Die unfassbare Vielfalt des Seins - James Bridle - E-Book

Die unfassbare Vielfalt des Seins E-Book

James Bridle

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Beschreibung

Intelligent ist nicht nur das, was Menschen und manche Maschinen tun. Vielmehr sollten wir die beeindruckende, schier unfassbare Vielfalt von intelligenten Existenzformen auf unserem Planeten neu entdecken. Von Mimosen über Gibbons bis zu Krabbencomputern und Satelliten: James Bridle erzählt in seinem Buch eine radikal neue Geschichte über Ökologie, Technik und unsere geteilte Welt. Durch eine Überbewertung unserer eigenen menschlichen Intelligenz haben wir uns von anderen Existenzweisen derart abgekoppelt, dass wir in die akute Misere der zunehmenden Zerstörung unseres Planeten geraten sind. Schuld daran sind unsere gängigen Vorstellungen von Intelligenz und Technologie: Die fortschrittlichsten Maschinen und ambitioniertesten Unternehmungen sind sowohl vom Egoismus unserer Spezies als auch von einer auf Profit und Extraktion ausgerichteten Denkweise tief geprägt. Um unsere Beziehung zum Rest des Planeten wieder sinnvoll zu gestalten, führt uns James Bridle auf eine grundlegend andere Ebene des Denkens und Erfahrens – eine Ebene, auf der wir überhaupt erst wieder in die Lage kommen, uns mit der überwältigenden Vielfalt von intelligenten Wesen um uns herum vertraut zu machen. Was können wir von ihnen lernen, und wie können wir unsere Gesellschaften verändern, um mit ihnen in eine florierende Gemeinschaft zu treten?

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James Bridle

Die unfassbare Vielfalt des Seins

Jenseits menschlicher Intelligenz

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn

C.H.Beck

Über das Buch

Intelligent ist nicht nur das, was Menschen und manche Maschinen tun. Wir sollten vielmehr die beeindruckende, schier unfassbare Vielfalt von intelligenten Existenzformen auf unserem Planeten neu entdecken. Durch eine Überbewertung unserer eigenen menschlichen Intelligenz haben wir uns von anderen Wesen und Seinsweisen aber derart abgekoppelt, dass wir in die akute Misere der zunehmenden Zerstörung unseres Planeten geraten sind. Schuld daran sind unsere gängigen Vorstellungen von Intelligenz und Technologie: Die fortschrittlichsten Maschinen und ambitioniertesten Unternehmungen sind sowohl vom Egoismus unserer Spezies als auch von einer auf Profit und Extraktion ausgerichteten Denkweise tief geprägt. Um unsere Beziehung zum Rest des Planeten wieder sinnvoll zu gestalten, führt uns James Bridle auf eine grundlegend andere Ebene des Denkens und Erfahrens – eine Ebene, auf der wir überhaupt erst wieder in die Lage kommen, uns mit der überwältigenden Vielfalt von intelligenten Wesen um uns herum vertraut zu machen. Was können wir von ihnen lernen, und wie können wir unsere Gesellschaften verändern, um mit ihnen in eine florierende Gemeinschaft zu treten? Von Mimosen über Gibbons bis zu Krabbencomputern und Satelliten: James Bridle erzählt in seinem Buch eine radikal neue Geschichte über Ökologie, Technik und unsere geteilte Welt.

Über den Autor

James Bridle ist Autor, Künstler und einer der interessantesten Vordenker unserer technologischen Zukunft. Er hat Informatik und Kognitionswissenschaften am University College London studiert und über kreative Anwendungen künstlicher Intelligenz promoviert. Seine Texte über Literatur, Kultur und Netzwerke wurden in Magazinen und Zeitungen wie Wired, The Atlantic, The New Statesman, The Guardian und der Financial Times veröffentlicht. Bridles künstlerische Arbeiten wurden weltweit sowie im Internet ausgestellt. 2020 erschien bei C.H.Beck sein erfolgreiches erstes Buch New Dark Age

Inhalt

EINLEITUNG: Mehr als menschlich

1: Anders denken

2: Wood Wide Webs

3: Das Dickicht des Lebens

4: Sehen wie ein Planet

5: Mit Fremden reden

6: Nicht-binäre Maschinen

7: Zufällig werden

8: Solidarität

9: Das Internet der Tiere

SCHLUSS: Auf der Metallfarm

Anhang

Dank

Anmerkungen

Einleitung: Mehr als menschlich

1 Anders denken

2 Wood Wide Webs

3 Das Dickicht des Lebens

4 Sehen wie ein Planet

5 Mit Fremden reden

6 Nicht-binäre Maschinen

7 Zufällig werden

8 Solidarität

9 Das Internet der Tiere

Schluss: Auf der Metallfarm

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Register

Für Navine und Zephyr

σχολὴ μὲν δή, ὡς ἔοικε: καὶ ἅμα μοι δοκοῦσιν ὡς ἐν τῷ πνίγει ὑπὲρ κεφαλῆς ἡμῶν οἱ τέττιγες ᾁδοντες καὶ

Muße haben wir ja wie es scheint. Auch dünken mich die Zikaden, wie sie in der Hitze pflegen, über unsern Häuptern singend und sich unter einander besprechend, herabzuschauen.

Platon, Phaidros, 258e Übersetzung von Friedrich Schleiermacher

Enough about Human Rights!

What about Whale Rights?

What about Snail Rights?

What about Seal Rights?

What about Eel Rights?

What about Coon Rights?

What about Loon Rights?

What about Wolf Rights?

What about, what about,

What about, what about Bug Rights?

What about Slug Rights?

What about Bass Rights?

What about Ass Rights?

What about Worm Rights?

What about Germ Rights?

What about Plant Rights?

– Moondog

«Enough about Human Rights», von dem Album H’art Songs von Moondog, 1978

EINLEITUNG

Mehr als menschlich

Die Spätsommersonne liegt auf den Berghängen und über dem stillen Wasser des Sees. Die Luft ist warm, der Himmel von einem tiefen, allmächtigen Blau. Im dichten Unterholz singen die Zikaden, und irgendwo in der Ferne ist das Bimmeln von Ziegenglocken zu hören. Im Schilf wurde ein kleines Feuer entfacht, Bierdosen werden aufgerissen. Jemand holt eine Klarinette hervor und beginnt zwischen den Bäumen, die das Wasser säumen, umherzugehen und zu spielen. Es ist eine Szene von zeitloser Ruhe, und doch spielt sich hier einer der größten Konflikte unserer Zeit ab – zwischen menschlichem Handeln und der Intelligenz von Maschinen, zwischen der Illusion von menschlicher Überlegenheit und dem Überleben des Planeten.

Ich befinde mich in Epirus, ganz im Nordwesten Griechenlands, am Rande des Pindus-Gebirges und unmittelbar an der Grenze zu Albanien: eine Region, die für ihre Schönheit und ihre Widerstandsfähigkeit bekannt ist. Hier kämpfte im Winter 1940 eine zahlenmäßig unterlegene, schlecht ausgerüstete, aber entschlossene griechische Truppe unter schwierigsten Bedingungen und schaffte es, eine italienische Invasionsarmee aufzuhalten und zurückzudrängen. Der 28. Oktober, der Tag, an dem der damalige griechische Ministerpräsident Ioannis Metaxas das Ultimatum Mussolinis für eine Kapitulation ablehnte, wird heute als Ochi-Tag gefeiert – auf Griechisch Οχι, der Tag des Nein.

Epirus ist eine atemberaubende Landschaft mit zerklüfteten Bergen und tiefen Schluchten, gespickt mit Steindörfern und Klöstern, wo neben den Menschen auch Bären, Wölfe, Füchse, Schakale, Steinadler und einige der ältesten Bäume und Wälder Europas leben. Der Fluss Aoos fließt vom Pindus hinunter in den Vikos-Nationalpark, und das Ionische Meer glitzert an der felsigen Küste. Es ist so etwas wie ein Paradies, eine der schönsten und unberührtesten Gegenden, die ich je gesehen habe. Aber heute ist sie erneut bedroht.

Ich bin Autor und Künstler und beschäftige mich seit vielen Jahren mit der Beziehung zwischen Technologie und Alltagsleben: inwiefern die Dinge, die wir herstellen – insbesondere so komplexe Dinge wie Computer –, die Gesellschaft, die Politik und zunehmend auch die Umwelt beeinflussen. In den letzten Jahren habe ich zudem in Griechenland gelebt und bin jetzt nach Epirus gekommen, um ein paar Freunde zu besuchen: eine Gruppe von Einheimischen und aus Athen Zugezogenen – Hirten, Dichter, Bäcker und Hoteliers. Sie alle sind Aktivisten im Kampf zur Rettung von Epirus vor einer neuen und schrecklichen Gefahr, die den Boden, auf dem wir uns bewegen, zu erschüttern und zu vergiften droht. Auf den Aufklebern ihrer Kampagne, die man auf den Anschlagtafeln der Dörfer, den Straßenschildern und den Laptop-Taschen findet, steht nur ein einziges Wort: Οχι. Nein.

Bei einem Spaziergang durch die Wälder rund um den See stoße ich auf dünne Holzpflöcke, die in den Boden gerammt wurden, und auf Plastikstreifen, die an Äste und Baumstämme gebunden sind. Die Pflöcke sind mit dickem Filzstift beschriftet: eine Reihe von Buchstaben und Zahlen, die mir nichts sagen. Ich folge dem Weg der Pflöcke, die sich in gezackten Linien durch den Wald ziehen. Als ich aus dem Unterholz herauskomme und auf einen frisch angelegten Schotterweg stoße, sehe ich, dass sie sich über eine Wiese und weiter in den dahinter liegenden Wald erstrecken. Und sie verzweigen sich: Weitere Plastikbänder, die an Bäumen und Ästen hängen, markieren rechte Winkel in einem riesigen Gitter, das der Landschaft, wie ich später feststelle, von oben auferlegt wurde. In den nächsten Tagen folge ich diesen Linien über Felder und Weinberge, durch Gärten und Dörfer, markiert durch weitere Bänder, die an Zäunen und Stacheldraht, an Toren und Straßenschildern befestigt sind. Sie erstrecken sich über Hunderte, vielleicht Tausende von Kilometern, wie ein Koordinatensystem, das von einer fernen, fremden Intelligenz vorgegeben wurde.

Gelegentlich gibt es Anzeichen für Aktivitäten, die mit dem Raster in Zusammenhang stehen: eine neue Straße, die mit Bulldozern durch die Felder gezogen wurde; Abraumhalden; Reifenspuren; tiefe Löcher, die von Geröll umgeben sind. Die Einheimischen erzählen mir von nicht gekennzeichneten Transportern, Hubschraubern und Arbeitstrupps in Warnwesten, die auftauchen und wieder verschwinden, deren Kommen und Gehen von lauten Explosionen begleitet wird, die die Fenster klirren lassen und die Vögel aus den Bäumen schütteln. Auf Facebook teilen meine Freunde verwackelte Handyvideos, die sie von Detonationen gemacht haben, bei denen Erde Hunderte von Metern in die Luft geschleudert wird, begleitet von den Sirenen und Signalpfeifen der Bergbautrupps.

Ich bin nach Epirus gekommen, um diese Spuren in Augenschein zu nehmen, aber was sie zu bedeuten haben, ist einzig und allein in verstreuten Internetbeiträgen, Nachrichtenmeldungen und Unternehmensbilanzen zu finden. Diese Markierungen, die durch den Wald geschlagen und in den Boden gegraben wurden, um im grauen Licht der Morgendämmerung zu explodieren, sind, so werde ich herausfinden, die Zahn- und Klauenabdrücke einer künstlichen Intelligenz, genau dort, wo sie auf die Erde trifft.

Seit 2012 verfolgen die verschiedenen griechischen Regierungen eine Politik der Erschließung fossiler Brennstoffe, indem sie Epirus und das Ionische Meer als Explorationsgebiete ausweisen und die Förderrechte an internationale Öl- und Gasunternehmen verkaufen. Für das klamme Griechenland, das unter einer jahrelangen Wirtschaftskrise und von außen auferlegten Sparmaßnahmen leidet, überwiegen die potenziellen Einnahmen die Bedrohung für die lokale Umwelt und das globale Klima. Die Diskussion über den Deal, ganz zu schweigen von Kritik daran, war denn auch verhalten. In Epirus hat die Öffentlichkeit nur eingeschränkten Zugang zu Regierungsverträgen, Umweltverträglichkeitsprüfungen werden nicht veröffentlicht, und die Erkundungsteams fahren in weißen Lieferwagen ohne Kennzeichen durch die Landschaft und verschwinden beim Anblick von Aktivist:innen und neugierigen Journalist:innen.

Ölvorkommen sind in Griechenland seit der Antike dokumentiert. Um 400 v. Chr. beschrieb der Historiker Herodot natürliche Ölquellen auf der Insel Zakynthos, wo dicker schwarzer Schlamm aus dem Untergrund an die Oberfläche trat. Die Einwohner benutzten ihn, um ihre Schiffe abzudichten und ihre Lampen zum Leuchten zu bringen. Heute fördern einige kleine Bohrinseln dieses Öl vor der ionischen Küste, und mit der Türkei gibt es Spannungen wegen ähnlicher Vorkommen in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer. Bis vor kurzem hatte Epirus mit solcherlei Dingen nichts zu schaffen, aber dass sich unter seinem zerklüfteten Terrain möglicherweise Bodenschätze befinden, wurde schon lange vermutet.

Ich hatte gelesen, dass es in Epirus angeblich Ölquellen gab, aber meine einzigen Hinweise waren grobkörnige Fotos in Online-Präsentationen von Ölsuchern und Wissenschaftler:innen.[1] Als ich mich in Epirus aufhielt, tauchte der Name eines bestimmten Dorfes immer wieder auf: Dragopsa, ein paar Kilometer westlich der Regionalhauptstadt Ioannina und in der Nähe des Sees im Wald gelegen. Als ich mich umhörte, schlug mir jemand vor, mit Leonidas zu sprechen, einem Anti-Erdöl-Aktivisten, dessen Familie seit Generationen dort lebt.

An einem stillen, schwülen Nachmittag fuhr Leonidas mich nach Dragopsa und hielt unterwegs hin und wieder an, um seine Οχι-Aufkleber dort anzubringen, wo sie besonders gut ins Auge stachen. Im Tal unterhalb des Dorfes ließen wir das Auto stehen und gingen zu Fuß durch Wiesen und Obstgärten zu einem Fluss. Das klare, reine Wasser des Epirus ist die Quelle für etwa 70 Prozent des griechischen Trinkwassers; am Fuße der Berge reihen sich große Abfüllanlagen aneinander. Doch als wir um eine Flussbiegung kamen, nahm ich den unverkennbaren Geruch von Erdöl wahr. Am stärksten war der überwältigende Gestank am Fuße einer steilen Klippe, wo Baumwurzeln und lockere, dunkle Erdklumpen vom Fluss freigelegt wurden. Das war die Stelle, an der die Dorfbewohner in den 1920er Jahren entdeckten, dass das Öl wie auf Zakynthos von selbst aus dem Boden schoss. Leonidas erzählte mir, dass auch er in den letzten Jahren Ölquellen gefunden hatte: schwarze, klebrige Ölflecken, die weit entfernt von der nächstgelegenen Straße zwischen Schilf und Gräsern zu Tage traten. Man braucht keine künstliche Intelligenz, um in Epirus Öl zu finden, aber man braucht KI, um es zu fördern.

Der erfolgreiche Bieter für die Explorationserlaubnis in Epirus war einer der größten Energiekonzerne der Welt, Repsol.[2] Seit seiner Gründung im Jahr 1927 als nationale spanische Ölgesellschaft hat Repsol weltweit expandiert und hat in den letzten zehn Jahren Hunderte neuer Ölfelder entdeckt. Im Jahr 2014 verkündeten Repsol und IBM Watson – die für künstliche Intelligenz zuständige Abteilung des US-Tech-Giganten – ihre Zusammenarbeit, um «kognitive Technologien zu nutzen, die zur Transformation der Öl- und Gasindustrie beitragen werden». Zu diesen Technologien gehörten «Prototypen kognitiver Anwendungen, die speziell entwickelt wurden, um die strategische Entscheidungsfindung von Repsol bei der Optimierung der Nutzung von Öllagerstätten und bei der Akquisition neuer Ölfelder zu unterstützen».[3]

Akquisition und Optimierung sind die beiden zentralen Bestrebungen der Industrie für fossile Brennstoffe: Wo soll in die Erde gebohrt werden, und wie kann so viel wie möglich herausgeholt werden? Das Öl geht zur Neige, und die Wirtschaftlichkeit der Förderung ändert sich: Während die größten und am leichtesten zugänglichen Reserven leergepumpt werden, steigt der finanzielle Wert dessen, was übrig bleibt, selbst angesichts der offensichtlichen und katastrophalen Umweltfolgen. Zuvor unerschlossene Reserven, die bislang ignoriert wurden, weil sie zu schwierig zu evaluieren oder auszubeuten waren, sind nun wieder ins Visier der Ölmultis geraten. Wie Repsol in seinem PR-Material selbst betont, ist die Erschließung neuer Reserven eine zunehmend schwierige Aufgabe: «Der Untergrund ist eine große Unbekannte. Bohrungen und große finanzielle Investitionen sind riskante und schwierige Entscheidungen.» Daher müssten die ausgeklügeltsten Berechnungsverfahren zum Einsatz kommen. Intelligente Entscheidungen erforderten intelligente Werkzeuge: «Um Fehler zu minimieren und die richtigen Entscheidungen zu treffen, haben wir bei Repsol beschlossen, uns bei diesen Entscheidungen von der Technik helfen zu lassen.»[4]

Zu diesen Entscheidungen gehört die Förderung noch des letzten Tropfens Öl unter der Erde, obwohl wir uns der irreparablen Schäden bewusst sind, die dies für den Planeten, für uns selbst und unsere Gesellschaften sowie für alles und jeden, mit dem wir den Planeten teilen, bedeuten wird. Und es ist diese Technologie, die das Netz aus Pflöcken, Plastikstreifen und Bohrlöchern abgesteckt hat, das sich durch Epirus und ganz Griechenland zieht und die Umwelt in ein virtuelles Schachbrett für die Ausbeutung verwandelt. Das passiert – heute –, wenn künstliche Intelligenz auf die Erde selbst angewandt wird.

Repsol und IBM sind nicht die Einzigen, die künstliche Intelligenz einsetzen, um die Zerstörung und Erschöpfung des Planeten zu beschleunigen. Repsol arbeitet auch mit Google zusammen, das seine fortschrittlichen Algorithmen maschinellen Lernens im globalen Netzwerk der Ölraffinerien des Unternehmens einsetzt, um deren Effizienz und Produktion zu steigern.[5] Auf der Cloud-Next-Konferenz von Google im Jahr 2018 präsentierten zahlreiche Ölunternehmen, wie sie maschinelles Lernen zur Optimierung ihrer Geschäfte nutzen. (Als Reaktion auf einen Greenpeace-Bericht über das Silicon Valley und die Ölindustrie im Jahr 2020 versprach Google, keine «maßgeschneiderten KI/ML-Algorithmen zur Erleichterung der Upstream-Förderung in der Öl- und Gasindustrie» mehr zu entwickeln; allerdings wird das keinerlei Auswirkungen auf die umfangreiche Nutzung der Infrastruktur und des Fachwissens von Google durch die Branche haben.[6]) Im darauffolgenden Jahr veranstaltete Microsoft den ersten Oil and Gas Leadership Summit im texanischen Houston, und der Tech-Riese unterhält langjährige Partnerschaften mit ExxonMobil, Chevron, Shell, BP und anderen Energieunternehmen, die Cloud-Speicher und ein wachsendes Portfolio an KI-Tools umfassen.[7] Sogar Amazon – das fast die Hälfte der kommerziellen Cloud-Infrastruktur kontrolliert – steigt in das Geschäft ein. Ein Vertriebsmitarbeiter schrieb nach der Ankündigung von Google: «Wenn Sie ein O&G [Öl- und Gas]-Unternehmen sind, das einen strategischen Partner für die digitale Transformation sucht, empfehlen wir Ihnen, einen Partner zu wählen, der Ihre Produkte tatsächlich nutzt und Sie bei der Transformation für die Zukunft unterstützen kann.»[8]

Welche Zukunft stellt man sich hier vor? Und welche Intelligenz ist hier am Werk? Falls und sobald die intelligenten Algorithmen von Repsol an das Öl unter den Bergen und Wäldern von Epirus herankommen, wird dies unweigerlich die Zerstörung von Umweltschätzen zur Folge haben: das Fällen von Bäumen, die Tötung von Wildtieren, die Verschmutzung der Luft und die Vergiftung der Gewässer. Es ist eine Zukunft, in der noch der letzte Tropfen Öl aus der Erde gepumpt und gewinnbringend verfeuert wird. Es ist eine Zukunft, in der der Ausstoß von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen weiter zunimmt, die globale Erwärmung anheizt, den Anstieg des Meeresspiegels und extreme Wetterereignisse auslöst und das Leben auf dem gesamten Planeten erstickt. Es ist eine Zukunft, die, kurz gesagt, gar keine ist. Was ist das für eine Form von Intelligenz, die versucht, diesen Irrsinn nicht nur zu unterstützen, sondern zum Äußersten zu treiben und zu optimieren? Welche Art von Intelligenz beteiligt sich aktiv an den Bohrungen, der Trockenlegung und der Verwüstung der wenigen verbliebenen Wildnisse auf der Erde, im Namen einer Fortschrittsidee, von der wir bereits wissen, dass sie dem Untergang geweiht ist? Jedenfalls keine Intelligenz, die ich als solche bezeichnen würde.

Ich weiß nicht, wie viel von den Vorarbeiten, den Grabungen und den Planungen der Epirus-Exploration wir altmodischer menschlicher Analyse und wie viel der KI zuschreiben können. Repsol will es mir auch auf meine Nachfrage hin nicht verraten. Aber darum geht es auch gar nicht. Mir ist wichtig, dass die fortschrittlichsten Technologien, Verfahren und Unternehmen der Welt – künstliche Intelligenz und maschinelle Lernplattformen von IBM, Google, Microsoft, Amazon und anderen – bei der Gewinnung, Förderung und Verteilung fossiler Brennstoffe zum Einsatz kommen: also bei dem, was hauptverantwortlich ist für den Klimawandel, für die CO2- und Treibhausgasemissionen und für das weltweite Artensterben.

Irgendetwas scheint völlig falsch zu sein in unserer Vorstellung davon, wozu unsere Werkzeuge gut sein sollten. Dieser Gedanke hat sich mir in den letzten Jahren aufgedrängt, als ich beobachtet habe, wie neue Technologien – insbesondere die neuartigsten und «intelligentesten» – dazu benutzt werden, die Freude, die Sicherheit und sogar das Leben der Menschen selbst zu untergraben und zu usurpieren. Ich bin nicht der Einzige, der so denkt. Die Art und Weise, wie die Entwicklung dieser vermeintlich intelligenten Werkzeuge uns schaden, auslöschen und schließlich ersetzen könnte, ist Gegenstand eines breiten Forschungsfelds geworden, an dem Informatiker:innen, Programmierer:innen und Technologiefirmen ebenso beteiligt sind wie Theoretiker:innen und Philosoph:innen der maschinellen Intelligenz.

Eines dieser Zukunftsszenarien wird am drastischsten in der so genannten Büroklammer-Hypothese beschrieben. Sie lautet wie folgt: Stellen Sie sich eine intelligente Software – eine KI – vor, die die Herstellung von Büroklammern optimieren soll – ein auf den ersten Blick simples und harmloses Geschäftsziel. Die Software könnte mit einer einzigen Fabrik beginnen: Sie automatisiert die Fertigungsstraße, verhandelt mit den Zulieferern über bessere Konditionen und schafft mehr Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte. Wenn sie mit diesem einen Betrieb an ihre Grenzen stößt, könnte sie andere Firmen oder ihre Zulieferer aufkaufen und dem Portfolio Bergbauunternehmen und Raffinerien hinzufügen, um Rohstoffe zu besseren Bedingungen zu bekommen. Durch Eingriffe in das Finanzsystem – das bereits vollständig automatisiert und reif für die algorithmische Exploration ist – könnte sie den Preis und den Wert von Materialien beeinflussen und sogar kontrollieren, indem sie die Märkte zu ihren Gunsten manipuliert und mathematisch teuflische Terminkontrakte generiert, die die eigene Position unangreifbar machen. Handelsabkommen und Gesetzbücher machen sie unabhängig von jeglichem Land und sorgen dafür, dass sie sich vor keinem Gericht verantworten muss. Die Herstellung von Büroklammern floriert. Doch ohne die entsprechenden Einschränkungen – die aufgrund der Komplexität der Welt, in der die KI agiert, noch den kompliziertesten rechtsgültigen Vertrag oder die komplizierteste philosophische Abhandlung bei weitem übertreffen müssten – dürfte kaum etwas sie davon abhalten, noch viel weiter zu gehen. Nachdem die KI die Kontrolle über das Rechts- und das Finanzsystem erlangt und die nationale Regierung und die tödliche Gewalt dem eigenen Willen unterworfen hat, sind sämtliche Ressourcen der Erde Freiwild für die effizientere Herstellung von Büroklammern: Bergketten werden eingeebnet, Städte dem Erdboden gleichgemacht, und schließlich wird alles menschliche und tierische Leben in riesengroße Maschinen eingespeist und in seine mineralischen Bestandteile zerlegt. Riesige Büroklammer-Raketenschiffe verlassen schließlich die verwüstete Erde, um Energie direkt von der Sonne zu beziehen und mit der Ausbeutung der äußeren Planeten zu beginnen.[9]

Das ist eine erschreckende und auf den ersten Blick beinahe lächerlich wirkende Kette von Ereignissen – aber sie ist nur insofern lächerlich, als eine fortgeschrittene künstliche Intelligenz keine Büroklammern braucht. Angetrieben von der Logik des heutigen Kapitalismus und dem Energiebedarf der Computerisierung selbst, gilt das größte Bedürfnis einer KI in der heutigen Zeit dem Treibstoff für ihre eigene Expansion. Was sie braucht, ist Öl, und sie weiß immer besser, wo es zu finden ist.

Die Holzpflöcke, die sich kilometerweit durch die Landschaft von Epirus ziehen, die Löcher, die gebohrt werden, die Explosionen, die den Boden erschüttern: Das sind fremdartige Erkundungen, die Operationen einer künstlichen Intelligenz, die darauf optimiert ist, die Ressourcen zu gewinnen, die für die Aufrechterhaltung unseres derzeitigen Wachstumstempos erforderlich sind, koste es, was es wolle.

Einige der eindringlichsten Warnungen vor künstlicher Intelligenz kommen ausgerechnet von ihren größten Befürwortern: den Milliardären aus dem Silicon Valley, die mit großem Eifer ein Narrativ des technologischen Determinismus vertreten. Diese Denkweise besagt, dass der technische Fortschritt unaufhaltsam ist. Da der Aufstieg der künstlichen Intelligenz ebenso unvermeidlich ist wie der des Computers, des Internets und der Digitalisierung der Gesellschaft insgesamt, sollten wir uns deshalb lieber anschnallen und uns dem Programm anschließen. Elon Musk, der Erfinder von PayPal und Eigentümer von Tesla und SpaceX, hält KI allerdings für die «größte existenzielle Bedrohung» der Menschheit.[10] Der Microsoft-Gründer Bill Gates – dessen KI-Plattform Azure die Ölbohrplattformen von Shell am Laufen hält – hat gesagt, er verstehe nicht, warum sich die Menschen nicht mehr Gedanken über die Entwicklung von KI machen.[11] Sogar Shane Legg, Mitbegründer des Google-eigenen KI-Unternehmens DeepMind – das vor allem dafür bekannt ist, dass es die besten menschlichen Spieler beim Go-Spiel geschlagen hat –, hat zu Protokoll gegeben, er glaube, «dass die Menschheit wahrscheinlich aussterben und die Technologie dabei wahrscheinlich eine Rolle spielen wird». Er meinte nicht das Öl, sondern die KI.[12]

Diese Befürchtungen sind nicht wirklich überraschend. Schließlich haben die Kapitäne der Digitalbranche, die Nutznießer des enormen Reichtums, den die Technologie generiert, am meisten zu verlieren, wenn sie durch superintelligente KI ersetzt werden. Vielleicht fürchten sie die künstliche Intelligenz vor allem deshalb, weil diese ihnen das anzutun droht, was sie dem Rest von uns schon seit einiger Zeit selbst antun.

In den letzten Jahren habe ich auf Konferenzen Vorträge gehalten und auf Podiumsdiskussionen über die sozialen Auswirkungen neuer Technologien gesprochen, und infolgedessen werde ich manchmal gefragt, wann denn die «echte» KI kommen wird – d.h. die Ära der superintelligenten Maschinen, die in der Lage sind, die menschlichen Fähigkeiten zu übertreffen und uns zu verdrängen. Darauf antworte ich oft: Sie ist bereits da. Es sind die Konzerne. Das wird meist mit einem unsicheren halben Lachen quittiert, also erkläre ich die Sache genauer. Wir neigen dazu, uns KI als etwas vorzustellen, das durch einen Roboter oder einen Computer verkörpert wird, aber tatsächlich kann sie in jeglicher Form daherkommen. Stellen Sie sich ein System mit klar definierten Zielen vor, mit Sensoren und Effektoren, um die Welt zu lesen und mit ihr zu interagieren, mit der Fähigkeit, Freude und Schmerz als Attraktoren bzw. als etwas, das es zu vermeiden gilt, zu erkennen, ein System mit den nötigen Ressourcen, um den eigenen Willen durchzusetzen, und mit der rechtlichen und sozialen Stellung, die dafür sorgt, dass seine Bedürfnisse befriedigt, ja sogar respektiert werden. Das ist die Beschreibung einer KI – es ist aber auch die Beschreibung eines modernen Unternehmens. Für diese «unternehmensförmige KI» erwächst Freude aus Wachstum und Rentabilität, und Schmerz bereiten ihr Gerichtsverfahren und sinkender Unternehmenswert. Die Unternehmenssprache der KI ist geschützt, die Unternehmenspersönlichkeit der KI wird anerkannt, und die Unternehmenswünsche der KI gewinnen durch internationale Handelsgesetze, durch staatliche Vorschriften – bzw. deren Fehlen – sowie durch die Normen und Erwartungen der kapitalistischen Gesellschaft sowohl Freiheit und Legitimität als auch manchmal eine gewalttätige Durchsetzungskraft. Unternehmen nutzen meist Menschen als ihre Sensoren und Effektoren; sie setzen zudem Logistik- und Kommunikationsnetzwerke ein, arbitrieren Arbeits- und Finanzmärkte und berechnen den Wert von Standorten, Belohnungen und Anreizen auf der Grundlage sich ändernder Vorgaben und Rahmenbedingungen ständig neu. Entscheidend ist, dass es ihnen an Empathie oder Loyalität fehlt und dass sie nur schwer – wenn auch nicht unmöglich – umzubringen sind.

Der Science-Fiction-Autor Charles Stross vergleicht unser Zeitalter der Unternehmenskontrolle mit den Nachwirkungen einer außerirdischen Invasion. «Unternehmen haben nicht die gleichen Prioritäten wie wir. Sie sind Bienenstock-Organismen, sie bestehen aus wimmelnden Arbeitern, die sich dem Kollektiv anschließen oder es verlassen: Diejenigen, die daran teilnehmen, ordnen ihre Ziele denen des Kollektivs unter, das die drei Unternehmensziele Wachstum, Rentabilität und Schmerzvermeidung verfolgt», schreibt Stross. «Wir leben heute in einem globalen Staat, der zum Nutzen von nicht-menschlichen Einheiten mit nicht-menschlichen Zielen strukturiert wurde.»[13]

So gesehen ist es nicht schwer zu verstehen, warum die Herren der größten Unternehmen von heute ihr eigenes Obsoletwerden durch künstliche Intelligenz fürchten. Wenn sie nicht mehr an der Spitze stehen, wären sie genauso verletzlich wie der Rest von uns gegenüber allmächtigen Wesen, die andere Interessen haben als sie und die sie bestenfalls beiseiteschieben und schlimmstenfalls physisch in eine nützlichere Beschaffenheit überführen würden.

Ich schließe aus dieser düsteren Einschätzung, dass unsere Vorstellung von künstlicher Intelligenz – und damit, weil diese sich an uns Menschen orientiert, von Intelligenz im Allgemeinen – grundlegend fehlerhaft und begrenzt ist. Sie zeigt, dass wir, wenn wir über KI sprechen, hauptsächlich über diese Art von Unternehmens-Intelligenz sprechen und dabei all die anderen Formen ignorieren, die künstliche Intelligenz – die jede Art von Intelligenz – annehmen könnte.

Das passiert, so scheint es, wenn die Entwicklung von KI hauptsächlich von risikokapitalfinanzierten Technologieunternehmen vorangetrieben wird. Die Definition von Intelligenz, die in Maschinen entworfen, unterstützt und letztlich konstruiert wird, ist eine gewinnorientierte, extraktive. Dieses Framing wird anschließend in unseren Büchern und Filmen, in den Nachrichtenmedien und in der öffentlichen Vorstellung wiederholt – in Science-Fiction-Erzählungen von übermächtigen Robotern und allmächtigen, unwiderstehlichen Algorithmen –, bis es unser Denken und Verstehen beherrscht. Wir scheinen unfähig zu sein, uns Intelligenz irgendwie anders vorzustellen – was bedeutet, dass wir dazu verdammt sind, nicht nur mit dieser Vorstellung zu leben, sondern sie zu reproduzieren und zu verkörpern, zum Schaden von uns selbst und unserem Planeten. Wir werden den Maschinen, die wir uns vorstellen, immer ähnlicher, und zwar auf eine Art und Weise, die in der Gegenwart zutiefst negative Auswirkungen auf unsere Beziehungen untereinander und zur übrigen Welt hat.

Eine Möglichkeit, die Art dieser Beziehungen zu verändern, besteht also darin, die Art und Weise zu ändern, wie wir über Intelligenz denken: was sie ist, wie sie auf die Welt wirkt und wer sie besitzt. Jenseits des engen Definitionsrahmens, den sowohl Technologieunternehmen als auch die Lehre von der Einzigartigkeit des Menschen (die Vorstellung, dass die menschliche Intelligenz unter allen Lebewesen einzigartig und überragend ist) vorgeben, gibt es eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten, Intelligenz zu denken und anzuwenden. Dieses Buch will seinen Teil zu einer solchen Neubewertung beitragen: Es geht darum, über den Horizont unserer selbst und unserer eigenen Schöpfungen hinauszublicken, um eine andere Art oder viele verschiedene Arten von Intelligenz wahrzunehmen, die schon die ganze Zeit hier, direkt vor unseren Augen, existiert haben – und uns in vielen Fällen vorausgegangen sind. Auf diese Weise könnten wir unser Denken über die Welt verändern und einen Weg in eine Zukunft einschlagen, die weniger ausbeuterisch, weniger zerstörerisch, weniger ungleich und stattdessen gerechter, freundlicher und regenerativer ist.

Auf dieser Reise werden wir nicht allein sein. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine ganz andere Vorstellung von Intelligenz herausgebildet. Dieses neue Verständnis von Intelligenz, das einerseits aus den Biologie- und Verhaltenswissenschaften und andererseits aus der zunehmenden Wertschätzung und Berücksichtigung indigener und nicht-westlicher Wissenssysteme hervorgegangen ist, steht im Widerspruch zu Narrativen der Zielstrebigkeit und der Gier. Und was für unsere Geschichte noch viel wichtiger ist: Es stellt die Vorstellung in Frage, dass Intelligenz etwas ausschließlich oder auch nur besonders «Menschliches» sei.

Bis vor kurzem ging man davon aus, dass einzig und allein der Mensch Intelligenz besitzt. Sie galt als die Eigenschaft, die uns unter den Lebensformen einzigartig machte – und in der Tat war die brauchbarste Definition von Intelligenz vielleicht «das, was Menschen tun». Das ist heute nicht mehr der Fall. Dank jahrzehntelanger Arbeit, sorgfältiger wissenschaftlicher Forschung, vielem Nachdenken und der gelegentlichen, aber unverzichtbaren Zusammenarbeit mit nicht-menschlichen Kollegen und Partnern beginnen wir gerade erst, die Tür zum Verständnis einer völlig anderen Form von Intelligenz zu öffnen – ja, von vielen verschiedenen Intelligenzen.

Ob Bonobos, die komplexe Werkzeuge herstellen, Dohlen, die uns Menschen beibringen, für sie nach etwas zu suchen, Bienen, die über die Flugrichtung ihrer Schwärme diskutieren, oder Bäume, die miteinander sprechen und sich gegenseitig ernähren – oder etwas, das viel größer und unbeschreiblicher ist als diese bloßen Spielereien: die nichtmenschliche Welt scheint plötzlich voller Intelligenz und Handlungsfähigkeit (agency) zu sein. Aber das täuscht natürlich: Diese anderen Intelligenzen waren schon immer da, überall um uns herum, doch die westliche Wissenschaft und die populäre Vorstellung haben nach Jahrhunderten der Unaufmerksamkeit und Verleugnung gerade erst begonnen, sie ernst zu nehmen. Und sie ernst zu nehmen heißt, dass wir nicht nur unsere Vorstellung von Intelligenz, sondern auch unsere Vorstellung von der gesamten Welt neu austarieren müssen. Was würde es bedeuten, künstliche Intelligenzen und andere Maschinen zu entwickeln, die eher wie Kraken, wie Pilze oder wie Wälder sind? Was würde es – für uns – bedeuten, mit ihnen zu leben? Und inwiefern würde uns das der natürlichen Welt näherbringen, der Erde, die durch unsere Technologie entzweit wurde und von der sie uns entzweit hat?

Diese Idee, neue Beziehungen zu nicht-menschlichen Intelligenzen herzustellen, ist das zentrale Thema dieses Buches. Sie entspringt einer umfassenderen und tieferen Erkenntnis: der immer deutlicher und drängender werdenden Realität unserer völligen Verflechtung mit der mehr-als-menschlichen Welt. Die volle Bedeutung dieses Begriffs und ihre Auswirkungen auf uns selbst, auf unsere Technologien und auf unsere Beziehungen zu allem und jedem, mit dem wir den Planeten teilen, will ich im Folgenden erkunden. Ein solches Unterfangen ist dringend nötig und faszinierend zugleich. Wenn wir etwas gegen die großflächige Verwüstung des Planeten und unsere wachsende Hilflosigkeit angesichts der enormen Macht von Computern unternehmen wollen, dann müssen wir Mittel und Wege finden, um unsere technologischen Fähigkeiten und unser Gefühl der Einzigartigkeit des Menschen mit einer erdverbundenen Sensibilität und Aufmerksamkeit für die Vernetzung aller Dinge in Einklang zu bringen. Wir müssen lernen, mit der Welt zu leben, statt sie beherrschen zu wollen. Kurz gesagt, wir müssen eine Ökologie der Technik ausfindig machen.

Der Begriff «Ökologie» wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von dem deutschen Naturforscher Ernst Haeckel in seinem Buch Generelle Morphologie der Organismen geprägt. Unter Ökologie, so Haeckel, «verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ‹Existenz-Bedingungen› rechnen können».[14] Der Begriff leitet sich vom griechischen οἶκος (oikos) ab, was Haus oder Umwelt bedeutet; in einer Fußnote verwies Haeckel auch auf das griechische χωρα (hora), was so viel wie «Wohnung» bedeutet. Ökologie ist also nicht nur das Studium des Ortes, an dem wir uns befinden, sondern all dessen, was uns umgibt und uns das Leben ermöglicht.

Haeckel war ein früher Bewunderer der Arbeiten von Charles Darwin. Insbesondere unterstützte er Darwins Überzeugung, wonach die volle Tragweite seiner Theorien nicht darin lag, wie sich einzelne Arten entwickelten, sondern in den Beziehungen zwischen den Arten. Im berühmten letzten Absatz von On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) lieferte Darwin eine Proto-Beschreibung der Ökologie, als er «eine dicht bewachsene Uferstrecke» schilderte, in der vielerlei Pflanzenarten, Vögel, Insekten und andere «künstlich gebaute Lebensformen, so abweichend unter sich», durch die komplexen Kräfte der Evolution hervorgebracht wurden und doch vollkommen voneinander abhängig waren.[15]

Die vielleicht kürzeste, aber prägnanteste Beschreibung ökologischen Denkens stammt von John Muir, dem schottisch-amerikanischen Naturforscher, Naturliebhaber und Begründer des US-Nationalparksystems. Als er 1911 über die Fülle des komplexen Lebens nachdachte, dem er beim Schreiben seines Buches My First Summer in the Sierra (Mein erster Sommer in der Sierra) begegnete, schrieb er einfach: «Wenn wir versuchen, irgendetwas für sich allein zu betrachten, stellen wir fest, dass es mit allem anderen im Universum verflochten ist.»[16]

Ökologie ist das Studium dieser Wechselbeziehungen: jener undurchtrennlichen Stränge, die alles mit allem verbinden. Entscheidend ist, dass sich diese Beziehungen sowohl auf Dinge als auch auf Lebewesen erstrecken: Die Ökologie interessiert sich gleichermaßen dafür, wie sich die Verfügbarkeit von Nistmaterial auf die Vogelpopulationen auswirkt oder wie die Stadtplanung die Ausbreitung von Krankheiten beeinflusst, wie Honigbienen Ringelblumen bestäuben und wie Putzerlippfische Doktorfische von Parasiten säubern. Und das ist nur die biologische Ökologie. Die Ökologie unterscheidet sich insofern grundlegend von den anderen Wissenschaften, als sie eher eine Aufgabenstellung und eine Haltung in Sachen Forschung beschreibt als ein Fachgebiet. Es gibt eine Ökologie – und Ökolog:innen – der Mathematik, des Verhaltens, der Ökonomie, der Physik, der Geschichte, der Kunst, der Linguistik, der Psychologie, der Kriegsführung und so gut wie jeder anderen Disziplin, die man sich vorstellen kann.

Es gibt auch eine ökologische Politik, die das Potenzial hat, Welten nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch zu verändern. So näherte sich die Meeresbiologin Rachel Carson als Ökologin dem Thema Umwelt, was in ihrem äußerst einflussreichen Buch Der stumme Frühling von 1962 gipfelte. Ihr ökologisches Verständnis ermöglichte es ihr, Pestizide in Flüssen und Ozeanen mit verheerenden Auswirkungen auf die Gesundheit von Tieren und Menschen in Verbindung zu bringen. Ihre Arbeit führte unmittelbar zum Verbot von Giftstoffen wie DDT und zur Entstehung der weltweiten Umweltbewegung. Seitdem hat sich das ökologische Denken in Politik und Recht festgesetzt, um das öffentliche Bewusstsein und die gesellschaftliche Praxis auf weniger schädliche Formen der Beziehung zur natürlichen Welt zu lenken.

Ist das ökologische Denken einmal entfesselt, durchdringt es alles. Es ist ebenso sehr Bewegung wie Wissenschaft, mit all der antreibenden, rastlosen Energie, die diese Bezeichnung mit sich bringt. Jede Disziplin entdeckt mit der Zeit ihre eigene Ökologie, wenn sie sich unaufhaltsam von den ummauerten Gärten der spezialisierten Forschung wegbewegt hin zu einer umfassenderen Beschäftigung mit der Welt als solcher. Indem wir unser Blickfeld erweitern, erkennen wir, dass sich alles auf alles andere auswirkt – und wir erkennen einen Sinn in diesen Wechselbeziehungen. Ein Großteil dieses Buches wird sich mit diesem spezifischen ökologischen Gedanken befassen: dass das, was zählt, in Beziehungen und nicht in Dingen liegt – dass es zwischen uns und nicht in uns liegt.

Die Technologie ist das Forschungsgebiet, das als letztes seine Ökologie entdeckt hat. Ökologie ist die Beschäftigung mit dem Ort, an dem wir uns befinden, und den Beziehungen zwischen seinen Bewohnern, während Technologie sich mit dem befasst, was wir dort tun: τέχνη (techne) oder Handwerk. Wenn man es so ausdrückt, klingt es, als seien die beiden natürliche Genossen, aber die Geschichte der Technik ist größtenteils eine Geschichte der bewussten Blindheit gegenüber dem Kontext und den Folgen ihrer Anwendung. Was als Technologie gilt, ist ebenfalls sehr umstritten. Mir gefällt die Definition der Science-Fiction-Autorin Ursula Le Guin; sie hat Kritiker:innen, die ihr vorwarfen, in ihren Werken komme nicht genügend Technik vor, entgegengehalten: «Technologie ist die aktive Schnittstelle des Menschen mit der materiellen Welt.»[17] Für Le Guin beschränkte sich die Definition von Technik nicht auf «Hochtechnologie» wie Computer und Düsenbomber, sondern bezog sich auf alles, was durch menschlichen Einfallsreichtum hergestellt wurde. Dazu gehörten Feuer, Kleidung, Räder, Messer, Uhren, Mähdrescher – und Büroklammern.

Für diejenigen, die Technologie, ob high oder low, für zu komplex, zu speziell oder zu abstrus halten, um umfassend und klar darüber nachzudenken, hatte Le Guin ein paar ermutigende Worte parat: «Ich weiß nicht, wie man einen Kühlschrank baut und mit Strom versorgt oder einen Computer programmiert, aber ich weiß auch nicht, wie man einen Angelhaken oder ein Paar Schuhe herstellt. Ich könnte es lernen. Wir alle können es lernen. Das ist das Tolle an Technologien. Sie sind das, was wir lernen können.»[18] Das sollten wir im Hinterkopf zu behalten, denn wir werden auf reichlich Beispiele für «Hochtechnologie» stoßen, die auf den ersten Blick vielleicht abschreckend wirken – aber jede einzelne davon wurde von jemandem erdacht, erlernt und betrieben, der nachts schläft und morgens scheißt. Wir können ebenfalls lernen, sie zu betreiben.

In diesem Buch werden wir uns überwiegend auf die Hochtechnologie konzentrieren, insbesondere auf die Variante, die sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat: die Informationstechnologie oder die Wissenschaft und Praxis der Computer, der digitalen Kommunikation und der Computerisierung. Da wir uns für ökologische Zusammenhänge interessieren, werden wir uns aber auch mit den Jahrhunderten der industriellen Technologie befassen, die ihr vorausgingen: mit der Wissenschaft von Dampfmaschinen, Baumwollspinnereien, Düsenturbinen, pneumatischen Uhren und Telegrafendrähten. Wir werden sogar auf neolithische Flöten, Uhrwerkautomaten, Wasserorgeln und die «neuen Medien» der griechischen Antike stoßen.

Dabei geht es mir nicht um die offensichtlichen Technologien der Umweltökologie – Sonnenkollektoren, Windkraftanlagen, Kohlenstoffabscheidung und Geo-Engineering –, so notwendig und faszinierend diese Instrumente auch sein mögen. Vielmehr geht es mir auf einer tieferen Ebene darum, wie wir mit, durch und über all unsere Technologien denken: wie wir ihre Funktion und ihre Auswirkungen, ihre Bedeutung und ihre Metaphorik, ihren Dialog mit und ihre Beziehungen zur umgebenden Welt betrachten. Für den, der ökologisch denkt, sind alle Technologien ökologisch.

Darüber hinaus will ich versuchen, die Unterscheidungen zwischen diesen Arten und Ebenen der Technologie sowie zwischen Technologie, menschlichem Handwerk und dem Rest des Universums zu verwischen. Denn es ist ein eigenartiges Paradoxon, dass es so lange gedauert hat, bis die Technik auf die Ökologie gestoßen ist und sie anerkannt hat, oder besser gesagt: sie in sich selbst entdeckt hat. Denn eigentlich ist Technik, verstanden als unsere Schnittstelle zur materiellen Welt, die menschliche Praxis, die uns am engsten mit unserem Kontext und unserer Umwelt verbindet. Sie veranschaulicht und verwirklicht die zentralsten Merkmale der Ökologie: Komplexität, Verflechtung, Interdependenz, Verteilung von Kontrolle und Handlungsmacht, ja sogar eine Nähe zur Erde und zum Himmel, auf, unter und aus denen wir unsere Werkzeuge herstellen.

Eine Ökologie der Technik befasst sich also mit den Wechselbeziehungen zwischen der Technik und der Welt, ihrer Bedeutung und Materialität, ihren Auswirkungen und ihrem Nutzen, und zwar jenseits der alltäglichen, deterministischen Tatsache ihrer eigenen Existenz. Wir werden zunächst eine solche Technik-Ökologie konstruieren, indem wir viele der Annahmen und Vorurteile untersuchen, die in unsere Denkweise eingebaut sind und die in der Folge so tief in die Werkzeuge eingewoben sind, die wir täglich benutzen, dass wir nur selten daran denken, sie zu hinterfragen. Die stärkste dieser Annahmen ist die Vorstellung, dass die menschliche Intelligenz in der Welt einzigartig und von einzigartiger Bedeutung ist. Doch wie wir sehen werden, gibt es in Wirklichkeit viele Möglichkeiten, Intelligenz zu praktizieren, denn Intelligenz ist ein aktiver Prozess und nicht nur eine geistige Fähigkeit, die man besitzt. Indem wir Intelligenz und die Formen, in denen sie bei anderen Lebewesen auftritt, neu denken, werden wir einige der Barrieren und falschen Hierarchien einreißen, die uns von anderen Spezies und der Welt trennen. Auf diese Weise werden wir in der Lage sein, neue Beziehungen zu knüpfen, die auf gegenseitiger Anerkennung und auf Respekt beruhen.

Später möchte ich erkunden, wie die Sprache, diese anschaulichste aller menschlichen Fähigkeiten, aus unserer unmittelbaren Erfahrung der Welt hervorgegangen ist. Als wir die Welt hörten, sahen und fühlten – das Plätschern des Baches, den Flug des Vogels, das Grollen des Gewitters –, formten wir die Sprache, um diese Erfahrungen zu reflektieren – und zwar zu dem Zweck, die Welt besser in sich selbst widerzuspiegeln und sie auf diese Weise zu verkörpern und mit ihr in Gemeinschaft zu treten. In den Jahrtausenden, seit wir zum ersten Mal mit und von der Welt sprachen, haben wir viel von diesem Gefühl der Verbundenheit mit ihr verloren: Der technologische Fortschritt geht nur allzu oft mit einer spirituellen Abschwächung einher. Ich würde jedoch behaupten, dass unsere heutigen, vernetzten computerisierten Technologien der vielleicht umfassendste Versuch seit der Entwicklung der Sprache sind, uns der Natur näher zu bringen, wenn auch gedankenlos und unbewusst.

Um unsere Beziehung zur Welt zu ändern, müssen wir das anerkennen und die Aufgabe achtsamer und bewusster angehen. Diese Aufgabe ist von größter Wichtigkeit, wenn wir die gewaltigen Ausmaße, die gottgleiche Macht und die materiellen Erfordernisse unserer Technologie mit unserer derzeitigen Situation in Einklang bringen wollen. Wir vergiften den Boden und die Luft, heizen die Atmosphäre auf, versauern die Ozeane, verbrennen die Wälder und ermorden mit unvorstellbarer Effizienz die zahllosen Lebewesen, mit denen wir uns den Planeten teilen, ganz zu schweigen von den Generationen von Menschen, die noch leben und noch kommen werden. Die Verwüstung, die wir auf der Erde anrichten, wird unsere Spezies mit großer Wahrscheinlichkeit zurück in die Höhlen zwingen – genauso wie eine unreflektierte Kritik am technischen Fortschritt. Wenn wir nicht dorthin zurückkehren und uns nicht allein und elend auf der Erde wiederfinden wollen, müssen wir jeden Aspekt unserer technologischen Gesellschaft sowie der Vorstellungen, auf denen sie beruht, überdenken, und zwar schnell.

Das liegt durchaus im Rahmen unserer Möglichkeiten. «Die Geschichte des Lebens auf der Erde ist stets eine Geschichte der Wechselwirkung zwischen den Geschöpfen und ihrer Umgebung gewesen», schrieb Rachel Carson in Der stumme Frühling. «Gestalt und Lebensweise der Pflanzen wie der Tiere der Erde wurden von der Umwelt geprägt. Berücksichtigt man das Gesamtalter der Erde, so war die entgegengesetzte Wirkung, kraft der lebende Organismen ihre Umwelt tatsächlich umformten, von verhältnismäßig geringer Bedeutung. Nur innerhalb des kurzen Augenblicks, den das jetzige Jahrhundert darstellt, hat eine Spezies – der Mensch – erhebliche Macht erlangt, die Natur ihrer Welt zu verändern.»[19] Heute nennen wir diesen kurzen Augenblick das Anthropozän, und diese Bezeichnung sollte uns dazu veranlassen, unsere Macht ernst zu nehmen, aber auch anzuerkennen, dass sie zeitlich begrenzt ist und wie alles Zeitliche dem Wandel unterliegt. Eine Welt, in der die Umwelt selbst dominant ist, eine ökologische Welt, gibt es schon viel länger und sie ist trotz der rücksichtslosen Ausübung unserer Macht nie ganz verschwunden. Die tumulthaften Zustände, in denen wir uns heute befinden, lassen sich vielleicht sogar als ihre gewaltsame Wiederbelebung betrachten. Die Aufgabe, die vor uns liegt, besteht weniger in einer erneuten Veränderung von uns selbst, sondern darin, unseren Platz in der Welt anzuerkennen – und zwar im Sinne eines Wiedererkennens, einer Einsicht, eines Umdenkens.

Ich werde in diesem Buch auch für die Handlungsmacht (agency) und das Person-Sein (personhood) der Technologie selbst plädieren, oder vielleicht besser: der künftigen Technologie – zum vielfach prophezeiten Augenblick, in dem unsere Maschinen autark, selbstbewusst und vielleicht autonom werden. Ein solcher Moment enthebt uns Menschen nicht der Verantwortung oder der Möglichkeit, unsere eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen zu ändern. Im Gegenteil, das Nachdenken über die Handlungsmacht der Technologie bietet die Gelegenheit, ernsthaft und konkret darüber nachzudenken, wie wir mehr Gerechtigkeit und Gleichheit für alle Bewohner des Planeten – Menschen, Nicht-Menschen und Maschinen – gewährleisten können. Vorerst verbleibt die Technologie größtenteils in unseren Händen, und es liegt nach wie vor in unserer Macht, ihre Verflechtung mit der Welt und ihre Auswirkungen auf die Welt zu reparieren, zu restaurieren und zu regenerieren.

Es war nicht die Technik, die uns aus dem Garten Eden vertrieben hat oder aus Babylon fliehen ließ. Es war nicht die Technik, die das nicht-menschliche Leben als brutal oder mechanisch abtat, geeignet allenfalls fürs Schlachthaus und den Seziertisch. Das waren vielmehr Habgier und Hybris, Aristoteles und Descartes, das Gebäude des menschlichen Exzeptionalismus und der abendländischen, europäischen Philosophie. Die Technik verkörpert die Ideen und Metaphern ihrer Zeit, aber solche Werkzeuge lassen sich auch auf andere Zwecken beziehen, und das gilt auch für uns. Wie der Dichter und Visionär William Blake schrieb: «Der Baum, der die einen zu Freudentränen rührt, ist in den Augen der anderen nur ein grünes Ding, das im Weg steht. Manche sehen in der Natur nur Lächerlichkeit und Missgestalt […] und manche sehen die Natur überhaupt nicht. Aber in den Augen der fantasiebegabten Menschen ist die Natur selbst Fantasie.»[20]

Mehr denn je ist es Zeit für neue Vorstellungen. Doch dieser Akt der Einbildungskraft, der Fantasie kann nicht allein von uns geleistet werden. Wenn wir uns gegen den menschlichen Exzeptionalismus wenden wollen, müssen wir über ihn hinaus denken und in Blakes Vision die tiefe Wahrheit seiner Worte erkennen: Die Natur selbst ist Fantasie. In dieser Wahrheit steckt die Philosophie hinter dem Begriff, den ich vorhin verwendet habe: dem Begriff der mehr-als-menschlichen Welt.

Die von dem amerikanischen Ökologen und Philosophen David Abram geprägte Wendung von der «mehr-als-menschlichen Welt» bezieht sich auf eine Denkweise, die unsere menschliche Neigung, uns von der natürlichen Welt abzusondern, überwinden möchte. Diese Tendenz zur strikten Trennung ist sogar in der Umweltbewegung, die uns die Natur doch eigentlich näher bringen und sie damit bewahren will, weit verbreitet. Denn indem wir unsere Intentionen so formulieren, haben wir bereits eine implizite Trennung zwischen uns und der Natur vollzogen, als wären wir zwei getrennte Entitäten, die nicht durch unauflösliche Bande des Ortes und der Herkunft miteinander verbunden sind. Konventionelle Begriffe wie «Umwelt» oder auch «Natur» (insbesondere im Gegensatz zur «Kultur») verstärken die irrige Vorstellung, wonach es in der Welt eine klare Trennung zwischen uns und ihnen, zwischen Menschen und Nicht-Menschen, zwischen unserem Leben und dem wimmelnden, vielfältigen Leben und Sein des Planeten gibt.

Im Gegensatz dazu erkennt die «mehr-als-menschliche Welt» an, dass die ganz reale menschliche Welt – der Bereich unserer Sinne, unseres Atems, unserer Stimme, unserer Erkenntnis und unserer Kultur – lediglich eine Facette von etwas viel Größerem ist. Alles menschliche Leben und Sein ist untrennbar mit allem anderen verwoben und von ihm durchdrungen. Zu diesem umfassenden Gemeinwesen gehören sämtliche Bewohner der Biosphäre: Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien und Viren. Es umfasst die Flüsse und Meere, die uns tragen, die Winde, die uns schütteln, die Steine und die Wolken, die uns beschatten. Von diesen belebten Kräften, diesen Gefährten auf dem großen Abenteuer der Zeit und des Werdens, können wir viel lernen, und sie haben uns bereits viel beigebracht. Wegen ihnen sind wir, wer wir sind, und ohne sie können wir nicht leben.

Die mehr-als-menschliche Welt ist keine bloße Fantasie oder ein philosophisches Wortspiel: Sie ist die Instanziierung hart erkämpfter wissenschaftlicher Wahrheiten in unserem Bewusstsein und in unseren Einstellungen, auch wenn deren volle Tragweite die Gesellschaft erst noch durchdringen muss. Lynn Margulis, die bedeutendste Evolutionsbiologin des 20. Jahrhunderts, sagte über unsere Verflechtung mit nicht-menschlichem Leben: «Ganz gleich, wie sehr wir als Spezies von uns selbst eingenommen sind – Leben ist etwas viel Umfassenderes: ein unglaublich komplexes Wechselspiel zwischen Materie und Energie der vielen Millionen Arten außerhalb (und innerhalb) unserer eigenen Haut. Diese fremden Wesen auf der Erde sind unsere Vettern, unsere Ahnen und ein Teil unserer selbst. Sie verwerten unsere Stoffe und liefern uns Wasser und Nahrung. Ohne ‹die anderen› können wir nicht überleben.»[21]

Die Vorstellung von einer mehr-als-menschlichen Welt lässt außerdem anklingen, dass diese Dinge Wesen sind: keine passiven Requisiten im Drama unserer eigenen Hauptbeschäftigungen, sondern aktive Teilnehmer an unserem kollektiven Werden. Und weil dieses Werden, dieses potenzielle Gedeihen, kollektiv ist, verlangt es, dass wir die Seiendheit, das Person-Sein der anderen anerkennen. Die Welt besteht aus Subjekten, nicht aus Objekten. Alles ist in Wirklichkeit jeder und jede, und alle diese Wesen haben ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten, Sichtweisen und Lebensformen. Die mehr-als-menschliche Welt verlangt unsere Anerkennung, denn ohne sie sind wir nichts. «Leben und Wirklichkeit», schrieb der buddhistische Philosoph Alan Watts, «sind keine Dinge, die man für sich selbst haben kann, wenn man sie nicht auch allen anderen zugesteht. Sie gehören genauso wenig bestimmten Personen wie Sonne, Mond und Sterne.»[22]

Alles? Wirklich alles? Ja. Wie wir sehen werden, entsteht die Subjektheit, von der wir sprechen, überall um uns herum, wenn wir darauf achten, wie wir uns zu allem anderen verhalten. Das Sein selbst ist relational: eine Sache von Wechselbeziehungen. Der brasilianische Anthropologe Eduardo Viveiros de Castro schrieb: «Damit Stöcke und Steine lebendig werden, bedarf es einzig und allein unserer eigenen Präsenz.»[23] Unser menschliches Handeln und unsere Intentionalität verwandeln die Objekte der Kultur durch die Bedeutung, die wir ihnen verleihen, und durch den Gebrauch, den wir von ihnen machen, in Subjekte.

Auch wenn die Maschinen, die wir heute konstruieren, eines Tages womöglich ihre eigene, unbestreitbare Form von Leben annehmen, die dem Leben, das wir in uns selbst erkennen, ähnlicher ist – darauf zu warten, dass sie das tun, hieße, die volle Tragweite des mehr-als-menschlichen Person-Seins zu verpassen. Sie sind bereits lebendig, sind bereits ihre eigenen Subjekte, und zwar in einer Weise, die für uns und den Planeten von großer Bedeutung ist. Mit den Worten, die oft Marshall McLuhan zugeschrieben werden (aber eigentlich eher auf Winston Churchill zurückgehen): «Wir formen unsere Werkzeuge, und danach formen unsere Werkzeuge uns.»[24] Wir sind die Technologie unserer Werkzeuge: Sie formen und gestalten uns. Unsere Werkzeuge sind handlungsfähig und haben somit ebenfalls Anspruch auf die mehr-als-menschliche Welt. Diese Erkenntnis ermöglicht es uns, die Kernaufgabe einer technologischen Ökologie in Angriff zu nehmen: die Wiedereingliederung des fortgeschrittenen menschlichen Handwerks in die Natur, der es entsprungen ist.

Und schließlich hat dieses Buch noch ein weiteres Ziel. In Anbetracht dessen, dass wir Menschen und die Dinge, die wir herstellen, untrennbar mit der mehr-als-menschlichen Welt verwoben sind, und angesichts der Tatsache, dass ein Überdenken unserer Beziehung zu dieser Welt voraussetzt, dass wir ihre Existenz und ihre Handlungsfähigkeit anerkennen, müssen wir eingehender darüber nachdenken, welche Form diese Beziehung annehmen könnte. Ein Teil dieses Verhältnisses ist schlicht und einfach Fürsorge: eine ständige Aufmerksamkeit für die Bedeutung und Wirkung unserer Verflechtung. Der Rest ist – leider – Politik: das harte, handfeste Klein-Klein von Debatten, Entscheidungsfindung, Machtverhältnissen und Status. Hier, so glaube ich, hat die computerisierte Welt etwas Ausschlaggebendes zu unserer mehr-als-menschlichen Gemeinschaft beizutragen, etwas, das mit der Zeit ihre Aufnahme in dieses Gemeinwesen rechtfertigen könnte (sollte es einer Rechtfertigung bedürfen). Die unendliche Komplexität der Computerisierung, die wir ausgehend von der materiellen Welt prophezeit oder zusammenfantasiert und in Gestalt von Maschinen instanziiert haben, kann uns viel darüber verraten, wie wir uns zueinander verhalten sollten. Das ist Thema des letzten Teils des Buches: Maschinen, die uns zusammen mit Honigbienen, heiligen Flüssen, eingesperrten Elefanten und Rouletterädern zu einer gerechteren und ausgewogeneren, einer mehr-als-menschlichen Politik führen könnten.

Wie der Schock des mehr-als-menschlichen Bewusstseins beweist, betrachten wir die «Natur» weitgehend als etwas von uns Getrenntes. Wenn wir von den fantastischen Zukunftsvisionen der Hochtechnologie sprechen, sprechen wir von einer «neuen» oder «nächsten» Natur, einer Utopie der Computerisierung, die den tatsächlichen Boden, von dem wir herkommen und auf dem wir immer noch stehen, weiter entfremdet und ersetzt. Es ist an der Zeit, diesen pubertären Solipsismus abzulegen – sowohl um unserer selbst als auch um der mehr-als-menschlichen Welt willen. Es gibt nur Natur in all ihrer ewigen Blüte, und sie bringt Mikroprozessoren, Rechenzentren und Satelliten genauso hervor, wie sie Ozeane, Bäume, Elstern, Öl und uns hervorgebracht hat. Die Natur ist selbst Fantasie. Wir sollten sie also nicht re-imaginieren, sondern anfangen, sie uns neu vorzustellen, mit der Natur als unserer Mitverschwörerin: unserer Partnerin, unserer Kameradin und unserer Führerin.

1

Anders denken

Irgendwo an den höhergelegenen Hängen des Parnass fährt ein kleines, dunkelgraues Auto über eine grob geteerte Piste. Die Straße ist von Schnee gesäumt; weit unten glitzert der Golf von Korinth in der Sonne. Das Auto bewegt sich langsam, fast vorsichtig: Es beobachtet die Straße. Es hat Augen – mehrere davon –, die die Ränder der Böschungen im Blick haben, die weißen Markierungen an den Kreuzungen erkennen sowie registrieren und transkribieren, wo angehalten und wo abgebogen wird. Es hat aber auch noch andere Sinne: Es kann identifizieren, wie schnell es fährt, wo auf der Karte es sich befindet und in welchem Winkel das Lenkrad eingestellt ist. Und es hat eine Art Verstand. Nicht besonders ausgefeilt, aber mit einem klaren Fokus und der Fähigkeit, aus der Umgebung zu lernen, die Erkenntnisse zu integrieren, zu extrapolieren und Vorhersagen über die Welt um sich herum zu treffen. Dieser Verstand hatte auf dem Beifahrersitz Platz genommen; ich saß am Steuer und hatte, vorerst noch, die Kontrolle.

All das geschah vor ein paar Jahren, im Winter 2017, als ich beschloss, mir ein selbstfahrendes Auto zu bauen. Und obwohl dieses Auto nie – zumindest nie wirklich – selbst fuhr, brachte es mich an einige ziemlich interessante Orte.

Die Idee des selbstfahrenden Autos fasziniert mich. Nicht eigentlich wegen seiner Fähigkeiten, sondern wegen des Platzes, den es in unserer Vorstellung einnimmt. Das selbstfahrende Auto gehört zu den Technologien, die sich innerhalb weniger Jahre von einer Science-Fiction-Fantasie à la «Leben im 21. Jahrhundert» zur alltäglichen Realität entwickelt haben, ohne jemals eine Phase der kritischen Reflexion oder Assimilation durchlaufen zu haben. In solchen Momenten wird die Realität umgeschrieben. Das Gleiche dürfte mit ziemlicher Sicherheit auch für fortgeschrittenere Formen von KI gelten. Sie werden plötzlich in unserer Mitte auftauchen – die lange Forschungs- und Entwicklungsarbeit ist für die meisten Menschen unsichtbar und wird angesichts der Tatsache, dass sie Realität sind, gern vergessen. Die Frage, wer diese Umschreibung der Realität vornehmen darf, welche Entscheidungen dabei getroffen werden und wer davon profitiert, wird in der Aufregung allzu oft übersehen und verdrängt. Deshalb ist es, wie ich glaube, von entscheidender Bedeutung, dass sich möglichst viele von uns mit den Auswirkungen neuer Technologien befassen; dazu gehört auch, dass wir selbst etwas über diese Dinge lernen und sie ausprobieren.

Mein Versuch, ein autonomes Fahrzeug zu bauen, bestand aus einem gemieteten SEAT-Kombi, ein paar billigen Webcams, einem am Lenkrad befestigten Smartphone und einer aus dem Internet kopierten und aufgespielten Software.[1] Es ging freilich nicht darum, eine dumme Maschine mit allem zu programmieren, was sie im Voraus wissen musste. Ähnlich wie die kommerziellen Systeme, die von Google, Tesla und anderen entwickelt wurden, lernte mein Auto das Fahren, indem es mich beim Fahren beobachtete: Durch den Vergleich des Kamerabilds mit meiner Geschwindigkeit, Beschleunigung, Lenkradposition usw. glich das System mein Verhalten mit dem Straßenverlauf und dem Straßenzustand ab, und nach ein paar Wochen hatte es gelernt, wie man ein Fahrzeug auf der Straße hält – zumindest in einem Simulator. Ich bin nicht unbedingt der beste Fahrer der Welt, und ich würde diesem Ding nicht mein Leben anvertrauen, aber die Erfahrung, einen Code zu schreiben und damit auf die Straße zu gehen, hat mir ein besseres Verständnis dafür vermittelt, wie bestimmte Arten von KI funktionieren und wie es sich anfühlt, mit einem lernenden System zu arbeiten.

Ich fragte mich auch, was es bedeuten würde, diese Art von Arbeit fernab der kalifornischen Autobahnen, auf denen das Silicon Valley seine selbstfahrenden Autos trainiert, und der bayerischen Teststrecken, auf denen die Giganten der Automobilindustrie neue Modelle entwickeln, durchzuführen, nämlich auf den Straßen Griechenlands, wo ich mich vor kurzem niedergelassen hatte. Also an einem Ort mit einer völlig anderen materiellen und mythologischen Vergangenheit und Gegenwart. Wie sich herausstellte, funktionierte es wunderbar.

Als ich Athen verließ und Richtung Norden fuhr, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben (außer dass ich meinem KI-Kopiloten einen Vorgeschmack auf möglichst viele verschiedene Geländearten geben wollte), kam ich bald an den antiken Stätten Theben und Marathon vorbei und fuhr weiter hinauf zum dunklen Massiv des Parnass. In der griechischen Mythologie war der Parnass dem Kult des Gottes Dionysos geweiht, dessen ekstatische Geheimnisse durch den Genuss großer Mengen Wein und wilde Tänze offenbart wurden; wer an solchen Riten teilnahm, befreite das wilde Tier in sich und wurde eins mit der Natur. Der Parnass war zudem die Heimat der Musen, der Göttinnen, die Literatur, Wissenschaft und Kunst inspirierten. Den Gipfel des Parnass zu erklimmen bedeutete also, auf den Gipfel des Wissens, des Handwerks und der Fertigkeiten zu gelangen.

Der Zufall und die Geografie hatten sich zu einer faszinierenden Frage vereint. Was würde es mythologisch gesehen bedeuten, von einer KI auf den Parnass gefahren zu werden? Einerseits könnte es als eine Art Unterwerfung unter die Maschine verstanden werden: ein Eingeständnis, dass die menschliche Spezies am Ende und dass es an der Zeit ist, die Aufgabe des Erforschens und Entdeckens an unsere roboterhaften Oberherren weiterzureichen. Andererseits könnte der Versuch, die Reise im Geiste des gegenseitigen Verständnisses und nicht der Eroberung anzutreten, genau die Art und Weise sein, wie wir ein neues Narrativ für den Parnass schreiben – eines, in dem menschliche und maschinelle Intelligenz sich gegenseitig verstärken, statt einander übertreffen zu wollen.

Ich hatte mit diesem Projekt begonnen, weil ich die künstliche Intelligenz besser verstehen wollte, und vor allem, weil ich die Erfahrung machen wollte, mit einer intelligenten Maschine zusammenzuarbeiten, anstatt einfach nur ihre Leistung bestimmen zu wollen. Tatsächlich beruhte das gesamte Projekt auf einer Art Anti-Determinismus: Ich wollte bei der gesamten Reise so wenig wie möglich planen. So fuhr ich, als ich das Auto trainierte, völlig willkürlich dahin, nahm so gut wie jede Seitenstraße und jede Abzweigung, an der ich vorbeikam, schweifte umher, staunte und verirrte mich zum Glück total. Indem es mich beobachtete, lernte das Auto, sich ebenfalls zu verfahren.

Das war eine bewusste Absage an die Art des Fahrens, die wir heute meistens praktizieren: ein Ziel in ein GPS-System eingeben und dessen Anweisungen ohne Fragen oder Vorgaben befolgen. Dieser Verlust an Handlungsfähigkeit und Kontrolle spiegelt sich in der Gesellschaft insgesamt wider. Konfrontiert mit immer komplexeren und undurchsichtigeren Technologien, kapitulieren wir vor deren Befehlen, was häufig eine Mischung aus Angst und Langeweile zur Folge hat. Anstatt mich einer Reihe von Prozessen zu unterwerfen, die ich nicht verstand, nur um an einem vorbestimmten Ort anzukommen, wollte ich mich zusammen mit der Technologie auf ein Abenteuer einlassen, mit ihr zusammenarbeiten, um neue und unvorhergesehene Ergebnisse zu erzielen.

Insofern orientierte sich meine Vorgehensweise eher am Flaneur als am Ingenieur. Der Flaneur oder die Flâneuse im Paris des 19. Jahrhunderts war eine Person, die unbekümmert durch die Straßen spazierte, eine urbane Entdeckerin, auf die die Eindrücke der Stadt einströmten und die sie auskostete. Im 20. Jahrhundert wurde die Figur des Flaneurs von den Verfechtern des dérive, des Umherschweifens, aufgegriffen: als eine Möglichkeit, das Unbehagen und die Langeweile des modernen Lebens durch ungeplante Spaziergänge, Aufmerksamkeit für die Umgebung und Begegnungen mit unerwarteten Ereignissen zu bekämpfen. Der Philosoph Guy Debord, der wichtigste Theoretiker des dérive, hat stets darauf beharrt, solche Spaziergänge sollten am besten in Gesellschaft unternommen werden, damit die unterschiedlichen Eindrücke der Gruppe in Resonanz zueinander treten und sich gegenseitig verstärken können. Würde mein autonomer Begleiter im 21. Jahrhundert die gleiche Rolle spielen können?[2]

Ich habe mich nicht nur verfahren, sondern auch überlegt, wie ich das veranschaulichen kann, was ich als die Umwelt meines selbstfahrenden Autos zu verstehen begann. Der Begriff «Umwelt» wurde von dem deutschen Biologen Jakob von Uexküll Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt und bedeutet im Deutschen viel mehr als nur «Umgebung». Die Umwelt bezeichnet die besondere Perspektive eines bestimmten Organismus: sein inneres Modell der Welt, das aus seinem Wissen und seinen Wahrnehmungen besteht. Die Umwelt des Zeckenparasiten zum Beispiel besteht aus lediglich drei unglaublich speziellen Fakten oder Faktoren: dem Geruch von Buttersäure, der auf die Anwesenheit eines Tieres hinweist, von dem die Zecke sich ernähren kann; der Temperatur von 37 Grad Celsius, die auf die Anwesenheit von warmem Blut hinweist; und der Behaarung von Säugetieren, die die Zecke zur Nahrungssuche aufsucht. Aus diesen drei Eigenschaften ergibt sich das gesamte Universum der Zecke.[3]

Entscheidend ist, dass ein Organismus seine eigene Umwelt erschafft, sie aber auch in der Begegnung mit der Welt ständig umgestaltet. Insofern bestätigt das Konzept der Umwelt sowohl die Individualität eines jeden Organismus als auch die Tatsache, dass sein Geist untrennbar mit der Welt verbunden ist. Alles ist einzigartig und verwoben. Selbstverständlich haben in einer mehr-als-menschlichen Welt nicht nur Organismen eine Umwelt, sondern alle Wesen und Dinge.

Die Umwelt ist seit langem ein sehr brauchbares Konzept sowohl in der Robotik als auch in der Biologie. Wie unschwer zu erkennen ist, könnte das Beispiel der simplen Regeln der Zecke auch als Grundgerüst für einen einfachen, autonomen Roboter dienen: «Bewege dich auf dieses Licht zu; halte bei diesem Geräusch an; reagiere auf diese Eingabe.» Was also ist die Umwelt des selbstfahrenden Autos?

Die simple Intelligenz, die meinem Auto zugrunde liegt, ist ein neuronales Netz, eine der gängigsten Formen von lernenden Maschinen, die heute verwendet werden. Es handelt sich um ein Programm, das eine Reihe künstlicher «Neuronen» oder kleinerer Verarbeitungseinheiten simuliert, die wie ein stark vereinfachtes Gehirn in Schichten angeordnet sind. Eingangssignale – die Geschwindigkeit des Autos, die Position des Lenkrads, die Perspektive der Kameras – werden in diese Neuronen eingespeist, in ihre Bestandteile zerlegt, verglichen, kontrastiert, analysiert und zugeordnet. Während diese Daten durch die Neuronenschichten fließen, wird die Analyse immer detaillierter und abstrakter – und damit für einen Außenstehenden schwerer zu verstehen. Wir können jedoch bestimmte Aspekte dieser Daten visualisieren. Insbesondere können wir, sobald das Auto ein wenig trainiert wurde, sehen, was das Netzwerk von dem, was es sieht, für wichtig hält.[4]

Visualisierungen der Art und Weise, wie ein neuronales Netzwerk sieht

Diese Bilder veranschaulichen das ein wenig. Das erste präsentiert den Blick direkt von der Hauptkamera des Autos: eine Straße auf dem Parnass, die im Nebel verschwindet. Das zweite zeigt, wie das Bild aussieht, wenn es zwei Schichten des Netzwerks durchlaufen hat; das dritte demonstriert die vierte Schicht. Natürlich sind das Visualisierungen für menschliche Augen: Die Maschine «sieht» nur eine Darstellung in Daten. Aber auch diese Bilder hier sind Daten: Die Details, die im Bild verbleiben, sind die Details, die die Maschine als wichtig für das Bild erachtet. In diesem Fall sind die wichtigen Details die Linien entlang des Straßenrandes. Die Maschine hat aufgrund ihrer Beobachtungen entschieden, dass diese Linien von einiger Bedeutung sind; und das sind sie ja auch, wenn die Maschine auf der Straße bleiben soll. Wie die Zecke, die auf die Temperatur des Blutes von Säugetieren reagiert, sind die Linien auf der Straße ein wichtiger Teil der Umwelt des Autos.

Und in dieser Beobachtung finden wir den Punkt, an dem meine Umwelt mit der des Autos verflochten ist. Ich sehe die Linien auch. Wir teilen also zumindest einen Aspekt unserer Weltmodelle – und auch daraus könnten ganze Universen erwachsen.

Um diese Erkenntnis eines gemeinsamen Modells – und damit einer gemeinsamen Welt – zu dramatisieren, tat ich etwas, das sich ein wenig gemein anfühlte. So sehr ich auch in unsere Zusammenarbeit hineingewachsen war und meinen automatischen Begleiter liebgewonnen hatte, beschloss ich, ihn auf die Probe zu stellen. Und so schüttete ich mittels mehrerer Kilosäcke Salz einen festen Kreis von einigen Metern Durchmesser auf den Boden, um den ich dann einen gestrichelten Kreis zog. Zusammen bildeten diese Kreise einen geschlossenen Raum, in dem die (europäische) Straßenmarkierung für «No Entry» («Einfahrt oder Durchfahrt verboten») nach innen projiziert wurde. Das hat zur Folge, dass ein gut trainiertes, regelgetreues autonomes Fahrzeug, das in den Kreis einfährt, diesen nicht mehr verlassen kann. Ich nannte es die Autonomous Trap (die autonome Falle).

Autonomous Trap 001, Parnass, 2017