Die unheilige Familie - Necla Kelek - E-Book

Die unheilige Familie E-Book

Necla Kelek

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die bekannte Soziologin, Frauenrechtlerin und Bestseller-Autorin Necla Kelek warnt in ihrem neuen Debattenbuch: Muslimische Frauen erleiden Unrecht inmitten unserer modernen Gesellschaft. Gefangen in der islamischen Familien-Tradition, können sie ihre Grundrechte nicht wahrnehmen, ihre Kinder sind dem Patriarchat ausgeliefert. Kelek fordert einen politischen Neuansatz, um echte Integration zu fördern und eine Parallelgesellschaft in Deutschland zu vermeiden. Während die Mehrheitsgesellschaft mit "Ehe für alle" und "Familie im Wandel" beschäftigt ist, bleibt im Verborgenen, was mit den Frauen und Kindern in der islamischen Gemeinschaft passiert: Sie sind dem Zwang in der Familie ausgeliefert und dort eingesperrt. Die engagierte Soziologin Necla Kelek entlarvt dieses Familien-Tabu. Sie beschreibt, wie es dazu kam, dass Frauen Beute der Männer wurden und Kinder dem Patriarchat preisgegeben sind, aber auch, warum selbst muslimische Männer Opfer dieser Gewaltstrukturen sind. Sie zeigt auf, wie unser Pochen auf kulturelle Unterschiede und eine ideologisierte Politik die Integration verhindern, und was konkret geschehen muss, damit islamische Frauen und Kinder rechtlich gestärkt werden. Denn: An den Rechten der Schwachen misst sich die Demokratie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Necla Kelek

Die unheilige Familie

Wie die islamische Tradition Frauen und Kinder entrechtet

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Die bekannte Soziologin, Frauenrechtlerin und Bestsellerautorin Necla Kelek klagt an: Muslimische Frauen erleiden Unrecht inmitten unserer modernen Gesellschaft. Gefangen in Zwangs- oder Kinderehe und als Opfer von Polygamie oder Apartheid können sie ihre Grundrechte nicht wahrnehmen, und zugleich wird Kindern in diesen dysfunktionalen Familien eine freie Entwicklung verwehrt. Kelek fordert deshalb einen radikalen Neuansatz in Politik und Migrationsforschung, um echte Integration zu fördern und eine fortschreitende Parallelgesellschaft zu vermeiden.

Während die Mehrheitsgesellschaft mit »Ehe für alle« und »Familie im Wandel« beschäftigt ist, bleibt im Verborgenen, was mit den Frauen und Kindern in der islamischen Gemeinschaft passiert: Sie sind dem Zwang in der Familie ausgeliefert und dort eingesperrt. Necla Kelek entlarvt dieses Familien-Tabu. Sie beschreibt, wie es dazu kam, dass Frauen Beute der Männer wurden und Kinder dem Patriachat preisgegeben sind, aber auch, warum selbst muslimische Männer Opfer dieser Gewaltstrukturen sind. Sie zeigt auf, wie unser Pochen auf kulturelle Unterschiede und eine ideologisierte Politik die Integration verhindern, und was konkret geschehen muss, damit islamische Frauen und Kinder rechtlich gestärkt werden. Denn: An den Rechten der Schwachen misst sich die Demokratie.

Inhaltsübersicht

Hinweis

Prolog Warum wir über die »unheilige Familie« diskutieren müssen

Die Rolle der Frau im Islam

Familiengeschichten (1): Die Frau, die jetzt Carla heißt

Die Entführung

Istanbul

Der Vater herrscht, auch wenn er nicht da ist

Stullen für Ercan, Elmas muss hungern

Alltägliche Gewalt

Der Unfall

Die schöne Zeit

Der Wächter und die Ablas

Familienzusammenführung

Zeit, zu heiraten

Im Frauenhaus

Das Hochzeitsfest

1 Dschāhilīya – die Lage der Frauen in der vorislamischen Zeit

Die Frau in der Stammesgemeinschaft

Beziehungsformen

Die Familie des Propheten

Die Ehe in Arabien – ein Frauenrecht?

Revolution aus der Wüste

2 Die »Herrenreligion« – Max Webers Charakteristik des Islam

Die fünf Säulen des Islam als Zeichen der Abgrenzung

Der Geschlechterkrieg

3 Die Frau als Beute

Die neue Ordnung

Das Konzept der »einen Seele«

Gleichwertigkeit bedeutet Ungleichheit

Exkurs: Starke Frauen und die säkulare Zeit des Islam in der Republik Türkei

4 Ehe und Recht

Der Zwang zur Ehe

Ein formloser Akt

Familiengeschichten (2): Samima und Kemal – eine Geschichte von Liebe und »Mokkatrinken«

Die Mär von der freien Willensentscheidung

Die arrangierte Ehe: eine dauerhafte Entmündigung der Frau

Zwangsheirat

Die Kinderehe

Exkurs: Die endogame Ehe und die Jesiden

Verwandtenehe

Familiengeschichten (3): Kemal – Zweiter sein

Polygamie

Konkrete Maßnahmen, um Frauenrechte durchzusetzen

Kinder und ihre Rechte

5 Das Recht auf körperliche Unversehrtheit

Weibliche Genitalverstümmelung

Eine archaische Sitte

Schützenhilfe für die Orthodoxen

Beschneidung

Tahsins Beschneidungsfest

Politikversagen

Konkrete Maßnahmen

6 Kontrolle über Kopf und Körper

Die K-Frage in der Schule

Ein Recht auf Kindheit

Die Gegenpositionen

Flucht ins Paradies?

7 Familiengeschichten und Flüchtlingsgespräche

Familiengeschichten (4): Sami – »Sie geben uns Geld? Einfach so?«

Familiengeschichten (5): Atalay – »Ich habe keine Erinnerung an meine Kindheit, denn ich hatte keine.«

Familiengeschichten (6): Mahmud – »Wie mein Vater«

Familiengeschichten (7): Omer – »Mit Allahs Hilfe haben wir den Weg gefunden.«

8 Die dysfunktionale Familie – oder Fluchtursache Patriarchat

Eine Frage der »Ehre«

Familiengeschichten (8): Iman – die Geschichte einer Frau aus Syrien, die keine Chance hatte

Die verlorenen Söhne

Der Despot als »Hirte der Nation«

Merkmale dysfunktionaler Familien

Fluchtursache menschenunwürdige Zukunft

Fluchtursache Bevölkerungswachstum

Nützt der Familiennachzug der Integration?

Familiengeschichten (9): Dr. phil. Abir Alhaj Mawas, eine Frau aus Syrien

Familie und Migration im Wandel – Alltag, Theorie, Forschung

Familiengeschichten (10): »Was haben wir bloß falsch gemacht, dass unsere Kinder aus unserem Leben geflüchtet sind?«

9 Familie, Frauen, Integration

Der Ursprung der Familie

In der Komfortzone

Das verratene Geschlecht

Das Integrationsparadoxon?

Deine Werte, meine Werte?

10 Forscher auf falscher Fährte

Naika Foroutan: Die »postmigrantische Gesellschaft«

Werner Schiffauer: Kultur des Konsenses oder des Dissenses?

Ursula Mıhçıyazgan: Die traditionell muslimische Sozialisation verhindert die Integration

Genderstudies – oder ist die Frauenunterdrückung im Islam eine Erfindung des »Westens«?

11 Die Positionen einiger Islamverbände zu Ehe und Familie

Eine ganz normale Freitagspredigt

Kleiner Leitfaden zum Umgang mit Frau und Familie

Der Harem als »save space«: Wie Frauenapartheid als Freiheit verkauft wird

An den Rechten der Schwachen misst sich die Demokratie

12 Frauenrechte und Kinderschutz – ein langer Kampf

13 Familien-, Frauen- und Kinderrechte: Was getan werden muss

Mein Plädoyer für …

… eine Änderung des Grundgesetzes

… die Selbstermächtigung von muslimischen Frauen und die Stärkung wirklicher Reformer

… eine Migrationsforschung, die sich den Problemen stellt

… eine an Werten und Prinzipien orientierte Politik

Kinder fördern und schützen

Epilog

Danksagung

Anhang

Das syrische Personalstatusgesetz, erstes Buch: Die Ehe

Literaturverzeichnis

Dieses Buch ist in Zusammenarbeit mit Peter Mathews entstanden.

Prolog Warum wir über die »unheilige Familie« diskutieren müssen

Die Familie ist das Haus des Islam. Frauen sind in diesem Haus Gefangene.

Necla Kelek

 

 

»Die Frauen sind bei euch wie Kriegsgefangene [arabisch: Plural für al-’awani], die über nichts aus eigener Macht verfügen. Ihr aber habt sie von Allah zu treuen Händen erhalten, dank seinem Wort verfügt ihr über ihre Scheide. Darum seid gottesfürchtig im Umgang mit den Frauen und nehmt euch ihrer im Guten an!«1

Mohammed in seiner letzten Predigt

 

Die Familie steht für Menschen in aller Welt an erster Stelle. In allen Religionen und Kulturen ist sie »heilig«. Allein drei der zehn christlichen Gebote regeln das Verhältnis von Mann, Frau und Kindern. In Artikel 16.3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: »Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.« Unsere Verfassung schützt Ehe und Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes in besonderem Maße, und das Bundesverfassungsgericht hat durch eine Reihe von Urteilen diesen Schutz ausformuliert und eine Art »Common Sense« zur Institution Familie formuliert. Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof fasst diesen Status so zusammen: »Eltern und Kinder bilden einen Familienverbund (›Kernfamilie‹), in dem die Kinder aufwachsen und erzogen werden (›Lebens- und Erziehungsgemeinschaft‹), sie am Erwerb der Eltern durch deren Unterhalt teilhaben (›Erwerbsgemeinschaft‹), sie die elterlichen Lebensformen aufnehmen und kritisch beobachten (›Hausgemeinschaft‹), sie später, wenn die Kinder ›aus dem Haus‹ sind, in einer Begegnungs- und Bestandsgemeinschaft zusammengehören.«2

Der Staat vertraut das Wohl der Kinder der Familie an, er übergibt den Eltern das Recht auf die Erziehung der Nachkommen. Es ist eine Art Vertrauensvorschuss, gegeben in der Erwartung, dass den Kindern einer Familie Fürsorge, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Freude, Halt und Hilfe entgegengebracht werden.

Der Staat greift nur dann ein, wenn die Familie dies nicht erfüllen kann oder will, die erwartete Rolle also nicht übernimmt. Er schützt die Familie, damit sie unter anderem ihre Aufgaben als Lernstätte für die Kinder und als Ort der freien Persönlichkeitsentfaltung seiner Mitglieder erfüllen kann. Andererseits schützt die Verfassung die Familie auch vor dem Staat, indem sie den Erziehungsauftrag bei den Eltern belässt und nur durch die Schulpflicht einschränkt. Damit soll einer staatlichen Bevormundung – wie sie im NS-Staat oder in der DDR üblich war – ein Riegel vorgeschoben werden.

Dieses Buch wird aufzeigen, dass diese Auffassung von Familie nicht von allen Gruppen unserer Bevölkerung geteilt wird und dass insbesondere die orientalische (also die islamisch strukturierte) Familie dazu neigt, Frauen und Kindern Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten vorzuenthalten. Die Mehrheit der Frauen, die in Deutschland Zuflucht in Frauenhäusern sucht, kommt aus dem muslimischen Kulturkreis. Dennoch haben bisher keine Politikerin, kein Verband, keine Stiftung, keine Institution die besonderen Strukturen in diesen Familien als eigenständiges Problem gesehen und sich seiner angenommen. So konstatierte der Bericht der Familienministerin über »Gewalt gegen Frauen«3 zwar, Gewalt werde »quer durch die Gesellschaftsschichten« ausgeübt, der kulturelle Hintergrund der Täter spiele jedoch keine Rolle. Das ist aus meiner Sicht eine fatale Ausblendung von Fakten, die auch dem Diskriminierungstabu, der Angst vor der Rassismuskeule geschuldet ist. Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache, dass Berichte aus dem Inneren muslimischer Gemeinschaften fehlen; diese Leerstelle behindert den grundlegenden analytischen Impuls, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Dabei wäre eine Beschäftigung mit diesen Familienstrukturen dringend angeraten. Ich sage: Die orientalische1 (von archaischen islamischen Vorstellungen geprägte) Familie kann von ihrer Konstruktion her mit einem Gefängnis verglichen werden. Es ist an der Zeit, diese Strukturen aufzuzeigen, sie offenzulegen, die gefangenen Frauen und Kinder endlich zu befreien!

Betroffen von diesem unterdrückenden System sind nicht die Migrant(inn)en, die sich im Prinzip »assimiliert« haben, die die deutsche Sprache angenommen, sich westlichen Werten zugewandt haben und die die Grundregeln unseres Zusammenlebens anerkennen und befolgen. Betroffen sind auch nicht diejenigen, die bereits in den Herkunftsländern Demokraten waren, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau anerkennen und für die es selbstverständlich ist, in einem freien und demokratischen Land wie dem unseren zu leben.

Sehr wohl betroffen ist aber etwa die Hälfte der über vier Millionen seit 1960 zugewanderten »Gastarbeiter« und Migrant(inn)en aus der Türkei, den arabischen Staaten und dem Maghreb. Es geht um die Familien, die sich mehr schlecht als recht integriert haben und von denen sich ein nicht unerheblicher Teil sogar in einer Art Gegengesellschaft eingerichtet hat. Um Menschen, die ihre Identität vorwiegend aus der Herkunftskultur oder Religion beziehen. Um Menschen also, die Errungenschaften und Sicherheiten des sozialen Rechtsstaats gerne »annehmen« und dennoch unter sich bleiben und nach ihren Traditionen leben.

Mit Traditionen meine ich keineswegs Folklore, sondern mitgebrachte Vorstellungen, die mit unserem demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar sind, ja, die an die Grenze von Menschenrechtsverletzungen gehen. Integrationskurse, selbst Sprachunterricht waren für die »Gastarbeiter« jahrzehntelang kein Thema. Gingen doch Politik, Wirtschaft und die Migranten selbst davon aus, dass ihr Aufenthalt in Deutschland zeitlich begrenzt sein würde. Auch als klar war, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter hierbleiben würden und man ihnen gestattete, ihre Familien nachzuholen, überließen die politisch Verantwortlichen die Migranten lange Zeit sich selbst.

Neben dieser Gruppe gibt es die heterogene Gruppe der Geflüchteten und Zuwanderer, die seit 2015 aus dem Nahen Osten und dem Maghreb zu uns gekommen sind. Menschen mit teils ungeklärtem Aufenthaltsstatus, die in die Gesellschaft drängen, ohne viel von ihr zu wissen oder manchmal auch wissen zu wollen. Die meisten von ihnen wurden in Gesellschaften sozialisiert, in denen Unterordnung, Gewalt und schwarze Pädagogik dominieren, ihnen weder Freiheit noch Verantwortung gewährt wurden. Viele sind auch nicht nach Europa gekommen, um ein anderes, ein von westlichen Maßstäben geprägtes Leben zu führen. Wer vor Bomben und Bürgerkrieg geflohen ist, sucht in erster Linie Sicherheit und Schutz. Wer wegen schlechter Lebensbedingungen geflohen ist, sucht ein besseres Leben. Eine Akzeptanz hier geltender Regeln und Werte setzt weder das eine noch das andere zwingend voraus.

Wie die Sozialisation dieser Menschen vonstattengegangen ist, dokumentiere ich durch mehrere Lebensgeschichten von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak, mit denen ich lange Interviews geführt habe.

Um die kulturelle Dimension und die Historie der Männerherrschaft im Orient nachvollziehbar zu machen, beschreibe ich in einem religionssoziologischen Diskurs das Wesen und die konkreten Formen der Rolle der Frau im Islam als »Herrenreligion« (Max Weber). Dieser theoretische Teil ist notwendig, um die Strukturen von Familie und Gesellschaft als Gewaltsystem analysieren zu können und auch darzustellen, warum hierzulande die Politik ebenso wie die Migrationswissenschaft von einem in gewisser Weise romantischen Menschen- und Gesellschaftsbild ausgehen. An einigen Beispielen zu Ansätzen der aktuellen Migrationsforschung werde ich die aus meiner Sicht grundsätzlichen Fehler der bisherigen Integrationsbemühungen aufzeigen. Denn ich behaupte, dass die Migrationsforschung von Werner Schiffauer über Judith Butler bis hin zu Naika Foroutan dem ideologischen Konstrukt des Multikulturalismus folgt, das ein Nebeneinander verschiedener Kulturen innerhalb eines Raumes vorsieht. Verschiedene ethnische und kulturelle Gruppen sollen einzeln existieren, ohne dem Druck zu einer Assimilation an die Werte der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt zu sein. Das ist aus meiner Sicht ein fataler Ansatz, der auch für das bisherige Scheitern von Integration verantwortlich ist, weil er Probleme relativiert und Werteorientierungen ablehnt.

Die Politik agiert hier unausgegoren, schwankt zwischen »Leitkultur«, Multikulti und der Forderung nach Assimilation. Dabei wäre Klarheit dringend angezeigt: Migrant(inn)en müssen erfahren, dass es in dieser Gesellschaft Werte und Normen gibt, die unser Zusammenleben bisher – bis zum Beweis des Gegenteils – erfolgreich gestaltet haben. Dass es Rechte gibt, die nicht verhandelbar sind, sondern zu achten, auch und gerade jene Rechte zum Schutz von Minderheiten. Und deshalb muss auch der Kampf gegen die »unheilige« Familie geführt werden. Gegen ihre dysfunktionalen Strukturen, die Abhängigkeitsverhältnisse von Frauen und Kindern immer weiter zementieren. »Vaters Staat« – also das in muslimischen Gesellschaften herrschende Patriarchat – muss gestürzt werden. Und sei es dadurch, dass wir die Frauen so stark machen, dass sie ohne Angst die Paschas mit dem Abwasch alleine lassen.

Mit anderen Worten: Es geht um das Empowerment von Frauen in allen rechtlichen und gesellschaftlichen Belangen. Es geht um Frauenrechte und die Stärkung von Selbstständigkeit. Und es geht um die seelische und körperliche Unversehrtheit von Kindern. An den Rechten der Schwachen misst sich die Demokratie. Und weil dem so ist, soll dieses Buch eine Debatte über Funktion und Aufgabe nicht nur der orientalischen Familie anstoßen.

Wirft man einen Blick in die Programme der Bundestagsparteien, könnte man der Auffassung sein, eine solche Debatte habe sich bereits erledigt. Hier ein paar Zitate aus Parteischriften:

Die Familie ist die Keimzelle jeder Gesellschaft.

Familien sind der kostbarste Schatz unserer Gesellschaft.

Ehe und Familie sind der Fels unserer Gesellschaft.

Familien sind so vielfältig wie das Leben selbst.

Familie ist, wo Kinder sind.

Familie ist dort, wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen.

Alle im Bundestag vertretenen Parteien bekennen sich zur Familie. Familienpolitik ist das Herzstück christlich-demokratischer, liberaler, sozialdemokratischer, linker und alternativer Politik. Regierung und Opposition liegen im Wettstreit um die Ehe für alle, das Elterngeld, Papa-Monate, Frauenquote, das Gute-Kita- und Starke-Familien-Gesetz, um Baukindergeld und um »mehr Betreuungsangebote für immer mehr und kleinere Kinder, um immer mehr Müttern immer mehr Berufstätigkeit zu ermöglichen«4.

Das ist gut so, denn die Verfasstheit einer Gesellschaft steht in einem sich direkt bedingenden und wechselseitigen Verhältnis zum Zustand der Familien. Sind die Mitglieder einer Familie frei, zu entscheiden, wie sie miteinander leben wollen, dann sind sie im besten Fall auch in der Lage, Freiheit und Verantwortung in der Gesellschaft als Ganzes wahrzunehmen.

Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof stellt dazu fest: »Das Grundgesetz gewährleistet in den Grundrechten in der Regel eine Freiheit vom Staat. Die Würde ist unantastbar. Die Religionsausübung muss ungestört bleiben. Die Wohnung ist unverletzlich.«5 Diese »Freiheit vom Staat« wird nur durch den besonderen Schutz der Würde des Menschen und den Schutz der Ehe und Familie eingeschränkt. Durch den im Grundgesetz formulierten Erziehungsauftrag bleibe »die Familie (…) Ausgangspunkt und Erneuerungsquelle einer freiheitlichen Gemeinschaft«. Kirchhof nennt das Leitmotiv des Grundsatzes, die innere Befähigung des Einzelnen zur Freiheit zu ermöglichen, »Freiheitsvertrauen«. Dieses bringe der Staat den Familien in besonderem Maß entgegen. Kirchhof zitiert dazu den französischen Aufklärer Charles de Montesquieu mit dem Satz: »Ohne Familie gibt es keine wirksame Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit keine Freiheit.«

Unter Demokraten ist dieser Satz sicher Konsens. Eine demokratische Gesellschaft braucht auch in der kleinsten Einheit offene, demokratische Verhältnisse; sie braucht freie Menschen, die in der Lage sind, Verantwortung für sich selbst und ihre Nächsten, für ihre persönliche Freiheit, aber auch für die unserer Gesellschaft zu übernehmen.

Und in diesem Umstand steckt das Dilemma, mit dem ich mich beschäftigen werde. Auf der einen Seite haben wir eine sich öffnende Gesellschaft, die sich in einem langen Prozess aus autoritären Strukturen in Gesellschaft und Familie löst, die bereit ist, für die Freiheit des Einzelnen oder die von Minderheiten Gemeinsamkeiten, Traditionen und Regeln neu zu definieren, die möglichst niemandem Verhaltenszwänge auferlegen will. Und die, wie bei der Debatte um die »Ehe für alle« oder in der Genderdiskussion, bereit ist, die Grundsätze einer bürgerlichen Gesellschaft neu zu denken. Man könnte diesen Prozess auch die allgemeine »Optimierung der Freiheit« nennen oder mit der Suche von Voltaires naivem Helden Candide nach »der besten aller Welten« vergleichen.

Das beständige Ringen und Infragestellen, das Zweifeln, ob das Bestehende noch den Anforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft entspricht, mag manchem zu weit gehen. Ganz sicher aber geht die Debatte um Ehe und Familie, um Freiheit und den Schutz von Minderheiten an der Lebenswirklichkeit einer ganzen Gruppe komplett vorbei: Deutschland hat mit vielen vor Jahrzehnten Ein- und Zugewanderten, aber auch mit vor Kurzem Geflüchteten eine stetig wachsende Gruppe, die zum Beispiel den Islam – und ganz besonders den politischen Islam – als ihre Leitkultur begreift. Diese Menschen leben ein anderes Familienleben, folgen anderen Rollenmustern und sind auf doppelte Weise von der Auseinandersetzung ausgenommen.

Zum einen, weil Familienpolitiker meist einen Bogen um die Realitäten des muslimisch-arabischen Familiensystems machen, und zum anderen, weil die Mehrheit der hier lebenden Muslime den Status quo generell nicht infrage stellt. Es gibt kaum einen nennenswerten innerislamischen Diskurs oder gar Zweifel an der Legitimität des Patriarchats und damit der Unterdrückung von Frauen. Die Politik leugnet oder verdrängt allzu oft Schwierigkeiten und Konflikte, die sich aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen Auffassungen ergeben. Man spricht von Vielfalt und Diversität und von der Bereicherung durch andere Kulturen. Probleme werden als »Einzelfälle« marginalisiert, die Forderung nach Anpassung an und Akzeptanz von hiesigen Regeln und Werten wird von manchen Kreisen als postkoloniale Arroganz abgetan. Dabei wäre es dringend geboten, sich die Gründe für misslingende Integration und für die Entstehung von Parallelgesellschaften genauer anzusehen. Denn in der muslimischen Gemeinschaft und ihrer kleinsten Einheit, der Familie, gibt es immanente Strukturen, die eben dies wenigstens begünstigen. Um diese Strukturen zu begreifen, muss man einen Blick auf die Tradition, die Geschichte und die Konzeption der »unheiligen Familie« werfen.

Die Rolle der Frau im Islam

Die Frau ist in der islamischen Kultur das verratene Geschlecht.

 

 

Dass es falsch ist, Ungleiches gleich zu behandeln, wissen wir. Dass Worte unterschiedliche, ja gegensätzliche Bedeutungen haben können, auch. Die Unterschiede zwischen Kulturen und Zivilisationen, zwischen Traditionen und moralischen Vorstellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen bezeichnet man als Kulturdifferenz. In einem späteren Kapitel (Werner Schiffauer) werde ich auf die Folgen dieser Erkenntnis genauer eingehen. Zunächst geht es aber darum, die Unterschiede zu analysieren und zu benennen, ihre Herkunft, die Formen und ihre Wirkung zu beschreiben. Das ist nötig, auch wenn Migrationsforscher(innen) sagen, kulturelle Differenzen zwischen Zugewanderten und der Mehrheitsgesellschaft werden sich innerhalb von ein oder zwei Generationen ausgleichen. Verwaschen sich die Unterschiede, oder wachsen sie sich aus? Werden sie sich durch sozialen Aufstieg ausgleichen und durch Bildung? Welche Unterschiede gibt es überhaupt? Sind sie kultureller oder religiöser Natur? Oder auch struktureller Natur in dem Sinne, welchen Wert der Einzelne hat und welchen die Gemeinschaft?

Die prägenden Elemente der islamischen Leitkultur sind ’assabia, der Korpsgeist des Kollektivs bzw. der Gemeinschaft der Gläubigen, und ’aqīda, die Ethik des Islam. Beide manifestieren sich in der (Groß-)Familie, dem Kollektiv, dem Clan, dem Stamm. Sie sind die Grundpfeiler des autoritären patriarchalen Systems der orientalischen Gesellschaft und der orientalischen Familie.

Wer sich mit diesen Strukturen beschäftigt, wird feststellen:

Die Familie ist das Haus des Islam.

Ich behaupte: Ohne die autoritären Familienstrukturen könnte der Islam, und ganz besonders der politische Islam, in dieser Form nicht fortbestehen.

Das Haus des Islam ist ein Gefängnis.

Und die Frauen sind darin die Gefangenen.

Die Männer, Väter, Brüder und Söhne, sind die Herrscher und Wächter dieses Hauses, sie wollen den Status quo aufrechterhalten, und ich behaupte, sie herrschen mit dem aus ihrer Sicht legitimen und durch die autoritativen Schriften des Islam, die Worte und Taten des Propheten und durch die Exegeten aller Zeiten als gottgefällig betrachteten Mittel: der Gewalt!

Nun stellt sich die Frage: Wird auch heute noch nach den autoritativen Schriften des Islam gelebt und wenn ja, wer tut dies und wie? Treffen meine Behauptungen tatsächlich auf die islamische Identität und die Lebenswirklichkeit der muslimischen Bevölkerung zu? Spiegelt es die Wirklichkeit wider, wenn der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban schreibt: »Das Familienrecht ist der Faktor, der eine islamische Gesellschaft am stärksten prägt. Es gestaltet den Alltag der Muslime, verfestigt die Herrschaft des Mannes über seine Kinder, seine Frauen und seine Sklavinnen.«6

Wenn es stimmt, wie Erziehungswissenschaftler meinen, dass Kinder in der Familie zu Demokraten oder Diktatoren, zu Sklaven oder freien Bürgern erzogen werden, dann müssen wir uns darum kümmern, was in der muslimischen Gemeinschaft und besonders in ihren Familien allgemein für Werte vermittelt werden. Denn das Patriarchat und die autoritäre Familie, ihre Bedeutung für die Demokratie, die Rechte und die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen und Kindern, sind durch Migration und das Wachstum der muslimischen Bevölkerung in Europa längst innenpolitisch relevant. Salopp gesagt: »Andere Länder, andere Sitten« funktioniert nicht mehr. Durch Zuwanderung werden kulturelle und religiöse Unterschiede unmittelbar erfahrbar. Sie spielen eine Rolle für die gesamte Gesellschaft einschließlich der hier lebenden Muslime.

Autoritäre Familienstrukturen sind Herrschaftselemente der Diktatur und der Unterwerfung und sollten nicht Teil der Sozialisation einer offenen demokratischen Gesellschaft sein. In den Gesellschaften Europas hat sich die Rolle der Familie in den letzten Jahrzehnten maßgeblich verändert. Sie hat sich von einer »Hausgemeinschaft« unter Führung des Mannes zu einer multifunktionalen gesellschaftlichen Kernzelle gleichberechtigter Partner entwickelt, in der maßgeblich die soziale, wirtschaftliche, politische und wertorientierte Sozialisation der Kinder im Sinne eines emanzipierten, im besten Fall auf Freiheit, Verantwortung, Selbstständigkeit und Zukunftsfähigkeit ausgerichteten Zusammenlebens stattfindet.

Der Staat überlässt aufgrund dieses »Common Sense« den Eltern die Verantwortung für die Erziehung der Kinder und räumt ihnen weitgehende Privilegien ein. Oberster Maßstab ist hier immer »das Wohl des Kindes«. Können Familien dies aus welchen Gründen auch immer nicht gewährleisten, spricht man von »dysfunktionalen Familien«, denen staatlicherseits über Jugendämter etc. Hilfe und Unterstützung gewährt wird.

Was ist aber, wenn diese Auffassung von Familie als Kernzelle einer freien, emanzipierten und demokratischen Gesellschaft zum Beispiel aus religiösen oder traditionellen Gründen nicht geteilt wird? Wenn der Vater der Auffassung ist, Frau (oder Frauen) und Kinder seien sein Besitz und hätten ihm zu dienen? Wenn er der Auffassung ist, die weiblichen Mitglieder seiner Familie dürften ohne seine Genehmigung nicht das Haus verlassen oder dies nur in männlicher Begleitung tun? Wenn er der Auffassung ist, er könne darüber bestimmen, ob seine Tochter Kopftuch trägt, wie lange sie zur Schule geht, ob sie schwimmen lernt oder wen und wann sie heiratet? Gilt der Schutz der Familie auch, wenn sie für deren weibliche Mitglieder ein Gefängnis ist?

Ich sage: Ein solches Gefängnis darf nicht unter Schutz stehen, es bedarf unserer kritischen Draufsicht. Wir können noch so lange über Werte diskutieren – wenn wir nicht in der Lage oder willens sind, sie durchzusetzen, hat dies keinen Sinn. Die Rechte und Werte, die in unserer Gesellschaft gelten, müssen auch in muslimischen Familien durchgesetzt werden. Doch wenn die Sprache darauf kommt, dass es hier teils massive Defizite gibt, wird schnell von »Generalverdacht« und »Pauschalurteil« gesprochen. Und wenn man dann Beispiele anführt, sind es sicher nur »Einzelfälle«.

Dabei wissen wir alle, dass es Zwangsheiraten oder Kinderehen gibt. Wir alle wissen, dass es Ehrenmorde gibt. Und wir alle wissen, dass viele muslimische Frauen in finanzieller Abhängigkeit von ihren Ehemännern leben: Manche wurden so früh verheiratet, dass sie keine Gelegenheit hatten, eine Ausbildung abzuschließen, andere sind in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Gelten für diese Gruppe unsere Grundrechte nicht?

Wir haben in einer freien Gesellschaft natürlich nicht viele Möglichkeiten, gegen solche »innerfamiliären« Zustände vorzugehen, außer sie laut zu beklagen. Wir können Gesetze beschließen, wie das gegen Zwangsheirat. Doch wo keine Klägerin, da auch kein Richter. Dennoch müssen wir uns einmischen. Wir können fordern und fördern, wir können aufklären und müssen die Hebel, die uns zur Verfügung stehen, auch tatsächlich einsetzen. Damit wir dies wirksam tun können, müssen wir uns mit den Strukturen der orientalischen Familie beschäftigen: Es geht um Freiheit und Selbstbestimmung und darum, was oder wer sie verhindert. Um aufzuzeigen, warum ich in diesem Zusammenhang von einer »unheiligen Familie« und von einem Familiengefängnis spreche, erzähle ich im Folgenden die Geschichte einer Frau mitten in Deutschland. Ein Einzelfall, werden die einen sagen. Ich sage, es ist die Geschichte von vielen.

Familiengeschichten (1): Die Frau, die jetzt Carla heißt

»Ich heiße jetzt Carla«, sagte sie zu dem Beamten im Meldeamt. »Carla, wie finden Sie das?«

»Schöner Name. Aber dann erinnert ja gar nichts mehr an Ihre türkische Herkunft«, sagte er. »Wollen Sie das wirklich?«

»Ja, ganz bestimmt«, erwiderte sie. »Ich will nicht mehr an mein früheres Leben erinnert werden. Und vor allem soll meine Familie nicht wissen, wer ich jetzt bin und wo ich lebe.«

»Also Carla?«, versicherte sich der Beamte noch einmal, dann schrieb er den Namen auf. Aus Elmas war Carla geworden.

 

Es gibt Geschichten, die sind wie Gleichnisse. Sie stehen für sich und für vieles mehr. Im Fall der Frau, die jetzt Carla heißt, für das, was im Namen der Familie für schreckliche Dinge geschehen können. Und für das, was das System Familie mit Menschen macht und wie viel Glück, Mut, Willen es braucht, dieses System hinter sich zu lassen.

Daher wurden auch sämtliche Namen und Orte in dieser Geschichte geändert, selbst der von Elmas/Carla. Warum, das erklärt sich aus den Ereignissen selbst. Aber die Geschichte dieser Frau und ihrer Familie ist so wahr, wie sie nur wahr und erinnert sein kann. Alles, was Carla erzählt, ist aktenkundig und nur zu ertragen, weil die Geschichte für sie ein glückliches Ende genommen hat. Carla ist insofern ein Einzelfall, als jeder Mensch einzigartig ist. Und einzigartig ist sie wirklich. Ich habe im Laufe meiner Arbeit und Forschung mit vielen Frauen und Männern gesprochen – einigen werden Sie später noch begegnen –, aber selten eine solche, im wahrsten Sinne des Wortes »starke« Frau getroffen wie Carla.

Begegnet bin ich ihr zum ersten Mal in einem Café im Prenzlauer Berg in Berlin. Es war ein »Blind Date«: Carla hatte mir eine Mail geschrieben und um ein Treffen gebeten. Sie sei Sachbearbeiterin im Jugendamt in einer größeren Stadt, gerade zu Besuch in Berlin und wolle mit mir über ihre Arbeit und über Zwangsverheiratung sprechen. Ich vermutete, dass die Sozialarbeiterin Carla mich fragen wollte, was sie in einem konkreten Fall tun solle. Es kommt öfter vor, dass mich Frauen ansprechen, weil sie einen Rat brauchen. Manchmal kann ich direkt helfen oder weiß die richtige Adresse. So ein Hilferuf einer Sozialarbeiterin hat mich vor Jahren einmal in ein kurdisches Dorf im hintersten Ostanatolien verschlagen, wo ich nach einer eingesperrten jungen Frau suchte.

Wenn ich jemanden nicht kenne, bin ich in der Regel eher vorsichtig mit Verabredungen. Aber wie immer war ich natürlich auch neugierig, und so kam es, dass ich in jenem Café saß, mit dem Rücken zur Wand und den Eingang fest im Blick. Es dauerte nicht lange, und eine sportliche Frau mit einer schwarzen Lockenkrause erschien, einen Rollkoffer hinter sich herziehend.

Sie steuerte so energisch auf mich zu, dass ich einen Schreck bekam. Aber sie lachte nur und sagte auf Deutsch: »Ich bin es, Carla«, und ergänzte dann auf Türkisch: »Seni gördügüme sevindim.« – »Ich freue mich, dich zu sehen.«

Wir bestellten Kaffee, und ich fragte genauer nach, was sie so mache und wie sie auf mich gekommen sei. Sie erzählte, dass sie zuerst im Frauenhaus gearbeitet habe, dann einige Jahre im Jobcenter, bis sie ihre jetzige Stelle beim Jugendamt bekommen habe. Dort würde sie vor allem Familien mit arabischem oder türkischem Migrationshintergrund betreuen. Mich würde sie »gut« kennen, weil sie vor Jahren mein Buch Die fremde Braut gelesen und die Lektüre ihr das eigene Schicksal vor Augen geführt habe. Sie müsse mir unbedingt ihre Geschichte erzählen, denn was ihr geschehen sei, würde auch heute noch, mitten in Deutschland, so vielen anderen widerfahren.

Carla spricht manchmal deutsch, manchmal türkisch. Zuerst nehme ich dieses Wechselspiel zwischen den Sprachen als zufällig wahr. Dieses Hin-und-her-Pendeln passiert mir bei Gesprächen mit meinem ebenfalls in Deutschland lebenden Bruder auch oft. Wir sprechen immer in der Sprache, die uns für die Situation am treffendsten erscheint. Bei Carla fällt mir mit der Zeit auf, dass sie immer dann deutsch spricht, wenn sie über ihre Arbeit, ihre Kinder, ihre Pläne redet, und mitten im Satz ins Türkische fällt, wenn sie von der Vergangenheit und ihrer Familie erzählt. Es scheint, als seien die beiden Sprachen mit unterschiedlichen Gefühlen besetzt.

Nach der ersten gemeinsamen Kaffeestunde, in der sie mir in Stichworten ihr Leben erzählte, ist mir klar, dass ich ihre Geschichte aufschreiben muss. Wir verabreden uns noch mehrmals und reden manchmal einen ganzen Tag lang über ihre Familie und ihren Kampf. Im Folgenden erzähle ich Teile unserer Gespräche den Aufzeichnungen entsprechend nach. Für solche lebensgeschichtlichen Interviews habe ich mir im Laufe der Zeit eine bestimmte Frage- und Gesprächstechnik erarbeitet. Damit mein Gegenüber nicht nur das erzählt, was sie oder er unbedingt »loswerden« will, sondern wirklich ins Erzählen und Nachdenken über sich kommt, beginne ich mit einer ganz einfachen Frage. Sie lautet: »Was ist deine erste Erinnerung?«

Carla sagt, da war ein Haus aus Lehm ohne Fenster in einem Dorf ganz im Osten der Türkei, kurz vor der Grenze zu Aserbaidschan. Carla hieß damals Elmas, im Türkischen hat der Name die Bedeutung »Juwel«. Elmas ist barfuß, ihr schmerzen die Füße von den heißen Steinen, und sie hat Angst. Vor den Stechfliegen und einem Mann ohne Beine, der auf einem Rollbrett von den großen Jungs die Dorfstraße hinuntergeschubst wird und schrecklich schimpft. Sie ist vier Jahre alt und hat sechs ältere Geschwister.

Ihre Mutter Nazli wurde mit 15 Jahren das erste Mal schwanger, innerhalb von zwölf Jahren gebar sie sieben Kinder: 1962 kam Yalcin auf die Welt, der älteste Sohn, dann folgten die Töchter Gül, Suna und Ayten, Sohn Ercan, Elmas und schließlich der Jüngste, Sedat. Und dann war da noch Hayriye, so alt wie Ayten: Hayriye war kein leibliches Kind von Nazli, sondern die angenommene Tochter eines verstorbenen Bruders ihres Vaters. Der Onkel war in den Bergen erschossen worden, als seine Frau schwanger war. Das Kind wurde nach einer Sitzung des Familienrats in Elmas’ Familie gegeben. Die Mutter selbst wurde wieder verheiratet und musste ihr Kind zurücklassen.

Die Entführung

Elmas’ Vater Mehmet war 16 oder 17 Jahre alt, als er die 14-jährige Nazli entführte. So genau weiß Carla das nicht, denn in Ostanatolien wurden damals keine amtlichen Geburtsdatenregister geführt. Brautentführungen sind in anatolischen Dörfern nicht unüblich, vor allem dann nicht, wenn der Bräutigam arm ist und das Brautgeld nicht aufbringen kann. Gelingt es dem Mann, das geraubte Mädchen in sein Haus zu bringen, gilt es als »entehrt« und kann nicht mehr zurück zu seiner Familie. Mehmet entjungferte Nazli noch in der ersten Nacht. Als sie sich danach weigerte, ihm die Füße zu waschen, schlug er sie das erste Mal. Mehmet war der Zweitälteste von sieben Geschwistern. Nach dem frühen Tod des Vaters übernahm er die Rolle des Familienoberhaupts. Früh lernte er, dass Gewalt das legitime Mittel war, um zu bekommen, was man will. Als er eine Frau wollte, nahm er sie sich, ohne dass ihm jemand Einhalt gebot. Und wenn sie sich nicht nach seinem Willen verhielt, dann schlug er sie. Nazli hasste ihren »Ehemann« vom ersten Tag an und nannte ihn auch gegenüber den Kindern später nur »Azrail«, Todesengel.

Nazlis Familie war durch die Entführung ebenfalls entehrt, denn nach den Traditionen der arabisch-kurdisch-muslimischen (ich nenne sie der Einfachheit halber »orientalischen«) Gesellschaft symbolisiert die Unbescholtenheit der Frauen und Töchter die »Ehre« der Familie. Diese »Ehre« ist heilig. Doch unter dem Deckmäntelchen der Sorge um die Unversehrtheit der Schutzbefohlenen dient sie auch oft zur Legitimation für deren Unterwerfung. Der Ehrverlust kann schwerwiegende Folgen für die Familien haben, denn so können die übrigen Töchter vielleicht nicht in ehrenhafte Familien einheiraten oder müssen ohne Brautgeld verheiratet werden, erklärt Carla. Um seine Ehre zu retten und sein Gesicht zu wahren, wurde Nazli von ihrem Vater offiziell »verstoßen«. Das bedeutete, dass sie keine Aussteuer bekam und in Zukunft auch keinen Schutz von ihrer Familie mehr zu erwarten hatte. Sie konnte, wenn ihr Mann sie verstoßen sollte, nicht zu ihrer Familie zurück. Damit war und blieb sie ihrem Entführer schutzlos ausgeliefert. Als Entführte war sie zudem die Letzte in der Rangfolge der (späteren) Bräute und Frauen der Familie ihres Mannes und musste die niedrigsten Arbeiten verrichten.

Istanbul

Ende der 1970er-Jahre verfielen in Anatolien die Dörfer, die Binnenmigration, der Zug in die großen Städte, begann. Zuerst schickte man die Stärksten, die jungen Männer. Frauen, Kinder und Alte blieben in den Dörfern zurück. Die Mutigsten gingen in den Norden, nach »Almanya«. Auch Mehmet wagte den Schritt in die Fremde: Nach einer kurzen Zeit in Istanbul bei seinem Bruder zog es ihn nach Deutschland. Gemeinsam mit einem Onkel arbeitete er in einer kleinen Stadt in Süddeutschland in einer Möbelfabrik.

Nach einem Jahr hatte er genug Geld beiseitegelegt, um ein Grundstück in Istanbul kaufen zu können, wo er ein achtstöckiges Haus bauen wollte, damit die ganze Großfamilie nachkommen konnte. Damit unterschied er sich von den vielen Binnenmigranten, die meist illegal Hütten und Häuser errichteten. In Großstädten wie Istanbul entstanden zu dieser Zeit viele der sogenannten Gecekondular, wilde Stadtteile ohne richtige Straßen und Kanalisation, die die Bevölkerungszahl in den großen Städten explodieren ließen. 40 Prozent der anatolischen Landbevölkerung zogen ab 1950 in die Städte. Istanbul wuchs innerhalb von 20 Jahren von rund 1 Million Einwohner auf 2,1 Millionen (1970). Im Jahr 2000 zählte die Stadt 8,8 Millionen, inzwischen sind es 15,7 Millionen.

Von Deutschland aus schickte Mehmet seinem Bruder Geld, damit dieser das Haus in Istanbul weiterbauen konnte. Zunächst kam der Bau aber nicht über den Keller und das Erdgeschoss hinaus. Im Keller des Rohbaus hielt der Bruder Schafe. Er schlachtete sie illegal und verkaufte das Fleisch an die Nachbarn. Mehmet bekam davon kaum etwas mit. Er kam einmal im Jahr, im Sommer, in das kleine Dorf in Ostanatolien. Und wenn er ein Jahr später wiederkam, konnte es sein, dass Nazli ein zwei oder drei Monate altes Baby auf dem Arm hielt.

Eines Tages verfügte Mehmet, die Familie solle das Dorf verlassen und nach Istanbul in das unfertige Haus ziehen. Carla erinnert sich noch gut an den Umzug. Alles Hab und Gut wurde in bohcalar, große Leintücher, gepackt, dann bestiegen Großmutter, Mutter und Kinder die Ladefläche eines Lastwagens, der sie in vier Tagen und Nächten ins fast 1500 Kilometer entfernte Istanbul brachte. Das Haus roch irgendwie vertraut nach Dorf, wegen der Schafe im Keller. Sie zogen ins Erdgeschoss, das später einmal ein Laden werden sollte. Aber noch war überall roher Beton. Sie schliefen auf Matten aus Schafswolle, die tagsüber in einer Ecke aufeinandergestapelt wurden. Ein Raum wurde als Küche benutzt. Auf dem Boden ein Gaskocher, Teller und Töpfe. Wenn gebadet werden sollte, wurde Wasser auf dem Gaskocher heiß gemacht, man setzte sich auf einen Hocker im Klo und goss sich das Wasser über den Kopf. Licht gab es über eine Gaslaterne.

Elmas’ Mutter musste von nun an nicht nur für die eigene Familie, sondern auch für die des Bruders ihres Mannes kochen, die regelmäßig abends zu Besuch kam. Sie blieb in der Hierarchie der Frauen die Rangniedrigste und wurde vor allem von ihrer Schwiegermutter wie eine Dienerin behandelt. Die saß auf einem Podest am Fenster und scheuchte die gelin, wie die angeheiratete Frau genannt wird, durch die Wohnung.

In Istanbul verließ Elmas’ Mutter nur selten das Haus. Im Dorf konnte sie zum Brunnen gehen, den Acker bestellen oder mit den Frauen gemeinsam Brot backen. Das ging, weil es keine Fremden im Dorf gab, vor denen die Frauen versteckt werden mussten. In der Stadt lebte man wie im Dorf, aber ohne die Dorfgemeinschaft. »Hier gab es außer der Familie nur Fremde und die Schafe im Keller«, sagt Carla. Nazli stellte ihre Position nie offen infrage. Stattdessen verfluchte sie ihren abwesenden Mann und ließ ihre Wut besonders an ihren drei Töchtern aus.

Elmas war als jüngstes Mädchen zunächst von den Hauspflichten befreit, dafür waren die älteren Schwestern zuständig. Morgens ging sie mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Ercan hinaus auf die Felder. Ihr Lieblingsplatz war ein Feigenbaum. Dort spielte sie mit den Kindern der Nachbarschaft besch tasch, ein uraltes Geschicklichkeitsspiel mit fünf Steinen, oder Verstecken. Alles war unbeschwert, wenn man nur die Großmutter und Mutter nicht verärgerte. Die Oma galt als schnell auf den Beinen, sie nannten sie cip cevahir, den »schnellen Engel Gabriel«. Sie hütete ihre Aussteuertruhe wie einen Augapfel und ließ niemanden in deren Nähe. Die älteren Schwestern flüsterten von einem Schatz, der darin enthalten sei. Der Schatz, das war das Geld, das der Vater aus »Almanya« schickte, das Geld, von dem sie lebten und von dem das Haus weitergebaut werden sollte.

Als die Oma einmal das Zimmer verließ, ohne die Truhe abzuschließen, wollte Elmas das Geheimnis lüften. Sie öffnete den Deckel und entdeckte ein ganzes Bündel mit 500-Lira-Scheinen. Sie zog einen heraus, eilte heimlich in den einzigen Laden der Gegend und kaufte Zitronenlimonade, Kekse, Schokoriegel und Bonbons. Der Feigenbaum wurde zur Partyzone, und als Elmas und ihre Freundinnen auf den Ästen saßen und die Köstlichkeiten probierten, hörten sie plötzlich den gellenden Schrei der Großmutter. Der Ladenbesitzer, der gerade noch ein großes Geschäft mit ihr gemacht hatte, war aufgetaucht, um nachzufragen, woher das Kind plötzlich so viel Geld hatte.

Die Mutter zerrte Elmas ins Haus und prügelte auf sie ein. Sie geriet so außer sich, wie Elmas es bisher nur bei ihrem Vater erlebt hatte. Es war, als wolle die Mutter den Vater an Brutalität übertreffen. Heute sagt Carla: »Meine Mutter hat das Schlagen selbst übernommen, da sie befürchtete, dass die Oma oder andere Verwandte noch heftiger zuschlagen würden. Ihre Schläge waren wenigstens kontrolliert und nicht willkürlich.«

Der Vater herrscht, auch wenn er nicht da ist

Wenig später kam der Vater aus Deutschland zu Besuch. Am Morgen nach seiner Ankunft stellten sich die Geschwister wie die Orgelpfeifen in einer Reihe auf. Mehmet schenkte allen Kindern etwas Geld und ermahnte sie, es nicht gleich auszugeben, sondern zu sparen. Die älteren Schwestern wollten es besonders gut machen und kauften sich für ein paar Lira Spardosen. Die Spardosen waren der letzte Schrei, denn auf jeder war ein Schauspieler oder Sänger abgebildet. Die Mädchen zeigten stolz ihren Schatz vor. Das erzürnte den Vater derart, dass er erst die Dosen zerschlug und dann auf die Töchter einhieb.

Die heftigsten Schläge aber bekam die Mutter. Die Kinder wachten morgens vom Geschrei der Mutter auf. Mehmet schlug sie, wann immer er dafür einen Grund fand. Es reichte, dass sie den Tee zu spät eingegossen oder einen Befehl aus seiner Sicht falsch oder schlecht ausgeführt hatte. Und niemand muckte auf, denn der Wille des Vaters war wie Allahs Wille, und dem hatte man zu folgen.

»Niemals wurde sein Verhalten infrage gestellt, von niemandem«, erzählt Carla. »Und auch, wenn er wieder nach Deutschland fuhr, war er immer irgendwie anwesend. Vater will dies, oder Vater will jenes nicht. Er war das Gesetz. Uns Kindern wurde eingeimpft, dass wir ohne ihn nicht existieren könnten, denn er würde die ganze Last der Familie tragen. Egal, was er tat oder unterließ, er musste geliebt und verehrt werden. In gewisser Weise war er Gott.«

Dass der Vater tatsächlich allgegenwärtig und allmächtig war, zeigte sich ein paar Wochen später. Yalcin sollte seinem Vater Mehmet nach Deutschland folgen, wo er gemeinsam mit ihm so viel Geld verdienen würde, dass das Haus endlich fertig gebaut werden konnte. Am Vorabend seiner Abreise saßen alle zusammen, als die älteste Tochter Gül plötzlich unruhig wurde und dann vorgab, sie sei müde und wolle ins Bett. Die Mutter schickte der Tochter einen fragenden Blick hinterher. Nach einiger Zeit forderte sie Yalcin auf, nachzusehen, ob Gül wirklich schon schlafe. Yalcin entdeckte seine Schwester am Fenster stehend: Sie winkte einem Jungen aus der Nachbarschaft zu und gab ihm Zeichen. Yalcin rief seine Mutter. Die packte die Tochter an den Haaren und schlug sie auf die Art, wie sie selbst von ihrem Mann geschlagen wurde. Dann bat sie Yalcin, dem Vater nichts von diesem Vorfall zu erzählen.

Doch ihre Bitte verhallte. Wenige Tage später tauchte mitten in der Nacht plötzlich der Vater wieder auf. Yalcin hatte seine Schwester ein zweites Mal verraten, Mehmet hatte sich sofort auf den Weg gemacht, um seine Ehre wiederherzustellen, die durch den Flirt am Fenster angeblich beschädigt worden war, sagt Carla. Seine Ehre, das war in diesem Fall nicht nur die Unbescholtenheit der Tochter; Mehmet wollte sich vor allem vergewissern, dass man seinen Befehlen folgte, auch wenn er nicht vor Ort war. »Ihr habt wohl geglaubt«, schrie er, »dass ich nicht bei euch bin, wenn ich in Deutschland bin! Ich sitze euch im Nacken, ganz gleich wo ich bin. Keiner entwischt mir.« Mit diesen Worten packte er Gül, hieb mit den Fäusten auf sie ein und schlug sie mit dem Kopf gegen die Wand. Carla wundert sich noch heute darüber, dass ihre Schwester die Attacke überlebte.

Am nächsten Morgen verkündete der Vater, dass Ayten und Hayriye, beide damals 14 Jahre alt, bei der Oma in Istanbul bleiben sollten und der Rest der Familie – Mutter Nazli, Gül, Suna, Ercan und Elmas – mit ihm nach Deutschland zu kommen hätten.

Nachdem die Papiere besorgt waren, ging es im Auto des Vaters gen Norden. Für die Kinder auf der Rückbank gab es während der Fahrt hart gekochte Eier und Börek. Angehalten wurde nur, wenn jemand aufs Klo musste oder jemandem übel wurde. An eine Begebenheit kann sich Carla gut erinnern, beim Erzählen lacht sie laut auf: »In Bulgarien fragte der Vater einen Mann, der vor einem Haus saß, nach dem Weg. Wie sich herausstellte, fuhren wir aber im Kreis. Als wir wieder an dem Haus ankamen, kurbelte mein Vater die Scheibe herunter, spuckte dem Mann ins Gesicht und fuhr seelenruhig weiter. Und wir saßen im Auto und machten keinen Pieps.«

Es galt, was immer galt: Kinder reden im Beisein des Vaters nicht, es sei denn, sie werden etwas gefragt. »Zu Hause stand man an der Wand und wartete auf Anweisungen, besser noch, man erahnte, wenn er Tee oder einen Aschenbecher brauchte und brachte das sofort. Ansonsten hieß es zu schweigen.«

Im Schwarzwald wurde die Familie schon von Yalcin erwartet. Der Vater hatte für 100 DM im Monat ein altes Haus auf einem Gehöft gemietet, auf dem Kutschen gebaut wurden. Das Haus hatte mehrere Räume, aber sie schlugen alle ihr Lager in dem Raum auf, der einen Ofen hatte. Den beheizten sie mit Holzresten, die der Vater aus der Möbelfabrik mitbrachte, in der er arbeitete. Sie lebten im Schwarzwald wie in ihrem anatolischen Dorf und wie in Istanbul: Sie aßen und schliefen auf dem Boden, hatten aber fließendes Wasser und Strom. Und bald auch einen Fernseher.

Am nächsten Morgen wollten Elmas und Ercan, inzwischen sechs und acht Jahre alt, die Umgebung erkunden. Elmas war neugierig, alles war so grün und aufregend anders. Der Vater hatte für Ercan ein altes Kinderfahrrad besorgt. Ercan schwang sich in den Sattel und Elmas wollte hinterher. Doch der Vater hielt sie fest. »Halt«, schrie er, »wo willst du denn hin?«

Elmas zeigte auf Ercan: »Ich will raus. Und ich will auch so ein Fahrrad.«

Der Vater gab ihr eine heftige Ohrfeige. »Du bleibst zu Hause bei deinen Schwestern und deiner Mutter. Wenn ich dich draußen erwische, breche ich dir die Beine.«

In Deutschland durften die Frauen und Mädchen das Haus gar nicht mehr verlassen, noch nicht einmal in Begleitung der Brüder. Wenn der Vater am Samstag einkaufen ging, durfte wenigstens seine Frau ihm folgen. Aber wenn der Vater und Yalcin aus dem Haus waren (Yalcin machte in der Kutschenwerkstatt eine Schreinerlehre und war, wenn die Berufsschule Blockunterricht hatte, in der nächstgrößeren Stadt), schlich Elmas sich trotzdem hinaus und erkundete den Garten und die nächste Umgebung.

Der Vater hatte in der Arbeit türkische Kollegen kennengelernt, und man besuchte sich gegenseitig an den Wochenenden. Der Vater hatte ganz eigene Vorstellungen, wie seine Familie sich bei solchen Besuchen zu benehmen hatte: Die Gastgeber hatten wie üblich den Tisch reichlich gedeckt, es gab Erdnussflips, Salzstangen oder Chips. Aber wehe, jemand nahm etwas davon, dann setzte es zu Hause Prügel. Der Vater herrschte uneingeschränkt, auch außer Haus.

Auch sonst war alles wie in der Türkei. Mutter machte die Nudeln selbst, legte Gemüse ein, backte Brot und machte aus der Milch vom Bauern nebenan Joghurt. Sie trug weite geblümte Röcke, selbst gestrickte bunte Westen und ein Kopftuch wie in Anatolien. Einmal musste Elmas ihre Mutter zum Bäcker begleiten, weil sie doch Brot brauchten. Elmas sollte dolmetschen, denn da die Mutter keinerlei Außenkontakte hatte, sprach sie nicht ein Wort Deutsch. Auf dem Weg begegneten sie zwei alten Damen aus der Nachbarschaft, die Elmas bereits kannten. Elmas grüßte, die Damen grüßten zurück – und ihre Mutter blieb wie angewurzelt stehen. Sie rührte sich nicht vom Fleck, denn in ihrem anatolischen Dorf blieb man so lange stehen, bis ein Älterer oder eine Respektsperson weitergegangen war. Wenn sie an die irritierten Blicke der Damen denkt, muss Carla heute noch lachen.

Stullen für Ercan, Elmas muss hungern

Elmas besuchte mit Ercan die Grundschule im Nachbardorf. Dorthin mussten sie jeden Morgen mit dem Schulbus fahren. Ercan bekam Taschengeld und Brote, die die Mutter für ihn schmierte, Elmas bekam – nichts. Ercan sei ein Junge und brauche Kraft, sagte die Mutter. Elmas hungerte. In den Pausen bat sie den Bruder, ihr doch ein Stück von seinem Brot abzugeben, aber er hatte nie Mitleid mit ihr. »Wir Geschwister untereinander haben das Unbarmherzige von unserem Vater früh übernommen«, sagt Carla heute.

Als sie in der Schule schwimmen lernen sollte, lehnte der Vater dies ab. Daraufhin kam die Sportlehrerin zu ihnen nach Hause. »Schwimmen lernen ist bei uns ein Muss!«, sagte sie. Die Lehrerin war für den Vater eine staatliche Autorität, der er sich nicht widersetzte. Und so bekam Elmas einen Badeanzug und eine Badekappe und lernte schwimmen.

Ercan hatte einen Schulranzen, Elmas nicht. Sie musste ihre Schulsachen in eine Aldi-Tüte packen. Neidisch blickte sie in den Pausen auf die deutschen Kinder, die dick mit Wurst und Käse belegte Brote auspackten und kleine silberne Orangensafttüten mit der Aufschrift »Capri Sonne«. Elmas überlegte, was das wohl für Eltern waren, die ihren Kindern solche Köstlichkeiten mit zur Schule gaben.

Elmas fiel auf. Wegen der Aldi-Tüte, wegen der fehlenden Stullen, wegen ihrer Kleidung. Sie musste meist die Sachen der älteren Schwestern auftragen. Die Pullis und Hosen wurden eben so lange hochgekrempelt, bis sie passten. Die ersten Wochen ging sie dennoch mit Freude zur Schule und schrieb alles akribisch auf, was sie an der Tafel sah. Doch schnell begriff sie, dass die Lehrer sie genauso wenig beachteten wie die drei anderen türkischen Kinder in ihrer Klasse. »Wir waren da, aber wir existierten eigentlich nicht«, sagt Carla.

Um das zu ändern, musste Elmas irgendwie auf sich aufmerksam machen. Sie wollte sein wie der türkische Action-Schauspieler Cüneyt Arkin und prügelte sich in der Pause mit den deutschen Jungs. Am liebsten verprügelte sie aber die deutschen Mädchen. Denn dafür wurde sie auch von den türkischen Jungs aus den höheren Klassen gelobt. Sie könne die Ehre der Türken verteidigen wie ein Mann, sagten sie. Elmas war wild und unbändig und bekam den Spitznamen »Schläger-Paula«. Die Lehrerinnen mochten sie deshalb nicht, wussten aber auch sonst nichts mit ihr anzufangen.

Alltägliche Gewalt

Im Dorf gab es alle paar Monate ein seltsames Ritual. Die Leute stellten allerlei Kram auf die Straße und warteten darauf, dass das Zeug abgeholt wurde. Die Eltern holten dort manchmal Möbel und was sie sonst noch brauchen konnten. Einmal fand Elmas im Sperrmüll eine Schultasche. Voller Stolz ging sie damit am nächsten Tag zur Schule. Die Lehrerin beglückwünschte sie zu der schönen Tasche. Doch dann rief ein Mädchen: »Das ist doch der Ranzen von meinem Bruder, den wir gestern auf den Müll geworfen haben.« Alle starrten Elmas an. Auch wenn ihr Blick dem Mädchen signalisierte: »In der Pause bist du dran«, hinterließ die Demütigung Spuren.

Gleichzeitig merkte sie, dass die Schule ein besonderer Ort war. Diese Welt gehörte ihr, und niemand konnte sie ihr nehmen. In der Schule konnte sie auch vergessen, was zu Hause los war. Die Tür zu einer neuen Welt, einem neuen Kosmos war aufgestoßen worden. Stolz präsentierte sie dem Vater nach dem ersten Schuljahr in Deutschland das Zeugnis. Es war ganz gut. Der Vater starrte lange auf das Blatt – und holte den Stock. Er konnte nicht lesen, er sah nur den langen Text. Und sagte, wenn das ein gutes Zeugnis wäre, würde dort nicht so viel stehen. Zwei ihrer Schwestern mussten Elmas festhalten, dann schlug ihr der Vater mit dem Stock auf die Fußsohlen. Diese Strafe nennt man Falaka. »Schläge ersetzten bei uns Unwissenheit und fehlende Argumente«, stellt Carla heute nüchtern fest.