Die Ungleichzeitigen - Philipp Brotz - E-Book

Die Ungleichzeitigen E-Book

Philipp Brotz

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Beschreibung

Hagen, Anfang dreißig und ewiger Student, ist in Berlin gescheitert und mit den Eltern verkracht. Als diese tödlich verunglücken, kehrt er in sein Schwarzwälder Heimatdorf zurück, um an sein früheres Leben anzuknüpfen. Doch bestürzt stellt er fest, dass nichts beim Alten ist: Im Dorf hat man ihn vergessen, der Wald seiner Kindheit soll Flüchtlingsunterkünften weichen. Hagen beginnt einen aussichtslosen Kampf um das Verlorene und gegen das Fremde, bis er in der Jesidin Adana auf eine Frau trifft, die genau wie er entwurzelt zu sein scheint. »Dass ein Vogel den Baumstamm kopfüber hinablaufen konnte, davon hatte sie noch nie gehört. Das wolle sie auch können, flüsterte sie. Alle Wege rückwärtsgehen. Rückwärts in der Zeit.«

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Philipp Brotz

DIE UNGLEICHZEITIGEN

Roman

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Nicht alle sind im selben Jetzt da. Sie sind es nur äußerlich, dadurch, dass sie heute zu sehen sind. Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich. … Verschiedene Jahre überhaupt schlagen in dem einen, das soeben gezählt wird und herrscht. Sie blühen auch nicht im Verborgenen wie bisher, sondern widersprechen dem Jetzt; sehr merkwürdig, schief, von rückwärts her.

Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit

I

Spätestens seit Stuttgart-Flughafen wuselte Vorfreude ameisenhaft unter Hagens Haut und bis in sein Innerstes.

Der Tetra-Pack knackte, als er ihn an die Lippen setzte.

»Milch?«, fragte der Fahrer mit dem kehligen ch eines Balkaneuropäers aus dem Rückspiegel.

»Laktosefrei«, nickte Hagen und wischte sich einen Tropfen vom Kinn. Die Milch war temperiert, obwohl er sie erst direkt vor der Taxisuche am Flughafen gekauft hatte. Im Wageninnern hatte er sie sofort aus der Tüte genommen, zwischen die Oberschenkel geklemmt und von oben mit den Händen gewärmt.

Seit sich der Schwarzwald mit den Formen einer wuchtigen Schmuckschatulle am Horizont abzeichnete, saß Hagen in der Mitte der Rückbank. Von hier konnte er den kurvigen Straßenverlauf durch die Windschutzscheibe verfolgen wie die Katze den lockenden Finger.

»Woher kommst du?«, fragte der Fahrer in einem schleppenden Ton, als läse er den Satz aus einem Lehrbuch ab.

»Berlin«, sagte Hagen.

»Berlin«, wiederholte der Fahrer andächtig. »Warum bist du dann hier?«

»Das ist meine Heimat.«

Der Fahrer lachte. »Klingt wie ein Gebet. Besuchst du jemand?«

»Ich bleibe hier. Für immer.«

»Hast du eine Wette verloren?«

Da Hagen nicht antwortete, fuhr der Fahrer fort: Hätte er die Wahl, er ginge sofort nach Berlin. Aber wann im Leben habe man schon die Wahl? Der Sohn noch Schüler, die Tochter im Kindergarten, die Schwiegereltern vor Ort. »Aber du siehst aus wie ein freier Mann. Warum bleibst du nicht in Berlin?«

»Ein zu freier Mann«, sagte Hagen. Berlin habe aus ihm den einsamsten aller Menschen gemacht. Quadratische Häuser, quadratische Fenster, quadratische Gesichter. Noch am letzten Tag habe er sich so fremd gefühlt wie am ersten.

»Und hier ist alles Bäume, Kühe, Wald.«

Hagen nickte. »Ja. Aber: meine Bäume, meine Kühe, mein Wald.«

»Bei uns sagt man: Wer die Heimat liebt, weiß nicht, wie schön es hinter den Bergen ist.«

Hagen lächelte höflich. Das enge Hemd war in den Achseln feucht geworden. Sein Bauch kitzelte. Atemlos setzte er die offene Milch an die Lippen, trank hastig, setzte ab und führte sie erneut zum Mund, da bog das Taxi in eine Kurve. Milch verteilte sich auf Hemd und Brust. Mit dem Daumen rieb Hagen über den nassen Stoff, trank dann den Tetra-Pack leer und sah wieder aus dem Fenster. Sie erreichten den Rand des Nagoldtals.

»Mein Bruder wohnt auch hier«, sagte der Fahrer, als das Ortsschild erkennbar wurde.

»In Löwenau?«, rief Hagen.

Der Fahrer nickte.

»Woher kommen Sie?«, fragte Hagen.

»Kosovo.«

»Und Ihr Bruder ist auch aus dem Kosovo?«

»Nein«, sagte der Fahrer und schüttelte energisch den Kopf, »mein Bruder kommt aus Grönland.« Als er Hagens Gesicht im Rückspiegel sah, lachte er großväterlich.

Hagen fühlte warmes Blut in seine Wangen schießen. »Aber in Löwenau gibt es doch keine Kosovaren«, sagte er dann gedehnt.

»Wie lange warst du nicht mehr hier?«

»Zehn Jahre.«

»Mein Bruder ist vier Jahre da. Aber er will schon lange weg. Nach Stuttgart. Oder Berlin.« Der Fahrer sprach weiter, aber Hagen konnte nicht mehr zuhören. Sie passierten den Friedhof, und Hagen reckte den Kopf, bis er an die Fahrzeugdecke stieß. Das Blut pochte so stark in der Halsschlagader, als ob ihn jemand würgte. Plötzlich stieg Milch die Speiseröhre empor. Ein vergorener Geschmack breitete sich aus.

Sie gelangten zur T-Kreuzung. Sie hielten. Bogen ab. Kein Mensch auf der Straße außer der alten Dame mit dem mädchenhaften Zopf, an die Hagen seit zehn Jahren nicht gedacht hatte. Wen mochte er noch vergessen haben? Die alte Dame ging schwankend, mit jedem Schritt ihre Jahre bewegend. Hagen winkte ihr durchs Rückfenster, aber sie sah dem Taxi nur mitleidig nach wie einem überladenen Zug aus einem fremden Land. Noch immer erzählte der Fahrer vor sich hin. Die Hauptstraße war jetzt Dreißigerzone. Gut so. Hagen konnte alles in Ruhe betrachten. Den Brunnentrog, in dem die Geranien dem fortgeschrittenen Frühjahr erste schüchterne Blüten entgegenreckten. Das Anwesen des dicken Bauunternehmers. Gegenüber den längst aufgegebenen Löwen, an dem das alte Wirtshausschild behauptete: Stuttgarter Hofbräu – Es schmeckt so wie kein anderes. Dazwischen immer wieder der Blick auf die Hauptstraße und dieses Tagtraumgefühl, dass jeden Moment Vaters BMW entgegenkommen könnte. Dann freie Fläche, die Allmandwiese, und endlich die zwei Handvoll Häuser, in den Achtzigern das Neubaugebiet. Jetzt hoben sie sich als Zeugen eines untergegangenen Baustils gegen den Lärchenwald ab. Dort hinten, unter diesen Bäumen, hatte er als Kind mit der Mutter Frösche gekeschert und in Eimern in den heimischen Gartenteich getragen.

Dann waren sie da. Hagen tippte an die Schulter des Fahrers: »Das ist es.« Er deutete aus dem rechten Fenster auf sein Elternhaus.

Der Fahrer parkte das Taxi. Anschließend hievte er das Gepäck aus dem Kofferraum, während Hagen schweigend den Schatten der rauschenden Birken verfolgte, der über Haus und Garten huschte. Und über den Kiesweg, der zur Haustür führte.

Der Fahrer hielt Hagen seinen Reiserucksack hin. »Rest vom Gepäck kommt mit Spedition?«

Hagen sah ihn verdutzt an. Warum sollte aus Berlin, wo nichts war, etwas hierherkommen, wo alles war.

Dann zählte er dem Fahrer einhundert statt der verlangten dreiundachtzig Euro in die Hand, stieß das Gartentor auf und ging langsam zum Haus. In seinem Rücken hörte er den Motor aufheulen und das Taxi so eilig davonrollen, als kenne es bessere Orte als diesen.

Nachdem er heute Morgen alle seine Berliner Schlüssel der Dame von der Immobilienverwaltung gegeben hatte, war der Schlüssel zu seinem Elternhaus als einziger am Bund verblieben. Mit zitternden Fingern steckte Hagen ihn ins Schloss – und stieß auf Widerstand. Er versuchte es erneut. Entweder steckte etwas im Schloss – oder jemand hatte es austauschen lassen. Hagen betrachtete den Schlüssel, dann das Schloss. Kein Zweifel: Schlüssel und Schloss passten nicht zusammen. Er verharrte kurz, dann drehte er sich um die eigene Achse und ließ sich, den Rücken an der Tür, hinabsinken. Kalter Stein drang durch den Stoff seiner Hose. Hart schlug sein Hinterkopf gegen das Holz der Tür, als alles an ihm erschlaffte.

Seine Schultern zuckten. Dann rief er sich selbst zur Ordnung und richtete sich auf, klopfte seine Taschen ab, fand das Handy, googelte und rief einen Schlüsseldienst, der in einer halben Stunde da zu sein versprach.

Die Zeit bis dahin nutzte er für ein Wiedersehen mit dem Garten. Den Rucksack ließ er vor der Tür zurück, in Berlin hätte er das nie riskiert.

Die Nussbäume waren verschwunden. Die Quitten auch. Alles war einer Rasenfläche mit nur wenigen Inseln gewichen, von Buchsbaum begrenzt. Auf den Inseln durfte anorektischer Rosmarin wachsen, von weißem Kies bedrängt. Immerhin, der Teich war noch da. Und die flamingofarben blühenden Seerosen.

Aber die Nussbäume! Sie wären jetzt kaum älter als dreißig Jahre gewesen. Und was war mit den Quitten geschehen? Den Quitten mit ihren schüchtern beflogenen Nistkästen. Es standen auch keine alten Tongefäße mit Holzwolle mehr bereit, um Ohrenkneifer anzulocken. Und den efeuüberwachsenen Kirschbaumstrunk hatte man aus der Erde gehebelt.

Der Garten war ein anderer.

Später endlich Schritte im Kies und das dumpfe Scheppern der Klingel.

Warum klingelten die, wo er doch nicht ins Haus kam? Als der Schlüsseldienstler Hagen näherkommen hörte, drehte er sich um.

»Alex?«, fragte Hagen.

»Kennen wir uns?«

»Alexander Kalmbach?«

»Anscheinend kennen wir uns.«

Hagen strebte auf den Schlüsseldienstler zu, setzte strahlend zu einer Umarmung an, beließ es aber bei einem Schulterklopfen, als er bemerkte, wie der andere zurückwich.

Dass sie einmal Mitschüler gewesen seien, daran könne er sich nicht erinnern, erklärte Alex nach Hagens Erläuterung. Gut, einen Hagen habe es sicher einmal gegeben.

Nachname?

Hartmann!

Ja, richtig, das stehe ja auch hier. Sollte man als Schlüsseldienstler wissen. Im Scherz schlug er sich gegen die Stirn. Hagen Hartmann. Er kaute auf seiner Unterlippe. Nein, einen Hagen Hartmann habe seine innere Festplatte tatsächlich nicht mehr gespeichert. Aber wie dem auch sei – er bückte sich nach seinem Werkzeugkasten, kramte, verwies auf Termine, dringende, hantierte im Schloss, schraubte und bog, ohne Hagen weiter zu beachten. Der war beiseitegetreten und stand, die Arme gegen das Gefühl der eigenen Überflüssigkeit verschränkt, neben der Eingangstreppe, in seinem Kopf die Sätze des ehemaligen Mitschülers wiederholend.

Vielleicht war er selbst derjenige mit dem schlechten Erinnerungsvermögen. Der diesen Handwerker im Blaumann versehentlich für Alexander Kalmbach hielt. Obwohl – dass er so hieß, hatte er ja bestätigt. Und ganz sicher war er einmal Hagens Mitschüler gewesen. Vier Jahre hatten sie die Grundschule im Nachbardorf besucht, vier Jahre in derselben Klasse. Nebeneinander gesessen waren sie nie. Aber den Heimweg geteilt hatten sie doch etliche Male. Und ein Lager im Lärchenwald errichtet. Eine Grube ausgehoben und diese Grube mit Zweigen und Ästen und Blättern umfasst. Wenn Alex keine Termine hätte – Hagen könnte ihm die Stelle sofort zeigen. Der Mutter hatte er sie gezeigt, damals, er hatte sie – ein stolzer Bauherr – an der Hand in den Wald geführt. Und Salamander unten im Löwenbach hatten sie gesucht, Alexander Kalmbach und er. Gefunden freilich keine – der Bach zu kalt, ihre Geduld zu gering, das Abendessen zu nah. Gesucht hatten sie trotzdem. Gemeinsam. Vor über zwanzig Jahren. Nur der dort kniete, Alexander Kalmbach, noch immer den blonden Schopf zur Bürste rasiert und noch immer Sommersprossen um die Nase wie in einem Mädchengesicht, der wusste das nicht mehr und reichte stattdessen eine Rechnung herüber.

Bar sei ihm lieber. Gut, da Hagen kein Bargeld bei sich habe, zur Not eben Überweisung. Ja, er wohne noch immer in Löwenau. Grundstück der Oma. Die Oma lebe noch. Neben ihrem ein neues Haus gebaut. Aber jetzt muss er los, der nächste Termin. Auf dem Weg zum Auto drehte Alex sich noch einmal um. »Wie lange ist das her, dass wir uns kannten?«

»Zweiundzwanzig Jahre.«

II

Auf der Garderobe die Kopfbedeckungen des Vaters, als könnte er jeden Augenblick eintreten und nach einem Stetson greifen, um seinen kahlen Schädel zu schützen. Darunter Jacken und Mäntel. Der bleistiftgraue Wollmantel der Mutter. Hagen lehnte den Rucksack an die Wand, dann streckte er die Arme aus und umarmte den weichen Stoff, atmete tief ein und aus und schluckte, als nach all den Jahren wieder Muttergeruch in sein Inneres strömte.

Hinter der Diele der Schock: Alles Kantige, Wuchtige war gewichen und durch Helles, Hohes, Schmales ersetzt worden. Beleuchtbare Glas-Stahl-Vitrinen statt der Massivholzschränke. Hagen eilte ins Wohnzimmer. Dort dasselbe: eine leichte Ledergarnitur, alles so weiß, gläsern, stählern und transparent wie möglich. Ein vertrauter Raum, der sich ihm entfremdet hatte. Auch der Blick hinaus war entstellt: vor den Fenstern das flirrende Sonnenlicht über dem sterilen Grün des Rasens. Wohnzimmer und Garten waren katalogfähig geworden, und er mittendrin, ein verirrter Fremdkörper.

Dann der Gedanke, der ihn am ganzen Körper verkrampfen ließ: Das Seine musste man doch aber bewahrt haben. Er eilte den Flur entlang bis ans Ende, wo rechts das Schlafzimmer der Eltern lag. Links das Kinderzimmer. Abgeschlossen. Hagen rüttelte. Verriegelt. Warum? Doch früher nie. Er blickte um sich, hastig, scannte die Wände nach einem Nagel mit baumelndem Schlüssel, tastete, fand den Lichtschalter, hastete zu den Stahl-Glas-Gestängen und klopfte die durchsichtigen Ablageflächen ab. Obwohl seine Eltern nicht da sein konnten, hatte er das Gefühl, sie sähen ihm zu, belächelten ihn, den Hastenden, den Tastenden. Die spöttischen Augen im Nacken halfen: Langsam wurde er ruhiger. Der Schlüssel würde sich finden. Das Haus verliert nichts, hörte er den Vater. Er konnte später suchen. Oder jetzt noch ein bisschen. Ein bisschen noch. Im Schlafzimmer, dessen Tür offen stand.

Wenigstens hier waren die Möbel nicht verändert. Er erkannte das alte Massivholzbett, in dessen Matratzengraben er als Kind so häufig geklettert war. Dazu allerdings einen neuen Geruch, stechend wie in einer Bahnhofsunterführung. Auf einmal ein schwaches Geräusch, ein Fiepen wie das eines entkräfteten Jungvogels unter dem Nest. Hagen sah sich um. Memory! Keine Spur von ihr auf der Vaterseite des Bettes. Er prüfte die Decken. Keine Memory in den Laken. Seine Schritte zügelnd, umrundete er das Bett. Keine Memory, aber wieder dieses Fiepen. Dazu der stechende Geruch, der immer stärker wurde. Er kniete sich hin und sah ins Halbdunkel: Riesige Pupillen in eukalyptusgrüner Iris starrten ihn an. »Memory!«, rief Hagen. Er lockte die Katze mit Geräuschen. Sie gab einen verhaltenen Laut von sich, ohne sich zu rühren. Vorsichtig schob er seine Hand unter das Bett. Memorys Körper zuckte, und etwas Spitzes schrammte über Hagens Haut. Er zog die Hand zurück und biss die Zähne zusammen.

Seit sie allein war, mochte sie Wasser aus Gießkannen geschlabbert haben oder aus tropfenden Hähnen. Er würde ihr jetzt die erste vollwertige Mahlzeit seit Langem bereiten. Im Kühlschrank fand er eine offene Vollmilch, die längst abgelaufen war und in Klümpchen in das Spülbecken schwappte. In der Speisekammer: nichts. Im Keller endlich stieß Hagen auf zwei Packungen H-Milch, leider nicht laktosefrei. Keine laktosefreie Milch in einem Katzenhaushalt! Dabei war Memorys Dünndarm doch genauso überfordert mit der Spaltung des Milchzuckers wie seiner. Egal. Um sie unter dem Bett hervorzulocken, war jedes Mittel recht.

Nachdem Hagen Futter- und Trinkschale befüllt, den Geruch von beidem in Memorys Richtung gewedelt und sich dann einige Meter zurückgezogen hatte, kroch die kleine Katze aus ihrem Versteck hervor. Mehr Haut als Knochen, die Augen nur noch trübe Pfützen und der Hals sehnig und faltig wie der einer alten Frau.

Hagen konnte nicht anders, als die Hand nach dem zitternden Tier auszustrecken, das unter seiner Berührung zuckte, aber nicht vom Milchnapf abließ, aus dem es mit ungelenker Zunge in hektischem Staccato schlabberte. Memorys Fell in seiner Hand war stumpf, und als er sie vorsichtig vom Kopf zum Rumpf hin streichelte, glitten seine Finger über ihre Rippen wie über Klaviertasten. Vergeblich versuchte er, die Erinnerungsbilder in seinem Innern zu unterdrücken. Die lauernde Memory im Kirschbaum. Memory, die stolz Maus um Maus vor die Tür legte und dann in der Küche nach Dosenfutter verlangte. Die Freude über das Wiedersehen mit Memory, als er in seinen ersten Berliner Semesterferien nach Löwenau gekommen war. Memory im Arm seiner Mutter, die auf dem Sofa lag. Seine Eifersucht auf Memory. Die Erleichterung, als er sich neben sie legen durfte.

Und jetzt kniete er auf dem Parkett und sah, wie allmählich der Tod in dieses Bündel aus stumpfem Fell und grätendünnen Knochen schlüpfte und seine blassen Farben in das Katzengesicht tupfte. Tränen kitzelten Hagens Nase. Er richtete sich auf, um sie mit dem Ärmel abzuwischen. Erschrocken wich Memory zurück. »Nicht doch«, bettelte Hagen, »komm her. Bitte komm und trink.« Mit angelegten Ohren folgte Memory seinem lockenden Finger bis zu den Näpfen. Nachdem Hagen der hinfälligen Katze eine Weile beim Trinken zugesehen hatte, schlich er davon, um nach der Uhrzeit zu sehen. Ja, die Tierarztpraxis im Nachbardorf war sicher noch einige Zeit geöffnet. Dr. Schroth musste Memory behandeln, ihr etwas spritzen, Vitamine, Blutplasma, keine Ahnung, was, Hagen würde sofort hinfahren.

Im Keller fand er den Katzenkorb, auf dem Küchentisch Mutters Autoschlüssel. Es tat weh, zu sehen, wie Memory sich anfangs dagegen wehrte, in den Korb bugsiert zu werden. Und noch mehr schmerzte, wie schnell sie sich ergab. »Ich will dir doch das Leben retten, und du mir bitte meines«, flüsterte er zärtlich durch die Gitterstäbe.

Dr. Schroth sei längst in Rente, erklärte ihm die Sprechstundenhilfe. Und Frau Dr. Pieper habe alle Hände voll zu tun, er sehe ja, was hier los sei, da könne man nicht einfach so reinplatzen, als wäre das eigene Tier das einzige auf der Welt!

Hagen setzte sich, die elende Memory mit wässrigen Eukalyptusaugen im Körbchen zu seinen Füßen. Im Lauf des Nachmittags ließ Hagen allen den Vortritt, die nacheinander aufgerufen wurden, und versuchte jedes Mal, einen Blick der Sprechstundenhilfe zu erhaschen, ein Zeichen, das ihm signalisierte, sie wisse um Memorys und seine Not. Nachdem die letzte Sittichbesitzerin das Behandlungszimmer mit ihrem zeternden Vogel im Bauer verlassen hatte und niemand mehr wartete, ging er zur Tür, klopfte, hörte nichts, trat ein und stand vor einer Frau, die Dr. Pieper sein musste – eine Hünin, fast von Hagens Größe, dürr und blond, in ihren Bewegungen steif wie ein Laufvogel.

»Guten Tag«, erwiderte die Ärztin seinen Gruß und belehrte ihn in hanseatisch gefärbtem Hochdeutsch, dass die Sprechstunde für heute beendet und ihr kein weiterer Patient angekündigt sei.

»Ein Notfall«, sagte Hagen und öffnete das Gitter, kaum dass er den Korb auf den Tisch gestellt hatte. Man sah Memory den Notfall an.

Dr. Pieper beugte sich vor, um die kleine Katze zu betrachten. Schließlich lockte sie sie heraus.

»Wie alt?«

Memory müsse vierzehn sein, rechnete Hagen vor. Bei Memory handle es sich um Monopolys Tochter und Mikados Enkelin. Es sei eine Angewohnheit seiner Eltern, alle Katzen nach Gesellschaftsspielen zu benennen, die mit einem M beginnen …

Dr. Pieper brachte ihn mit einem Handzeichen zum Schweigen. »Hier bleibt nur Einschläfern«, sagte sie und drehte sich einem Tischchen mit Instrumenten zu.

»Einschläfern?« Hagens Stimme wurde brüchig. »Wollen Sie denn gar nicht wissen, was passiert ist?«

»Hören Sie, ich habe jetzt Feierabend. Das Tier ist vierzehn Jahre alt und atmet flach. Es hat extremes Untergewicht und Mangelerscheinungen, die sich an den Zähnen, der Regenbogenhaut und den Krallen zeigen. Ich erlöse es kurz, und dann muss ich los.« Mit diesen Worten zog sie eine Spritze auf.

»Nein!«, rief Hagen, griff nach der schwach fauchenden Memory und stopfte sie in den Korb zurück, ihre ausgefahrenen Krallen an seinem Handrücken ignorierend.

Hastig verließ er das Behandlungszimmer, hörte die Tierärztin hinter sich rufen, verstand nur »Materialkosten«, stürmte an der Sprechstundenhilfe vorbei, wuchtete den baumelnden Korb auf den Beifahrersitz des Mini Countryman und fuhr los. Erst nachdem er einige Male abgebogen war, machte er Halt und dachte nach. Was jetzt? Ein anderer Tierarzt? Eine Heilpraktikerin für Tiere? Gab es so etwas?

Er googelte nach Ratschlägen zum Aufpäppeln von Katzen: hochwertiges Nassfutter mit hohem Fleischanteil. Futter leicht aufwärmen. Gabe von etwas Bierhefe. Hüttenkäse als Beimischung. Lammhack oder Geflügel mit Haut.

Er musste einkaufen. Also fuhr er zurück nach Löwenau und bog vor dem Ortseingang zum Löwenbachtal in Richtung Kreisstadt ab. Kurz vor dem Löwenauer Brückle bremste er und wandte sich Memory zu, die ihn mit matten Augen durch das Gitter anstarrte. Als er wieder aufsah, entdeckte er eine Gruppe von vier oder fünf jungen Menschen am Löwenbach: einen Schwarzen, mehrere Männer, die orientalisch aussahen, zwischen ihnen eine junge Frau. Eine solche Person hatte Hagen noch nie gesehen: strahlendes Lachen, symmetrische Grübchen, die er selbst aus dem fahrenden Auto erkannte, dazu wallendes schwarzes Haar und eigentümliche Kleidung, ein Samtsakko und darunter eine Rüschenbluse. Der Anblick der Frau hatte Hagens Mini fast zum Stehen gebracht. Er riss sich los, dann gab er Gas, um den Anstieg nach der Brücke zu schaffen. Einem Schwarzen war er in Löwenau noch nie begegnet, auch keinem Orientalen. Waren das Asylbewerber? Und wer war die Frau? Eine von ihnen? Die sich allein mit mehreren Männern im Löwenbachtal traf? Hagen drängte seine Fragen beiseite. Er musste Memory retten.

III

Als Memory sich erbrach, machte Hagen sich Vorwürfe. Warum nur hatte er der kleinen Katze mit dem Futternapf in der Hand nachgestellt? Warum hatte er ihr den Hüttenkäse mit einem Plastiklöffel einflößen müssen, zwischen ihren gefletschten Zähnen hindurch, den eigenen Atem unterdrückend, weil er sonst ihren Mundgeruch nicht aushielt? Er hatte auf Google vertraut statt auf den Überlebenswillen der Katze – vielleicht, weil er nicht mehr an diesen Überlebenswillen glaubte.

Nachdem Memory ihr heiseres Würgen beendet hatte, zog sie sich unter das Sofa zurück. Von dort aus sah sie ihm mit wässrigen Augen zu, wie er die von Speichelfäden überzogenen, nach Galle riechenden Käseklumpen aufwischte. Und wenn er die Katze ihrem eigenen Instinkt überließe?

Hagen bereitete eine Auswahl an Nahrungsmitteln vor, die er auf dem Wohnzimmerboden platzierte. Dann ließ er Memory unter dem Sofa zurück und ging, da sich vor dem Fenster die erste Nacht in seinem Elternhaus ankündigte, abermals auf die Suche nach dem Schlüssel zu seinem Kinderzimmer.

Das Haus der Eltern schien zu einem Haus ohne Schlüssel geworden zu sein.

Überhaupt war ein Haus des Wenigen entstanden, ein Haus der kargen Zimmer, der schlichten Ästhetik, ein Haus des Unpersönlichen und Kataloghaften. Zwei der Räume im Obergeschoss waren zwar vollständig möbliert, aber als Hagen eintrat, hatte er das Gefühl, er sei der Erste, der nach verwaisten Jahren ein Hotelzimmer ohne Spuren eines Gastes betrete.

Früher hatte es in diesen Zimmern ein Bügelbrett gegeben und vom Dämpfen duftende Wäsche. Dazu Topfpflanzen – einen vergilbten Elefantenfuß und eine kühlende Monstera. Manchmal war der Boden von bunten Artikeln auf Glanzpapier übersät gewesen, die die Mutter aus Modemagazinen ausgeschnitten hatte und die unter den Füßen knisterten und an den Fußsohlen kleben blieben, wenn man barfuß eintrat.

Immerhin war die Suche nach dem Schlüssel in diesen Räumen schnell beendet.

Einzig im Arbeitszimmer des Vaters dauerte sie länger. Ein Geruch nach milbenbefallenem Teppich und verstaubtem Papier schlug Hagen entgegen, als er die Tür öffnete. Es war, als beträte er mit dem anderen Raum auch ein anderes Haus. Noch mehr Ordner und Kladden, lose Blätter und Schmierzettel, als Hagen in Erinnerung hatte, türmten sich hier. Um die einzelnen Schubladen und Schrankfächer durchzusehen, musste er immer wieder einen ganzen Stoß scheinbar wahllos gestapelter Unterlagen abtragen und umschichten. Fransig abgerissene Zettel flatterten herab, auf denen in der zackigen Handschrift seines Vaters Notizen wie Festgeld Sparkasse oder Neuvermietung Garagen oder Versicherungspolice standen.

Den Schlüssel zu seinem Kinderzimmer freilich fand Hagen nirgends. Dafür stieß er auf ein abgegriffenes Notizbuch im Vokabelheftformat, das der Vater mit Passwörterbeschriftet hatte. Mit knirschenden Zähnen stellte er fest, dass das WLAN-Passwort Kriemhild lautete.

Unten hatte Memory weder getrunken noch gegessen. Noch immer kauerte sie unter dem Sofa, als wäre Hagen nur einige Minuten oben gewesen. Er kniete sich vor sie hin, rief ihren Namen, bettete seine Hand vor ihrem Körper wie eine Einladungskarte und erhob sich schließlich, nachdem nichts geschehen war, mit enger Kehle.

Es gab keinen freien Zahnputzbecher, und er wagte nicht, die Zahnbürste der Mutter zu berühren und sich ihren Becher anzueignen. Bevor er zum Gepäck ging, hielt er inne und stützte sich auf das Waschbecken. Im Spiegel der Eltern sah er anders aus als im Spiegel seiner Berliner Wohnung, und er konnte nicht sagen, ob es am Spiegel lag oder an ihm.

Später im Schlafzimmer kam es ihm vor, als würde die Bettdecke des Vaters den ganzen Raum füllen. Es war, als ginge aller Geruch, alle Vibration im Zimmer von dieser schweren Decke aus. Schon wollte Hagen nach ihr greifen, ließ dann aber die Hand sinken. Auch das durchgelegene Kissen des Vaters, auch das kratzige Frotteelaken ließ er unberührt.

Wie feucht sich seine Fußsohlen anfühlten, als er sie von den Fliesen hob, um ins Bett zu steigen. Wie taub seine Knie waren. Erst jetzt, den Kopf auf dem Kissen der Mutter, verging das Gefühl, dass der ganze Raum vom Vater erfüllt sei. Das Kissen der Mutter duftete leicht nach Blumen, vielleicht auch nach einer raffinierten Praline, nach etwas, von dem er viel zu lange nicht genascht hatte. Er drehte den Kopf von links nach rechts und rechts nach links und geriet bald in einen Rhythmus, der den ganzen Körper mitzog. Um das Licht zu löschen, unterbrach er sich und nahm dann den Rhythmus wieder auf, spürte die weiche Matratze, dazu die angenehme Kühle des Kissens an seiner Wange, bis der Stoff feucht war und er den Kopf stillhielt und nur noch den salzigen Geschmack auf seinen Lippen wahrnahm.

Als er im Dunkeln erwachte, wähnte er sich in einer Kajüte auf einem verlassenen Schiff, an deren Tür die Ratten nagten, und er fragte sich, wie er auf dieses Schiff geraten war und ob er den Morgen abwarten sollte, um sich ein billiges Hotel am Hafen zu suchen. Erst allmählich wurde ihm klar, dass er in seinem eigenen Bett lag. Warum aber war dort, wo er im Dunkeln tastete, kein Lichtschalter? Da begriff er endlich, dass er die Nacht in einem Ehebett verbracht hatte und dass das Licht zur anderen Seite hin angebracht war.

Was ihn geweckt hatte, kam ihm erst im Schein der Lampe zu Bewusstsein. Etwas schabte an der Tür und wimmerte leise vor sich hin. Er ließ Memory ein und hob sie, da er ihre wackeligen Schritte kaum mit ansehen konnte und sie zögerlich stehen blieb, auf die schwere Decke des Vaters. Dort streckte sie die dürren Beine von sich, und Hagen zwang sich zu der Vorstellung, dass Memory es nun bequem habe, auch wenn jede Form, in die Memory sich derzeit bringen konnte, wie eine Tüte Knochen aussah.

Im Dunkeln legte er die Hand auf ihr Fell und spürte, wie schnell sich ihr Brustkorb hob und senkte. Sie begann zu brummen wie ein winziger Wärmegenerator.

IV

Nach dem Regen der letzten Nacht wirkte die Erde so feucht, als hätte man das Grab seiner Eltern erst gestern ausgehoben.

Dass sie dort liegen sollten, während er hier saß! Der Erdhaufen war noch nach oben gewölbt, das Holz noch nicht verfault, die Särge noch nicht eingebrochen. Noch war kein Wurm in ihr Fleisch eingedrungen. Noch krochen ihnen keine Maden aus Nase und Mund. Noch waren ihre Körper, wie er sie in Erinnerung hatte. Nur zehn Jahre älter. Noch konnte er sich hinknien und mit den Händen graben, bis er an Holz stieß. Die Särge öffnen und Vater und Mutter herausziehen, sodass sie noch einmal nebeneinandersäßen. Ein letztes Foto zu dritt. Die Bank war breit genug.

Die Kränze, die man den Toten aufs Grab gelegt hatte, welkten bereits.

Das Holzkreuz, das provisorisch Namen und Lebensdaten verkündete, würde er durch einen Grabstein ersetzen lassen. Wer vor diesem Grabstein stünde, würde ahnen: Hier liegen zwei, die ihr Leben miteinander geteilt haben. Im selben Jahr geboren. Am selben Tag gestorben. Ganz offensichtlich füreinander gemacht.

Er zog das Bild aus seiner Tasche, das er unter all den Bildern in den Fotoalben aus Vaters Zimmer ausgewählt und gerahmt hatte, und stellte es vor das Holzkreuz. Dann trat er zurück und faltete die Hände.

Obwohl der Hagen auf dem Foto keine acht Jahre alt war, hatte sein Vater, der hinter ihm stand und ihm die Hand auf die Schulter legte, schon keine Haare mehr auf dem Kopf. Das Foto war zu jener Zeit entstanden, als der Vater bereits begonnen hatte, sich die verbliebenen Stoppeln unter einer dicken Schicht Gillette-Rasierschaum jeden Morgen mit dem Nassrasierer zu entfernen. Er war schon mit einundzwanzig Vater geworden, aber sein Haar hatte sich nicht einmal bis zur Einschulung des Sohnes auf dem Kopf gehalten.

Überhaupt war Klemens Hartmann bei allem der Schnellste gewesen: Die Schule hatte er schneller beendet als die anderen, nachdem die Grundschullehrerin seine Eltern aufgefordert hatte, den begabten Sohn eine Klasse überspringen zu lassen. Obwohl er natürlich immer der Jüngste in der neuen Klasse blieb, war er am Gymnasium der Erste gewesen, der die Lehrer überragte. Schon in der neunten Klasse hatte er seine endgültige Größe von einem Meter dreiundneunzig erreicht. Fotos der Abiturfeier zeigten, dass sein Haarausfall noch zu Schulzeiten eingesetzt hatte. Später war er der Erste aus seiner Abiturklasse, der Vater wurde. Dann der Erste ohne Haare.

Obwohl Klemens Hartmann aus West-Berlin stammte und darum nicht der Wehrpflicht unterlag, meldete er sich freiwillig zum Bund und wurde dort schneller als alle Kameraden zum Unteroffizier befördert. Danach schloss er das Wirtschaftsstudium an der Universität Stuttgart vorzeitig ab, und bei seinem Abschluss war er bereits Vater eines dreijährigen Sohnes.

Das Friedhofstor quietschte. Ein Schwarzer im Jogginganzug trat ein. Fast hätte Hagen zweimal hingesehen. Tatsächlich – ein Schwarzer. Auf diesem kleinsten Friedhof in diesem kleinsten Dorf der Welt. In diesem Dorf, in dem Hagen zwischen zweiundfünfzig zwiebackweißen Kindern im Schulbus gesessen war. In dem man, als drei Aussiedlerfamilien aus Kasachstan, die Schmidt, Seidlbauer und Holzapfel hießen, ihre Häuser nebeneinander bauten, schon von einer Russensiedlung gesprochen hatte. Ihm fiel die Gruppe ein, die vor einigen Tagen am Löwenbach gestanden war, als wollten sie baden. Der Schwarze. Die Orientalen. Und vor allem diese junge Frau mit den Grübchen und der eigentümlichen Kleidung. Womöglich war der Schwarze, der jetzt die Gräberreihen entlangzockelte, ohne Hagen zu beachten, derselbe junge Mann, den er auch am Löwenbach gesehen hatte.

Der Schwarze verschwand hinter einem Häuschen. Hagen erahnte einige Meter Wiese, ehe sich ein Wäldchen anschloss oder eher ein Waldsaum für die Äcker, die zwischen dem Friedhof und dem weiter hinten erkennbaren Reiterhof lagen.

Da seine Eltern nicht aus Löwenau stammten, hatten sie nie einen Verwandten hier begraben, und Hagen war nicht sicher, ob er den Friedhof vor dem heutigen Tag überhaupt einmal betreten hatte.

Er setzte sich wieder auf die Bank. Erstaunlich auf dem Bild war die Symmetrie der Hände. Die Linke seines Vaters lag auf Hagens rechter Schulter, die Rechte der Mutter auf seiner linken. Und obwohl der Vater die Mutter um bald zwei Köpfe überragte, so umschloss ihre Hand doch im selben Winkel und auf derselben Länge die Schulter des Sohnes. Am auffälligsten war aber der Blick der Mutter, dieses allverstehende und allerklärende Lächeln.

In der achten Klasse hatten Thomas und die anderen im Physikunterricht gestört, sich zunächst mit Linealen in die Seite gestochen und dann aus Langeweile zu Hagen nach hinten gewandt. Thomas trug wie immer seine umgedrehte Basecap. »Ist dein Ding schon hart, Mann?«, fragte er, und die anderen lachten, als hätten sie diese Zote zum ersten Mal gehört. Von ihrem Gelächter ermuntert, warf Thomas eine leere Packung Durstlöscher in Hagens Gesicht, sodass diesem ein stechender Schmerz von der Nase hinter die Stirn fuhr. Hagen schleuderte die Packung auf Thomas zurück, verfehlte den Mitschüler allerdings und touchierte stattdessen die Apparatur, an der der Lehrer, ein Mann namens Fahrenkrug mit Brillengläsern dick wie Butzenscheiben, gerade das Phänomen der Hangabtriebskraft demonstrieren wollte. Fahrenkrugs Augen verdoppelten sich noch einmal in ihrem ohnehin bemerkenswerten Umfang, bis er schließlich hinter seinem Versuchspult hervortrat und langsam sagte: »Hagen, du kommst nach der Stunde mal zu mir.«

Unter Tränen hatte Hagen der Mutter von der Strafarbeit erzählt, die der eulenäugige Fahrenkrug ihm auferlegt hatte. Die Mutter schüttelte den Kopf über diesen, wie sie sagte, Schwächling, der Stärke nur gegen die Schwachen wagte. Hagen hatte gehofft, dass die Mutter zur Schule fahren und dem Lehrer genau das ins Gesicht sagen würde, aber stattdessen ließ sie sich seufzend erklären, was genau Hagen in seinem vierseitigen Sonderaufsatz darstellen solle. Als der Vater von der Arbeit kam, saß die Mutter noch immer am Wohnzimmertisch und begründete wortreich in einer Schrift, von der sie meinte, dass sie Hagens ähnele, weshalb ein gewaltfreies Miteinander nicht nur die Grundlage des schulischen, sondern überhaupt des gesellschaftlichen Zusammenlebens sei. Nachdem der Vater von dem Vorfall erfahren hatte, begann er zu brüllen, dass ein bisschen Erziehung noch keinem geschadet habe und wohin wir denn kämen, wenn neuerdings die Mütter die Strafarbeiten ihrer Söhne erledigten, und dass er im Übrigen seine Frau dazu auffordere, den von ihr angefertigten Aufsatz sofort zu zerreißen. Hagens Mutter schrieb den Text aber unbeirrt zu Ende, schob den Vater auf dem Weg zum Kinderzimmer mit dem Unterarm beiseite, faltete das Papier zusammen und platzierte es eigenhändig für den nächsten Tag in Hagens Schulranzen, dazu zwei Marienkäfer aus Schokolade. Als der Vater in der Kinderzimmertür stand, die Hände am Türrahmen, und die Mutter nicht passieren lassen wollte, ehe sie den Aufsatz nicht aus Hagens Rucksack genommen und eigenhändig zerrissen hätte, machte sie sich klein und schlüpfte durch das winzige Loch zwischen dem langen Bein und seinem Unterarm hindurch. Der Versuch des Vaters, sie mit der Hüfte zu arretieren, endete mit dem harten Schlag seines Beckens gegen das marmorierte Holz.

Nachdem Hagen die Blätter am nächsten Tag brav dem eulenäugigen Fahrenkrug überreicht hatte, kam Jochen auf ihn zu, der eigentlich zu Thomas’ Clique gehörte.

»Du hast die Strafarbeit also echt gemacht«, sagte er.

Hagen zuckte die Schultern.

»Boah, ich fand das so ungerecht gestern. An deiner Stelle wäre ich derb abgefuckt gewesen. Ich glaube, ich hätte dem Fahrenkrug lieber voll auf die Brille gekackt, als die Strafarbeit zu machen.«

»Meine Mutter hat sie gemacht«, sagte Hagen leise.

»Was? Echt? Respekt!« Jochen hielt ihm die Hand hin. Hagen schlug ein.

Von da an unterhielten sie sich in den Pausen öfter miteinander. Erst hatte Hagen Angst, dass Thomas Jochen aus seiner Clique ausschließen und Jochen sich dafür an ihm rächen würde. Aber es geschah das Gegenteil – Thomas’ Angriffe auf Hagen wurden weniger.

Jetzt quietschte das Friedhofstor. Hagens Kopf fuhr herum. Ein Jugendlicher trat ein, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Die Basecap umgekehrt auf dem Kopf wie damals Thomas. Der Junge verschwand genau dort hinter dem Häuschen, wo zuvor der Schwarze verschwunden war. Wehmütig dachte Hagen daran, dass dieser Junge einer neuen Generation angehörte, die ihn, Hagen, als Zeitreisenden aus der Löwenauer Vergangenheit empfinden musste. Diese neue Generation war eine feindliche Armee, die seine Erinnerungslandschaft besetzt hielt.

Immer wieder hatte der Vater von Hagens Strafarbeit angefangen. Wieso Hagen, wenn ihn die Strafarbeit störe, nicht zum Lehrer, sondern zu seiner Mutter gegangen sei, wo doch die Mutter gar nichts mit der Strafarbeit zu tun habe, hatte er gefragt. Und an die Mutter gewandt, warum sie, da sie doch offenkundig die Strafarbeit als Ungerechtigkeit empfunden habe, diese Empfindung nicht dem Lehrer mitgeteilt, sondern stattdessen Stunden am Schreibtisch geopfert habe im Versuch, die Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen, indem sie sie auf eine noch unschuldigere Person übertragen habe, die durch ihre Unschuld die Ungerechtigkeit des Lehrers anklage. Freilich ohne dass dieser von der Anklage erfahre. »Du verziehst den Jungen«, hatte er zur Mutter gesagt, dabei aber Hagen angesehen. »Irgendwann wird jedes Kängurubaby zu groß für den Beutel.«

Hagen hatte, wenn der Vater von der Strafarbeit anfing, stets die Achseln gezuckt. Der Aufsatz war abgegeben und der eulenäugige Fahrenkrug zufrieden. Damit war die Sache aus der Welt. Und fertig.

Die Gleichgültigkeit von Gattin und Sohn trieb dem Vater immer wieder die Röte ins Gesicht. Die Welt bestehe nun einmal aus Jägern und Gejagten. Aus Karnivoren und Phytophagen. »Dein Platz muss immer ganz oben in der Nahrungskette sein, Hagen!«, sagte er dann und packte den Sohn, wenn der nicht reagierte, an der Schulter, um ihn aufzurütteln. Und weiter: »Wenn man schon Hagen heißt, dann muss man auch ein Hagen sein und kein Gunther!«

Der Vater war stolz darauf, Hartmann zu heißen. Wenn er den eigenen Namen sagte, musste er manchmal die Zähne fletschen, weil ihn die Kraft durchströmte, die von diesem Namen ausging. Umso mehr litt er darunter, dass man ihn Klemens getauft hatte. Der Milde! Ausgerechnet er! Der Schnellste in Schule, Militär und Studium! Der größte Mann in ganz Löwenau! Der Mann mit dem markanten Schädel. Ausgerechnet er sollte Der Milde sein! Genau darum hatte er seinen Sohn Hagen genannt. Um zu verhindern, dass ein Zweiter achtzig Jahre lang mit einem Missverständnis anstelle eines Namens herumlaufen musste.

Plötzlich trat der Schwarze hinter dem Häuschen hervor. Unter seinen Schritten klackerten Kieselsteine vom Weg gegen die Grabbegrenzungen. Er bewegte sich so langsam und rhythmisch, als gebe es nur ihn und als spiele in seinem Kopf eine Melodie, der er Ausdruck verleihen müsse.

Hagen blickte dem Schwarzen ins Gesicht, aber der beachtete ihn nicht. Als er auf Hagens Höhe war, drehte er den Kopf zur Seite, sammelte grunzend Speichel im Mund und spuckte in hohem Bogen aus. Wie in Zeitlupe taumelte der Speichelpfropfen durch die Luft, ehe er mit dumpfem Geräusch auf das Grab der Eltern klatschte. Fassungslos sah Hagen dem Schwarzen nach, bis dieser mit wippenden Lockenzöpfchen das Friedhofstor hinter sich zufallen ließ.

Dann tauchte der Jugendliche wieder auf. Er ging viel weniger rhythmisch als der Schwarze, fast stolperte er zwischen den Gräberreihen hindurch. Beim Anblick von Hagen erschrak er sichtlich, biss sich auf die Lippen und ruckelte an der umgedrehten Basecap. Während er vorüberging, erkannte Hagen, dass die Augen des Jugendlichen merkwürdig glänzten. Und er verströmte einen süßlich-verbrannten Geruch.

V

Die nächsten Tage verbrachte Hagen größtenteils damit, sich die Wünsche von seiner Liste zu erfüllen. Diese Liste hatte sich zunächst in seinem Kopf gebildet, bis er sie notiert und auf den Tisch im Wohnzimmer gelegt hatte.

Sein größter Wunsch war es, Memory zu heilen. Nach der ersten Nacht war er mit der Hand in etwas Feuchtem erwacht und hatte feststellen müssen, dass Memory nicht hatte an sich halten können. Also hatte er die kleine Katze vorsichtig von Vaters schwerer Decke gehoben und den Bezug gewechselt. Beim Versuch, die Exkremente mit einem Schwamm aus dem feuchten Stoff zu entfernen, erfreute er sich an dem Gedanken, dass Memorys Notdurft nur bedeuten konnte, dass sie, bevor sie nachts zu ihm gekommen war, doch etwas gefressen hatte.

Tatsächlich fehlte ein bisschen Lammhack im Unterteller und auch die Mischung aus Milch und Wasser war weniger geworden. Hagen fotografierte Memory, um dieses Bild des ersten Tages mit späteren Bildern vergleichen zu können.