibt es ein Problem?«

»Nein«, erwiderte Elias hastig. »Ich sollte mich nur auf meinen Übungstraum vorbereiten …« Mit einer fahrigen Geste fuhr er sich über die Augen.

»Celia?«

Sie traf die Entscheidung, ohne lange nachzudenken. »Nein, es gibt kein Problem.«

»Wir sollten gehen«, fügte Elias hinzu. Er hatte die Hände an die Trageriemen seines Rucksacks gelegt, doch die Haltung wirkte nicht lässig, sondern angespannt.

»Du kannst gehen«, erwiderte Frau Moja freundlich. »Wir können später noch reden. Celia, mit dir möchte ich bitte jetzt kurz sprechen.«

»Aber mein Träumer …«, setzte sie an, doch die Lehrerin hob die Hand.

»Dein Träumer kann warten. Setz dich bitte. Und Elias, wir sehen uns im Übungsraum.«

Er nickte und bedachte Celia mit einer stummen Bitte, während er hinausging. Sie wäre nicht nötig gewesen, denn sie hatte ihre Entscheidung bereits getroffen. Sie würde Frau Moja nichts von ihrer Beobachtung erzählen, auch wenn sie das Gefühl hatte, einen Fehler zu machen. Das Bild von Federn und Blut auf dem Boden des Klassenzimmers stand ihr noch zu deutlich vor Augen. Wahrscheinlich machte sie sich zu viele Gedanken. Wenn sein Zustand so schlecht wäre, wie sie befürchtete, hätte Frau Moja das sicher bemerkt.

»Also, meine Liebe. Ich möchte mit dir über deinen Übungsträumer sprechen und darüber, warum der Unterricht morgen ausfällt.«

Celias Herz setzte einen Schlag aus. »Okay.«

»Zuerst zu deinem Träumer: Du wirst heute nicht zu ihm zurückkehren können.«

»Was? Aber ich habe schon einen Traum vorbereitet und mich extra in die höhere Traumtheorie eingearbeitet.« Sie hatte genau recherchiert und Stunden an Arbeit aufgewendet. »Kann ich dann morgen …?«

Die Lehrerin schüttelte den Kopf. »Nein, Celia, ich fürchte, du wirst nie wieder einen Traum für diesen Übungsträumer machen.«

Sie öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Hatte sie etwas falsch gemacht? War das eine Bestrafung dafür, dass sie nicht aufgepasst hatte? »Warum?«, fragte sie bestürzt.

»Aus demselben Grund, aus dem der Unterricht morgen ausfällt: Du wirst morgen in der Versammlungshalle deine Prüfung zum Traumweber ablegen.«

2. Die bücherlose Bibliothek

Träumer.

Der Schlafende, der sich in die Obhut des Traumwebers begibt, um zu erfahren, dass der Schlaf nicht ewig währt.

– Lexikon für Traumweber, nach H.

»Was? Morgen?« Beinahe hätte Celia geschrien, doch sie konnte sich noch im letzten Moment zwingen, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten.

Frau Moja lächelte. »Bist du überrascht?«

»Natürlich bin ich das!« Seit sie die Schule besuchte, hatte sie auf die Abschlussprüfung hingefiebert, doch niemals hätte sie erwartet, dass sie sie so bald ablegen musste. Die Prüfung war nicht nur ausgesprochen schwierig, sie wurde auch vor einem Plenum ausgewählter Traumweber abgelegt. Wie sollte sie es schaffen, sich bis morgen darauf vorzubereiten? Und mit einem Mal kam ihr ein anderer Gedanke. »Weshalb fällt deswegen die Schule aus? Die Prüfung haben schon viele absolviert, aber noch nie …« Sie ließ den Satz offen.

Ihr war, als würde ein Hauch von Verärgerung über das Gesicht der Lehrerin huschen. »Das sind besondere Zeiten und das Protokoll verlangt, dass vorzeitige Prüfungen von einem größeren Komitee bewertet werden. Seit die Prüfungen eingeführt worden sind, hat es noch niemanden gegeben, der so früh angetreten ist wie du.«

Der Raum schien sich um Celia zu drehen. Das hier war alles, was sie sich jemals gewünscht hatte. Trotzdem fühlte sich ihr rasender Herzschlag nicht nach Freude an. Eher nach Angst. »Und warum jetzt?«

»Ich gebe zu, dass die Dinge sich in letzter Zeit beschleunigt haben. Ich habe dich schon vor einiger Zeit für die Prüfung vorgeschlagen, doch ich hätte nicht erwartet, dass deine Zulassung so schnell bewilligt werden würde.«

»Sie haben mich vorgeschlagen? Aber ich bin noch nicht einmal zwei Jahre in der Schule. Ich dachte, man muss den Unterricht mindestes drei Jahre lang besuchen, bevor man ein fertiger Traumweber werden kann.«

Das Lächeln der Lehrerin wurde breiter. »Für alles gibt es Ausnahmen. Ich habe dich für die Prüfung vorgeschlagen, damit es schneller geht.«

Celia starrte sie an. Frau Moja hatte sie für die Prüfung vorgeschlagen! Warum hatte sie sie nicht vorher gefragt? »Aber wie soll ich mich denn bis morgen vorbereiten?«

Die Lehrerin legte ihre Fingerspitzen aneinander und sah Celia darüber hinweg an. Ihre Miene war ernst. »Du bist bereit dafür. Eigentlich bist du schon lange bereit, Celia. Wenn du noch ein weiteres Jahr hierbleiben würdest, wäre das nichts als verschwendete Zeit.«

»Und wenn ich gern in der Schule bleiben würde?« Sie fühlte sich ganz und gar nicht bereit, was auch immer die Lehrerin sagte. Sie mochte es, wenn jemand auf die Träume aufpasste, die sie machte. Sie brauchte dieses Sicherheitsnetz. Wenn sie eine fertige Traumweberin war, würde sie vollkommen auf sich gestellt sein. Und sie würde ihren ersten wirklichen Träumer bekommen, für den sie sein ganzes Leben lang allein zuständig war. Sie mochte sich nicht ausmalen, was dabei alles schiefgehen konnte.

»Celia«, sagte die Lehrerin mit warmer Stimme. »Es spricht für dich, dass du Bedenken hast. Aber wir brauchen dich da draußen.«

»Wie meinen Sie das?«

Frau Mojas Blick verdüsterte sich. »Wir leben in Zeiten, in denen wir gute Traumweber dringend brauchen. Wir können es uns nicht leisten, dass du in der Schule bist und dich mit Übungsträumern beschäftigst, während draußen düstere Zeiten angebrochen sind.«

»Düstere Zeiten?«

Die Lehrerin schüttelte den Kopf. »Das ist ein Gespräch für ein andermal. Wir brauchen mehr Zeit dafür und ich möchte nicht, dass du dir vor dem morgigen Tag Sorgen darüber machst. Du solltest Ruhe finden und dich sammeln.«

Beim Gedanken an die Prüfung wurde Celia schwindelig. Sie fühlte sich nicht bereit. Nicht ein kleines bisschen. In ihrem Zimmer lagen noch Stapel von Büchern aus der Bibliothek – sie hatte längst nicht alle lesen können. Und bis morgen würde sie nur einen Bruchteil davon schaffen. Sie würde sich überlegen müssen, welches ihr am meisten nützen konnte. Wenn sie sich beeilte, schaffte sie zwei oder vielleicht drei bis morgen. Je nach Dicke des Buchs. Wenn sie keinen Übungsträumer besuchte, hatte sie die ganze Nacht Zeit.

»Celia«, sagte Frau Moja und holte sie ins Hier und Jetzt zurück. »Was geht dir durch den Kopf?«

Sie senkte den Blick. »Ich habe mir überlegt, wie ich mich am besten vorbereiten könnte. Ich habe noch einige Bücher über Transmutation aus der Bibliothek ausgeliehen, die ich mir ansehen wollte.« In einem Traum konnte ein Traumweber jede beliebige Gestalt annehmen, dies wurde Transmutation genannt. Celia war bereits gut darin, aber einige Verwandlungen gelangen ihr noch nicht fließend genug. Sie musste mehr über das Thema erfahren. Was, wenn die Prüfung an einer verzögerten Transmutation scheiterte?

»Dafür wird keine Zeit sein, denke ich.« Ein strenger Zug legte sich um den Mund der Lehrerin. »Du hast genug gelesen – außerdem sind deine Transmutationen tadellos.«

»Aber …«

»Nein. Du weißt jede Menge, doch das wird dir in der Prüfung nichts nützen. Es wäre besser, wenn du vorher den Kopf frei bekommst.«

Das war keine leichte Aufgabe. Die Bilder von Elias’ zerrupften Flügeln tauchten wieder vor ihrem inneren Auge auf, als hätten sie nur auf eine Aufforderung gewartet. In letzter Zeit war sein Zustand schlimmer geworden, viel schlimmer. Und je schlechter es ihm ging, desto mehr ging er ihr aus dem Weg. Es verging kein Tag, an dem sich Celia nicht fragte, was aus dem Jungen geworden war, der mit ihr die Ausbildung begonnen hatte. Der heutige Elias war kaum mehr als ein Schatten von ihm. Nur die Musik, die er in ihr hervorrief, war die gleiche geblieben. Eine Melodie voller Sehnsucht, die ihr tagelang durch den Kopf ging.

»Siehst du, das meine ich. Deine Gedanken sind ständig an einem anderen Ort.«

Celia wurde rot und sah auf die Tischplatte. Das Holz war an vielen Stellen zerkratzt und aufgesprungen. Bisher war ihr das noch nie aufgefallen. »Ich wüsste nicht, was ich dagegen tun könnte.«

Frau Moja seufzte leise. »Ich habe eine Idee. Vielleicht kann ich dir ein bisschen weiterhelfen.«

Sie verließen das Schulgebäude und traten hinaus in den Schein der Abendsonne, die den Himmel mit zarten Rottönen überzog und die silbernen Dächer der Wolkenstadt in Feuer tauchte. Die Schule thronte auf einer kleineren Wolke in der Nähe der Traumfabrik. Die Fabrik war das größte Gebäude der Stadt und befand sich auf einer massiven Wolke mitten im Zentrum. Ein Koloss aus Silber, Marmor und dem Glas der riesigen Fenster, in denen sich Himmel und Erde spiegelten. Eine gebogene Brücke verband die beiden Wolken, damit die Schüler hinüberlaufen konnten, wenn sie nicht fliegen wollten. In der Luft schwebten die Wächterdrohnen, silbern glänzende Sphären, die für die Sicherheit der Traumweber sorgten. Celia kamen sie vor wie ein Schwarm von Fischen, der mühelos durch die Luft schwamm.

Normalerweise hätte sie die Aussicht genossen, doch jetzt konnte sie nur daran denken, dass dies ihr letzter Schultag gewesen war. Und sie hatte es nicht einmal gewusst. Instinktiv lief sie in Richtung Fabrik, wie an jedem Tag nach dem Unterricht, doch Frau Moja hielt sie zurück. »Heute gehen wir woanders hin. Am besten, wir fliegen.«

Celia nickte, aber ihr Magen krampfte sich zusammen. Fliegen, das auch noch. Tino lachte sie immer dafür aus, dass sie sich sicherer fühlte, wenn sie festen Boden unter den Füßen hatte. »Du bist ein geflügeltes Wesen, Celia. Wie kannst du Höhenangst haben?« Er flog für sein Leben gern, so wie die meisten ihrer Klassenkameraden.

Wie um ihren Ängsten zu trotzen, stieß sie sich etwas kraftvoller als nötig vom weichen Untergrund der Wolke ab. Mit wenigen Flügelschlägen erhob sie sich in die Lüfte und schloss zu Frau Moja auf. Es wehten mehrere warme Brisen, auf denen die Bewohner bequem von Wolke zu Wolke gleiten konnten, ohne sich groß anstrengen zu müssen.

Frau Mojas dunkle Schwingen bewegten sich kaum, als sie sich von einem Windstrom nach oben tragen ließ. Sie sah unglaublich elegant dabei aus. Celia schlug viel zu kräftig mit den Flügeln, um so ruhig durch die Luft zu segeln wie die Lehrerin. Ihr Körper schwankte in der Brise. Krampfhaft hielt sie den Blick auf Frau Mojas Flügel gerichtet, um nicht nach unten sehen zu müssen.

Glücklicherweise dauerte der Flug nicht besonders lange. Frau Moja landete so elegant, wie sie geflogen war. »Ich nehme an, du weißt, wo wir sind?«

Celia nickte und sah zu dem vertrauten Gebäude auf. Es war das einzige Bauwerk der Wolkenstadt, das kein Fenster besaß. Die Bibliothek, in der Tausende von Büchern schlummerten. Licht würde ihnen nur schaden. »Was machen wir hier? Ich dachte, ich darf nichts mehr lesen?«

Frau Moja schmunzelte. »Das darfst du auch nicht. Komm mit.«

Im Inneren war es kühl und Celia bemerkte sofort, wie sich ihre Schultern entspannten. Der vertraute Geruch von Leder und Papier stieg ihr in die Nase. Hinter einer Theke saß eine Frau mit einer schmalen Brille. Sie trug ihr an den Schläfen ergrautes Haar zu einem Knoten hochgesteckt. Celia hatte sie noch nie mit einer anderen Frisur gesehen. Zu Beginn hatte sie sich vor dem strengen Blick der Frau gefürchtet, doch der war mit jedem ihrer zahllosen Besuche hier freundlicher geworden.

»Willkommen«, sagte sie. »Wie schön, euch zu sehen.« Die Bibliothekarin schenkte ihnen ein freundliches Lächeln, mit dem sie nur diejenigen bedachte, die ihre Bücher gut behandelten. Aus Gewohnheit ließ Celia den Blick über ihre Flügel huschen, um ihr Traumalter zu erkennen, doch sie waren unter einem dichten Schleier verborgen. Nicht eine einzige Feder war zu sehen. Seit ihrem ersten Besuch fragte Celia sich, was es damit auf sich hatte. Es musste schrecklich unbequem sein, die Flügel in ein solches Gefängnis zu zwängen.

»Hallo Elsbeth«, erwiderte Frau Moja. »Wir sind hier, weil unsere Celia morgen ihre Prüfung ablegen wird.«

Elsbeth lächelte. »Wie schön. Sie ist sehr fleißig gewesen in der letzten Zeit. Und Celia, denk bitte daran, dass in einer Woche einige deiner Bücher fällig sind.«

Celia nickte. »Ich weiß. Ich hoffe, ich kann sie bis dahin noch fertig lesen.«

Frau Moja schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Wir sind nicht wegen irgendwelcher Bücher hier.«

Celia warf ihr einen verwunderten Blick zu. Warum sollte man eine Bibliothek besuchen, wenn es nicht um Bücher ging?

»Wir möchten in die richtige Bibliothek.«

Elsbeth hob die Brauen und wies mit dem Kinn in Celias Richtung. »Bist du dir sicher? Sie ist nur eine Anwärterin und noch nicht ausgebildet …«

Die Lehrerin nickte entschieden. »Ja, ich bin mir sicher. Celia ist meine beste Schülerin und absolut vertrauenswürdig. Außerdem fordern besondere Zeiten besondere Maßnahmen.«

Die Bibliothekarin presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Gibt es etwas Neues? Etwas, das ich verpasst habe?«

Frau Moja seufzte leise. »Es geschehen jeden Tag neue Dinge, das ist der Lauf der Welt. Aber in diesen Zeiten scheint sich alles noch schneller zu bewegen. Ich werde dir später von den Neuigkeiten berichten.«

Celia sah zwischen den beiden Frauen hin und her. Sie hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen. Wahrscheinlich von der Sache, die die Lehrerin bereits angedeutet hatte. Dass irgendetwas Schlechtes vor sich ging. Musste sie sich Sorgen machen?

Federleicht legte sich Frau Mojas Hand auf ihre Schulter, als hätte sie ihre Gedanken gehört. »Momentan ist es wichtig, dass die junge Celia hier ihre Ausbildung vollenden kann. Dafür möchte ich mit ihr das Magazin besuchen.«

»Auf deine Verantwortung«, sagte Elsbeth und schenkte Celia ein kleines Lächeln. »Du hast Glück. Nicht viele Traumweber bekommen die bücherlose Bibliothek zu sehen.«

»Und Celia ist eine außergewöhnlich talentierte Traumweberin, darum habe ich entschieden, sie herzubringen. Außerdem mag ich diesen Namen nicht. Er beschreibt nicht die Natur des Magazins. Ich finde, wir sollten es die echte Bibliothek nennen.«

Die Bibliothekarin warf ihr einen strengen Blick zu, während sie hinter der Theke hervorkam. »Ich kann nicht verstehen, was du gegen Bücher hast.«

Ein düsterer Ausdruck huschte über Frau Mojas Gesicht. »Du kannst hierbleiben, Elsbeth, wir finden den Weg allein.«

»Wenn du meinst. Aber seht zu, dass ihr hinter euch absperrt.«

Die Lehrerin nickte, dann traten sie zwischen die Bücherregale. Sie reichten bis zur Decke des Raums. Knapp darunter waren mehrere wandhohe Leitern an einer Laufschiene befestigt, sodass man auch die obersten Bücher erreichen konnte, ohne die Flügel benutzen zu müssen. Frau Moja durchquerte die Bücherei mit zügigen Schritten. Den ledernen Buchrücken schenkte sie keine Beachtung.

Wie konnte jemand, der so klug war wie Frau Moja, keine Bücher mögen? War nicht alles Wissen der Welt darin verborgen? Celia warf ihr einen neugierigen Seitenblick zu, doch ihre Miene war unergründlich.

»Was möchtest du mich fragen, Celia?«

Das Blut schoss in ihr Gesicht. »Nichts, ich …«

Die Lehrerin lachte leise. »Wer neugierig ist, muss manchmal auf Höflichkeit verzichten. Es geht um Elsbeths Flügelschutz, nicht wahr?«

»Ja«, erwiderte Celia erleichtert und versuchte, ihrer Stimme einen zerknirschten Klang zu verleihen. Es wäre ihr peinlich gewesen, Frau Moja etwas so Persönliches zu fragen. »Warum trägt sie einen Flügelschutz? So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Es ist wegen der Bücher. Unsere Flügel sondern während des Tages viel Staub ab und Elsbeth fürchtet, dass dieser Staub ihren Büchern schaden könnte. Deswegen trägt sie dieses Ding. Es muss fürchterlich unbequem sein, die Flügel nicht ordentlich bewegen zu können.« Ihr Blick streifte Celia kurz und sie schmunzelte. »Aber meine Meinung bleibt unter uns, ja? Bei diesem Thema ist mit Elsbeth nicht zu spaßen.«

Sie steuerte eine der hinteren Ecken an, in der Celia noch nie gewesen war. Das Licht der Lampen schien diesen Winkel nicht zu erreichen, sodass die Wendeltreppe darin fast unsichtbar war. Mit eiligen Schritten stiegen sie hinab. Die Stufen führten zu einer schweren Tür aus Metall, die Frau Moja mit einem großen Schlüssel aufschloss. Knirschend schwang sie auf und sie traten über die Schwelle.

»Willkommen in der bücherlosen Bibliothek«, sagte die Lehrerin. »Oder wie ich es lieber nenne: das Magazin der Träume.«

Celia sah sich staunend um. Hier gab es wirklich keine Bücher, nur gemauerte Wände mit schimmernden silbernen Metallplatten daran. Jede davon war quadratisch und ungefähr so groß wie Celias gespreizte Hand. Als sie näher kamen, konnte sie erkennen, dass es Schließfächer waren. In jedes war in der Mitte ein altmodisches Schlüsselloch eingelassen.

»Gibt es Bücher über das Magazin?«

»Ja, die gibt es. Ich kann Elsbeth bitten, dir eines davon zukommen zu lassen.«

»Das wäre sehr nett.« Celia ließ den Blick über die unzähligen Metallplatten wandern. »Was ist das hier?«

Frau Moja sah sie von der Seite an. »Was denkst du denn?«

»Sind da Träume drin?«

Die Lehrerin nickte. »Sehr gut. Ja, hier werden Träume gespeichert. Jeder einzelne Traum, den wir Traumweber gemacht haben. Und auch die anderen«, setzte sie leise hinzu.

»Welche anderen?«, fragte Celia, bekam jedoch keine Antwort.

Die bücherlose Bibliothek war größer, als es von der Tür aus den Anschein gehabt hatte. Sie liefen ohne erkennbares Muster durch die Gänge, doch Frau Moja schien genau zu wissen, wo sie hinwollten. Celia sah sich in alle Richtungen um. Jetzt erkannte sie, dass auf jeder der kleinen Metalltüren ein Name eingraviert war. Die Schrift war so fein, dass sie fast unsichtbar war.

»Hier sind wir.«

Sie waren im hintersten Teil des Magazins angelangt. Die Lehrerin deutete auf eine Tür, die sich in der Mitte der Wand befand, vor der sie standen. Moja war darauf eingraviert. Das Metall hatte einen kupfernen Farbton. Es sah unglaublich alt aus.

Celia starrte die Lehrerin an. »Sie wollen mir einen ihrer Träume zeigen?«

Frau Moja nickte. »Ja, weil du so mehr lernen kannst als aus Büchern. Viel zu oft schicken wir junge Traumweber ohne dieses Wissen hinaus.« Sie nahm einen Schlüssel aus der Tasche, der zu dem Metall der Platte passte, und steckte ihn in das Schlüsselloch.

»Warum?«

»Das Problem ist, dass nur wenige verstehen, was ich dir sagen will«, erwiderte Moja. »Aber du hast es vorher selbst gesagt: Träume sind nicht nur Bilder. Sie bewirken etwas.« Es knirschte, als sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Einmal, dann ein zweites Mal.

Das Türchen klappte auf. Dahinter schimmerte es hell. Das Fach war mit weißem Licht gefüllt. Frau Moja streckte die Hand danach aus, und als sie sie wieder zurückzog, haftete eine Lichtkugel an ihrem Zeigefinger wie ein funkelnder Stern. Sie betrachtete ihn für einen Moment.

»Das Geheimnis ist Folgendes: Ein Traum, den du mit deinem Träumer teilst, beeinflusst nicht nur ihn. Auch du wirst durch jeden deiner Träume verändert. Das ist etwas, was du beachten musst. Deswegen möchte ich einen meiner Träume mit dir teilen, der sehr wichtig für mich war. Ich will, dass du diese letzte Nacht als Lehrling nicht als Traumweber verbringst, sondern als Träumer.«

Celia riss die Augen auf. Sie hatte noch nie gehört, dass so etwas möglich war. Dass Traumweber in der Lage wären, selbst zu träumen. Es war ein außergewöhnliches Geschenk, das Frau Moja ihr damit machte. »Warum ich?«

»Ich bin viele Jahre hier, Celia, und nur selten habe ich jemanden mit deinem Willen gesehen, zu lernen und den perfekten Traum zu erschaffen.« Das Licht, das von ihrem Zeigefinger ausging, spiegelte sich in ihren Augen. »Ist es nicht das, was du dir wünschst?«

»Es gibt keine perfekten Träume.«

»Nein. Aber es gibt solche, die es beinahe sind. Und das reicht«, entgegnete die Lehrerin. »Solange du alles erzwingen willst und nicht loslassen kannst, wirst du nie einen erschaffen können. Unsere besten Arbeiten erschaffen wir mehr mit dem Herzen als mit dem Kopf. Daran solltest du auch morgen denken.«

Mit ihrem strahlenden Zeigefinger tippte sie gegen Celias Stirn, und als sie die Hand wieder sinken ließ, war der Stern verschwunden.

Frau Moja nickte zufrieden und schloss das Türchen wieder. »Wahrscheinlich ist das die letzte friedliche Nacht, die du in der nächsten Zeit haben wirst. Du solltest sie genießen.«

3. Die Fabrik

Passage.

Vorgang des Sinkenlassens in einen Traum, in dem sich der Traumweber den Gedanken des Träumenden nähert.

– Lexikon für Traumweber, nach H.

Elias folgte seinen Klassenkameraden nur langsam. Während diese sich in die Lüfte geschwungen hatten, um schnell zu ihrem Übungszimmer zu gelangen, das sich unter dem Dach der Traumfabrik befand, ging er zu Fuß. Er liebte es, zu fliegen, doch seine Flügel schmerzten heute so stark wie lange nicht mehr. Und im Gegensatz zu seinen Kameraden war er auf sie angewiesen, also musste er sie schonen.

Er hätte wissen müssen, dass die neuen Wunden Celias scharfen Augen nicht entgehen würden, auch wenn sie zwischen den Federn verborgen lagen. Er benutzte einen Spiegel, um seine Schwingen nach den jüngsten Verletzungen abzusuchen und sie zu verarzten, bevor er in die Klasse kam. Diese Vorsichtsmaßnahme war nur Celia geschuldet, denn die anderen Traumweberlehrlinge beachteten ihn kaum. Er hatte sich diese Missachtung erarbeitet, doch bei Celia wollte ihm das nicht gelingen. Bei diesem Gedanken verspürte er einen winzigen Stich in seinem Herzen, doch er ignorierte ihn. Er musste sich konzentrieren.Wir sehen uns im Übungsraum.

Die Worte der Lehrerin hallten in seinem Kopf wider. Er war sich sicher, dass es Celia entgangen war, doch für ihn war die Mahnung dahinter unverhohlen. Celia war nicht die Einzige, die ein Auge auf ihn hatte. Frau Moja schien ihn ebenfalls genauestens zu beobachten. Und sie konnte nicht darüber erfreut sein, was er tat.

Das silberne Portal der Wolkenfabrik war vor ihm aufgetaucht und er stieß es achtlos auf. Vor ihm befand sich eine marmorne Halle, an deren Wand sich eine steinerne Wendeltreppe emporschraubte. Von den steinernen Stufen gingen zahlreiche Türen zu den Traumzimmern ab.

Für die meisten war die Fabrik ein magischer Ort, an dem sich ihre Vorstellungskraft in Welten verwandelte, die sie mit ihrem Träumer teilen konnten. Sie schrieben dem Wispern der Zahnräder im Getriebe der Fabrik eine traumfördernde Wirkung zu und empfanden den Geruch des Sesselleders nicht nur als beruhigend, sondern glaubten fest an dessen Pheromone, die sie enger an ihre Träumer banden. Der Sternenhimmel hinter den großen Fenstern der Fabrik war ihre Karte, die sie zu den besten Bildern für ihre Träume geleitete. Doch Elias durchschaute diesen Schein. Im Knarren des Maschinenwerks hörte er das Ächzen des gequälten Metalls; das Leder der Sessel roch muffig, nach all den Lehrlingen, die sich hier bereits vergeblich um Bilder und Farben bemüht hatten. Nicht einmal der Sternenhimmel vermochte ihn noch zu faszinieren, die fernen Lichtpunkte weckten keine Sehnsucht in ihm. Die Fabrik war ein Ort wie jeder andere und es gab keine Magie, schon gar nicht, wenn er die Augen schloss, um einen Traum zu erschaffen. Das Zimmer der Traumweberlehrlinge befand sich direkt unter dem silbernen Dach der Fabrik und Elias entschied sich wieder dafür, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Die Schmerzen in seinen Flügeln waren zu einem beständigen Pochen geworden, erträglicher als das glühende Stechen, das er im ersten Moment der Verletzung wahrgenommen hatte. Sogar der Gedanke daran war unangenehm, noch schlimmer aber die Gewissheit, dass seine Flügel nicht heilen konnten, bevor sie den nächsten Schaden davontragen würden.

Wie automatisch tastete er nach der kleinen verbotenen Schachtel in seiner Jackentasche. Sie versprach Linderung, doch er konnte es nicht riskieren, sie jetzt hervorzuholen. Wenn sie jemand sah, würde er umgehend seine Flügel verlieren, so viel war klar. Später, versprach er sich selbst. Später würde er sich einen ruhigen Platz suchen und etwas entspannend. Doch davor musste er sich der Lehrerin stellen. Und langsam gingen ihm die Ausreden aus.

Er passierte zwei Traumweber, die ihre Ausbildung bereits abgeschlossen hatten. Ihre Flügel waren von mittelgrauer Farbe und natürlich makellos, die Federn glänzend und unversehrt. Die beiden unterhielten sich am Eingang zu ihrem Traumzimmer, keiner von ihnen würdigte ihn eines Blickes.

Sein Atem beschleunigte sich, während er die Treppen erklomm. Die Fabrik hatte zehn Stockwerke, das Dachgeschoss unter der Kuppel war den Lehrlingen vorbehalten. Kaum einer von ihnen würdigte ihn eines Blickes, als er den Raum betrat. Sie saßen bereits in ihren Sesseln, gingen die Notizen durch, die sie sich als Vorbereitung gemacht hatten, und warteten darauf, dass ihre Träumer einschliefen.

Zwischen den einzelnen Arbeitsplätzen waren Trennwände aufgebaut, um ein wenig Privatsphäre zu schaffen. Elias schob sich zwischen den Nischen hindurch zu seiner, die sich im hinteren Abschnitt des Raumes befand. Direkt daneben saß Celias Freund Tino in seinem Sessel und blätterte hektisch durch ein Buch. Isabella, die Neue, sah ihm dabei über die Schulter.

»Da muss doch irgendetwas über Depressionen drinstehen«, murmelte er. »Oder waren es Drogen? Celia hat auch etwas über Drogen gesagt.«

»Denkst du nicht, dass das unterschiedliche Probleme sind?«, fragte Isabella. »Wahrscheinlich gibt es ganz unterschiedliche Bücher darüber. Du musst Celia fragen«, fügte sie mit einem Kichern hinzu. »Die kennt sie wahrscheinlich auswendig. So wie die restliche Bibliothek.«

Mit einem Knall schlug Tino das Buch zu. Ihm schien der gehässige Tonfall in ihrer Stimme nicht entgangen zu sein. »Wahrscheinlich«, erwiderte er bissig. »Weil sie einfach viel klüger ist als wir beide zusammen. Du solltest dich besser konzentrieren, Isa. Oder hast du es schon geschafft, deinen Traum zu stabilisieren?«

Das Mädchen wurde rot. »Na ja …« Sie wich Tinos Blick aus und entdeckte Elias, der sich unbemerkt in seinen Sessel zurückgezogen hatte. »Oh, hey, du bist auch gekommen! Was wollte die Moja denn von dir und Celia?«

»Nichts, was dich etwas angehen würde«, erwiderte er, ohne die Miene zu verziehen.

Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich, doch sie zog trotzdem ab. Elias ließ sich in das weiche Leder seines Sessels sinken und schloss die Augen. Das Letzte, was er sah, war Tinos Grinsen über den Rand seines Buchs hinweg. Er versuchte nicht weiter darauf zu achten.

Stattdessen würde er so tun, als wäre er nichts weiter als ein normaler Traumweberlehrling, der sich mit seinen ersten Träumen herumschlug. Kurz nachdem er hier angekommen war, hatte man ihm einen Übungsträumer zugeteilt. Zuerst hatte er lernen müssen, nach seinem Menschen zu tasten, zu erfassen, ob er schlief oder wachte. Erst dann konnte man daran denken, seine Gedanken mit dem Schlafenden zu verknüpfen. Wenn diese Verbindung bestand, konnte ein Traumweber Bilder erschaffen, die sie zusammen träumen würden. Elias hatte von Beginn an einen inneren Widerstand verspürt, wenn er daran dachte, sich an jemanden zu binden, den er nicht einmal kannte.

Trotzdem hatte er es versucht, weil es von ihm erwartet wurde.

»Die Passage«, hatte Frau Moja gesagt, »ist das Mittel, sich mit seinem Träumer zu verbinden. Ihr verspürt ein Ziehen, wenn er einschläft. Das ist die Verbindung. Alles, was ihr dann tun müsst, ist, euch zu ihnen herabsinken zu lassen.«

Celia und er hatten zum ersten Mal in dem Zimmer unter der Kuppel gestanden, in Nischen, die nebeneinanderlagen.

Celia hatte die Nase kraus gezogen. »Das ist alles? Das klingt so einfach.«

Unwillkürlich hatte er über ihre Worte lachen müssen. Celia mochte nichts, was einfach war, das hatte er schon damals gespürt.

Auch die Lehrerin hatte gelächelt. »Ja, Celia, da ist noch mehr. Aber es würde den Prozess verkomplizieren. Belassen wir es heute Nacht dabei. Und wenn ihr das erste Mal geträumt habt, können wir noch einmal darüber sprechen.«

Celia hatte genickt und er hatte gewusst, dass sie die nächste Gelegenheit ergreifen würde, um die Lehrerin mit Fragen zu löchern.

»Ich habe Angst«, hatte sie ihm zugeflüstert, nachdem Frau Moja gegangen war. Ihre dunklen Augen waren offen und ehrlich gewesen. »Du nicht, Elias?«

»Doch«, hatte er zugegeben. Trotzdem war das der letzte Moment in der Fabrik gewesen, in dem er sich sicher gefühlt hatte. Celia hatte nicht nur ihre erste Passage, sondern auch alle danach mit Bravour bestanden, er war zurückgeblieben. Jede Nacht ein wenig mehr.

Elias riss die Augen auf. Er hatte sich konzentrieren wollen, doch seine Gedanken waren abgedriftet. Es war, als fiele es ihm jede Nacht schwerer, sie in die richtigen Bahnen zu lenken. Als wollten sie ihn vor dem beschützen, was ihn nach der Passage erwartete. Er sollte einfach nicht hier sein. Mit einem Seufzer zog er die Füße auf die Sitzfläche seines Sessels.

Zu allem Überfluss war da noch eine Melodie in seinem Kopf, die ihn einfach nicht loslassen wollte. Sie war leicht melancholisch und getragen, trotzdem eine Spur hoffnungsvoll. Seit er denken konnte, verfolgte sie ihn, und er ertappte sich immer wieder dabei, wie er ihren Takt mit den Fingern auf einen Tisch trommelte. Einmal mehr versuchte er, sie aus seinem Bewusstsein zu verbannen. Musik war nicht hilfreich, wenn man sich konzentrieren musste.

Wie lange würde Frau Moja noch auf sich warten lassen? Tino hatte sich mittlerweile zurückgelehnt. Seine Stirn war gerunzelt und nur die Tatsache, dass sich seine Augen rasch hinter seinen geschlossenen Lidern hin- und herbewegten, gab einen Hinweis darauf, dass er sich in einem Traum befand. Es schien kein angenehmer zu sein.

Celias Nische dagegen war noch immer leer. Was mochte Frau Moja mit ihr besprochen haben? Es musste etwas sein, was sie davon abhielt, herzukommen. Um nichts in der Welt würde Celia ansonsten einen Traum verpassen.

Der Gedanke, dass sie nicht da war, beunruhigte ihn mehr, als ihm lieb war. Sie hatten lange nicht miteinander gesprochen, mal abgesehen von den wenigen Worten, die sie vorhin gewechselt hatten. Aber dennoch. »Elias?«

Frau Mojas Schatten fiel auf ihn. Instinktiv wollte er aufspringen, zwang sich dann aber dazu, sitzen zu bleiben. Er durfte nicht den Eindruck erwecken, dass er sich schuldig fühlte. »Ja?«

»Du bist noch nicht im Traum?«

»Ich warte darauf, dass mein Träumer einschläft. Wollten Sie nicht mit mir reden?« Seine Stimme klang zu kalt, zu feindselig.

Die Lehrerin lächelte nur. »Du hast auf mich gewartet.«

Er antwortete nicht. Sie zog sich das Tischchen neben seinem Sessel heran und nahm darauf Platz. »Wie geht es dir, Elias?«

Schon wieder diese Frage. »Warum?«

Frau Moja atmete tief aus. »Celia macht sich große Sorgen um dich.«

Er grub die Finger tief in das weiche Leder des Sessels. Celia hatte mit der Lehrerin über ihn gesprochen? Sein Kiefer fühlte sich an, als wäre er aus Eis. »Was hat sie gesagt?«

»Sie hat nichts gesagt«, erwiderte sie. »Das war aber auch gar nicht nötig. Du siehst nicht gut aus, Elias.«

Unwillkürlich machte er sich größer, faltete seine lädierten Flügel enger auf dem Rücken zusammen. Seine verkrampften Flugmuskeln protestierten bei der Bewegung.

Frau Mojas Miene war im Zwielicht des Raums nicht einfach zu lesen. Musterte sie ihn kritisch? Verengte sie die Augen? Lächelte sie dieses nachsichtige Lächeln, das ihm einen Schauer über den Rücken jagte?

Am liebsten hätte er sie gefragt, was sie von ihm wollte, aber er schwieg.

»Ich wollte dir erneut meine Hilfe anbieten.«

Erneut. »Ich denke, ich habe mehr als genug Hilfe.«

Sie verlagerte ihr Gewicht und beugte sich ein wenig weiter zu ihm. »Du hast mit dem Architekten gesprochen.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Er nickte.

»Hat er dir etwas gegeben?«

Elias zögerte. Die Box in seiner Tasche schien schwerer zu werden. Nicht die verbotene, sondern die andere. Diejenige, die aus eiskaltem Metall bestand und vor deren Inhalt er sich fürchtete. »Ja, er hat mir etwas gegeben.«

Die Lehrerin beugte sich noch näher zu ihm. »Und? Hat sich dadurch etwas verändert?«

»Schon.« Er ging nicht näher darauf ein, was sich verändert hatte. Allein die Erinnerung daran ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. »Es wurde stabiler.«

Glücklicherweise schien die Lehrerin seine Antwort positiv zu werten. »Das ist gut.« Sie seufzte erneut. »Elias, ich möchte, dass wir weiter daran arbeiten. Zuletzt hatte ich wenig Zeit, mich um euch zu kümmern, geschweige denn nach euren Träumen zu sehen. Aber das wird nicht so bleiben, das verspreche ich dir.«

Eine weitere Drohung. Damit kam er klar. Er nickte nur. Was sollte er darauf antworten? Dass sie gern versuchen konnte, seine Träume anzusehen?

»Ich würde vorschlagen, dass du beginnst, ein Logbuch zu führen. Du schreibst auf, was in jedem Traum auftaucht, welche Gefühle du bei dir und bei deinem Träumer wahrnimmst und – ganz wichtig – welche Schwierigkeiten dabei auftreten. Meinst du, du schaffst das?«

»Ja.« Es würden schöne Lügen werden, die er in dieses Buch schrieb. Bei dem Gedanken daran stieg ein Bild in ihm auf. Es war düster und verzerrt und er konnte es nicht erfassen, bevor es wieder verschwunden war.

Frau Moja stand auf und strich sich das dunkle Kleid glatt. »Schön«, sagte sie und diesmal lag ein Lächeln in ihrer Stimme. »Dann sprechen wir uns morgen wieder.« »Frau Moja«, sagte Elias. »Was ist mit Celia?« Ihr Platz war noch immer verlassen.

»Ihr geht es gut«, erwiderte die Lehrerin. »Sie ruht sich heute Nacht aus, denn sie hat morgen einen großen Tag.«

Elias starrte sie an.

»Sie wird morgen ihre Prüfung ablegen«, verriet Frau Moja. »Aber sag es den anderen nicht, ich werde es erst morgen früh bekannt machen. Gute Träume, Elias, und bis bald.«

Sie wandte sich zum Gehen und er blieb in der aufkommenden Dunkelheit zurück. Starrte auf Celias leeren Sessel.

Sie würde die Prüfung ablegen. Morgen.

Das war eine Katastrophe.

4. Die Prüfung

Traumweber.

Hüter und Former der Träume, Bote und Patron des

Träumenden.

– Lexikon für Traumweber, nach H.

 

Celias Traum endete jäh, als sie jemand an der Schulter rüttelte. »Wach auf, du Schlafmütze! Es ist schon Nachmittag und Frau Moja hat gesagt, ich soll dich wecken und zur Halle bringen.«

Schlaftrunken schlug sie die Augen auf. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Eben noch hatte sie an einer Klippe gestanden und das Meer über raue Felsen schäumen sehen. Überall hatten lavendelfarbene Blüten geblüht und nicht weit entfernt hatte sie ein Haus ausgemacht, dessen Fenster hell erleuchtet gewesen waren. Celia rieb sich die Augen. Hatte sie nicht gerade die Hand eines Kindes gehalten? Sie versuchte sich zu erinnern, doch schon zerfaserten die Bilder in ihrem Kopf, wurden blasser und so wenig greifbar wie Nebel.

»Celia!«

Jetzt erst nahm sie wahr, dass Tino neben ihr stand. Er hatte die Hände in die Seiten gestemmt und die Federn seiner Flügel aufgeplustert. »Wir kommen zu spät! Wenn Frau Moja mir nicht Bescheid gegeben hätte, dass ich dich mitbringen soll … Woher wusste sie überhaupt, dass du dich jetzt ausruhst?«

Langsam nur kehrten die Erinnerungen an den gestrigen Tag zurück. Die Prüfung! Sie würde zu spät zu ihrer eigenen Prüfung kommen! Und vorbereitet hatte sie sich auch nicht!

»O Gott«, flüsterte sie und stand so schnell auf, dass ihr schwindelig wurde. »O Gott.«

Ein unterdrücktes Lachen von Tino. »Was ist denn mit dir los? Hast du wirklich geschlafen? Und das ohne Träumer?«

Unwirsch stieß sie ihn beiseite und rannte zu dem Spiegel, der an der Wand angebracht war. Sie trug noch das Kleid von gestern und ihr Gesicht wirkte dem bronzefarbenen Hautton zum Trotz eigenartig fahl. Die Haare standen ihr wild vom Kopf ab. Sie griff nach der Bürste und versuchte, ihre Frisur einigermaßen in den Griff zu bekommen.

Nachdem sie in der bücherlosen Bibliothek gewesen waren, hatte Frau Moja sie zur Unterkunft begleitet und ihr ans Herz gelegt, sich für einen Moment auszuruhen. Sobald sie die Augen geschlossen hatte, war sie eingeschlafen. Das musste der Stern bewirkt haben, mit dem die Lehrerin ihre Stirn berührt hatte. Und sie hatte geträumt! Sie hatte wirklich einen Traum geträumt, den sie nicht selbst gemacht hatte. Auch wenn sie sich kaum noch daran erinnern konnte.

»Ja, ich habe wohl geschlafen.«

Tino runzelte die Stirn und ließ sich auf die Liege sinken, auf der Celia noch kurz zuvor gelegen hatte. Sie war nicht dafür vorgesehen, wirklich zu schlafen, denn Schlaf war nur für Menschen gedacht. Traumweber erholten sich in der Zeit, die sie in Träumen verbrachten.

»Und wie war es so?«, wollte er wissen.

»Es war schön«, erwiderte Celia. »Aber hör mal, ich muss mich konzentrieren. Ich weiß gar nicht …«

Sie verstummte, als sie Tinos fragendes Gesicht im Spiegel sah. Er wusste noch gar nicht, dass sie heute geprüft werden würde. Sie seufzte leise. Ihr kam es so vor, als hätte sie selbst ebenfalls erst vor einem Moment davon erfahren. »Ich glaube, ich muss dir was sagen.«

 

 

Vor diesem Tag war Celia erst ein einziges Mal in der Versammlungshalle gewesen. Es war ein großer Saal, in dem sich Sitzreihen im Halbkreis über einer runden Bühne auftürmten, die der tiefste Punkt im Raum war. Frau Moja erwartete Tino und sie am oberen Eingang. Sie war in Begleitung einer jungen Traumweberin mit rötlich blonden Haaren.

»Hallo, ihr beiden«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich hatte erwartet, dass ihr spät kommen würdet.«

»Ich habe verschlafen«, erwiderte Celia. Sie schaffte es nicht ganz, den Vorwurf aus ihrer Stimme zu verbannen. Es hatte sicher an den Träumen gelegen, die Frau Moja ihr geschenkt hatte.

Ein Funkeln trat in die Augen der Lehrerin. »Das tut mir leid. Aber sorge dich nicht, ohne dich wird hier niemand beginnen.«

Mit flauem Magen sah Celia sich um. Viele der Sitze waren besetzt, jedoch nicht so viele, wie sie befürchtet hatte. Wenigstens würden nicht alle Traumweber ihre Prüfung ansehen.

»Wir sollten nach unten gehen«, sagte Frau Moja und wandte sich an ihre Begleiterin. »Flora, es wäre nett von dir, wenn du Tino zu seinen Klassenkameraden begleiten könntest.«

Die junge Traumweberin nickte. »Komm mit.«

Tino drückte wortlos Celias Hand, um ihr Glück zu wünschten. Den ganzen Weg über hatte er Celia versichert, dass aus seiner Sicht kein Zweifel darüber bestand, dass sie die Prüfung ohne Schwierigkeiten meistern würde, doch jetzt sah er eigenartig bleich aus. Nicht besonders ermutigend.

»Lass uns gehen.« Sanft legte die Lehrerin Celia eine Hand auf den Rücken, genau zwischen ihre Flügel, um sie nach unten zu geleiten. Die Treppe zur Bühne war steiler, als Celia sie in Erinnerung hatte, und bei jedem Schritt spürte sie die Blicke der Traumweber auf sich. Es war eine gute Ablenkung, sich auf die Stufen zu konzentrieren, um nicht zu fallen.

»Hast du gut geträumt?« Frau Moja lächelte ihr zu.

Celia nickte. »Es waren schöne Träume, aber ich kann mich an fast nichts davon erinnern.« Noch während sie sprach, keimte schlechtes Gewissen in ihr auf. Vielleicht lag es an ihr, dass sie sich nicht an die Träume erinnern konnte.

»Das ist eine wichtige Lektion«, erwiderte die Lehrerin. »Der Träumer wird sich oft nicht erinnern können. Deswegen ist das Gefühl, das du vermittelst, sehr bedeutsam.«

Mittlerweile waren nicht mehr viele Stufen übrig und am liebsten hätte Celia sich umgedreht und wäre davongelaufen, doch die Hand der Lehrerin zwang sie vorwärts.

»Es gibt noch etwas, was du wissen solltest«, fuhr Frau Moja fort. Sie hatte ihre Stimme zu einem vertraulichen Ton gesenkt. »Nicht alle Mitglieder des Traumrats waren begeistert davon, dass du deine Prüfung früher ablegst. Sie werden versuchen, dich zu verunsichern.«

Celias Herz setzte einen Schlag aus und um ein Haar wäre sie gestolpert. »Was?«