Die tückische Straße - Walter Serner - E-Book
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Die tückische Straße E-Book

Walter Serner

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  • Herausgeber: e-artnow
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Dieses eBook: "Die tückische Straße" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Walter Serner (1889-1942) war ein Essayist, Schriftsteller und Dadaist. Nach seiner Abkehr von der dadaistischen Bewegung wandte sich Serner dem Schreiben von Kriminalgeschichten zu. Sein Roman Die Tigerin erschien 1925 (verfilmt von Karin Howard 1992) und sorgte aufgrund des zwielichtigen Milieus und der sexuell offensiven Sprache für einen kleinen Skandal. Nur ein Gutachten von Alfred Döblin verhinderte, dass das Buch der Zensur zum Opfer fiel. Seine Erzählsammlung Der Pfiff um die Ecke wurde zeitweise beschlagnahmt. Sein nächster Erzählband, Die tückische Straße erschien zuerst als Privatdruck, ebenso sein "Gauner-Stück" Posada oder der große Coup im Hotel Ritz, das am 6. März 1927 zum ersten (und letzten) Mal aufgeführt wurde: im Berliner Theater am Zoo. Inhalt: Das Rendez-vous mit dem Goldzahn Die Clincher Box Las Tortilleras Narziss Die verhängnisvolle Camel Das Loch in der Weste Übersee Wong Fun Psycho-Dancing The mistery of Tottenham Court Road Auf dem Rummelplatz Deiters Putsch Im Hotel Fleißig Diluvialzeit Homingmans schönste Komposition Das Fest in der Via Alfeo Irma Das denkwürdige Gespräch Messalina - eine...

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Walter Serner

Die tückische Straße

19 Krimis: Das Rendez-vous mit dem Goldzahn; Die Clincher Box; Las Tortilleras; Narziss; Die verhängnisvolle Camel; Das Loch in der Weste; Übersee; Wong Fun; Psycho-Dancing; Auf dem Rummelplatz

e-artnow, 2015
ISBN 978-80-268-2973-7

Inhaltsverzeichnis

The mistery of Tottenham Court Road
Las Tortilleras
Das Rendez-vous mit dem Goldzahn
Die Clincher Box
Narziss
Die verhängnisvolle Camel
Das Loch in der Weste
Übersee
Wong Fun
Auf dem Rummelplatz
Im Hotel Fleißig
Diluvialzeit
Homingmans schönste Komposition
Das Fest in der Via Alfeo
Irma
Deiters Putsch
Das denkwürdige Gespräch
Messalina – eine ...
Psycho-Dancing

The mistery of Tottenham Court Road

Inhaltsverzeichnis

Als Jabert in Shearns Hotel auf dem Tottenham Court Road eintrat, war niemand zu sehen. Nachdem er seinen Koffer in das Zimmer getragen hatte, in dem er schon zweimal übernachtet war, ging er in das W.C, in dessen Tür er auf einen jungen Mann in einer Ärmelweste stieß, der von seltener, beinahe unwirklicher Schönheit war, aber einen dermaßen bösen Zug um den Mund hatte, daß er sich wunderte, ihn so offen zur Schau getragen zu sehen.

Obwohl es erst sieben Uhr abends war, ging Jabert sogleich zu Bett. Er hatte in Devonshire den kompliziertesten Kassenschrank seiner Karriere bewältigt und schlief, übernächtigt, augenblicks ein. Als er gegen fünf Uhr morgens erwachte, hörte er ein schleifendes Geräusch auf dem Korridor. Unwillkürlich dachte er an den schönen jungen Mann vom vergangenen Abend. Der Plan, ihm einen Besuch zu machen, war kaum erwogen, als Jabert auch schon entschlossen war, in sein Zimmer einzudringen. Mit dem Erforderlichen versehen, schlich er sich auf den Strümpfen vor das W.C, um die Richtung zu rekonstruieren, in welcher der junge Mann gegangen war. Daselbst befanden sich nur zwei Zimmertüren, deren erste er mit drei Stichen öffnete. Das Zimmer war unbesetzt; das zweite unversperrt, das Bett unberührt. Schon wollte er sich zurückziehen, als das Licht seiner Taschenlampe zufällig das Fenster streifte. Er zuckte zusammen: sah er recht …? Hing da nicht …? Ja, dort am Fenster hing ein Mann, hatte sich einer aufgehenkt.

Jabert drehte das Licht an und den Körper des Toten sich zu, um den abgewandt hängenden Kopf sehen zu können. Er erblickte, was er eigentlich schon gewußt hatte: das Gesicht des schönen jungen Mannes mit dem bösen Zug um die Lippen, den der Tod in einen abschreckend häßlichen verwandelt hatte. Jabert öffnete die Hose des Toten, um festzustellen, ob Selbstmord vorlag. Das untrügliche Zeichen fehlte. Im selben Augenblick vernahm er vom Korridor her dasselbe schleifende Geräusch. Sofort kroch er unters Bett. Einige Sekunden später spürte er einen schwachen Luftzug: die Tür war geöffnet worden. Da entdeckte er neben dem Fenster eine Frau, die, nur mit dem Hemd bekleidet, auf dem Fußboden lag. Und fast gleichzeitig hörte er die Stimme eines Mannes:

»Jo. Die Hauptsache wäre also jetzt besorgt. Wenn sie morgen den Bender da am Fenster hängen sehen und diesen Crack daliegen…«

Jabert sah, wie zwei Finger den Busen der Frau auf dem Fußboden betasteten und sie mit einer rohen Bewegung auf den Rücken rissen. Er war durch sein Leben hart geworden, der Anblick dieser Hände aber ließ ihn dennoch erzittern. Da hörte er jene Stimme wieder:

»… werden sie glauben, daß er nach seinen zwanzig Schnicks das Delirium bekommen hat und wie sie ihn hängen sah, hat sie sich vor Schreck hingelegt. Oder sie werden nach der Rauferei …«

»Aber woher hast du ihn denn überhaupt?« Eine hellere Stimme sprach diese Worte.

»Er hat mir mal einen Gang vershackelt.«

»Du hast ihn doch nicht …«

»Hoho … Schwer wars nur, ihn bis daher zu dreideln. Gebaumelt hat er dann schneller, als’n Hund läuft.«

»Du hast ihn … meinetwegen …?«

»Garn, garn! Ich hätte dich also mit dieser Irishbeauty da auffliegen lassen sollen?«

»Ich weiß schon, daß die vom Gericht nichts glauben. Aber ich …«

»Dear me, ist das ein Doodle! Und wenn du mit Engelszungen geflötet hättest, nach vier Wochen wärst du in die Schlinge gestiegen.«

»Aber die da …? Was ist mit ihr?«

»Diese Foozle? Die hab ich … No, Willy, ich bin nicht da, um dich vor dir zu entschuldigen.«

»Und wo ist denn nur Blossie hin?«

»Up! Zum letzten Mal! Gestern hast du mit den beiden Colts, mit Blossie und mir unten gesoffen. Um zwölf bist du mit ihr losgegangen. Um zwei Uhr war sie wieder unten. Und wie ich um vier bei dir anklopfe, ist Licht und ne tote Frau auf dem Teppich … Hollah, was … Weißt du noch, ob das Licht …«

»Ob das Licht …?«

»Ich hab das Licht abgedreht, wie ich raus bin.«

»Ich erinnere mich. Du hast abgedreht.«

»Gemini! Es hat aber gebrannt, wie wir zurückgekommen sind. Tsss!«

Lautlos zog Jabert seinen Browning, schob sich nach hinten und zwängte sich eben zwischen Bett und Wand hoch, als er die hellere Stimme flüstern hörte, ob jemand da sei. Da wußte er, daß der andere unters Bett gekrochen war und jeden Augenblick seine Füße sehen konnte. Schnell hob er den Kopf: zwei Schritte vor ihm bewegte sich der Rücken eines Mannes. Schnell schlich Jabert sich hervor und hinter den drei Schritte entfernten Fenstervorhang. Nach kurzer Zeit hörte er die tiefere Stimme wieder:

»Da ist was … Ich weiß genau, daß ich das Licht … Jemand war da. Blackfriars! Stell dich vor die Tür!«

Ein Schuß krachte. Jabert duckte sich, übersät von Glassplittern. Dann sprang er seitlich hoch und schoß auf den Mann mit dem noch rauchenden Browning.

Der Mann sank mit einem kleinen Glucksen um.

Jabert aber blickte starr zur Tür: dort stand der schöne junge Mann, der mit weit aufgerissenen Augen wie zur Abwehr ihm die Handflächen entgegenhielt. Als Jabert sah, daß er auf dem Boden Liegende tot war, ging er auf den Mann vor der Tür zu. »Wer bist du?«

»Wer bist du?«

Jabert wies mit seinem Browning auf einen Stuhl neben dem Tisch. Als er ebenfalls saß, legte er die Hand mit der Waffe aufs Knie. »Erklär mir rasch die Situation! Wer ist das?« Er zuckte mit dem Kopf nach dem Gehenkten und wunderte sich, nur eine ganz schwache Ähnlichkeit mit seinem Gegenüber bemerken zu können.

»Weiß ich nicht.«

»Und die da?«

»Weiß ich auch nicht.«

Sekundenlang betrachtete Jabert das schöne Gesicht vor sich, dessen böser Zug sich zu verschärfen schien. Seine Zunge strich dünn über die Lippen: »Noch einmal, erklär mir!«

»Well. Also gestern haben wir zusammen gesoffen. Das hast du wohl noch gehört.«

»Du gingst dann mit einer gewissen Blossie …« Ein bedauerndes Lächeln kräuselte Jaberts feinen Mund.

»Um vier Uhr wachte ich auf. Daß ich überhaupt mit ihr allein dort drüben in einem Zimmer war, das kam, weil ich alkoholisiert war. Immerhin, so plötzlich allein mit einem fremden Weib … Der ärgerliche Geruch von Teer und altem Obst … Riechst du ihn nicht auch? Nun, da hatte ich schon eine matte Ahnung, daß das alles nicht geheuer war. Aber die Person ließ mich ja nicht ne Sekunde denken, fiel sofort mit allen Ups and Downs über mich her. Scheußlich!«

Jabert schmunzelte zufrieden. »Um vier bist du also aufgewacht. Schneller, schneller!«

»Well. Debast stand im Zimmer. Das ist der, den du niedergeknackt hast. Hats verdient, der Fiddler. Und dann sah ich also diese Tote da.«

Jabert neigte neugierig den Kopf zur Seite. »Wirklich eine Irishbeauty! Und dann hast du sie mit ihm hierher geschleppt.«

»Das weißt du? Well. Also Debast fragte bestürzt, was denn los sei … Ich stotterte, es sei nicht Blossie. Das sei eine verteufelt dumme Geschichte, jammerte er. Aber sag mal … die Schüsse! Sie werden kommen.«

Jaberts Lider flatterten verneinend. »Nach zwölf hören die Beaksmen so was nicht gern. Und die im Hotel auch nicht. Weiter, weiter!«

»Also ich fragte ihn nicht nach Blossie, nicht, wie diese Frau in mein Zimmer gekommen und wie sie … auf dem Teppich … tot, im Hemd … Ich wußte schon, daß das ganz zwecklos gewesen wäre. Er versprach dann, mir diese Schweinerei zu flicken, wenn ich ihm auf Knock springen würde. Dann ließ er sich mein Leben beichten. Das Lügen fiel mir nicht schwer, weil er fortwährend fragte. Selbst ein so gerissener Fiddler, wenn man ihm nur sagt, was er hören will, ist leichter anzulügen als das leichtgläubigste Frauenzimmer.«

»Jo, jo.« Jabert bohrte seine Zunge in die Wange. »Er hat dich leimen wollen. Die Leiche hat er zu dir hineingelegt. Und den hier hat er sich heraufgeholt, um das Ganze auf Hobble zu machen, auf Suicide. Da habe ich dich also gewissermaßen abgeweicht.« Da der andere nickte, zwinkerte er: »Ohne mich wärst du ihm nicht mehr ausgekommen. Was machst du sonst?«

»Ich bin in Roß‘s Restaurant angestellt.«

»Tottenham Court Road 62. Das Essen ist gut.«

»Wie überall, wo Kokotten verkehren.«

»Warst du schon mal away?«

»Nicht nen Tag.«

»Wie heißt du?«

»Willy Cuttler. Aber wärs nicht gescheiter …«

»Hat Zeit. Wie ich sehe, bist du ein Mary-Ann. Gibs nur zu!«

Cuttler, der bis dahin, völlig unbeweglich, unausgesetzt dieselbe Stelle des Tisches fixiert hatte, blickte rasch auf. »Du bist wohl einer?«

Jaberts Zunge wackelte an der Unterlippe. »Da kannst du dich also bedanken,«

»Ich bin zwar kein Mary-Ann, aber ich möchte schon endlich weg aus dieser toten Gesellschaft.« Cuttler stand auf und riß sich die Ärmelweste herunter. »Auf Knock läßt einen eben jeder springen.«

Jabert wartete, bis er im Bett war. Als er sich zu ihm legte, schob er seinen Browning griffbereit auf das Nachttischchen …

Nach einer Stunde saßen beide wieder am Tisch; Cuttler mit trüben Augen, Jabert griesgrämig.

»Hundertfünfzig Schilling geb ich monatlich meiner Braut.«

Cuttler stand auf, den Kopf schüttelnd. »Laß mich schon fort jetzt!«

»No«, knurrte Jabert. »Sag lieber ja!« Er hob die Hand mit dem Browning ein wenig.

Cuttler setzte sich und blieb unbeweglich und in derselben Haltung wie anfangs.

Durch die Ereignisse der Nacht, seine Macht und den seltsamen Rausch, den er genossen hatte, war Jabert härter und unbeugsamer geworden, als er noch vor wenigen Stunden für möglich gehalten hätte. »Willy, leg die Foozle aufs Bett!«

Cuttlers Augen schlossen sich kurz. Dann tat er es überaus schnell. Dabei entblößte er auf der linken Hüfte der Toten eine tellergroße grünblau schillernde Verletzung. Das rechte Auge trug ein schon ins Schwärzliche spielendes Veilchen, über dem, ein satanischer Kontrast, eine zusammengeklebte weiße Haarsträhne hing, die einzige in dem noch dunklen Haar.

Cuttler setzte sich aufs Bett, mit den Fingern der Toten spielend, um seinem Peiniger den Rücken zukehren zu können.

»Zehn Meter gegen den Wind spürt man, daß die ‘n paar Tage alt ist. Schade. Beine, Beine!«

»Alles ist wert, daß es zugrunde geht«, brummte Cuttler schläfrig.

»Du auch. Soll ich dich umknacken?«

Cuttler riß es herum. Sein Gesicht wurde fahl. »Debast war ‘n Schurke. Aber wenigstens weg in mich.«

»Gleichsam strafmildernd ist das also für dich.« Jabert grinste, zischend: »Erklär mir das!«

Cuttler blickte auf den Arm der Toten, der aus dem Bett hing und mit den Fingern den Boden berührte. »Ein schöner Mensch bringt die andern außer Rand und Band, wirkt überhaupt antisozial. Da merken sie, daß sie nichts sind als ne miese stiere Hammelherde, die bei jeder Gelegenheit bluten muß. Und deshalb haben sie gar nicht den Mut, weg zu sein. Dafür rächen sie sich.« Er legte den Arm der Toten behutsam aufs Bett. »Hat einer aber den Mut, dann macht er jede Schweinerei, um einen zu kriegen. Was du mit mir gemacht hast, hätte er jeden Tag machen können. Aber er hat mich auf seine Weise erobern wollen.

Jabert schwenkte vergnügt den Browning.

»Great Scott, Willy, du bist ja ‘n Idealist.«

Cuttlers Augen wurden rot, der böse Zug um seinen Mund abschreckend häßlich.

Jabert verglich ihn mit dem des Gehenkten. »Der böse Zug des Todes. Wenn man acht gibt, kann man ihn bei jedem schönen Menschen sehen. Komisch ist das.«

»Gar nicht komisch ist das«, rief Cuttler laut. »Je schöner einer ist, desto früher verliert sich alles in ihm. Weil er am schnellsten und gründlichsten merkt, was für eine Bubble die ganze Welt ist.«

»Ich sags ja, du bist ‘n Idealist«, höhnte Jabert. »Nimm lieber die hundertfünfzig!«

»… weils die schickste Form ist, zugrunde zu gehen.« Cuttler, der in Gedanken gewesen war, hatte laut vollendet.

Jabert wußte nicht, warum es ihn wütend machte. »Und wenn ich dich jetzt umknacke, just nachdem, gehst du dann vielleicht nicht schick zugrunde?« Dessen Schweigen machte ihn nur noch wütender. »Deck sie auf! Also?« Er näherte ihm die Waffe.

Cuttler gehorchte, die Beine krümmend, mit haßerfüllt zuckenden Augen.

Doch gerade, als Jabert ihm etwas ganz Unglaubliches befehlen wollte, flog mit einem Krach die Tür auf: die beiden Colts, stämmig und untersetzt, traten ins Zimmer, Revolver in den Händen. Als sie Debast auf dem Boden erblickten, schossen beide. Cuttler fiel lautlos über die Tote auf das Bett. Da krachten hintereinander zwei Schüsse. Die beiden Colts taumelten, heulten auf und ringelten sich wimmernd aneinander nieder. Sobald sie sich nicht mehr bewegten, streichelte Jabert seinen Browning. Noch nie hat er so gut geschossen wie diese Nacht. Und zweimal war er verfehlt worden. Doch sofort befiel ihn der Aberglaube seiner Zunft, der fordert, daß, wer dem Tod entging, den des andern respektieren müsse. Deshalb berührte er weder Debast noch den, der auf ihn geschossen hatte. Bei Cuttler fand er acht Schilling, bei dem anderen Colt drei Pfund. Als er wenige Minuten später die Treppe hinunter eilte, war die Portierloge leer, die Haustür offen und nirgends jemand zu sehen …

Der fünffache Mord in Shearns Hotel ging monatelang unter dem Titel ›The mistery of Tottenham Court Road‹ durch die englischen Zeitungen. Die Polizei stand zwar nur teilweise vor einem Rätsel, da Debast und die beiden Colts ihr als Schwerverbrecher und Homosexuelle bekannt waren, aber den wahren Hergang vermochte sie nicht zu rekonstruieren. Um so weniger als Shearns Anhang und seine Angestellten jene Nacht in der nur wenige Häuser entfernten Horse Shoe Bar zugebracht hatten, um irgendeinen Geburtstag zu feiern. Die Annahme, daß dies im Einverständnis mit Debast geschehen war, drängte sich fast von selber auf, war aber nicht zu begründen. ›The mistery of Tottenham Court Road‹ blieb unaufgeklärt. Auch als Jabert vier Monate später verhaftet wurde.

Jene Nacht war ihm doch zum Unglück geworden. Die Macht und der Rausch, den er genossen hatte, hatten ihn unvorsichtig gemacht, ja verwegen. Bei einem simplen Wohnungsdiebstahl wurde er überrascht. Da man ihm noch drei schwere Einbrüche nachweisen konnte, erhielt er sechs Jahre Coop.

Las Tortilleras

Inhaltsverzeichnis

Ljungdahl umwickelte seine blutende Hand mit dem Spitzentaschentuch, das Ramona ihm auf den Tisch geworfen hatte, bevor sie Cristina gefolgt war. Als er die Zipfel verknüpfte, kam Ramona wieder an den Tisch. Sie schlug, etwa fünfzehnmal und überaus schnell, die Zähne auf einander: »Sie sind nicht mein Typ. Außerdem habe ich mich schon mehr verteilt, als mir zuträglich ist. Aber Cristina gefallen Sie doch so sehr. Kann man es deutlicher beweisen?« Sie schnellte den kleinen Finger vorsichtig auf seine verbundene Hand. »Übrigens ist sie schöner als ich.«

Ljungdahl hob ablehnend die Hand, die sofort schmerzte. »Ihr Hut, Ramona, paßt nicht zu Ihrer Stimme.«

Ramona setzte kurz ihre perlweißen Zähne auf die Unterlippe. »Es freut mich, daß Sie sich bekehren.«

»Fast alle Frauen bekommen ohne Hut einen blöden Ausdruck. Sie würden gewinnen.« Ljungdahl umkrallte mit der unverletzten Linken ihren Schenkel oberhalb des Knies.

Ramona zischte: »Wiederholen Sie diesen Griff nicht!«

Ljungdahl rieb seine brennenden Finger, die ein heftiger Fächerschlag getroffen hatte. »Ich glaube Ihnen die kalte Schulter nicht. Sie verbergen mir etwas.«

Ramona spie sich achselzuckend auf den Unterarm, schmierte eine trockene gelbe Creme darauf, rieb sie mit dem Zeigefinger zu Brei und mit einer geschickten Wendung auf Kinn, Nasenspitze und Stirn, wodurch sie Lichter erzielte, welche ihr ganzes Gesicht gleichsam nach innen zu verkürzten und jenen scharfen Ausdruck, in den Ljungdahl wie vernarrt war, noch verstärkten.

»Ist Cristina überhaupt Spanierin?«

»Sobald Sie wollen, führe ich Sie zu ihr.« Ramona überpuderte ihre Arbeit mit staunenerregender Geschwindigkeit.

Ljungdahl stupste ihr den Mittelfinger auf den Oberarm. »Cristina ist ja vielleicht schöner. Aber im Ernstfall zählt das Detail mehr. Ich liebe ihr grausames Gesicht.«

»Gerede!« Ramona parfümierte sich den berührten Oberarm.

»Jede Gier ist unbegreiflich.« Ljungdahl mußte miteins lachen, da er Ramonas Geste verstand. Dabei lockerte sich das Taschentuch, so daß das Blut wieder zu fließen begann.

Ramona schob ihm das Taschentuch von der Hand, zerriß es zwischen den Zähnen und verband die Wunde. »Cristina hatte schon wilde Jahre gehabt, bevor sie nach Cordoba kam. Sie heißt allerdings Ferretti. Ihre Mutter war Italienerin. Aber ihr Vater Spanier. Torero.« Sie neigte den Mund über seine Hand, um die Zipfel des Taschentuches, deren einen sie zwischen die Zähne klemmte, fest zuziehen zu können. »Sie ist ein uneheliches Kind. Noch heute trägt sie um den Hals ein kleines Medaillon mit der Miniature ihres Vaters. Damit hat es eine eigene Bewandtnis. Wollen Sie nicht danach fragen?« Sie stieß, da er nicht antwortete, seine eben noch mit größter Behutsamkeit behandelte Hand brutal von sich, pfiff aber sofort, als bereue sie es. »Es war ein Wunder, daß niemand sah, wie sie Sie gestochen hat. Und es kam doch sofort Blut. Das ist ihr erster Gunstbeweis. Und ich kann Ihnen versichern, daß Sie ihr imponiert haben, als Sie das Glas auf den Tisch schlugen und dem Kellner ruhig sagten, Sie hätten sich geschnitten.«

Ljungdahls Zunge leckte flau: es war Ramona nun doch gelungen, seine Begehrlichkeit abzulenken und seiner Eitelkeit zu schmeicheln.

Ramona speichelte, als hatte sie es ihm vom Gesicht gelesen, sich den Zeigefinger ein und strich mit ihm über seine Lippen. »Wie kann man ein Weib wie Cristina auslassen? Andere müssen schwer zahlen.«

Ljungdahl schnappte nach ihrem Finger.

Aber Ramona, mit dem Blick bei der Sache, war schneller. »Sie wollen also? Sie wollen, nicht wahr? Sie wollen!«

›Als würde sie dafür bezahlt‹ dachte Ljungdahl, aber er hütete sich, es auszusprechen; und er hörte sogar auf, es anzunehmen, als er die herrische Geste sah, mit der sie ihren Busen arrangierte. »Der Stolz ist hier fast ein Laster.«

Ramona nahm es als Zustimmung. Ihr pralles Posterieur zog sich ein. Plötzlich stand sie steil und mit hochgezogenen Schultern. Ihre Unterlippe rollte ein bißchen.

Sie verließen die Terrasse des Circulo Mercantil und gingen den Paseo Gran Capitan hinunter. Vor ihnen flammten die Bogenlampen auf, eine nach der andern. An der Ecke der Calle de Burgos begann Ramona vorauszugehen und eigentümlich die Arme zu bewegen. Flüchtig war es Ljungdahl, als gebe sie damit irgendein Zeichen. Da der schweigsam zurückgelegte Weg ihn zudem ernüchtert hatte, entschloß er sich, so rasch wie möglich sich zurückzuziehen. Es sofort zu tun, wagte er nicht, die spanische Empfindlichkeit kennend.

Ramona trat nach wenigen Schritten in ein Haus und durch eine niedrige eiserne Gittertür in einen atriumähnlichen, mit einigen halb zerbrochenen Petunientöpfen kärglich geschmückten Vorraum, in dessen einer Ecke hinter gelblichem Milchglas ein Talglicht brannte. Es roch nach Weihrauch und Urin.

Zum ersten Mal lächelnd, ergriff Ramona Ljungdahls Hand und zog ihn schnell durch eine Seitentür in einen schmalen Gang, wo sie viermal an eine Tür pochte, durch deren Ritzen Licht drang. Ein Riegel wurde zurückgestoßen. Im Rahmen der Tür erschien Cristina in einem zu langen und fast grotesk geschnittenen Hemd, Über das ihr aufgelöstes langes schwarzes Haar hinabwallte. Sie preßte sogleich ihren Körper an den Ljungdahls und machte eine rasche Drehung, so daß dieser ins Zimmer zu stehen kam.

Ramona schloß von draußen die Tür.

Ljungdahl hatte ihr Gesicht noch gesehen: sie hatte immer noch gelächelt. ›Sie hat vielleicht gar nicht aufgehört, zu lächeln‹, ging es ihm kurz durch den Kopf.

Cristina warf ein bereits sehr schadhaftes Seidentuch sich übers Hemd, schlüpfte in einen kurzen Unterrock von rotem Flanell, den sie über das Tuch band, und stieß die nackten Füße in dunkelgrüne Pantöffelchen. »Schau mich an!«

Ljungdahl tat es ohnedies. Aber er sah nicht viel, da sie vor dem Licht stand; nur, daß sie den rechten Fuß hob, mit dem sie seine verbundene Hand beinahe berührte.

»Das war meine Visitkarte.«

Ljungdahl lächelte wirr. Und während er einen auf dem Kachelsims liegenden eigenartigen Gegenstand zu erkennen sich bemühte, wurde sein Kopf nach hinten gestoßen. Erst Sekunden später wußte er, daß sie ihn geküßt hatte und in die Oberlippe gebissen. Er schmeckte Blut.

Christina hing sich an seinen Hals, ihm etwas vor die Augen haltend. Immer wieder. Und immer näher. Er nahm es ihr schließlich aus der Hand und senkte es, so weit die Halskette, an der es hing, es zuließ: es war eine Miniature, darstellend einen Espada, dem ein Stier in der Arena den Bauch aufschlitzt. »Ist das alles?«

»Du bist enttäuscht?« Cristina riß ihm mit einem ärgerlichen Ruck des Halses das Medaillon aus der Hand und wirbelte sich auf einem Absatz zur Seite. Dann setzte sie sich, schlug ein Bein über, zündete sich eine kleine Zigarre an und sang zwischendurch leise die Canzonetta von Filipucci. Ljungdahl, der längst vergessen hatte, daß er sich hatte zurückziehen wollen, sah mit einem Mal, daß sie in der Rechten eine Reitpeitsche hielt, mit deren dünner Lederschleife sie einem großen schwarzen Kater den Kopf kraulte. Vergeblich versuchte er, den Geruch, der von ihr ausging, zu präzisieren.

»Weißt du, was die Amore ist?« Cristina machte einige pfitschende Lufthiebe.

»Ein Wort, das so gut wie kein anderes jede Gier erleichtert.«

Cristina stemmte eine Hand gegen den Bettpfosten, der knackte. »Weil du es nicht weißt. Weil du ein Turnó bist.«

Ljungdahl fühlte sich beengt: da er nicht annehmen konnte, eine Neo-Sentimentale vor sich zu haben, vermutete er, nicht verstanden worden zu sein. Mit einem Blick auf ihren Leib, der in feinen Spiralen sich bewegte, zog er es vor, zu lächeln.

Während Cristinas schlanke Linke die Hüften entlang strich, knallte ihre Rechte die Schleife der Reitpeitsche vor der Schnauze des Katers auf die Kacheln. »Ich werde dir erzählen, wie es bei mir war.« Sie holte aus und traf den Kater mit solcher Wucht auf die Nase, daß er mit fauchendem Gurgeln auf sie zuschoß. Aber noch bevor er sie erreicht hatte, trafen ihn drei, vier, fünf Hiebe, so daß er sich winselnd verkroch. »Es hat sehr frühzeitig angefangen. Vida. Interessiert es dich überhaupt? Du stehst ja da wie ein Regenwurm.« Sie wies mit der Reitpeitsche auf einen Baststuhl mit außerordentlich niedrigem Sitz. »Wenn du nicht willst, darfst du auch die Wand verdrecken.« Sie ließ mit einem rapiden Lachen die Zigarre über die Finger laufen, so daß die Schatten an der Mauer tanzten. »Vida. Meine Mutter nahm mich schon mit sechs Jahren in die Arena.« Und nun begann sie mit auffälliger Geläufigkeit und fast geschmackloser Häufung blutrünstiger Details das Erlebnis ihrer ersten Corrida zu schildern, die einem Amateur-Matador das Leben gekostet hatte und in der Folge ihr die Unschuld. Da der Stier, bevor er die tödliche Cogida gerannt hatte, drei Espadas außer Gefecht gesetzt hatte, wäre die Aufregung des Publikums so gestiegen, daß es, als die Fortsetzung der Corrida untersagt wurde, zu einer blutigen Schlägerei gekommen wäre. Dies alles hätte sie so erregt, daß sie nicht einschlafen konnte, ihre Mutter, die im selben Zimmer schlief, mit ihrem Liebhaber im Bett beobachtet hätte und durch diesen Anblick zum ersten Mal in jenen Zustand geraten wäre, der schließlich in die Arme eines Mannes führt. An dieser Stelle schwieg sie, um Atem zu holen, und bog, aufs Äußerste von ihren Worten erregt, die Reitpeitsche zwischen den Händen. Ihre Zähne zerrieben die Zigarre.

Ljungdahl, den es zwang, an das Erzählte zu denken, ärgerte sich unklar ein wenig. Er wollte sich zurechtfinden, ihre Absicht erkennen. Aber alles war wie von dieser Frau verlegt, von ihrem herben Geruch, ihrer harten Stimme, ihrer aufregenden Erregung.

Cristina warf die Zigarre an die Zimmerdecke und traf sie noch in der Luft mit der Reitpeitsche, von der sie knallend auf einen Spiegel flog. »Jeden Sonntag ging ich nun mit meiner Mutter zu den Corridas. Denn ich plärrte so, daß sie mich mitnehmen mußte. Die Plätze kosteten sie nichts, da sie mit allen Banderilleros und Espadas, die damals in Madrid berühmt waren, geschlafen hat. Mein Vater war Valencia II. Ein großer Espada. Der vielleicht einer der größten geworden wäre, wenn ihm nicht mit vierundzwanzig Jahren in Sevilla ein Stier …«Sie schwang das Medaillon kurz vor sich her. »Meine Mutter hat es ihr ganzes Leben lang bedauert, daß sie damals nicht nach Sevilla gefahren war. Aber sie war im siebenten Monat schwanger mit mir und fühlte sich schlecht. Das Medaillon habe ich von ihr geerbt. Sie hat es sich eigens von Aguero machen lassen, der den Tod meines Vaters mitangesehen hatte. Ich trage es immer. Ebenso wie meine Mutter.« Sie küßte es langsam, schwang es mit einer jähen Bewegung auf den Rücken und sprang vor Ljungdahl hin, ihm die Hand auf den Magen pressend. »Siehst du, Catelo, so hat es bei mir angefangen. Mit zwölf Jahren war es dann. Ein Mono. Die sind schlimmer als die Ärgsten. Ich trieb es mit ihm auf dem Abbattoir zwischen den toten Stieren. Unter Fleischgestank und Blutdunst. Einmal lagen wir halb auf dem Bauch eines Stieres, der noch zuckte. Ein anderes Mal brach einem, neben dem wir lagen, plötzlich noch ein Blutstrahl aus dem Maul und floß uns über die Beine. Und wieder einmal, da …«

Ljungdahl wußte nicht, ob er nicht mehr zuhören oder bloß das heiser Keuchende ihrer Stimme nicht mehr ertragen konnte oder ob es seine nicht mehr niederzuzwingende Gier war: er warf sich auf Cristina und seine Lippen auf die ihren. Doch er berührte sie nicht: Cristina hatte ihn durch einen Fauststoß an die Wand geworfen. Gleichzeitig sauste ein Peitschenhieb durch die Luft und ihm brennend über Stirn und Wange.

Cristina stand mit gespreizten Beinen vor ihm. Die Zunge hing ihr aus dem Mund. Mit einem bestialischen Schrei holte sie bis über die Schulter aus. Und nun klatschte Hieb auf Hieb nieder.

Ljungdahl war dermaßen überrumpelt, daß er weder den Schmerz voll spürte, noch sich zu wehren wußte. Als jedoch die Hiebe immer schneller und fester fielen, löste er sich knirschend von der Mauer und hob die Fäuste. Aber Cristina bückte sich, nach etwas greifend. Und schon traf ihn ein vierfacher Knutenhieb, quer über Brust und Arme. Er brüllte auf. Ein zweiter Knutenhieb schnitt auf seinem Rücken. Krächzend stürzte er vor. Sie entwich ihm geschmeidig und versetzte ihm einen furchtbaren Hieb auf den Hintern. Er bäumte sich. Seine Stimme pfiff vor Schmerz. Aber die Hiebe prasselten unbarmherzig auf ihn nieder. Wieder schmeckte er Blut. Es rann aus der Nase, auf den Wangen, an den Ohren, die Brust hinunter. Überall brannte es ihn schier unerträglich und wurde immer unerträglicher. Er fiel in die Knie. Es war wie ein Feuerregen um ihn, naß und leuchtend. Schließlich schwand ihm das Bewußtsein …

Als er zu sich kam, hörte er das Geräusch von plätscherndem Wasser, das Gehen nackter Füße. Obwohl jede Bewegung ihn schmerzte, stand er stöhnend auf. Schräg hinter ihm flackerte in einem offenen Zimmer eine kleine Kerze. Gegenüber sah er eine Tür. Gedankenlos rüttelte er an ihr. Verschlossen. Da hörte er schwaches Ächzen. Dann einen kleinen Schrei. Er näherte sein Auge einer Ritze und erblickte auf einem Bett Ramona und Cristina in wollüstiger Verschlingung. Eine Weile sah er ihnen zu. Dann wischte er mit einem Strumpf das Blut sich vom Gesicht. Dabei fühlte er, wie übel er zugerichtet war, und trat vor einen matten Wandspiegel. Bei seinem Anblick fluchte er laut auf. Als er gehen wollte, hörte er Ramona lachen. Wütend trat er ins Zimmer zurück, zerschnitt vier Röcke und zwei Seidenkleider und spuckte unzählige Male in einen gefüllten Weinkrug …