Schuld vergisst nicht - Roberta De Falco - E-Book

Schuld vergisst nicht E-Book

Roberta De Falco

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Beschreibung

Endlich hat Commissario Benussi seinen Kriminalroman zu Ende geschrieben. Und er weiß auch schon, wie er sein Meisterwerk der Verlagswelt präsentieren wird. Bei einer Feier für den Schriftsteller Ivo Radek will er sein Manuskript dessen Agentin schmackhaft machen. Doch dann wird der Preisträger schwer verletzt in der Bibliothek gefunden. Jemand trachtet dem altehrwürdigen Autor nach dem Leben. Benussi ermittelt in der Triester Literaturszene, zu der er selbst so gern gehören würde. Bald wird klar: Den 90jährigen Schriftsteller umgibt ein dunkles Geheimnis, das seine Schatten bis in die Gegenwart wirft ...

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Die erzählten Ereignisse sind frei erfunden. Jeglicher Bezug auf wirkliche Ereignisse und reale Orte oder Personen ist unbeabsichtigt und rein zufällig.

Übersetzung aus dem Italienischen von Sigrun Zühlke

ISBN 978-3-492-97303-8 Februar 2017 © Roberta De Falco 2014 Deutschsprachige Ausgabe: © Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016 Die italienische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Il tempo non cancella« bei Sperling & Kupfer, Mailand. Karte: Max Osvald / XAM-Graphics.com Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Covermotiv: zakaz86/iStockphoto, Renphoto/iStockphoto Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

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Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar

in uns erstehn? – Ist es dein Traum nicht,

einmal unsichtbar zu sein? – Erde! Unsichtbar!

Was, wenn Verwandlung nicht, ist dein drängender Auftrag?

Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien

 

 

 

 

DIEPERSONEN

ETTORE BENUSSI, Kommissar der Kriminalpolizei Triest

ELETTRA MORIN, Inspektorin der Kriminalpolizei

VALERIO GARGIULO, Inspektor der Kriminalpolizei

ROSANNA GUARNIERI, Staatsanwältin

CARLA BENUSSI, Psychologin, Ettore Benussis Frau

LIVIA BENUSSI, Tochter von Ettore und Carla Benussi

PATER FLORENCE, Kapuzinermönch, Leiter eines Offenen Hauses in Triest

VIOLETA AMADO, brasilianische Mitarbeiterin von Pater Florence

IVO RADEK, Schriftsteller istrischer Herkunft

PETRA RADEK, zweite Ehefrau von Ivo Radek

CRISTINA RADEK, Ivo Radeks Tochter

FABIO RADEK, Ivo Radeks Sohn

MIRELLA FANTIC, Ehefrau von Fabio Radek

BRUNO KOSOVITZ, Lebenspartner von Cristina Radek

ADA PIAZZA, Cristina Radeks Tochter

LORENZO RADEK, Fabio Radeks Sohn

STELIO KUNZ, Kritiker und Triester Schriftsteller

RHODA WALLACE, Literaturagentin

TITUS CELSIUS, Verleger

TERENZIO TASCA, Verlagsleiter

FRANO MORNAR, Kindheitsfreund von Ivo Radek

FABRIZIO UND ULLA GARGIULO, Valerio Gargiulos Eltern

MARCO ROMICH, Bibliothekar

TAHIR, Junge aus Eritrea

ATO GEBRU, Tahirs Onkel

RITA, Köchin im Jugendzentrum von Pater Florence

RINO, Ritas Sohn

LAURA, Verkäuferin in einem Einkaufszentrum

1 Stelio Kunz schrak aus dem Schlaf hoch, wie üblich schlecht gelaunt. Es war fünf Uhr nachmittags, und er war mit dem Kopf auf dem Schreibtisch eingeschlafen, wie ein Schüler, der keine Lust hat, Hausaufgaben zu machen. Und im Grunde verhielt es sich auch genauso: Er hatte dem Chefredakteur versprochen, den Text über Ivo Radek bis sieben Uhr zu liefern.

Aber was gab es denn noch über den istrischen Autor zu sagen, das nicht schon tausendmal gesagt und bis zum Erbrechen wiederholt worden wäre? Die Tatsache, dass die Universität Triest auf die extravagante Idee verfallen war, Radek im zarten Alter von achtundachtzig Jahren einen verspäteten Doktortitel honoris causa zukommen zu lassen, vergällte ihm den Tag so richtig. Welchen Sinn sollte das haben, ihm diesen Titel jetzt noch zu verleihen, wo er doch bereits mit einem Fuß im Grab stand?

Der Grund lag natürlich auf der Hand. Falls in diesem Jahr tatsächlich der Nobelpreis an den alten Schriftsteller aus Parenzo ging, was immerhin wahrscheinlich schien, dann wollte die Stadt, die ihn nach seiner traumatischen Erfahrung der Vertreibung aufgenommen hatte, nicht riskieren, als undankbar dazustehen.

Aber was sollte er, Stelio Kunz – notgedrungen Literaturkritiker, aber in Wirklichkeit ein verkannter Schriftsteller, der sehr viel mehr Talent aufwies als die zahlreichen Tintenkleckser, die die Bestsellerlisten verstopften –, was zum Teufel sollte er noch Originelles schreiben über einen Autor, der vor einem halben Jahrhundert einen vollkommen unverständlichen Erfolg mit seinem Erstlingswerk gehabt und danach nur mittelmäßige Bücher geschrieben hatte, die ebenso unverständlicherweise von vielen Lesern weit höher geschätzt und inniger geliebt wurden, als sie es verdient hatten?

Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er die Wahrheit geschrieben. Radek schuldete seinen unverdienten Ruhm ausschließlich seiner Vergangenheit. Wenn der junge Ivo nicht gezwungen worden wäre, seine Heimat und seine Familie zu verlassen, als Istrien 1947 unter Titos Herrschaft fiel, hätte er niemals dieses herzzerreißende Buch geschrieben, das alle für sein Meisterwerk hielten. Ein Buch, das, unter anderem, dermaßen banal und voller Floskeln war, dass er, Stelio Kunz, es unter denselben Bedingungen hundertmal besser hätte schreiben können, und zwar ohne diese ganzen ermüdenden Grübeleien.

Aber man weiß ja, wie so etwas in Italien läuft. Die wahren Talente, zu denen sich Kunz ganz unbescheiden zählte, mussten sich in erniedrigender Weise damit abfinden, von literarischen Nullen überholt zu werden, die – mithilfe perverser und unnachgiebiger Pressekampagnen, welche den ahnungslosen Lesern suggerierten, dass an dem Kauf ihrer mittelmäßigen Machwerke kein Weg vorbeiführte – dem bereits in Mitleidenschaft gezogenen Markt der »wahren Literatur« irreparablen Schaden zufügten. Zu der auch das letzte Buch von Kunz zählte, das er gerade fertiggestellt hatte und auf das er ganz besonders stolz war. Bei seinem »Koloss auf tönernen Füßen« handelte es sich in der Tat um ein komplexes und tiefgründiges Werk, das es verdient hätte, einen so bedeutenden Verlag wie Fondamenta zu finden. Es gab im Land kein anderes Haus, das in Ansehen und Kompetenz damit vergleichbar war.

Stelio Kunz stand auf, streckte sich und ging auf die kleine Terrasse, die gegenüber des Passeggio Sant’Andrea lag. Die warme Juniluft hatte Kinder, Mütter, Rentner und Heranwachsende scharenweise herausgelockt, die nun die weitläufige Fußgängerzone bevölkerten und den Sommeranfang genossen. Wie gern wäre er nach unten gegangen und hätte sich ein Eis geholt, wie diese Jungen, die auf den Bänken rund um den Brunnen saßen, aber er durfte sich das wirklich nicht erlauben. Er war schon zu spät dran, er musste schreiben. Der Chefredakteur hielt den Platz für seinen Artikel frei. Seufzend kehrte er an den Schreibtisch zurück und ließ den Computer wieder hochfahren.

»Der Herr erlöse uns von treu ergebenen Gattinnen«, schrieb er. Vielleicht könnte er so anfangen! Eines der Dinge, die ihn am meisten an Radek irritierten, war tatsächlich dessen Fähigkeit, hinter dem breiten Rücken seiner Ehefrau Petra in Deckung zu gehen. Sie war es, die seit Jahrzehnten für ihn den Kontakt zur Welt unterhielt, auf Anfragen von Journalisten antwortete, Interviews und Einladungen ablehnte. Er, der große Literat, versteckte sich in seiner Wohnung im obersten Stockwerk eines Palazzos in der Via Lazzaretto Vecchio und ließ sich seit Jahren nicht in der Öffentlichkeit blicken. Aus gesundheitlichen Gründen, sagte die Ehefrau. Aus Feigheit und Berechnung, dachte Kunz, und mit ihm viele andere Journalisten, denen es nicht gelungen war, zu einem Interview zugelassen zu werden.

Allerdings trieb Stelios Abneigung ihn nicht so weit, dass er sich nicht hätte eingestehen können, dass der Irritation eine Form von Neid, wenn nicht gar nackte Eifersucht zugrunde lag. Stelio Kunz, um bei der Wahrheit zu bleiben, war nicht nur der Erfolg versagt geblieben, der ihm seiner Meinung nach zugestanden hätte, sondern er war auch noch in seiner Jugend bis über beide Ohren in Petra Gargelli verliebt gewesen. Zwanzig Jahre jünger als ihr berühmter Gatte war Petra eine jener Frauen, die bei jeder Begegnung sofort Empathie ausstrahlte, eine Gabe, die Kunz zweifellos immer gefehlt hatte. Es war diese Ausstrahlung von Vertrautheit und Nähe, die vor vierzig Jahren den jungen Brillenträger Stelio angezogen und zu der Illusion verführt hatte, hinter der Freundschaft mit ihm verberge sich noch ein anderes Gefühl. Als er sich der Tatsache bewusst wurde, dass dem jedoch nicht so war und Petra nicht im Geringsten daran dachte, sich mit ihm zu verloben, war die Enttäuschung bitter gewesen, wenn auch nicht gänzlich unerwartet.

Die Universität Triest wird übermorgen um 11 Uhr in der Aula A der Fakultät für Literatur und Philosophie zusammenkommen, um Ivo Radek die Ehrendoktorwürde zu verleihen. Der berühmte istrische Schriftsteller, 1925 in Parenzo geboren, hat seine Anwesenheit zugesichert, auch wenn er, wie wir alle wissen, das Licht der Öffentlichkeit scheut. Radek trägt den Namen seiner Mutter, russischen Ursprungs, den er angenommen hat, um den Namen des Vaters, Furian, nicht führen zu müssen. Er war zu stark mit den tragischen Ereignissen des Exodus verknüpft.

Anlässlich der Verleihung werden seine beiden Verleger, der adelige Titus Celsius aus dem angesehenen Verlagshaus Fondamenta, das auch die Rechte am Enthüllungsbuch »Der Kindheitsfreund« von 1955 hält, und Terenzio Tasca, der neue Verlagsleiter von Russo & Nobile, anwesend sein. Der Verlag hat alle anderen Bücher Radeks publiziert und möchte auch die Rechte seines jüngsten, streng geheimen Werkes erwerben, von dem bis heute nur der Titel »Unser Erdenleben« bekannt ist.

Die Schlacht zwischen Russo & Nobile und Fondamenta um das neue Buch ist in vollem Gange. Die mächtige Literaturagentin Rhoda Wallace, die Radeks Rechte weltweit vermarktet, lässt sich nicht in die Karten schauen. Bis zum heutigen Zeitpunkt weiß niemand, wovon dieses, sein letztes Werk handelt; ob es, wie wir vorhersagen, eine Art spirituelles Testament des istrischen Autors sein wird oder ob er im Gegenteil einen Roman, ein Werk der Fiktion vorlegen wird. Die Idee, einen Wettstreit der Verlage um ein Buch auszurufen, das ansonsten auch unbemerkt hätte bleiben können, in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, ist allerdings gewagt und mitnichten ein Erfolgsgarant auf einem mit kurzlebigen Wegwerfprodukten überschwemmten Markt. Müssen wir das Spiel mitspielen und ein uns fernliegendes Interesse heucheln für einen Autor, der zweifellos seine Zeit hatte? Gibt es nicht schon genug aufwendig angekündigte Meisterwerke, die sich, einmal erschienen, als wahrhaft überflüssig erwiesen haben?

Stelio Kunz hielt inne. Wie so oft hatte er sich hinreißen lassen. Er wollte nicht missgünstig und gallig klingen. Schweren Herzens löschte er die letzten Zeilen und schrieb weiter.

Es ist ja kein Geheimnis, dass es Gianluigi Russo – Urenkel des Gründers des ruhmreichen Mailänder Verlagshauses und bis vor zwei Monaten noch allseits gefürchteter Verlagsleiter von Russo & Nobile –, noch gelungen ist, Radek das Versprechen abzuringen, ihm die Publikation seines neuen Werkes anzuvertrauen, bevor er so brutal vor die Tür gesetzt wurde. Doch dann hat das Erscheinen des jungen, frischgebackenen Verlegers Terenzio Tasca auf dem Parkett die Karten einmal mehr neu gemischt.

Es scheint, als schätze der greise Autor Veränderungen nicht, folglich läge die Vorstellung, dass er in Celsius’ Arme zurückkehrt, nicht allzu fern. Umso mehr als Fondamenta nach wie vor alle Rechte am »Kindheitsfreund« hält, auch heute noch Radeks meistverkaufter Titel, ungeachtet der Tatsache, dass seit seinem Erscheinen fast sechzig Jahre vergangen sind. Mit einer halsabschneiderischen Klausel in dem Vertrag, der im fernen 1954 vom Autor mit Rufus Celsius, dem bereits verstorbenen Vater des heutigen Verlegers, geschlossen wurde, hat sich das Haus die Rechte an der Verbreitung des Werkes auf alle Zeiten gesichert. Eine Klausel, die Rhoda Wallace bereits auf allen möglichen Wegen versucht hat für nichtig erklären zu lassen, indem sie behauptete, sie sei dem Autor seinerzeit in betrügerischer Absicht abgepresst worden. Allerdings ohne Erfolg.

Wir erinnern uns, dass »Der Kindheitsfreund« in etwa zur gleichen Zeit wie »Der Leopard« und »Doktor Schiwago« erschienen ist, den ersten echten Bestsellern des italienischen Verlagshauses, mit einer Auflage, die damals fast an eine Million verkaufte Exemplare heranreichte und Publikum wie Kritik spaltete, wie es bei so überraschenden und nicht ganz nachvollziehbaren Erfolgen üblich ist. Nach vielen Jahren wiedergelesen, lässt das Buch seine ganze stilistische Brüchigkeit erkennen und bestätigt den Eindruck eines im Grunde einfältigen, hemdsärmeligen Textes, dem es noch dazu nicht an Floskelhaftigkeit mangelt. Die Idee, die Parabel einer Freundschaft in Form eines langen, niemals abgeschickten Briefes zu erzählen, erweist sich in der Tat als ein erzählerischer Ansatz, der auf eine viel zu schlichte emotionale Wirkung abzielt. Es wäre wesentlich interessanter gewesen, und literarisch origineller, die Geschichte von beiden Parteien erzählen zu lassen, der des erzählerischen Ichs und der des verräterischen Freundes. Damit hätte sich eine bei Weitem kraftvollere Dynamik entwickeln lassen, und es wären auch jene Aspekte beleuchtet worden, die Radek im Dunkeln gelassen hat. So bleibt der kroatische Freund Toni unbestimmt und teilt damit das Schicksal so vieler schablonenhafter Figuren, die einen großen Teil der literarischen Produktion Italiens der letzten fünfzig Jahre bevölkern.

Stelio hielt wieder inne und fragte sich, ob er die letzte Spitze nicht auch wieder streichen sollte, entschied sich aber, sie stehen zu lassen. Es gab schon genug Heuchler unter den Kritikern, alle mit ihrem eigenen hübschen Manuskriptchen auf dem Rechner, die sich bei den Verlegern mit beschämend parteilichen Rezensionen lieb Kind machen wollten. Er hingegen, der seine Fehde mit der Verlagswelt längst verloren hatte, wusste Bescheid. Er konnte sich den Luxus erlauben, aufrichtig zu sein. Er hatte nicht Camilleris Glück gehabt, der an der Schwelle zu siebzig »entdeckt« worden war, er musste heute nicht, wie alle anderen, Krimis schreiben. Ja, in Wahrheit reagierte er allergisch auf die sogenannten Thriller. Wenn sie bei ihm eintrudelten in der Hoffnung auf eine Rezension, warf er sie unbesehen in den Altpapierkarton. Er hatte die literarischen Moden so unendlich satt.

Das Telefon klingelte, während er das Ende doch noch mal überarbeitete. Auch wenn er wusste, dass er im Recht war, musste er ja nicht unbedingt nachtreten.

»Du bist doch mit Radeks Frau befreundet, oder?«

Der Chefredakteur hatte die schlechte Angewohnheit, sich am Telefon nie mit Namen zu melden.

»Früher mal, ist eine Ewigkeit her.«

»Sehr gut. Also versuch doch mal, an ein Interview mit ihr zu kommen. Wenn der alte Bär sich weigert, den Mund aufzumachen, versuchen wir halt so rauszubekommen, wovon dieses neue, geheimnisumwitterte Buch handelt, um das sich die Verleger kloppen.«

Auch der Chefredakteur war in die Falle getappt. Stelio Kunz seufzte, er würde das Spiel mitmachen müssen, wie immer.

»Die Frau wird sich ganz sicher nicht gesprächig zeigen. Die schützt ihn doch schon immer.«

»Deshalb brauchen wir dich. Es darf halt nicht wie ein Interview klingen, sondern, was weiß ich, wie ein Gespräch über die Literatur von heute. Du rufst sie an, um mit ihr, anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde, über das Gesamtwerk ihres Mannes zu reden, und mit deinen diabolischen Fähigkeiten, die dich so einzigartig machen, bringst du sie dazu, dir irgendetwas anzuvertrauen …«

»Wie ich sie kenne, wird sie nicht darauf hereinfallen.«

»Und du probierst es trotzdem. Frag sie vielleicht nach ihrer Meinung zu einem Buch, das du schreiben willst. Immerhin bist du ja auch ein anerkannter Schriftsteller. Die Ehefrauen von Autoren lassen sich doch nur zu gern als Expertinnen zurate ziehen, eine weitverbreitete Schwäche. Schmeichle ihr irgendwie, erfinde irgendwas, aber wir müssen unter allen Umständen die Ersten sein, die rausbekommen, wovon es handelt. Radek übertreibt es wirklich mit seiner Geheimniskrämerei. Das geht mir auf die Nerven. Sieh zu, dass du das hinkriegst.«

Es würde nicht leicht werden, er war noch nie gut darin gewesen, sich zu verstellen. Aber wenigstens würde ihm das einen Vorwand liefern, um Petra wiederzusehen.

»Einverstanden.«

Kunz drehte sich zum Fenster um und betrachtete mit etwas mehr Wohlwollen die Abendröte, die Triest einhüllte. Diese Idee des Chefredakteurs war wirklich nicht schlecht. Er würde die Gelegenheit nutzen, um Petra sein neues Manuskript mitzubringen. Er war sich sicher, dass es ihr gefallen würde. Als sie noch miteinander befreundet waren, hatte er ihre Fähigkeit, seine Arbeit zu beurteilen und ihn dabei zu ermutigen und anzuspornen, immer sehr geschätzt. Vielleicht gelang es ihm ja, sie zu einem kurzen Satz über den Roman zu verleiten, ein Schlaglicht, das er dann dem Ehemann zuschreiben konnte. Und das könnte ausschlaggebend sein, um die Aufmerksamkeit von Titus Celsius zu wecken.

»Rhoda Wallace kommt nach Triest!«

Carla Benussi machte gerade Toasts, als ihr Mann Ettore ganz aufgeregt mit dem iPad in der Hand hereinkam. »Sie kommt zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Ivo Radek. Was meinst du? Ob ich sie um einen Termin bitten könnte?«

Der verblüffte Ausdruck, der sich auf dem müden Gesicht seiner Frau abzeichnete, sprach Bände.

»Vielleicht, wenn ich mit ihr sprechen könnte, wenn ich ihr persönlich erklären könnte …«, fuhr Benussi hoffnungsvoll fort. »Immerhin bin ich ein echter Kommissar, vielleicht macht sie das neugierig.«

»Wenn sie dir bis jetzt nicht geantwortet hat, bezweifle ich, dass sie ihre Meinung ändert, wenn sie dich sieht.«

»Aber du hast doch auch gesagt, dass mein Krimi funktioniert und dir gefallen hat. Oder hast du das nur so gesagt?«

»Er hat mir gut gefallen, ja, aber wenn ich in den Buchladen gehe und die Berge von Thrillern sehe, die da im Regal stehen, dann frage ich mich, welche Chancen deiner hat, überhaupt bemerkt zu werden. Das ist alles.«

»Also bist du schon sicher, dass sowieso keiner ihn veröffentlichen würde, und selbst wenn, dass niemand ihn kaufen würde. Na, vielen Dank für die Ermutigung.«

»Ich versuche nur, dich vor einer Enttäuschung zu bewahren. Du hast so hart daran gearbeitet, du hast es nicht verdient, dass man sich nur nebenbei mit dir beschäftigt.«

»Ich weiß, was du mir sagen willst, Carla. Ich kann zwischen den Zeilen lesen. Du denkst, ich hätte meine Zeit nur verschwendet, und hast nicht den Mut, es mir zu sagen.«

»Nein, da gibt’s nichts zwischen den Zeilen zu lesen, Ettore«, seufzte sie gereizt. »Mach, was du willst.«

Mehr als die Worte war es der ungeduldige Ton, der ihn wütend machte. »Red nicht so von oben herab mit mir wie eine Lehrerin, das halte ich nicht aus!«

Benussi stürmte aus der Küche und stieß dabei einen Stuhl um. Carla versuchte, ihn zurückzurufen. Sie wollte den Tag nicht so beginnen.

»Ettore! Komm schon, stell dich nicht so an. Komm zurück, ich bitte dich! Komm und frühstücke mit mir.«

In diesem Augenblick betrat ein Mädchen die Küche, in einem überlangen schwarzen T-Shirt, zerzaust und mit nackten Füßen, und trat wortlos an den Kühlschrank.

»Guten Morgen, Livia. Gut geschlafen?«

Ein achselzuckendes Grunzen war die einzige Antwort.

Carla hatte jetzt wirklich genug von den Launen ihrer Familie. Nach der schrecklichen Entführung durch einen Verrückten, die sie vor sechs Monaten hatte durchmachen müssen, war ihre sprichwörtliche Geduld brüchig geworden. Ohne noch etwas zu sagen, warf sie die Kanne mit dem frisch gekochten Kaffee ins Spülbecken und verließ die Küche.

»Ey, was ist denn hier heute Morgen los?«, protestierte Livia. »Erst rennt mich Papa fast um, und jetzt haust du einfach so ab!«

Carla steckte noch einmal kurz den Kopf zur Tür herein: »Willst du wirklich wissen, was mit mir los ist, Livia? Ich hab’s satt, ich hab das alles hier gründlich satt! Ihr behandelt mich wie einen Kleiderständer, lasst eure ganzen schlechten Launen an mir aus. Aber es steht nirgendwo geschrieben, dass ich bleiben und das alles ertragen muss.«

Die Tochter starrte sie verblüfft an, als erkenne sie sie nicht wieder.

»Aber ich hab doch gar nichts von dir gewollt!«

»Genau. Ab und zu mal ein ›Guten Morgen, Mama, wie geht’s?‹ wär nicht schlecht.«

Als Carla ins Schlafzimmer kam und Ettore auf dem Bett sitzen sah, in der Bewegung erstarrt, einen Socken in der Hand, überkam sie eine Anwandlung von Zärtlichkeit. Mit einem Schlag löste sich der Ärger in Luft auf. Seit dem Vorfall, der ihn vor acht Monaten beinahe das Leben gekostet hätte, fielen ihm bestimmte Bewegungen schwer, wie zum Beispiel sich vorzubeugen, um sich die Socken anzuziehen. Normalerweise tat er das im Stehen, stützte sich an der Wand ab und hob jeweils ein Bein, wie ein unbeholfener Storch, aber heute Morgen hatte er nachgegeben. Carla trat zu ihm und half ihm, ohne etwas zu sagen. Ettore betrachtete sie schweigend, sein Ausbruch von eben reute ihn bereits.

»Vermutlich hast du recht. Vielleicht würde ich mich lächerlich machen.«

»Ich habe eine bessere Idee. Du könntest Cristina bitten, zu vermitteln. Ich weiß, dass sie sie gut kennt.«

»Radeks Tochter? Triffst du dich noch mit ihr?«

»Ab und zu.«

»Ist die immer noch mit dem Irren zusammen?«

»Leider ja.«

»Und die Tochter, Ada, die von zu Hause weggelaufen ist?«

»Ist zu den Großeltern gezogen. Sie will nicht mehr mit diesem Mann unter einem Dach leben.«

»Das wundert mich nicht. Bei allem, was er ihr angetan hat …«

»Ich verstehe einfach nicht, warum Cristina immer noch mit ihm zusammen ist und sogar ihre Beziehung zu Ada dafür aufs Spiel setzt. Wofür? Na, wer weiß!«

»Und der Vater?«

»Wieder verschwunden.«

»Wirklich eine nicht ganz geheure Familie …«

»Und du beschwerst dich über unsere!«

Ettore strich seiner Frau über die Wange. Dafür liebte er sie. Auch wenn sie nach der Entführung kantiger und ungeduldiger geworden war, ließ Carla es nie zu, dass etwas Belastendes zwischen ihnen stand. Dass beide beinahe gestorben wären, hatte sie noch stärker miteinander verbunden und aufmerksamer füreinander gemacht.

»Geh doch morgen zu der Feier für Radek in die Universität. Ich bitte Cristina, dass sie dir einen Platz in der Nähe von Wallace besorgt, der Rest liegt dann bei dir. Du brauchst nur noch so zu tun, als sei das alles Zufall. Das wäre schon anders, oder?«

»Und du glaubst, Cristina würde das für mich machen?«

»Ich wüsste nicht, warum nicht.«

Das Handy klingelte auf Ettores Nachttisch. Carla gab es ihm.

»Guten Morgen, Morin! Ist etwas passiert? Gut, ich komme.«

Der Kommissar stand auf und hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Wange.

»Ich muss los.«

2 Heute war ich beim Arzt, und er hat mir bestätigt, was ich bereits wusste. Ich habe nur noch wenige Monate zu leben. Auf dem Heimweg, mühsam auf den Stock mit dem Delfingriff gestützt, den mir dein Vater vor mehr als achtzig Jahren geschenkt hat, ist mir klar geworden, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, um mich der Vergangenheit zu stellen, das Schweigen zu brechen, das seit mehr als einem halben Jahrhundert herrscht und das sowieso keinerlei Daseinsberechtigung mehr hat.

Das Herannahen des Todes hat etwas Schönes, das alles weniger dramatisch macht und im Grunde auch weniger wichtig. Ich habe auch schon viel zu lange im Schweigen verharrt. Ich hätte sofort die Auseinandersetzung mit dir suchen müssen, als ich das Buch gelesen habe, vor fünfzig Jahren. Aber damals war es mir nicht möglich. Ich war gerade der Hölle auf Erden entkommen, was sollte es mich kümmern zu hören, wie mich einer einen Verräter nennt, den ich für meinen besten Freund gehalten habe? Es gab wesentlich Schlimmeres als eine Verleumdung. Und ich hatte es alles am eigenen Leib erfahren.

Alles, außer dem Tod.

Heute Morgen bin ich aufs Meer hinausgefahren, wie ich es seit mehr als fünfzig Jahren tue. Es hilft, mir die Zeit zu vertreiben und nicht zu viel nachzudenken. Als ich so die Fische beobachtete, wie sie im Netz zappelten, kam mir der Gedanke, dass auch wir vor sechzig Jahren im Grunde wie diese Fische waren. Der einzige Unterschied ist, dass du einen Fluchtweg gefunden und dich in Sicherheit gebracht hast, während ich hängen geblieben bin, ohne auch nur den Trost eines schnellen Endes.

Aber ich fische so gut wie überhaupt nicht mehr. Ich sehe nicht mehr gut, meine Hände sind von der Arthritis verkrümmt, und doch steige ich jeden Morgen in meinen alten Kutter und werfe den Motor an. Das Meer kann mir immer noch so etwas wie Frieden schenken und dieser Tragikomödie, die das Leben ist, einen Sinn geben.

Ich bereite mich allmählich auf den Tod vor.

Warum dir schreiben, nach all den Jahren? Im Grunde kennen wir uns doch kaum. Wir sind zwei Unbekannte, die aber zusammen ein Geheimnis bewahren. Ein Geheimnis, das ihre Leben gezeichnet hat, und nicht nur ihre. Jetzt ist der Moment gekommen, sich dem zu stellen. Ich könnte nicht gehen, ohne vorher alles geklärt zu haben, ohne dir den Teil der Geschichte erzählt zu haben, den du nicht kennst oder den nicht zu kennen du dich entschieden hast. Und dabei wäre es doch für dich gar nicht schwer gewesen, zu mir zu kommen und mich zu fragen, ob wirklich ich es war, der dich verraten hat. Du hast den leichten Weg vorgezogen, das Leben desjenigen, der zum Opfer geworden ist, und darauf hast du deine Legende aufgebaut.

Wie war es doch einfach in jenen manichäischen Zeiten, als das Gute auf der einen und das Schlechte auf der gegenüberliegenden Seite war. Unsere einzige Aufgabe bestand darin zu versuchen, den kriminellen Fanatismus zu überleben, der unsere Leben in einen primitiven und brutalen Kampf ums Überleben verwandelt hatte. Nicht dass ich mich nach jenen Jahren zurücksehnen würde. Gott weiß, wie sehr wir gelitten haben. Ich sage nur, dass es einfacher war, sich besser zu fühlen, als man ganz real wusste, dass man selbst es war, der gegen einen stumpfen und ignoranten Feind zu kämpfen hatte. Einen Feind, der uns zu verschreckten Opfern eines ungerechten Schicksals gemacht hatte und uns gleichzeitig von der Verantwortung befreite, uns mit den Schatten in unseren Herzen auseinanderzusetzen.

Ich erinnere mich noch an jenen Tag, als sei es gestern gewesen.

Deine Mutter wie versteinert, dein Vater weinend neben dem Lastwagen voller Hausrat, den Blick verloren ins Nichts gerichtet. Du, der du mich voller Hass anstarrtest, als wäre ich es gewesen, der die Fabrik enteignet hätte, der euch aus dem Haus gejagt, in dem du geboren worden warst, und unsere Freundschaft verraten hätte. Ich habe noch versucht, dir zu erklären, dass ich nichts damit zu tun hatte, dass mein Vater mich gezwungen hatte, in Titos Miliz einzutreten, weil er tatsächlich an diesen Traum von der Freiheit glaubte: Auch ich sollte meinen Teil dazu beitragen, als Jugoslawe, als Kommunist, als Kroate. Glaube nicht, dass ich mich nicht dagegen aufgelehnt hätte. Ich habe mich nie »gegen« etwas eingestellt gefühlt, sondern immer »für« etwas. Und du weißt das genau. Wir haben die vulgäre Überheblichkeit der Faschisten so gehasst, ihre ordinären und primitiven Methoden, ihre dumme Gewalttätigkeit! Weißt du noch, wie wir uns gefreut haben, als wir erfuhren, dass Badoglio den Waffenstillstand unterzeichnet hatte? Wir konnten es kaum glauben! Der Krieg schien zu Ende zu sein, unser schönes istrisches Land für immer von den Faschisten befreit.

Aber mitnichten. Stattdessen war es nichts anderes als der Beginn eines neuen und noch grausameren Krieges. Eines inneren Krieges, heimtückisch, der im Verborgenen geführt wurde, ohne jemals offiziell erklärt worden zu sein, doch deshalb nicht weniger erbarmungslos und gewalttätig als der, den wir gerade erlebt hatten. Ein Krieg, der auch unsere Ideale verriet und gegen den wir uns nicht zur Wehr zu setzen wussten.

Als ganze Familien zu verschwinden begannen, wie vom Erdboden verschluckt, sagte mir mein Vater, es seien Faschisten gewesen, die aus Angst vor Repressalien geflohen seien. Aber wir wussten, dass das nicht stimmte. Leas Vater war nie Faschist gewesen, wie viele andere, er hatte sich nur schweigend gefügt, um leben und arbeiten zu können. Als er eines Morgens nicht nach Hause zurückkam, lief Lea zu mir. Sie wollte, dass ich ihr half, ihn zu finden. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass ich nichts davon wusste, dass, auch wenn ich eine Uniform trug, ich nichts anderes war als eine wehrlose Spielfigur, die in einen Krieg hineingeschleudert worden war, den ich nicht richtig finden konnte. Aber sie glaubte mir nicht. Sie lief zu dir, und du hast es vorgezogen, dich voller Empörung auf ihre Seite zu stellen.

Es war unser erster – und letzter – Streit.

Noch nie hatte ich dich so wütend gesehen. Als wären all die gemeinsam verbrachten Jahre mit einem Schlag von einem unbekannten Dämon vernichtet worden. Du hast mich nicht einmal mehr angehört, auf einmal war ich für dich zum Feind geworden. Du hast es nicht geschafft, mir zu glauben. Unsere Leben waren immer ineinander verflochten wie die Stränge eines Taus. Weihnachten, Ostern, Geburtstage, alles haben wir geteilt. Mein Vater fischte für die Sardinenfabrik deines Vaters, wie schon unsere Großväter vor ihnen. Meine Mutter kochte und bügelte für euch. Wir haben uns die Knie auf demselben Kies in eurem Garten aufgeschlagen, wir haben in der Schule nebeneinander in derselben Bank gesessen. Zwanzig Jahre lang hatten wir alles geteilt, Streifzüge, Bücher, Träume und Empörungen.

Auch wenn du inzwischen die Schrecken des Kommunismus anprangerst, glaubtest du damals genauso wie ich daran. Vielleicht sogar mehr. Er erschien uns wie die Lösung für alle Übel der Welt. Wir konnten nicht wissen, was geschehen würde. Du wusstest es nicht, und ich wusste es ebenso wenig. Es ist leicht, mit dem späten Wissen Urteile von sich zu geben. Aber wenn du zusammen mit Millionen anderer Menschen in einer ungestümen Strömung navigierst, ist es schwer, mit dem eigenen Kopf zu denken.

Es war nicht Tito, der uns getrennt hat, und das weißt du. Zumindest nicht am Anfang.

Es war Lea.

Wir hatten uns in dasselbe Mädchen verliebt.

Als der Leichnam von Leas Vater an einem Strand gefunden wurde und ihre verzweifelte Mutter beschloss, nach Triest wegzugehen, versuchte Lea, sich dagegen aufzulehnen, aber sie wurde gezwungen mitzugehen. Sie war erst siebzehn. Sie wollte uns nicht verlassen, sie brauchte uns wie die Luft zum Atmen. Frano und Ivo. Frano, der sportliche, Frano, der Fischer, Frano, der es verstand, ihr das Gefühl zu geben, schon eine Frau zu sein. Ivo, der Dichter, Ivo, der Sohn des Herrn, Ivo, der sie nicht anzurühren wagte aus zu viel Liebe.

Ivo, der ein Buch über unsere Dreierbeziehung schreiben würde, in dem er mich als niederträchtigen Verräter unserer Freundschaft darstellen und mit dem Finger auf eine blaue Uniform zeigen würde, die mir nichts bedeutete und die ich gezwungen worden war zu tragen, und der der Welt erzählen würde, dass es meine Familie gewesen war, die seine aus ihrer Villa gejagt hatte, aus ihrer Fabrik, aus ihrem Land.

Meine Familie! Mein Vater und meine Mutter, dargestellt als fanatische Werkzeuge der titoistischen Obsession, alle Italiener aus dem Land jagen zu müssen. Nein, lieber Ivo, meine Familie hatte damit überhaupt nichts zu tun. Wenn sie an jenem Morgen nicht gekommen waren, um sich von euch zu verabschieden, dann weil mein Vater einen Herzinfarkt erlitten und meine Mutter ihn ins Krankenhaus gebracht hatte. Siehst du, wie viel einfacher es war? Du wolltest in ihrer Abwesenheit einen Verrat sehen, den es nie gegeben hat.

Wir sind es gewesen, die von Tito verraten wurden. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich dir morgen erzählen werde. Jetzt bin ich müde, mir tun die Knochen weh, ich muss mich hinlegen.

3 Das ebenholzfarbene Gesicht war in stille Tränen gebadet. Inspektorin Elettra Morin war beeindruckt von der Würde und dem absoluten Schmerz, den die eritreische Frau ausstrahlte, die den Leichnam eines vielleicht zwei Jahre alten Mädchens im Arm hielt, von dem sie sich nicht trennen wollte.

Pater Florence, dessen Einrichtung die fünf blinden Passagiere anvertraut worden waren, die in Basovizza in einem Lastwagen entdeckt worden waren, kniete vor der jungen Mutter und versuchte, auf Englisch mit ihr zu sprechen, um sie davon zu überzeugen, ihnen die Leiche ihrer Tochter anzuvertrauen.

Die Szene zerriss Elettra das Herz, die gar nicht daran denken wollte, welche Opfer und unzählige Erniedrigungen diese arme junge Frau durchgemacht haben musste, um hierherzukommen. Sie selbst, dachte Elettra, hätte es mit Sicherheit nicht überlebt.

Als sie Kommissar Benussi kommen sah, immer noch hinkend, ging Elettra ihm entgegen und zog im Gehen das Notizbuch aus der Tasche.

»Guten Morgen, Commissario.«

»Guten Morgen, Morin. Was gibt’s?«

»Ein tschechischer Lkw, aus Ancona kommend, der Ersatzteile für Motoren transportierte. Der Fahrer, ein Georgier, behauptet, er wisse von nichts. Er schwört, dass er nicht wüsste, wo die blinden Passagiere zugestiegen sind. Aber Ispettore Gargiulos Einschätzung nach, der ihn auf dem Präsidium vernimmt, lügt er.«

»Er hat etwas von einem Toten gesagt.«

»Im Augenblick sind es zwei. Ein Mann von etwa dreißig Jahren und ein kleines Mädchen von zwei Jahren. Dehydrierung. Sie haben die Hitze im Transportraum nicht ausgehalten. Die Kleine war mit ihrer Mutter unterwegs, das andere Opfer ist der Vater. Sie kommen vom Horn von Afrika.«

Pater Florence trat zu ihnen.

»Morgen, Commissario.«

»Wie geht’s ihr?«, fragte Benussi und deutete zu der Frau hinüber.

»Nichts zu machen, sie will sich nicht von ihrer Tochter trennen. Sie sagt, dass sie nicht tot ist, sondern nur schläft. Ich habe nach Violeta geschickt. Vielleicht schafft sie es ja, sie zu überzeugen.«

Der Priester sah erschöpft aus, wie immer. Die erste Hitze, die über Triest hereingebrochen war, hatte ihn unvorbereitet getroffen, und jetzt rann ihm der Schweiß in Strömen unter dem zerknitterten Hemd.

»Das ist sowieso ein Exodus von biblischen Ausmaßen, Commissario. Diese hier kommen aus Eritrea. Sie sind vor einem Flüchtlingscamp im Sudan entführt worden. Und wissen Sie, warum diese Leute entführt werden? Um von den Familien Lösegeld zu erpressen. Und wer nicht zahlen kann, wird als Sklave verkauft oder ihm wird ein Organ entnommen. Für diese Leute sind das keine Menschen, sondern nichts als Ware. Ich weiß nicht, warum die UNO nicht längst irgendetwas unternimmt, um diese gnadenlosen Händler des Todes aufzuhalten! Wir machen Milliarden Dollar auf den Rücken dieser armen Leute, deren einzige Schuld darin besteht, in Ländern geboren worden zu sein, die von Gewalt und Hunger verheert sind.«

Es war ein verlorener Kampf, den Pater Florence führte, und das wusste er. Doch davon ließ er sich nicht beeindrucken. Niemals würde er aufgeben, er würde bis zu seinem Tod weiter versuchen, ein bisschen Menschlichkeit und Wärme in jene »verlorenen Leben« zu bringen, die ihm so kostbar waren.

»Ah, Sie sind wieder im Dienst, Commissario!« Eine gut aussehende Frau mit krausem Haar und dunklem Teint um die vierzig kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Das heißt, es geht Ihnen besser!«

Benussi errötete unwillkürlich und schüttelte ihr die Hand.

»Ja, danke, Violeta. Sehr viel besser.«

»Und Ihre Frau? Hat sie sich auch wieder erholt?«

»Sie geht wieder zur Arbeit. Aber Sie wissen ja, Frauen sind sowieso härter im Nehmen. Wie geht es Ihnen?«

Violeta antwortete nicht mehr, sie saß schon bei der jungen Mutter und sprach leise mit ihr.

»Und die anderen Überlebenden?«, fragte Benussi.

»Sind noch nicht vernehmungsfähig«, antwortete Elettra. »Sie sind zu stark erschöpft.«

»Ich versuche, später mit Ihnen zu sprechen«, bot Pater Florence an. »Kümmern Sie sich lieber um den Fahrer. Oft sind das auch arme Kerle, die sich vom schnellen Geld verführen lassen …«

Elettras Handy klingelte in der bunten Tasche, die sie um den Hals hängen hatte. »Hallo, Valerio … Ja, er steht hier bei mir. Wir kommen sofort.«

Benussi sah seine Untergebene fragend an.

»Der Fahrer hat angefangen zu reden.«

»Gut, dann gehen wir mal. Bis bald, Pater Florence.«

»Bis bald, Commissario.«

Als er den Vorplatz verließ, hielt Benussi Ausschau nach Violeta, die sich zusammen mit der jungen Mutter in Luft aufgelöst zu haben schien. Er hätte gern mal länger mit ihr gesprochen. »Und grüßen Sie mir Violeta«, setzte er noch, vielleicht ein wenig zu laut, hinzu.

Am Abend berichtete Elettra Morin ihrem Kollegen Valerio Gargiulo von der Schwäche des Kommissars.

»Du hättest ihn mal sehen sollen, wie er Violeta heute Morgen angeschaut hat. Es war fast schon peinlich.«

»Mamma mia, du bist aber auch streng, meine Elettra!«, spottete der junge neapolitanische Inspektor. »Nach allem, was passiert ist, nach dem Unfall und der Entführung seiner Frau, darfst du ihm ruhig eine kleine Schwärmerei für die schöne Brasilianerin zugestehen! Man kann ja nie wissen!«

Morin lachte laut, als sie die schalkhafte Miene Valerios sah, der gerade die Pasta abgoss.

»Ihr seid doch alle gleich, ihr Männer, immer bereit, euch gegenseitig in Schutz zu nehmen!«

»Seit wann denn das!«

»Hast du Bier gekauft?«

»Steht im Kühlschrank. Nimm dir nur.«

Ein Stückchen Meer war zu sehen von der Terrasse aus, die zu Valerio Gargiulos Wohnung in der Via Economo gehörte. Elettra trug die beiden Flaschen zu dem liebevoll gedeckten Tischchen, das in einer Ecke neben zwei Blumenkästen mit weißen und roten Geranien stand.

Die Ankunft des Sommers hatte in den beiden jungen Polizisten große Lust auf Urlaub und Meer geweckt; eine Lust, die sich derzeit mit einem Abendessen im Freien begnügen musste. Die Wahl war gezwungenermaßen auf Valerios Haus gefallen, da die Zweizimmerwohnung, in der Elettra wohnte, an sonnigen Sommerabenden noch melancholischer war als gewöhnlich.

Sie sprachen nicht über den gerade zu Ende gegangenen Arbeitstag. Das hatten sie schon am Anfang ihrer zerbrechlichen Beziehung vereinbart, die sie allerdings niemals in den Stand einer wirklichen gegenseitigen Verpflichtung erhoben hatten. Und das ganz sicher nicht, weil Valerio Gargiulo es nicht gewollt hätte, der sich als echter Neapolitaner gerne in eine leidenschaftliche Geschichte gestürzt hätte, ohne ständig das Gefühl zu haben, gefährlich nah an einem unsichtbaren – und für ihn unverständlichen – Abgrund zu balancieren. Elettra konnte nämlich nicht nur sehr plötzlich und unerwartet verschwinden, sondern auch, und das wesentlich häufiger, sehr hart sein. Eine Härte, die ihre Erklärung in ihrer Familiengeschichte fand – die junge Polizistin war nach der Geburt in einem Waisenhaus zurückgelassen worden und hatte vor wenigen Monaten ihre geliebte Adoptivmutter verloren –, die Valerio aber ganz und gar nicht akzeptieren konnte.

Es war, als hätte Elettra Angst, sich einem tiefen Gefühl zu ergeben und zöge es vor, in der sehnsüchtigen Erinnerung an eine imaginäre Verbindung zu ihrer natürlichen Mutter – die sie nie kennengelernt hatte – versunken zu leben, statt sich darauf einzulassen, eine konkrete Beziehung aufzubauen. In den vergangenen Monaten hatten sie oft und lange darüber gesprochen, ohne jedoch irgendeinen nennenswerten Kurswechsel erreicht zu haben. Elettra wollte sich nicht verpflichten, wiederholte sie immer wieder, sie fühle sich nicht bereit dazu.

»Morgen kommen meine Eltern«, sagte Valerio und trank den letzten Schluck Bier aus der Flasche.

»Wieso das denn?«, fragte Elettra misstrauisch.

»Ganz ruhig, sie kommen nicht, um dich kennenzulernen. Sie wissen gar nichts von dir. Ich hatte dir doch gesagt, dass meine Mutter eine Leidenschaft für Ivo Radek hat, und als sie erfahren hat, dass es eine Gelegenheit gibt, ihn persönlich zu erleben, in der Universität, hat sie meinen Vater dazu überredet, sie zu begleiten.«

»Und sie schlafen bei dir?«

»Das wäre keine schlechte Idee«, lächelte Valerio. »Dann müsste ich bei dir übernachten. Du würdest mich doch nicht auf dem Sofa schlafen lassen, oder?«

Elettra wich seinem Blick aus, während die Gabel, die sie gerade zum Mund führen wollte, klappernd auf den Teller fiel.

»Also, ich …«

Valerio konnte nichts dagegen machen, ihre Reaktion verletzte ihn. Aber er ging mit einer Leichtigkeit darüber hinweg, die weit davon entfernt war, aufrichtig zu sein.

»Das war ein Witz, Ely. Sie übernachten im Duchi d’Aosta! Niemals würde der große Avvocato Gargiulo sich dazu herablassen, in einem Loch wie diesem zu übernachten. Du kennst meinen Vater nicht!«

Die Erleichterung war Elettra anzusehen, auch wenn sie versuchte, sie zu überspielen, indem sie das Thema wechselte.

»Gestern habe ich einen Anruf von der Sozialarbeiterin bekommen.«

»Hat sie etwas herausgefunden?«

»Vielleicht.«

»Und das sagst du mir so nebenbei?«

»Es ist nichts Sicheres. Nur eine Spur. Aber konkreter als die anderen.«

»Spann mich nicht auf die Folter.«

»Meine Mutter war siebzehn, als sie mich zur Welt gebracht hat. Ich denke, die Idee, mich zur Adoption freizugeben, kam nicht von ihr. Es sieht danach aus, als käme sie aus einer Bauunternehmerfamilie aus Udine.«

»Und was fängst du jetzt damit an?«

»Nichts.«

»Wie nichts?«

»Nichts, erst einmal.«

Valerio blickte sie ungläubig an. Seit Monaten sprach Elettra von nichts anderem als den Gesprächen, die sie mit den verschiedenen Behördenmitarbeitern geführt hatte, um Informationen zu erhalten, auf die Adoptivkinder, die älter als fünfundzwanzig Jahre waren, nach italienischem Recht sowieso ein Anrecht hatten. Es hatte immer danach ausgesehen, als gäbe es nichts Wichtigeres als das, und jetzt, wo sie nur noch einen Schritt davon entfernt war, das Geheimnis zu lüften, schien sie plötzlich jeden Elan verloren zu haben.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, versuchte Elettra ihm zu erklären, was sie empfand.

»Das ist nicht leicht, Valerio. Jahrelang habe ich nichts anderes getan, als über die Person nachzudenken, die mich zur Welt gebracht hat, über ihre Geschichte, ihre Motive. Ich habe sie gehasst, bemitleidet, geliebt und verachtet. Es war eine Besessenheit, die mich immer begleitet hat, die es mir erlaubt hat, mich anders als die anderen zu fühlen, verletzlicher, aber auch irgendwie als etwas Besonderes. Ich kann dir das nicht richtig erklären. Wenn ich jetzt herausfinden würde, wer meine Mutter wirklich ist, müsste ich mein Denken von Grund auf ändern. Ich müsste mich mit einer Frau auseinandersetzen, die wahrscheinlich immer eine Fremde für mich bleiben wird genauso wie ich für sie … Ich müsste sie mit Gewalt in mein Leben zwingen.«

»Also wirst du sie nicht suchen?«

Elettra antwortete nicht gleich. Sie schaute in die Ferne, zum Meer, und trank einen Schluck von dem eiskalten Bier.

»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ja, wahrscheinlich doch, eines Tages. Aber nicht sofort.«

Inhaltsverzeichnis

Cover & Impressum

Zitat

Die Personen

1 – Stelio Kunz schrak …

2 – Heute war ich …

3 – Das ebenholzfarbene Gesicht …

4 – Rhoda Wallace erreichte …

5 – Petra Radek war …

6 – Cristina Radek wartete …

7 – Es war schon …

8 – Ich weiß nicht, …

9 – Rhoda Wallace kam …

10 – Cristina Radek war …

11 – Am Morgen des …

12 – Fabio Radek kam …

13 – »Warum hast du …

14 – Als ich aus …

15 – »Wo ist denn …

16 – Elettra hatte einen …

17 – Das moderne rechteckige …

18 – Ettore Benussi war …

19 – Es war bereits …

20 – Ja, Lea erwartete …

21 – Endlich Abend, endlich …

22 – Avvocato Fabrizio Gargiulo …

23 – Wo war er? …

24 – Violeta war sehr …

25 – Kommissar Benussi klopfte …

26 – Die Monate nach …

27 – Kommissar Benussi hatte …

28 – Stelio Kunz fühlte …

29 – Die Nachricht von …

30 – Es gibt ein …

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