Die trüben Wasser von Triest - Roberta De Falco - E-Book

Die trüben Wasser von Triest E-Book

Roberta De Falco

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Triest, der Bora weht. Die Stadt mit der großen habsburgischen Tradition leidet unter den typischen italienischen Verhältnissen, findet Commissario Ettore Benussi: keine Disziplin, keine Autorität. Wo soll das hinführen? Zum Glück hat er nur noch wenige Jahre bis zur Pensionierung, und dann wird er endlich den lange geplanten Kriminalroman schreiben. Doch gegenwärtig muss er sich noch um die realen Toten kümmern. Als die 90-jährige Ursula Cohen leblos im Hafenbecken treibt, zeigen sich so viele Menschen in ihrem Umfeld verdächtig, dass er auf die Hilfe seiner jungen Kollegen Elettra und Valerio dringend angewiesen ist ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für die Familie, die ich gewählt habe, und für die natürliche

Das

Zitat

von Rainer Maria Rilke stammt aus: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, 12. Sonett. Die Verse von Umberto Saba wurden von Paul-Wolfgang Wührl ins Deutsche übertragen:

Triest und eine Frau

, Frankfurt am Main 1962. Die erzählten Ereignisse sind frei erfunden. Jeglicher Bezug auf wirkliche Ereignisse und reale Orte oder Personen ist unbeabsichtigt und rein zufällig.

Übersetzung aus dem Italienischen von Luis Ruby

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96754-9

© Roberta De Falco 2013 © Sperling & Kupfer, Mailand 2013 unter dem Titel »Nessuno è innocente« Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2014 Karte: Max Osvald / XAM-Graphics.com Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Covermotiv: Preston Schlebusch / Getty Images und Renphoto / iStockphoto Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;

wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau’s?

Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.

Wehe –: abwesender Hammer holt aus!

Rainer Maria Rilke

DIE PERSONEN

ETTORE BENUSSI, Kommissar der Fahndungsabteilung der Triester Polizei

ELETTRA MORIN, Inspektorin der Fahndungsabteilung

VALERIO GARGIULO, Inspektor der Fahndungsabteilung

ROSANNA GUARNIERI, Staatsanwältin

CARLA BENUSSI, Frau von Ettore Benussi

LIVIA BENUSSI, Tochter von Ettore und Carla Benussi

PATER FLORENCE, Augustinermönch, Leiter eines Offenen Hauses in Triest

URSULA COHEN, betagte jüdische Dame

MARTIN SKOK, Gärtner in der Villa Cohen

VIOLETA AMADO, brasilianische Pflegerin von Ursula Cohen

SERGIO COHEN, Ursula Cohens Neffe

IRINA SCHATZ, Sergio Cohens Freundin

MARISA KERN, Sergio Cohens Exfrau

DANILO ROS, Eigentümer der Villa, in der Ursula Cohen lebt

ALBINA ROS, Frau von Danilo Ros

GIOVANNI ROS, Sohn von Danilo Ros

MARIKA ROS, Tochter von Danilo Ros

IGOR SALVINI, Marika Ros’ Freund

RENATE STEIN, Freundin von Ursula Cohen

Sowie:

ROMEO ROCCO, Jogger

CLAUDIO und AURORA MORIN, Elettra Morins Adoptiveltern

ZDENKA TURKOVIC, kroatische Pflegerin

TULLIO CERRI, Rechtsmediziner

MIRKO PITACCO, Polizeihauptmeister

PIETRO GAMBA, Beamter von der Abteilung für Drogendelikte

MARIO GRANDIS, Beamter von der Hundeeinheit

LUPO, vierbeiniger Mitarbeiter der Hundeeinheit

1Jeden Morgen bei Tagesanbruch ging Romeo Rocco zum Joggen.

Im Sommer und im Winter, bei Regen oder Sonnenschein, er musste die fast sechzehn Kilometer zurücklegen, vom Alten Fischmarkt zum Schloss Miramare und wieder zurück. Das Laufen war die einzige Leidenschaft, die ihn nicht verraten hatte. Wenn er lief, fühlte er sich lebendig, kraftvoll, noch auf dem richtigen Weg. Er ließ keinen Marathon in der Region aus, und seit etwas mehr als einem Jahr träumte er davon, am New-York-Marathon teilzunehmen.

Er hätte im Karst laufen können, auf der Strada Napoleonica oder dem Rilkeweg, hoch oben, weit weg von den eisigen Spritzern, die ihm der Nordwind ins Gesicht schleuderte, wenn er wie in den vergangenen Tagen mit über hundertdreißig Sachen blies. Aber als waschechter Triester konnte er einfach nicht laufen, ohne die blaue Weite vor sich zu sehen, ohne die verschneiten Berge, die an ganz klaren Tagen über der fernen Isola di Grado eine Krone bildeten.

Wie oft war er an den eigentümlichen Badeeinrichtungen vorbeigejoggt, die an Mauseohren erinnerten und von den Triestern daher zärtlich topolini genannt wurden; wie oft hatte er die großen Granitfelsen entlang des breiten Porphyrwegs bewundert, der zum Hafen von Barcola führte, unterhalb des Leuchtturms. Und doch bekam er davon nie genug. Das ist das Schöne am Meer: Man wird seiner niemals müde, es überrascht einen immer wieder.

Jetzt schlug er den Weg zum Alten Hafen ein, vorbei an den baufälligen Ruinen dieser imposanten Geisterstadt, die seit über einem Jahrhundert verlassen hinter dem Zollgebäude lag, und kam auf der Rückseite des Bahnhofs heraus. Mit sicheren Schritten bog er in die Nebenstraße ein, die die Sala Tripcovich mit dem Teatro Miela verband und ihn wieder zurück zu der Uferstraße führen würde.

Das Herzfrequenz-Messgerät an seiner Brust begann eine Reihe von Pieptönen auszusenden: Er musste das Tempo verringern. Sein Herz schlug zu schnell. Also ging er langsam zum Molo Audace und begrüßte dort den Morgen. Ein Ritual, das er schon als Junge gemocht hatte.

Es war ein klarer Spätseptembermorgen. Die Bora, die drei Tage lang getobt hatte, war einer leichten Nordbrise gewichen, von der das Meer kaum gekräuselt wurde. Auf der anderen Seite des Golfs stiegen aus der Morgendämmerung die zartblauen Umrisse von Pirano auf. Zu dieser Stunde war die Lieblingspromenade der Triester noch menschenleer. Nur ein kleiner Hund bellte wie wahnsinnig Richtung Meer. Warum war er denn so aufgeregt? Wen verbellte er da?

Romeo trat vorsichtig näher und sah etwas Weißes, das in den Wellen auf und ab schaukelte und hin und wieder gegen die Felsen stieß.

Eine Plastiktüte?

Eine Qualle?

Nein, genau betrachtet war das keine Qualle.

Das waren Haare. Langes, weißes Haar, das im Meer trieb. Zwischen den Felsen hatte sich die Leiche einer Frau verfangen, mit dem Gesicht nach unten.

Elettra Morin schreckte aus dem Schlaf, mit einem Gefühl der Beengung. Wo zum Teufel war sie? Wie spät war es? Sie schaltete das Licht an, und beim Anblick des Wasserfalls auf dem Poster, das über dem kleinen weißen Resopalschreibtisch hing, begriff sie, dass sie sich in ihrem Zimmer von früher befand, im Haus ihrer Eltern.

Am Abend zuvor hatten sie ein kleines Fest zu Ehren der Mutter gefeiert, mit den Nachbarn und dem einen oder anderen alten Freund.

Ihr Vater hatte alles organisiert: die Einladungen, das Catering durch ein kleines Restaurant aus der Nachbarschaft – er wollte seiner Frau die Mühe mit dem Kochen ersparen –, das Decken der Tische unter der Pergola, wobei sie die Katzen verjagen mussten, die mittlerweile fast jeden freien Quadratzentimeter des Gärtchens besetzten, das sich seitlich und vor dem weißen Häuschen erstreckte.

Es war ein melancholischer, gefühlvoller Abend gewesen, so wie in letzter Zeit immer, wenn sie nach Hause kam. Die Mutter hatte es genossen, und das war das Wichtigste.

Elettra erhob sich ruckartig und ging duschen, ohne zuvor aufs Handy zu schauen. Sie hatte einen freien Tag und konnte es ruhig angehen lassen.

Als sie in die Küche hinunterging, fand sie dort niemanden vor. Auf dem Tisch standen eine Tasse, der Rest vom Apfelkuchen, das Kännchen mit der Milch und der unvermeidliche Blumenstrauß, den ihre Mutter Aurora niemals fehlen ließ. Elettra lächelte, während sie das Teewasser aufkochte.

Eine einäugige Katze sprang auf den Tisch und fing an, Milch aus der Kanne zu schlecken.

»He, nein, Tippy. Das ist für mich.«

»Wenn deine Mutter nicht immer die Haustür offen lassen würde, könnten wir vielleicht das eine oder andere retten.«

Ihr Vater Claudio kam herein und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Er war ein wuchtiger Mann, der das Leben an der frischen Luft gewöhnt war. Der Schnauzbart, den er zeitlebens getragen hatte, war inzwischen weiß, und die schütteren Haare hingen zottelig über seinem gelassenen, zufriedenen Blick.

»Gut geschlafen, Schatz?«

»Ich musste eine Tablette nehmen. Hätte sonst kein Auge zugetan.«

»Ich habe mein Lebtag keine Schlaftablette genommem.«

»Ich weiß, Papa, fang bitte nicht wieder damit an … Und Mama?«

»Könntest du mit ihr einkaufen gehen?«

»Ich wollte eigentlich …«

»Weißt du, sie ist ein bisschen müde.«

Verflixte Schuldgefühle. Indem er sie so ansah, gab ihr Vater ihr zu verstehen, dass sie eine Egoistin war – wenigstens die freien Tage könnte sie doch der Familie widmen, solange sie noch keine eigene hatte.

Seltsam, wie nur zwanzig Kilometer den Verlauf eines Lebens ändern konnten. Als Mädchen hatte sie sich wohlgefühlt, da spielte sie in dem Puppenhaus, das ihr Vater mit Szenen bäuerlichen Lebens bemalt hatte, oder ging voll Freude mit ihrer Mutter in den kleinen Gemüsegarten, um die Tomaten hochzubinden, die Zucchini zu gießen – immer von unten, direkt an der Wurzel, damit die Pflanzen nicht verwelkten – und über die sonderbaren Formen der Karotten zu staunen, die sie mühsam aus dem harten Erdreich gruben.

Doch jetzt stürzte sie alles, was ihr damals Freude und Halt verschafft hatte, in eine taube Melancholie, vor der sie am liebsten weggelaufen wäre. Vielleicht lag es an Auroras Krankheit, die Elettra nicht akzeptieren wollte.

Solange sie sich in ihrer Einzimmerwohnung in Triest aufhielt, gelang es ihr, nicht daran zu denken. Dort konnte sie sich einreden, dass bald eine Lösung kommen und die Chemotherapie anschlagen würde, und dann wäre alles wieder wie früher. Sie hatte das Leiden einfach satt.

Nach dem Abschluss in Jura – ein Studium, für das sie sich mehr dem Vater zuliebe entschieden hatte als aus wahrer Leidenschaft – war sie zur Polizei gegangen, vor allem, um eine Seite ihrer Persönlichkeit beherrschen zu lernen, die ihr Angst einjagte.

Was ihr an der Ausbildung am besten gefallen hatte, war just die Disziplin. Wenn in der äußeren Welt Ordnung herrschte, dann gelang es ihr, auch innen Ordnung zu schaffen. An dem Tag, an dem sie schließlich zur Inspektorin ernannt worden war, war sie glücklich gewesen. Eine gewonnene Schlacht, gegen alles und jeden. Ihre Eltern hatten seinerzeit auf jede erdenkliche Weise versucht, sie davon abzubringen. Das ist doch kein Beruf für so ein zartes Mädchen wie dich. Aber genau deshalb hatte sie sich dafür entschieden. Sie wollte endlich nicht mehr die Zarte sein, wollte keine weiteren Demütigungen ertragen.

Nie wieder.

Nun aber wollte sie auch den Krieg gewinnen und Kommissarin werden. Und da war nicht mehr viel Zeit zu verlieren. In einem Monat sollten die Prüfungen abgeschlossen sein.

Das Telefon klingelte. Claudio legte einen Slalom zwischen zwei Katzen hin, die sich mitten auf dem Flur ausgestreckt hatten, und nahm ab.

»Guten Tag, Commissario Benussi. Ja, ja … sie ist hier. Ich gebe sie Ihnen.«

Elettra hob die Augen zum Himmel und atmete scharf aus. Sie hielt nicht viel von ihrem Chef und tat wenig, um das zu verbergen.

»Ja? Guten Tag. Nein, habe ich nicht gesehen, ich hab’s noch nicht eingeschaltet … Wie Sie vielleicht wissen, bin ich nicht im Dienst.«

Ihr Ton war nicht der freundlichste, und Elettras Vater machte ihr Zeichen: Pass auf, er ist dein Vorgesetzter.

Aurora kam mit einem Strauß Rosen herein. Ihre bunte, selbst gehäkelte Mütze ließ ihre Blässe noch gespenstischer wirken. Ihr Körper war einmal voll und einladend gewesen, jetzt aber war er vertrocknet wie eine Pflanze, die für längere Zeit ohne Wasser auskommen muss. Die weite Bluse mit Blümchenmuster, die sie noch im Vorjahr weich umhüllt hatte, baumelte so schlaff herab, als hinge sie an einem Kleiderbügel.

»Magst du mich vielleicht begleiten, Schatz? Ich muss noch Fisch einkaufen.«

»Sie ist am Telefon. Der Commissario …«, flüsterte Claudio ihr zu.

Elettras Stimme wurde lauter.

»Wie bitte? Wo?«

Als sie schließlich auflegte, wiederholte Aurora ihre Frage.

»Würdest du mit mir nach Grado fahren, Ely? Wir suchen zwei schöne Wolfsbarsche aus und machen sie dann im Salzmantel, was hältst du davon?«

Elettra lächelte ihre Mutter traurig an. Sie war so vertrauensvoll, so glücklich, die Tochter dazuhaben. Elettra kam sich vor wie ein Monster, wieder einmal.

»Das würde ich wirklich sehr gerne, Mama. Aber ich kann beim besten Willen nicht. Sie haben eine Leiche aus dem Meer gezogen.«

Wenn Ettore Benussi etwas mit der Stadt Triest gemeinsam hatte, dann war es eine gewisse Faulheit, eine Grundträgheit, die ihn dazu brachte, stets den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.

In seinen Augen waren Weltverbesserer oder Leute, die überhaupt versuchten, etwas zu ändern, naive Träumer. Der Westen – und mit ihm die gesamte Welt – befand sich auf dem absteigenden Ast, das war mehr als offensichtlich, und Triest bot dafür ein glasklares Beispiel.

Die Stadt, dereinst Zierde des Habsburgerreichs – so hatte die unter Maria Theresia entstandene Prachtarchitektur deren Enkel Maximilian zum Bau des schneeweißen Schlosses Miramare inspiriert, das dem Geist eines Ururgroßvaters von Walt Disney entsprungen schien –, diese Stadt versank nun wehmütig in einer schicksalsergebenen, ressentimentgeladenen Tatenlosigkeit. Das ließ sie mehr zu einer Geisterstadt werden als zum aristokratischen Zeugnis einer überlegenen Kultur, wie es die weißen Bauten, die auf die Rive hinausgingen – Kulisse für die verblüffende Piazza dell’Unità –, noch immer suggerieren wollten.

Benussis schwarzer Humor mit seiner Tendenz zum Pessimismus hätte wunderbar zu einem Menschen gepasst, der als Schriftsteller durchs Leben ging, als Denker oder Philosoph, für einen Polizeikommissar war diese Haltung jedoch nicht sehr förderlich. Ebendieser Charakterzug brachte ihm nicht wenige Probleme mit seinen jüngeren Mitarbeitern ein, die sich im Gegensatz zu ihm noch in der glanzvollen Illusion wiegten, der Gesellschaft nutzen zu können, und wie Fohlen mit den Hufen scharrten, wenn sie Indizien hinterherjagten, Verdachtsmomenten, Spuren und mutmaßlichen Mördern, die sich dann häufig als unschuldig erwiesen. Was seine ohnehin schon undankbare Arbeit nur noch weiter komplizierte.

Sieben Jahre noch bis zur lange ersehnten Pension, und dann würde er endlich frei sein, sich in sein Häuschen in Santa Croce zurückzuziehen, das er vom Vater geerbt hatte, um dort zu schreiben – der neue Camilleri des Nordostens, Verfasser atemberaubender Thriller. Sein Computer war voller Ideen für Geschichten, Figuren, voller brillanter Notizen. Wenn in Italien ohnehin schon jeder Krimis schrieb – Richter, Ärzte, Dozenten, sogar Frauen –, warum sollte nicht auch er das tun, mit all den Fällen im Rücken, denen er sich in seiner langen Karriere hatte widmen müssen? Er, der die menschliche Natur so gut kannte wie kein Zweiter?

Seine Frau Carla ermutigte ihn darin nicht.

»Überlass das Schreiben denen, die was davon verstehen, Tintenkleckser gibt es schon genug auf der Welt.«

Ettore ließ sich nicht dazu herab, ihr zu antworten, sie lebten schon lange in parallelen Welten. Ihm war nicht klar, warum sie überhaupt noch zusammen waren, nach zwanzig Jahren. Bestimmt nicht wegen Livia, ihrer einzigen Tochter, die mit der Gabe gesegnet war, durch ihren ständigen Missmut und ihre Null-Bock-Haltung die seltenen Momente des Friedens zu zerstören, die der Kommissar zu Hause zu finden hoffte.

Wer war schuld daran, dass ein braves, stilles blondes Mädchen zu einer ungepflegten, höhnischen, ungezogenen Heranwachsenden geworden war? Doch wohl die Mutter, die damit überfordert gewesen war, sie zu erziehen, behauptete Ettore, wenn sie sich stritten. Nein, der Vater, der sich nie um sie gekümmert hatte, außer um sie zu kritisieren und sich über sie lustig zu machen, versetzte Carla.

Und so hatte sich die sechzehnjährige Livia im Sturm wechselseitiger Vorwürfe eine Rüstung aus Tattoos und Piercings zugelegt, verstärkt durch die Musik, die sie sich pausenlos in die Ohren blies: Dann brauchte sie sich nicht um die Eltern zu kümmern, die ihr nur noch als unwillkommene Hintergrundgeräusche erschienen. Ihr einziges Gefühl, sagte sie bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich zu einem Gespräch mit ihnen herabließ, war sowieso Verachtung. Sie verachtete den Vater als Fettwanst, der sich obsessiv mit Diäten beschäftigte, und sie verachtete die Mutter dafür, sich als Retterin der Welt zu sehen. Dabei hätte die Menschheit mehr davon gehabt, wenn diese ekelhaften Drogenabhängigen und Säufer, denen sie sich widmete, allesamt an einer Überdosis gestorben wären.

Der Gedanke an seine Tochter beschäftigte Kommissar Ettore Benussi auch an diesem Morgen, als er um sieben in der Küche saß. Livia war noch nicht nach Hause gekommen, wie so häufig, und er war ratlos, was er mit ihr machen sollte. Vor nicht allzu langer Zeit hätte noch die Drohung genügt: »Ich schicke dich aufs Internat!« Aber inzwischen jagten Internate niemandem mehr Angst ein.

Das berüchtigte Jahr 1968 hatte durch seine Revolution der Sitten und durch all die anderen Verfallsformen des Freiheitsgedankens, die es hervorgebracht hatte – eine weitere von Benussis Obsessionen –, auch den heiligen Grundsatz der Autorität und des Respekts für die ältere Generation abgeschafft, auf dem seit den alten Ägyptern die Zivilisation beruhte. Für die sogenannte entwickelte Welt hatte genau damit der Abstieg begonnen.

Soll sich ihre Mutter drum kümmern, dachte er, während er seinen Espresso herunterkippte.

Er hatte beschlossen, an diesem Tag die Finger von Kohlenhydraten zu lassen. Am Abend zuvor hatte er sich lange in diese Dukan-Diät eingelesen, von der neuerdings alle redeten. Auf eine solche Ernährungsform wartete er seit Jahrzehnten: Nach Herzenslust essen dürfen und dabei abnehmen.

Er machte den Kühlschrank auf und vertilgte einen Rest kaltes Huhn vom Vortag, gefolgt von einem griechischen Joghurt mit drei Teelöffeln Haferkleie. Diesmal würde er sie alle zum Staunen bringen, diese Ungläubigen.

Er würde zehn Kilo abnehmen, ohne einen einzigen Fehltritt.

Keiner schien zu begreifen, dass es ihm nicht an Willensstärke fehlte. Das lag alles nur am Stress. Die Tätigkeit des Ermittlers erforderte eine Unmenge Verstandeskraft, speiste sich also vor allem aus im Hirn verbrannter Glukose. Da musste sich ein armer Teufel wie er doch die eine oder andere Stärkung genehmigen, um hinterher wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Doch diesmal hatte der Kommissar eine Entscheidung getroffen: Er würde keine Cornetti mehr anfassen, kein Brot und keine Kekse, von jetzt an gab es nur noch Proteine.

Seit der Kindheit hatte er immer wieder zu hören bekommen, dass er doch nur zu wollen bräuchte. Für ihn war das ein ausgesprochen unbequemes Konzept gewesen. Die Dukan-Diät wusste dieses Problem mit freundlicher Komplizenschaft zu umgehen – Sie essen, so viel Sie wollen; das hatte ihn überzeugt.

Benussi hatte noch den Mund voller griechischem Joghurt – dazu, er konnte nicht anders, ein Löffel Honig, das waren schließlich keine Kohlenhydrate, und eine Handvoll Mandeln, für die Knochen –, als das Handy in seiner Hosentasche klingelte.

Die Nachricht von Inspektor Valerio Gargiulo lautete: Man hatte am Molo Audace eine Frauenleiche gefunden.

Jetzt lag diese Leiche mit einem Laken bedeckt vor ihm, mitten auf dem Molo. Kein sehr erbauliches Schauspiel. Tote hatten immer etwas Unheimliches, aber eine alte Frau – beneidenswert dünn, bemerkte der Kommissar – mit langem, von Algen durchzogenem weißem Haar und einer fast schon durchscheinend hellen Haut, das war ein noch beunruhigenderer Anblick.

Benussi ließ das Laken wieder über die Leiche sinken, nicht ohne den perfekten Schnitt des blauen Leinenkostüms im Tiroler Stil zu bemerken, die doppelreihige Perlenkette um den Hals und die zwei Ringe – einen schlichten Ehering mit Rubin und einen Siegelring aus massivem Gold –, beide an der linken Hand getragen, am einzigen nicht von der Arthrose verkrümmten Finger.

Rosanna Guarnieri, die Staatsanwältin, war bereits vor Ort gewesen, hatte aber zu einem Gerichtstermin weitereilen müssen. Der Fall machte keinen komplizierten Eindruck, und so hatte sie Benussi die Leitung der Ermittlungen überlassen; er solle sie nur zeitnah auf dem Laufenden halten.

Die Staatsanwältin war eine taffe Frau, adrenalingetrieben, stets in Bewegung, und Benussi war erleichtert über diese Aufgabenverteilung. Aus irgendeinem Grund schaffte es die Guarnieri immer, dass er sich unfähig fühlte, und so suchte er ihre Gesellschaft nicht gerade.

Als Elettra Morin an dem Ort eintraf, wo die Leiche gefunden worden war, bahnte sie sich ihren Weg durch die ersten Schaulustigen – »Was ist passiert? Hat’s jemanden erwischt?« –, die hinter die Polizeiabsperrung lugten.

»Ist die Leiche schon identifiziert?«, fragte sie nach einem kurzen Nicken in Richtung des Kommissars, der diese formlose Begrüßung nicht zu billigen schien.

»Wenn Sie früher gekommen wären, Morin, hätten wir darauf vielleicht eine Antwort.«

»Ich bin so schnell gefahren wie ich konnte, aber da war ein Unfall auf der Strada Costiera.«

»Irgendwie ist immer ein Unfall schuld, wenn Sie zu spät kommen.«

»Ich komme nicht zu spät, Commissario. Ich war außer Dienst, das ist doch wohl was anderes.«

»Jetzt sind Sie’s nicht mehr. Rufen Sie in der Zentrale an, und fragen Sie Gargiulo, ob eine Vermisstenmeldung vorliegt. Und dann lassen Sie den Leichnam wegbringen.«

»War die Spurensicherung schon da?«

»Die Kollegen müssen jeden Moment kommen, aber sie werden nur bestätigen, dass es sich um einen ganz normalen Unfall handelt, vielleicht auch um Selbstmord. Wäre in dem Alter auch verständlich. Spuren von Gewaltanwendung sind nicht festzustellen.«

»Und was ist mit den blauen Flecken an den Beinen?«

»Zweifellos eine Folge des Sturzes. Sie muss gegen die Klippen geprallt sein.«

Elettra starrte weiter auf die Leiche. Die Augen, die von einem blassen Blau waren, der Farbe von Eis, waren weit aufgerissen.

»Dieser Blick, finden Sie den nicht merkwürdig? Fast so, als wollte sie uns etwas sagen.«

»Sie sehen zu viele Krimis, Morin.«

»Ich habe keinen Fernseher, Commissario. Und ich weiß schon, was ich sage. Diese Augen drücken Fassungslosigkeit aus, Überraschung und Wut. Vor allem Wut.«

Benussi schüttelte den Kopf und seufzte.

»Ich fürchte, das reicht nicht, Ispettore. Lassen wir das Dr.Cerri entscheiden. Und Sie nehmen mal die Personalien des jungen Mannes da drüben auf.«

Benussi zeigte auf Romeo Rocco, der auf einem eisernen Poller saß, den Kopf zwischen den Händen.

»Er hat die Leiche entdeckt. Hielt sie erst für eine Qualle. Der arme Kerl steht unter Schock.«

Bevor sie der Anweisung ihres Vorgesetzten nachkam, sah sich Elettra die Stelle an, an der die Leiche gefunden worden war. Eine leichte Brise von Norden kräuselte das Meer, die Strömung konnte den Leichnam auch angeschwemmt haben. Aber woher?

Ihr gegenüber erhob sich die monumentale Stazione Marittima, ein zum Kongresszentrum umfunktioniertes Hafengebäude.

Benussi las ihre Gedanken: »Ich weiß, was Sie denken, Ispettore. Die Frau könnte auch ins Meer gestoßen worden sein.«

Elettra lächelte.

»Also gut. Ich möchte Ihr ohnehin schon spärliches Vertrauen in meine ermittlerischen Fähigkeiten nicht noch weiter untergraben. Ich werde die Kollegen von der Spurensicherung bitten, die Untersuchungen auf das umliegende Gebiet auszudehnen«, schloss der Kommissar.

Eine Stunde später auf dem Revier stellte sich die Lage schon klarer dar.

»Gestern Abend gegen Mitternacht kam ein Anruf von einer gewissen Zdenka Turkovic. Sie wollte eine Vermisstenanzeige für eine neunzigjährige Dame aufgeben, bei der sie als Pflegerin angestellt ist«, fasste Elettra Morin zusammen.

Benussi warf einen Blick in die Runde. »Wer hat den Anruf entgegengenommen?«

Inspektor Valerio Gargiulo hob die Hand. Er war vor wenigen Jahren aus Neapel gekommen, ein schmächtiger, fast schon feminin wirkender junger Mann mit blonden, glatten Haaren, die ihm in die Stirn fielen. Benussi hätte sie ihm am liebsten geschoren.

»Und warum wurde ich darüber nicht in Kenntnis gesetzt?«

»Weil die Voraussetzungen nicht gegeben waren«, versuchte sich der junge Polizist zu rechtfertigen.

»Überlassen Sie das meinem Urteil, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Elettra stand auf, um für ihren Kollegen Partei zu ergreifen, und trat an die Tafel.

»Ispettore Gargiulo hat sich an die übliche Vorgehensweise gehalten, Commissario. Nach Angaben der Anruferin war die verschwundene Person, eine gewisse Ursula Cohen« – sie schrieb den Namen mit Kreide in die Mitte der Tafel –, »ausgegangen, um sich zusammen mit einer Freundin im Teatro Verdi ein Konzert anzuhören. Sie hätte vor dreiundzwanzig Uhr wieder zu Hause sein sollen. Ispettore Gargiulo teilte der Anruferin mit, dass es für eine Vermisstenanzeige noch zu früh sei …«

»Behandeln Sie mich nicht wie einen Grünschnabel, Morin. Ich kenne das Prozedere. Ist die Leiche als Ursula Cohen identifiziert?«

Elettra nickte. »Da scheint es keinen Zweifel zu geben. Auf einem Foto, das ich der Pflegerin gezeigt habe, erkannte sie Kleidung, Halskette und Ringe der Toten als die von Signora Cohen.«

»Und wo ist diese Pflegerin jetzt? Warum ist sie nicht hier?«

Elettra, die ein Lächeln nicht unterdrücken konnte, warf Gargiulo einen komplizenhaften Blick zu. Benussi stellte die Professionalität seiner Untergebenen immer gerne infrage.

»Sie wartet auf dem Korridor. Vernehmungsbereit.«

Valerio stand auf, um die Pflegerin hereinzuholen. Elettra folgte ihm nach draußen.

»Der Chef behandelt uns mal wieder wie Anfänger«, bemerkte die junge Frau, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Mir reicht’s langsam.«

»Nimm dir das nicht so zu Herzen. Bei einem Chef gehört das einfach dazu«, wiegelte Gargiulo ab. »Er weiß, dass du besser bist als er, und dafür lässt er dich büßen.«

»Und wie er mit dir erst umspringt!«

»Mach dir nicht das Leben schwer, Elettra. Das ist es nicht wert«, sagte Gargiulo und strich ihr flüchtig über die Wange.

Elettra Morin strahlte ihn an und legte eine Hand auf die seine.

»Zum Glück gibt es ja noch dich.«

Der junge Polizist errötete und sagte verdattert: »Eigentlich schätze ja ich mich glücklich …«

Hinter den beiden fiel krachend eine Tür ins Schloss, und ihnen wurde schlagartig wieder bewusst, warum sie hier standen. Elettra ließ Gargiulos Hand los und ging die Zeugin holen, während ihr Kollege sich seufzend durchs Haar fuhr. Er musste den Sturm besänftigen, der in seinem Inneren tobte.

Während Benussi auf die Pflegerin wartete, öffnete er das Fenster und blickte durch die tristen Gebäude hindurch auf das Kap, das sich zartblau auf der anderen Seite des Golfs erhob. Das einzig Positive am Kommissariat von Triest war, dass durch das Fenster des Besprechungszimmers hindurch ein kleines Stück Meer zu sehen war, weit in der Ferne. Plötzlich kam Benussi wieder ein Gespräch in den Sinn, das er an Weihnachten mit einem Freund geführt hatte, der als Städteplaner den architektonischen Niedergang ihrer gemeinsamen Heimat geradezu obsessiv beobachtete. Die kastenförmigen, hellen Bauten des Faschismus stellten seiner Ansicht nach einen großmannssüchtigen, anachronistischen Tribut ans Römische Imperium dar. Aber welcher perversen Abstumpfung der Sinne und des Geschmacks verdankte sie die konsequent schäbige Hässlichkeit der deprimierenden Mietskasernen aus Beton, die seit den Sechzigerjahren wie Pilze aus dem Boden schossen? Ihr einziges Ziel bestand wohl darin, den Bewohnern der von ihnen überschatteten Stadtteile den Blick aufs Meer zu verstellen.

Zdenka Turkovic erwies sich als schmächtiges Wesen, das sich die Haare – dem vorherrschenden Trend unter Frauen in mittleren Jahren folgend – in jenem befremdlichen Ton färbte, den Elettra für sich »wechseljahrrot« nannte.

Ihre kunstlederne Handtasche an die Brust gepresst, verharrte die Pflegerin auf der Türschwelle, obwohl Inspektor Gargiulo versuchte, ihr die Befangenheit zu nehmen.

»Setzen Sie sich doch. Sie haben nichts zu befürchten.«

Die Zaghaftigkeit der Kroatin brachte den Kommissar sofort in Rage.

»Nehmen Sie Platz, wenn ich bitten darf, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Elettra Morin hatte dieses unter Polizisten verbreitete »wenn ich bitten darf«, in dem stets ein unangenehm herablassender Unterton mitklang, gründlich satt. Warum nicht einfach »bitte«?

Die Frau setzte sich auf den Rand des Resopalstuhls, gerade noch so im Gleichgewicht, als fürchtete sie, sich zu verbrennen.

»Wurden die Personalien aufgenommen?«, fragte Benussi, ohne den Blick von der Zeugin zu nehmen.

Elettra klappte ein Notizbuch auf: »Zdenka Turkovic, geboren in Umago, Kroatien, am 17.März 1949. Wohnhaft in Umago, in der …«

Ettore winkte ab. »Schon gut, Hauptsache, es liegt schriftlich vor. Also, Signora …«

»Ich nicht verheiratet.«

»Das war nur der Höflichkeit halber«, schnaubte Benussi. »Dann also Signorina Turkovic. Seit wann waren Sie bei Signora Cohen angestellt?«

Die Augen der alten Frau wanderten unschlüssig von Elettra zu Benussi und blieben schließlich an einer unsichtbaren Fussel auf der mausgrauen Jacke hängen, die ebenfalls nach Kunstleder aussah.

»Zwei Tage …« Sie fügte halblaut hinzu: »Schon zu lange.«

»Könnten Sie das näher erläutern?«

»Ich habe Neffe, der bald Hochzeit, wollte ich schönes Geschenk machen, deshalb … kleine Arbeit für eine Woche sehr praktisch … Freundin von Freundin sucht Vertretung bei alte Signora, und …«

»Ach ja, Signora Cohen hatte schon eine andere Pflegerin? Und wo ist diese offizielle Pflegerin jetzt?«

»Weiß nicht.«

Ettore gab Elettra einen Wink, die ihr Notizbuch wieder aufschlug.

»Können Sie uns sagen, wie die Frau heißt und wo wir sie finden?«

Zdenka griff in die Handtasche und zog einen Zettel hervor. Mit zitterigen Fingern öffnete sie ein Etui, entnahm ihm eine Brille und las deutlich Silbe für Silbe.

»Vio…leta A…mado. Kommt von Brasilien. Hat mir gesagt, ist bei Pater Florence …«

Kommissar Benussi unterbrach sie mit einer unwilligen Geste. »Wir kennen Pater Florence, wir werden uns bei ihm erkundigen. Haben Sie vielleicht eine Handynummer?«

»Steht hier auf Zettel. Aber sie nicht sich meldet …«

»Und warum?«

»Habe ganze Nacht versucht. Immer aus. Heute Morgen gefunden in ihrem Zimmer, in Schublade von Nachttisch. Hat vergessen bei Signora.«

»Können Sie bestätigen, dass Signora Cohen gestern Abend um 19.30Uhr das Haus verließ, um sich im Theater mit einer Freundin zu treffen?«

»Ja, wie sie gesagt.«

»Der Name der Freundin?«

»Name weiß nicht. Signora nicht viel von sich gesagt. Hat nur gesagt, sie wiederkommen vor elf.«

»Heißt das, Signora Cohen war bei so guter Gesundheit, dass sie an einem Abend, an dem die Bora blies, alleine ausgehen konnte?«

»Sie nicht alleine. Ist gefahren mit Martin …«

»Sie hatte einen Chauffeur?«

»Nein, er hat … gekümmert um Garten …«

»Ispettore Morin, Sie suchen mir diesen Gärtner und finden heraus, mit wem die Tote verabredet war.«

In diesem Augenblick kam Inspektor Gargiulo zurück in den Raum, einen Computerausdruck in der Hand.

»Ich habe den Neffen, Sergio Cohen. Sein Vater war der Bruder des verstorbenen Ehemanns der Verunglückten. Er lebt in Opicina und ist schon unterwegs hierher.«

»Rufen Sie ihn noch einmal an, er soll direkt in die Villa von Signora Cohen kommen. Wissen wir, wie hoch das Vermögen der Verstorbenen war?«

Valerio begann erneut, von seinem Blatt abzulesen. »Die Villa, in der sie wohnte, wurde vor zehn Jahren verkauft. Die Voreigentümerin – das heißt die Verstorbene – hatte ein Nießbrauchrecht bis an ihr Lebensende. Signora Cohen bezog eine Witwenrente, die sich auf eintausendfünfhundert Euro belief. Auf ihrem Girokonto liegt ein Guthaben von knapp unter zehntausend Euro.«

»Das schließt einen Mord zu Erbzwecken wohl aus«, bemerkte Benussi.

»Man sollte sich nie auf den äußeren Anschein verlassen, Commissario. Möglicherweise besaß sie Schmuck, wertvolle Gemälde, oder es gab ein Schließfach. Morde werden auch für wenig Geld begangen, wenn einem das Wasser bis zum Hals steht.«

»Oder wenn man es eilig hat, über eine Immobilie zu verfügen«, schlug Valerio vor. »Der Käufer der Villa ist ein gewisser Danilo Ros. Er hat ein Fischgeschäft in der Altstadt.«

Verärgert über den komplizenhaften Blick, den seine jungen Untergebenen austauschten, stand Benussi auf und stieß dabei den Stuhl um.

»Jetzt nehmen wir mal die Villa unter die Lupe. Hier verschwenden wir nur Zeit.«

»Ich auch mit muss?«, fragte Zdenka und fuhr erschrocken von ihrem Sitz hoch.

Der Kommissar schüttelte den Kopf.

»Sie können gehen, aber halten Sie sich zu unserer Verfügung.«

Zdenka sah ihn verständnislos an. »Was … was heißt das?«

»Sie dürfen die Stadt nicht verlassen.«

»Wo soll ich hin? Ich nicht Geld. Die Signora nicht hat bezahlt.«

Gargiulo zog Benussi beiseite und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was dessen Ärger offenbar noch steigerte.

»Sie brauchen mir nicht ins Ohr zu flüstern. Na gut, ich verstehe.« Er wandte sich an die Pflegerin. »Fahren Sie nach Hause, aber wenn nötig, bestellen wir Sie noch mal her. Morin, Sie fahren zu Pater Florence, suchen diese Violeta Amado und bringen sie in die Villa. Sie, Gargiulo, machen den Gärtner ausfindig und kommen dann nach.«

Erleichtert ging Zdenka zur Tür. Doch bevor sie den Raum verließ, drehte sie sich um und sagte: »Die Augen von Signora …«

»Wie bitte?«

»Sahen aus wie Augen von Teufel.«

2Die Villa, in der Ursula Cohen ihre letzten fünfzig Jahre verbracht hatte, stand in einer abgelegenen Straße am Hang unweit der Via Besenghi, versunken zwischen zwei Hochhäusern aus rotem Backstein. Wo sie aufragten, hatte wohl einst ein großer Garten die Villa umgeben.

Es war ein weißes Haus in neoklassischer Bauweise. Fünf bröckelige Treppenstufen aus Marmor führten zum Haupteingang hoch, über dem zwei Sandsteinsäulen einen Balkon trugen.

Bis Mitte des 20.Jahrhunderts musste das ein bedeutender Bau gewesen sein. Über dem zweiten Stock erhob sich ein Türmchen, zweifellos das Stein gewordene capriccio eines exzentrischen, misanthropischen Triesters.

Benussi betrachtete die Villa mit einem gewissen Neid.

Seine eigene bescheidene Herkunft – nach dem frühen Tod seiner Eltern war er bei einer so geizigen wie schweigsamen Tante aufgewachsen – hatte ihn von Anfang an aus jener Welt ausgeschlossen, die ihn schon als Gymnasiast so fasziniert hatte. Eine Welt sorglosen, vom Vater an den Sohn weitergereichten Wohlstands mit gepflegten Umgangsformen, gehaltvoller Lektüre, dazu Konzerte, die im eleganten Halbdunkel geräumiger Salons für handverlesene Gäste gespielt wurden.

Als er das Vorzimmer betrat, schlug dem Kommissar ein beißender, scharfer Geruch entgegen. Ein Geruch wie nach Moder, verströmt von Räumlichkeiten, die allzu lange verschlossen geblieben waren. Merkwürdig, dachte er, während er einen Blick ins Wohnzimmer warf, das offenbar kaum mehr benutzt wurde.

Das Licht drang eben noch so durch die grünen Samtvorhänge an der Terrassentür, die zum Garten hinausging. Weiße Leintücher bedeckten zwei lange Sofas und ebenso viele Sessel vor einem grauen Marmorkamin. Auch der eng an der Wand platzierte Flügel verbarg sich unter einem schneeweißen Tuch.

Seine Intuition hatte ihn also nicht getrogen.

Die alte Cohen hatte sich zweifellos entschieden, Schluss zu machen, und vor ihrem Abgang das Haus schließen lassen wie vor einem langen Sommerurlaub. Es machte einen gespenstischen Eindruck. Auch das Esszimmer, das von einem imposanten Kristallleuchter beherrscht wurde, schien seit geraumer Zeit ungenutzt.

Als noch benutzte Zimmer erwiesen sich einzig die Küche im Erdgeschoss – geräumig, kahl, mit alten, bauchigen weißen Möbeln an den Wänden, einem marmornen Tisch in der Mitte und einem alten Kohleofen in einer Ecke – sowie ein Wohnraum im oberen Stockwerk mit Zugang zum Balkon.

Auch dort schien die Einrichtung auf das Wesentliche reduziert, als gälte es, eine Sparsamkeit zu zeigen, die sich nicht nur auf Geldfragen bezog. Auf einem Tischchen aus dunklem Mahagoniholz thronte ein uraltes schwarzes Fernsehgerät, das mit einem digitalen Decoder verbunden war. Daneben stand eine moderne Stereoanlage und auf der gegenüberliegenden Seite des Raums – abgetrennt durch einen niedrigen Tisch, ebenfalls aus Mahagoni – ein einzelnes zweisitziges Sofa, das mit abgewetztem grünem Samt bezogen war.

Benussi sah sich verstohlen die wenigen Bücher an, die auf dem Tisch lagen, neben dem Piccolo vom Vortag, der örtlichen Tageszeitung: nichts, was seine Neugier geweckt hätte. Ein Wien-Reiseführer, eine Biografie von George Sand und eine weitere von Wagner. Dazu diverse Reisekataloge. Vor allem Kreuzfahrten.

In einer Ecke, ordentlich gestapelt, eine Menge CDs mit klassischer Musik. Vor allem Wagner, aber auch Beethoven, Chopin und Mozart.

Auf einem zweiten Tischchen neben dem Sofa lag ein nahezu fertiggestelltes Puzzle, auf dem Munchs berühmter Schrei zu sehen war.

Benussi fuhr mit seiner Erkundung fort und spürte dabei ein vertrautes Ziehen im Magen, das er rasch zu unterdrücken versuchte. Er musste stark bleiben. Bekanntlich war der erste Tag einer Diät der schwierigste, aber er war, wenn man denn nur hart blieb, auch der befriedigendste: Man konnte dabei bis zu zwei Kilo verlieren.

Ja, ja, das war nur Wasser, aber wie der kluge Dr.Dukan sagte: Fürs Selbstwertgefühl war das ein Allheilmittel.

Ein blinder Gang mit Wandreihen voller Bücher führte in zwei Zimmer, die durch ein großes Bad getrennt waren, schmucklos und kalt. Aus der Therme, die nicht mehr die jüngste war und über einer verkratzten Wanne mit gusseisernen Füßen hing, kam ein schauriges Knarzen. Es war Jahre her, dass Benussi einen schwarzen Toilettendeckel aus Plastik gesehen hatte. So einen hatten auch seine Großeltern in Santa Croce gehabt.

Das Zimmer der Verstorbenen war geräumig; es lag in einer Ecke des Gebäudes. Früher hatte man durch die beiden Spitzbogenfenster gewiss das Meer gesehen, jetzt wurde die Sicht durch ein tristes, offenbar halb leer stehendes fünfstöckiges Gebäude verstellt.

Das Einzelbett an der Wand gab dem Raum etwas Düsteres, als wäre er ausgeräumt worden. Er enthielt nur noch einen Einbauschrank, eine Louis-XV.-Kommode und eine alte Chaiselongue aus Korb, die mit dem Rücken zum zweiten Fenster stand.

Von Fotos keine Spur, weder auf der Kommode noch auf dem Nachttisch, wie man es hätte erwarten können. Nur eine Vase mit getrockneten Blumen und ein paar ungeöffnete Abrechnungen des Energiedienstleisters Acegas.

Einige alte Drucke von Triest schmückten die hohen, mit einem Blumenmuster tapezierten Wände, wo einsam ein großformatiges Ölporträt der jungen Ursula Cohen prangte.

In ihrem Blick lag etwas, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, dachte der Kommissar. Die Kroatin hatte da nicht ganz falschgelegen.

Das Zimmer der Pflegerin Violeta Amado war ebenfalls geräumig und ebenfalls karg ausgestattet, wirkte jedoch lebendiger. Vermutlich war es früher das Zimmer des Ehemanns gewesen, dachte Benussi. Zu einem gewissen Zeitpunkt hatte das Paar wohl beschlossen, in getrennten Räumen zu schlafen.

Eine Entscheidung, die auch Carla bei ihnen zu Hause durchzusetzen suchte. »Das wäre doch bequemer für uns. Dann müsstest du dich nicht beschweren, wenn ich bis spätabends lese, und ich bräuchte dein Schnarchen nicht zu hören.« Aber Ettore wollte davon nichts wissen. Sie hatten einander schon tagsüber so wenig zu sagen, da sollte sie ihm doch wenigstens die Illusion der Nacht lassen. Im Schlaf wurde Carla zuweilen wieder die Frau von früher, offen und leidenschaftlich. Er wusste, dass das eine feige Ausrede war, um nicht dem Ende seiner Ehe ins Auge sehen zu müssen; aber manchmal half ein wenig gesunde Heuchelei zu überleben.

Die Pflegerin, fiel ihm auf, war nicht so auf Ordnung versessen wie ihre Arbeitgeberin. Hinter dem goldenen Spiegel über der Louis-XV.-Kommode – dem Pendant derjenigen, die im anderen Zimmer stand – steckten einige Postkarten und kündeten von der brasilianischen Herkunft der Bewohnerin. Spuren südamerikanischer Kultur waren überall im Raum verteilt, vom Nippes – in Form von Muscheln, tropischen Fischen und bunten Papageien – bis zu den vielfarbigen handgewobenen Läufern, die dem glatten, knarrenden Dielenboden eine freundlichere Note verliehen.

Auf dem kleinen Schreibtisch am Fenster und auf der Kommode lagen diverse Farbfotos verstreut.

Benussi betrachtete sie aufmerksam.

Am häufigsten war eine schöne Frau um die vierzig zu sehen, mit dunklem Teint, allein oder Arm in Arm mit einem älteren Mann im geblümten Hemd, allem Anschein nach ihr Vater. Dann waren da noch zwei Fotos derselben Person als Kind, auf dem Schoß einer jungen, Traurigkeit ausstrahlenden Frau. Der Hintergrund war fast immer das Meer, mit Palmen und einsamen Stränden.

Kein Kind, kein Ehemann.

Pater Florence fühlte sich an diesem Tag ein wenig fiebrig.

Nach der Morgenmesse hatte er Drago gebeten, sich um »unsere Leute« zu kümmern, und hatte sich dann noch einmal ins Bett gelegt. »Unsere Leute«, das waren die Gäste seines Offenen Hauses für Menschen in Schwierigkeiten, wo Ausländer und Italiener Aufnahme fanden, überwiegend handelte es sich um Obdachlose.

Drago und seine Frau Amira halfen ihm dabei seit drei Jahren. Von der Herkunft her Roma, hatten sie das Nomadenleben hinter sich gelassen, als ihre einzige Tochter Hana an Schilddrüsenkrebs erkrankte. Sie waren aus Rumänien nach Udine gekommen, wo ein Priester sie zu Pater Florence weiterverwies, der dann getan hatte, was er konnte, um dem Mädchen Heilung zu verschaffen. Aber es war nicht möglich gewesen, sie zu retten.

Die beiden waren nicht die einzigen Helfer des brasilianischen Geistlichen, der seit nunmehr dreißig Jahren in Triest tätig war. Mehrere Freiwillige wechselten sich bei den dringlichsten Aufgaben ab.

Darunter befand sich auch Violeta Amado, die jeden Donnerstag – an ihrem einzigen freien Tag – ins Offene Haus kam. Sie unterstützte Pater Florence bei der Betreuung der Kinder, spielte mit ihnen, unternahm Ausflüge, brachte sie zum Lachen. Und der Pater war ihr dankbar dafür.

Violeta hatte sich vor drei Jahren mit einem Empfehlungsschreiben eines Mitbruders aus Rio de Janeiro bei ihm vorgestellt. Sie war auf Arbeitssuche. Und Pater Florence half ihr bei den Papieren und der Aufenthaltserlaubnis. Seither betrachtete Violeta das Zentrum und dessen Leiter als ihre wahre Familie.

Abends, wenn alle schliefen, griff der Priester manchmal zu seiner Gitarre, und sie sangen zusammen die Lieder ihrer Heimat, von Vinìcius de Moraes bis João Gilberto, während ihnen vor Rührung das Herz aufging.

Violeta hatte eine warme, anrührende Altstimme, und für kurze Zeit wurden sie und Pater Florence zu zwei Sechzehnjährigen am Strand von Ipanema, am Lagerfeuer sitzend, ihr ganzes Leben vor sich.

Doch nur in ganz seltenen Momenten gaben sie sich solch nostalgischen Gefühlen hin. Den Großteil ihrer Energie widmeten sie den Menschen, die in das Haus kamen.

Das größte Problem der Flüchtlingskinder war eine tiefe Traurigkeit: Sie hatten buchstäblich das Lächeln verlernt. Mit ihrer ansteckenden Freundlichkeit und ihren südamerikanischen Liedern gab Violeta ihnen ein klein wenig von der Unschuld zurück, die ihnen die Flucht aus der Heimat genommen hatte.

Nachts zuvor hatte es einen Notfall gegeben. Ein kurdisches Mädchen, Ewin, war davongelaufen. Violeta selbst hatte Alarm geschlagen, nachdem sie die Kleine beim Gutenachtgruß nicht in ihrem Bett fand. Sie war sofort losgelaufen und hatte sich auf die Suche nach ihr gemacht.

Auch Pater Florence war aus dem Haus geeilt, zusammen mit Drago. Aber nur Violeta hatte an den Molo Audace gedacht. Dorthin brachte die Mutter das Mädchen oft, wenn sie zusammen ausgingen: Über das Meer, so hofften sie, würde auch Boran kommen, Ewins Vater. Er hatte es ihr versprochen. Er würde in der Nacht kommen, auf einem Fischkutter, und dann würden sie alle zusammen sein, für immer. Jetzt lag Midya, die Mutter, wegen einer inneren Blutung im Krankenhaus, und die Kleine war weggerannt, um sie zu besuchen.

Als Violeta sie schließlich entdeckt hatte, kauerte sie auf den Stufen der Hafenmeisterei am Anfang des Molo. Violeta hatte sie in den Arm genommen, und dann waren sie gemeinsam ins Offene Haus zurückgekehrt. Zwischen den beiden gab es ein besonderes Band, auch wenn sie die Sprache der anderen nicht verstanden. Die Brasilianerin nannte das Mädchen meu amor, und die Kleine antwortete mit einer innigen Umarmung, als wäre sie schon immer bei ihr gewesen.

Inzwischen war zwar später Vormittag, aber die beiden schliefen noch Seite an Seite in dem Zimmerchen, das Violeta bewohnte, wenn sie über Nacht blieb. Er würde sie schlafen lassen, das hatten sie sich verdient, dachte Pater Florence, während er seinerseits mit glühender Stirn nochmals einnickte.

Wenige Minuten später klopfte es an der Tür.

Erst tat er, als hätte er nichts gehört. Er war mit den Kräften am Ende.

Doch dann hörte er Dragos eindringliche Stimme: »Pater, es ist die Polizei … Sie suchen Violeta.«

Elettra Morin war schon mehrfach bei Pater Florence gewesen, sie mochte sein Haus, sie mochte die Art, wie er sich in den Dienst Gottes stellte, mit aufgekrempelten Ärmeln und ohne lange Predigten. Es war nicht einfach, Tag für Tag von Schmerz und Rückschritten umgeben zu sein, ohne sich davon überwältigen zu lassen.

An diesem Vormittag stand eine lange Schlange von Menschen im Innenhof, die auf ihr Frühstück und eine Dusche warteten. Fast alle waren Männer, bis auf zwei junge Punkfrauen mit drei Hunden.

Eine dunkle Patina überzog das kantige Gebäude mit seiner faschistischen Architektur, in dem sich der Schlaf- und der Speisesaal befanden. Der Feinstaub der nahen Eisenwerke von Servola machte die Luft so schwer, dass man kaum atmen konnte. Schon seit Längerem wurde diskutiert, dass diese Quelle ständiger Umweltverschmutzung geschlossen werden müsste, aber wie alle Entscheidungen in Triest, die zu treffen waren, unterlag auch diese seit Jahren der Unmöglichkeit, einen Kompromiss zwischen den widerstreitenden Interessen zu finden.

Während Elettra auf Pater Florence und Violeta Amado wartete, betrat sie die Kirche, eine Betonkonstruktion, die auf den Innenhof hinausging. Wie immer, wenn sie sich im Inneren eines hässlichen Sakralbaus befand, lief es ihr kalt über den Rücken. Wie war das möglich, fragte sie sich, wie konnte jemand so einen Raum entwerfen, das genaue Gegenteil eines Ortes des Rückzugs und des Mysteriums?

Elettras Verhältnis zum Glauben hatte einige Wendungen hinter sich. In ihren ersten sechs Lebensjahren, im Waisenhaus, hatten die Schwestern sie genötigt, zum Gottesdienst zu gehen, und sobald sie abschweifte, wurde sie ausgeschimpft. Sie werde in der Hölle braten, hieß es dann, weil sie Jesus nicht liebe.

Später, nachdem Aurora und Claudio gekommen waren und sie als ihre neuen Eltern in das weiße Häuschen mit Garten mitgenommen hatten, hatte Aurora ihr beigebracht, ein Gebet zu sprechen, bevor sie schlafen ging. Aber sie schaffte es einfach nicht. Sie fühlte sich schlecht deswegen, machte sich Sorgen, dass alles vorübergehen könnte, vielleicht würde man sie eines Tages wieder ins Heim bringen, so wie es ihre Mutter getan hatte. Aber der Widerwille war stärker als sie.

Gebete erinnerten sie an die eisigen Korridore im Heim, das nächtliche Weinen unter der Bettdecke, die Kälte im Herzen.

Eines Tages jedoch, bei der Beerdigung ihrer Banknachbarin aus der Grundschule, änderte sich etwas in ihr. Zum ersten Mal klangen die Worte, die der Priester vor dem Altar sagte, für sie nicht wie leere Rhetorik. Er nannte kein einziges Mal Jesus, sondern sprach von Cristiana, der Verstorbenen, als einem Geschenk, das ihnen allen gemacht worden sei, damit sie intensiver lebten, damit sie ihren Blick erneuerten.

»Keiner von uns weiß, wie lange er hier sein wird, doch eben durch dieses Geheimnis werden unsere Tage wertvoll und einzigartig. Wie oft versinken wir in Anschuldigungen und Klagen, wir schauen ständig auf das, was uns an anderen nicht passt, häufig auch an uns selbst. Was wäre, wenn wir unsere Perspektive wechselten, wenn wir unser Leben von dort oben betrachteten, so wie es jetzt Cristiana sieht? Wir würden entdecken, dass so vieles, das uns leiden lässt und unüberwindlich erscheint, in Wahrheit wenig zählt.«

Seit jenem Augenblick war ihr Verhältnis zu Gott anders geworden, es wurde das einer Suchenden. Sie hatte sich aufgemacht. In den Schoß der Kirche war sie nicht zurückgekehrt, aber sie hatte begonnen, das Evangelium zu lesen. Und das Evangelium hatte zahlreiche neue Fragen in ihr aufkommen lassen.

Ende der Leseprobe