Die Unschuldigen - Michael Crummey - E-Book

Die Unschuldigen E-Book

Michael Crummey

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der elfjährige Evered und seine zwei Jahre jüngere Schwester Ada wachsen unter kargen Bedingungen auf. Sie sind die Kinder von Fischern, die allein inmitten der kanadischen Wildnis leben.

Als ihre Eltern sterben, sind die Geschwister auf sich allein gestellt; sie wissen nur das von der Welt, was sie von Mutter und Vater gelernt haben. Also führen sie deren hartes Leben nach Kräften weiter. Bis die Loyalität der Geschwister auf die Probe gestellt wird und sie für ihre Zukunft kämpfen müssen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 423

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

WEISS WIE SCHNEE.

MARY ORAM. IHRE WERKZEUGE.

PACKEIS. EIN HEULER.

DIE HOPE. DER BEADLE.

EIN BÄR. NOCH MAL DER BEADLE.

EIN SCHIFFSWRACK. IHR BESUCHER.

DIE ARK OF MALAGA. BLINDHEIT.

GRAF SCHLAKS. NOCH EINMAL DER BEADLE.

EIN BÄRENJUNGES; DAS MUTTERTIER. DIE LASST ALLE HOFFNUNG FAHREN.

CAPTAIN TRUSS UND MRS BRACE. EINE BÄRIN; IHR JUNGES.

DAS BLINDE BÄRENJUNGE. IHR KREUZFUCHS.

LANG LEBE BUNGS! JOSEPHUS REX. NOAHS ARCHE.

DIE HOPE. EINE MARODIERENDE ARMEE.

EIN SCHMUTZIGES GEHEIMNIS.

DER VERSEHRTE ARM. SEIN KREUZFUCHS.

DIE LETZTE HOFFNUNG. DER VERSEHRTE ARM.

DANKSAGUNG

Über das Buch

Der elfjährige Evered und seine drei Jahre jüngere Schwester Ada wachsen unter einfachsten Bedingungen auf. Ihre Eltern sind Fischer, die mutterseelenallein inmitten der Wildnis leben, und lediglich einmal im Jahr Winterproviant per Schiff erhalten. Als Gegenleistung übergeben sie dem Kapitän den Fang des Jahres.

Als ihre Eltern kurz hintereinander sterben, sind die beiden Geschwister ganz auf sich allein gestellt. Sie wissen nur das von der Welt, was sie von Mutter und Vater gelernt haben, und haben den heimatlichen Flecken Land nie verlassen. Also führen sie das harte Leben ihrer Eltern nach Kräften weiter, leben im Einklang mit Natur und Jahreszeiten – und leider oft auch im erbitterten Wettstreit mit diesen.

Allein die unbedingte Loyalität der Geschwister zueinander hält die beiden am Leben.

»Eine Überlebensgeschichte und ein Psychothriller, eine atemberaubende Auseinandersetzung mit dem Thema Einsamkeit.« Vulture

»Diese mitreißende Geschichte wird Ihnen das Herz brechen.« People Magazine

»Ein außergewöhnlicher Roman, emotional präzise und faszinierend in seiner Naturdarstellung.« Wall Street Journal

Über den Autor

Michael Crummey stammt aus Buchans, einer Bergarbeiterstadt in Neufundland. Er hat mehrere Gedichtbände und Romane verfasst, die oft in Neufundland und Labrador spielen. Er lebt mit seiner Familie in St. John’s, Neufundland.

MICHAEL CRUMMEY

DIE UNSCHULDIGEN

Roman

Aus dem kanadischen Englisch von Ute Leibmann

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der kanadischen Originalausgabe:»The Innocents«

Für die Originalausgabe:Copyright © 2019 by Michael CrummeyPublished by arrangement with The Cooke Agency International, CookeMcDermid Agency, and Liepman AG. Originally published in Canada by Doubleday Canada, a division of Penguin Random House Canada.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, KölnUmschlaggestaltung: Massimo Peter-BilleEinband-/Umschlagmotive: © Große Gebirgsgipfel, Vintage; © shutterstock: Grigoriy Kozlovskikh | vectortatuE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-9505-1

www.luebbe.dewww.lesejury.de

Für Martha Kanya-Forstner

Es gibt etwa vierzig oder fünfzig verschiedene Knoten; weniger als zwanzig werden regelmäßig verwendet. Niemand weiß, wann, wo oder von wem sie erfunden wurden. Alle stammen aus unvordenklicher Zeit.

R. G. Collingwood, The New Leviathan

WEISS WIE SCHNEE.

In jenem Winter waren sie noch Kinder. Vor dem ersten Schneefall verloren sie die kleine Schwester. Ihre Mutter begrub den Säugling in einer flachen Mulde gleich neben dem einzigen anderen Grab in der Bucht. Sie sang ihm das Lied, mit dem sie all ihre Kinder in den Schlaf gesungen hatte; mehr Begräbniszeremonie konnten sie nicht bieten. Zu diesem Zeitpunkt war die Mutter selbst schon todkrank und hustete Blut in die vorgehaltenen Hände.

Als die Mutter starb, war der Boden fest gefroren. Wäre der Vater gesund genug gewesen, um ein Grab auszuheben, er wäre selbst dann nicht mit dem Spaten in die Tiefe gekommen. Gemeinsam mit Evered befreite er das umgedrehte Boot von der Abdeckung aus Schilf und Erlenzweigen und zog es zur Flutgrenze hinab. Dann trugen sie den Leichnam aus dem Haus. Sie legten ihn zusammen mit einem halben Dutzend Steine, die sie am Ufer gesammelt hatten, ins Boot. Der Vater stützte sich am Dollbord ab, um wieder zu Atem zu kommen.

»Fahr ich mit dir raus?«, fragte Evered.

Der Vater schüttelte den Kopf. »Du bleibst bei deiner Schwester«, sagte er.

Die beiden Kinder sahen zu, wie er mit seiner toten Frau vom Ufer wegruderte, vorbei am vorgelagerten Flach, ins tiefere Wasser. Sie sahen, wie er sich unter das Dollbord beugte, eine ziemlich lange Zeit, so kam es ihnen vor. Nur ab und zu tauchten Kopf und Schultern über der Bordkante auf. Es schien, als mühte er sich mit einer unangenehmen Arbeit ab, aber sie konnten sich beide nicht vorstellen, womit. Sie beobachteten, wie er, den Rücken zum Ufer gewandt, mit dem Gewicht der Leiche kämpfte. Das Boot war so weit entfernt, dass sie nicht sehen konnten, wie ihre Mutter nackt ins Dunkel des winterlichen Ozeans gekippt wurde.

Als der Vater wieder ans Ufer gerudert war, wollte er seiner Tochter die Kleidung geben, doch Ada hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schüttelte heftig den Kopf.

»Die wirst du noch gebrauchen können«, sagte ihr Vater. »Ziemlich bald schon.«

Evered nahm die Kleidung und faltete den schlaffen Stoff vor der Brust. Der säuerlich-schale Geruch nach langer Krankheit und nach seiner Mutter. Gerüche, die er nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. »Ich leg’s für sie beiseite«, sagte er.

Der Vater nickte. Er war zu erschöpft, um aus dem Boot zu steigen, und blieb noch geraume Zeit darin sitzen. Während sie warteten, wehte Schnee über die Bucht herein und legte sich weiß auf seinen gesenkten Kopf.

Noch vor Neujahr starb der Vater in seinem Bett.

Sie sprachen nicht darüber und taten, als schliefe er bloß. Fast eine Woche ließen sie ihn liegen in der Hoffnung, er könne mitten in der Nacht von Husten geschüttelt aufwachen, sich über die Kälte beklagen oder nach einem Becher Wasser fragen. Tagsüber trödelten sie im Vorratsschuppen herum und blieben so lange draußen, wie sie es in der Kälte aushielten, spalteten Holz und schichteten es auf, schleppten eimerweise Wasser vom Bach herbei oder suchten im Küstenvorland nach Möwenfedern, Muschelschalen und Wunschsteinen für Adas Sammlung. Wenn sie in der Hütte waren, kümmerten sie sich um die Feuerstelle, tranken schwarzen Tee und unterhielten sich im Flüsterton, als wollten sie den Vater nicht wecken.

In der fünften Nacht dieser Totenwache schreckte Ada aus dem Schlaf hoch. Sie hatte von den Eltern geträumt. Sie hatten ihr den Rücken zugekehrt, sich an den Händen gehalten und über die Schulter nach ihr umgeblickt. Die Mutter war nackt und klitschnass gewesen; aus ihren Haaren rann Wasser.

»Warum flennst du, Schwester?«, fragte Evered.

»Er kann nicht hierbleiben«, flüsterte sie.

»Red keinen Unsinn.«

»Er kann hier nicht so liegen bleiben, Bruder.«

Und dann fing auch er an zu flennen, zwei hilflose Kinder, die sich in der pechschwarzen Dunkelheit aneinanderklammerten.

Ehe es richtig hell war, schlug er die eine zerlumpte Wolldecke zurück und wuchtete den toten Körper auf den Boden. Die Fersen knallten wie Hammerschläge auf den gefrorenen Untergrund. Seine Schwester wollte die Beine des Vaters anheben, doch Evered ließ es nicht zu. Jetzt war er der Mann im Haus. »Du bleibst hier sitzen«, befahl er. »Bis ich wieder da bin.«

Er packte die Hemdschultern des Vaters. Er hatte erwartet, dass es ähnlich wäre wie das Aufholen eines vollen Fischernetzes, doch der Leichnam war derart steif, dass er sich überraschend einfach durch die Türöffnung nach draußen ziehen ließ. Nur einmal musste Evered auf dem Weg zum Wasser stehen bleiben, um Atem zu holen und die taub gewordenen Finger auszuschütteln.

Er ruderte über das Flach hinaus bis ins tiefe Wasser, so dicht wie möglich an jene gleiche Stelle, und versuchte, den richtigen Abstand zum Ufer einzuschätzen. Dort unten könnten seine Eltern wieder vereint sein, dachte er, oder wenigstens in Sichtweite voneinander, obwohl er wusste, dass nichts unter der Meeresoberfläche lang an Ort und Stelle blieb. Aus praktischen Erwägungen wollte er dem Mann die Kleidung ausziehen, doch da die Augen des Vaters halb offen standen, verließ ihn der Mut, noch länger an ihm herumzufummeln.

Ehe er vom Strand abgelegt hatte, hatte er ein altes Fischernetz und ausreichend Steine besorgt, um den Körper unter Wasser zu halten, und band diesen improvisierten Anker nun um die Hüften des Vaters. Der Tag war kalt und windstill, das Meer flach und unbewegt. Eigentlich wollte er nicht hinschauen, nachdem die Leiche aufs Wasser geklatscht war und er die Steine über die Bordwand gewuchtet hatte, damit sie den Körper hinabzogen. Doch er brachte es nicht fertig, den Blick von jener Sinkfahrt abzuwenden, auch als sein Vater längst in der Tiefe verschwunden war.

Während er durch die Schären zurückruderte, starrte er hinaus zu der Stelle, wo der Vater versunken war. Er klapperte hilflos mit den Zähnen; er wusste nicht, wie ihm geschah. Selbst nachdem er den Kiel des Bootes kurz vor dem Ufer auf Grund gesetzt hatte, bewegte er weiter die Ruder im Wasser wie ein geköpftes Huhn, das um den Hackklotz rennt. Er hörte erst auf, als Ada hinter ihm seinen Namen rief.

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst warten, wo du bist, bis ich wieder da bin«, sagte er, während er versuchte, die Ruder einzuholen und sich zu sammeln.

»Ich hab gesehen, wie du reingekommen bist.«

Er stieg über das Dollbord und stolperte an Land, das Gesicht kreidebleich. »Muss mich mal kurz hinlegen«, murmelte er.

Ada mühte sich, so gut sie konnte, das Boot weiter ans Ufer zu ziehen, damit die Flut es nicht wegtreiben konnte, und rief ihrem Bruder, der den Pfad zur Hütte hinauftorkelte, vergeblich hinterher. Als sie selbst die Hütte betrat, war er bereits in ihrem gemeinsamen Bett eingeschlafen. Er schlief so lange und ohne sich zu bewegen, dass Ada befürchtete, er könnte ebenfalls gestorben sein. Sie saß auf der anderen Seite des Zimmers, bis es dunkel wurde, und stieg dann ins Bett der Eltern. Dort lag sie und unterhielt sich im Flüsterton mit ihrer toten Schwester, um weniger allein zu sein.

Als Evered erwachte, war es schon später Vormittag. Er setzte sich auf und schien zunächst nicht zu wissen, wo er war, bis sein Blick auf Ada fiel. Sie starrte ihn lange Zeit an, ohne ein Wort zu sagen.

»Was ist los, Schwester?«, fragte er.

Da zeigte sie auf seinen Kopf, und er fasste sich an den Scheitel.

»Dein Haar«, sagte sie.

Sie dachte an den gebeugten Kopf des Vaters im Boot, nachdem er die Mutter den Tiefen des Meeres überantwortet hatte; an den Schnee, der sich auf ihn gelegt hatte wie ein Schleier.

»Was ist mit meinem Haar?«

»Es ist ganz weiß geworden«, sagte sie.

Weiß wie Schnee, hätte die Mutter dazu gesagt.

Sie blieben allein in der Bucht zurück, in der Holzhütte mit dem Lehmboden. Es gab den kleinen Gemüseacker, ein paar zusammengezimmerte Schuppen und den laut plätschernden Bach. An drei Seiten waren sie von Hügeln umzingelt, zur vierten erstreckte sich hinter vorgelagerten Schären der weite graue Ozean. Für sie war die Bucht Herz und Summe der Schöpfung. Ihr Wissen von der Welt belief sich auf das wenige, was man ihnen wahllos weitergegeben hatte, und auf ein paar zufällig aufgeschnappte Weisheiten:

Das Meer und das Himmelszelt und alle Sterne Gottes wurden in sieben Tagen erschaffen.

Nebensonnen sind Vorboten von rauem Wetter.

Stirbt ein Pferd, freuen sich die Krähen.

Man darf erst schlafen, wenn das Feuer gelöscht ist.

Mehl und Pökelfleisch für den Winter müssen reichen, bis im März die ersten Robben übers Eis kommen.

Die Toten wohnen im Himmel, und der Himmel liegt zwischen den Sternen.

Unter der Meeresoberfläche bleibt nichts an Ort und Stelle.

Müßiggang ist aller Laster Anfang.

Ihre kleine Schwester ist unschuldig gestorben. Sie sitzt zur Rechten Gottes und erhört ihre Gebete.

Man darf jede Kreatur auf Erden oder im Meer töten und essen.

Der Mensch muss ertragen, was er nicht ändern kann.

MARY ORAM. IHRE WERKZEUGE.

Noch Wochen nachdem der Vater gestorben war, verbrachten die Kinder die meiste Zeit schlafend im Bett, wo es warm war und sie den tröstlichen Atem des anderen neben sich hörten. Die Tage waren kurz, die einzige glaslose Fensteröffnung war mit einem Laden gegen Kälte und Wind verschlossen, sodass die Zeit in einem Wechsel aus kaltem Dämmerlicht und absoluter Dunkelheit verstrich.

Jeden Tag nach Sonnenaufgang machte Evered Feuer. Sobald die unerträgliche Kälte ein wenig nachgelassen hatte, hob er Ada aus dem Bett, wie früher, als sie noch eine kleine Pisstrine von zwei oder drei Jahren gewesen war, setzte sie auf den Toiletteneimer und blieb so dicht bei ihr stehen, dass sie sich bibbernd an sein Bein lehnen konnte. Sie war nur wenig kleiner als er, aber dünn wie ein Stecken, in jeder Hinsicht noch ein Kind, abgesehen von den Händen, die schon seit Jahren Erwachsenenarbeit verrichteten und an die spröden Hände eines alten Weibes erinnerten. Dabei umklammerte sie wie ein Überbleibsel aus besseren, unwiderruflich vergangenen Tagen eine Puppe, die sie aus Lumpen für ihre kleine Schwester genäht hatte. Sie lehnte den Kopf an die Oberschenkel des Bruders, bis sie fertig war, dann trug er sie zurück ins Bett, wo sie einander umarmten, um die lähmende Stille zu verdrängen.

Keines der Kinder hatte nennenswerten Appetit oder brachte es fertig, eine richtige Mahlzeit zuzubereiten. Evered erwärmte jeden Tag aufs Neue einen grindigen Topf Erbsensuppe und bot Ada eine Schüssel an, konnte sie aber nicht überzeugen, davon zu essen. Sie ernährte sich ausschließlich von Hartkeks, den sie im Bett liegend zu Brei zerkaute. Sie sprachen kaum miteinander. Manchmal wurde Evered in der Dunkelheit wach und hörte Ada laut flüstern, doch er konnte weder verstehen, was sie sagte, noch, mit wem sie redete, und traute sich auch nicht, sie zu fragen.

Von Zeit zu Zeit wagte er einen Vorstoß nach draußen, um den vollen Toiletteneimer zu leeren, frisches Wasser vom Bach herzuschleppen oder einen Arm voll Brennholz zu spalten. Der Holzstapel gleich bei der Hütte nahm stetig ab, und Evered war, als schwinde im gleichen unabänderlichen Tempo auch in ihm etwas dahin. Er fühlte sich benommen von zu wenig Essen, zu viel Zeit im Bett und einer unbestimmten Furcht, die immer stärker wurde und ihn nicht mehr losließ. Aus Angst suchte er nach dem Steinschlossgewehr des Vaters, einer alten Büchse, die er nie geladen oder abgefeuert hatte und die schon so lange unbenutzt im Schuppen stand, dass die Eisenteile Rost angesetzt hatten. Er stellte das marode Gewehr nahe der Feuerstelle in eine Ecke, als garantierte sein bloßes Vorhandensein tröstliche Sicherheit.

Ehe er zurück ins Bett kroch, schürte er das Feuer. Ada hob die Decke, um ihn ins Warme zu lassen, und schlang die Arme um ihn. Von Tag zu Tag fiel es ihm schwerer, diesen Kokon zu verlassen. Eines Abends kam ihm im schwindenden Licht der Gedanke, dass sie dort im Bett sterben könnten, einer im Arm des anderen, und er fragte: »Meinst du, wir sollten uns nach Mockbeggar aufmachen?«

Sie hatten die Bucht, in der sie geboren waren, noch nie verlassen und keine Ahnung, was sie in Mockbeggar erwartete. Sie wussten nur, dass Cornelius Strapps Schoner im Frühjahr und im Herbst aus Mockbeggar kam und vor der Bucht ankerte, um Lebensmittel zu bringen und den Fisch einzuladen, den sie während der vergangenen Saison gefangen hatten. Und sie wussten, dass ihr Vater immer dorthin gerudert war, um Mary Oram zu holen, wenn die Mutter meinte, dass es an der Zeit sei. Mehr über Mockbeggar wussten sie nicht – in ihrer Vorstellung hätte der Ort ebenso gut im Heiligen Land oder auf dem Mond liegen können.

»Keine Ahnung«, sagte Ada. »Meinst du, wir könnten bei Mary Oram unterkommen?«

Die bloße Erwähnung dieser Frau löste ein ungutes Gefühl bei Evered aus. »Glaub kaum, dass sie sich mit Leuten wie uns abgibt.«

»Du glaubst, Mary Oram ist eine Art Hexe«, flüsterte Ada.

»Du doch auch, oder?«, sagte er. Er bereute es, das Thema überhaupt angesprochen zu haben. »Ich schätze, wir können uns auch hier durchschlagen, wenn wir’s nur wollen«, sagte er. Und gleich darauf fügte er hinzu: »Aber Angst hab ich nich vor ihr!«

An seiner Brust schüttelte Ada den Kopf. »Du bist ein erbärmlicher Lügner, Bruder.«

Er zog sie an sich. »Schlaf jetzt lieber«, sagte er.

Mary Oram war der einzige Mensch, mit dem sie außerhalb ihrer Familie je zu tun gehabt hatten. Ihre Mutter war in der letzten Phase der Schwangerschaft gewesen, hatte sich nur noch mehr schlecht als recht um die Hütte herumbewegt und den gewaltigen Bauch ungelenk vor sich hergeschoben wie eine Karre. Sie hatte kaum daran vorbeigreifen können, um den Kessel übers Feuer zu hängen, und war schon außer Atem gewesen, wenn sie morgens nur den Toiletteneimer zur Flutgrenze hinabgetragen hatte. Im Sitzen oder Liegen hatte sie alle paar Minuten die Position wechseln müssen. Etwa einen Monat bevor Cornelius Strapps Schoner mit der Frühjahrslieferung kommen sollte, erwachte ihre Mutter jammernd mit krampfartigen Schmerzen.

»Jetzt isses so weit«, sagte der Vater.

Eine neuerliche Wehe fuhr durch ihren Körper, und sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich von einer schrecklichen Erinnerung befreien. »Nein, das is nichts«, sagte sie.

»Ich muss Mary Oram holen«, sagte der Vater.

»Kein Grund, Mary Oram zu belästigen«, sagte die Mutter mit zusammengebissenen Zähnen. »Du kannst das auch schaffen, wenn’s so weit is, Sennet.«

»Gottverdammich«, sagte er. »Zu was werd ich wohl gut sein, wenn ich erst mal umgekippt bin wie’n Hackklotz? Beim letzten Mal wärst du in deim Bett verendet, wenn Mary Oram sich nich um dich gekümmert hätt …«

»Es is aber nichts«, sagte sie wieder.

Der Vater wandte sich ab, um seinen Mantel zu nehmen, und packte sich drei Hartkekse als Wegzehrung ein.

»Ich schwör bei Gott, Sennet Best, wenn du heut mit dem Boot verschwindest …«

Evered folgte seinem Vater zur Flutgrenze. »Soll ich mitkommen?«, fragte er.

»Du passt auf die beiden auf«, entgegnete der Vater, während er die Ruder einhängte und sich vom Ufer abstieß. Er warf einen Blick über die Schulter aufs offene Wasser, wo eine frische Brise aus Ost kleine Wellenkämme entstehen ließ. »Wird ein langer Schlag, wenn der Wind nich dreht«, rief er. »Morgen Nachmittag bin ich zurück, so Gott will, oder den Tag drauf.«

Evered sah zu, wie sein Vater mit gleichmäßigen Bewegungen davonruderte. »Ich weiß nicht, was ich machen soll!«, schrie er. »Was soll ich machen?«

»Du bleibst bei den Frauen!«, sagte der Vater. Und dann sagte er noch ein paar Dinge, die Evered aber wegen des Windes und der ans Ufer schlagenden Wellen nicht mehr hören konnte.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit war der Vater am folgenden Tag wieder da. Er hatte sich geweigert, auch nur eine Stunde auszuruhen, hatte vielmehr gleich die Rückfahrt angetreten und die ganze Nacht durchgerudert und kam nun vom Ufer hochgerannt, gefolgt von Mary Oram. Halb rechnete er damit, seine Frau oder das Neugeborene tot vorzufinden, doch sie saß ruhig am Feuer, auf dem Bauch einen Becher Tee. Er wandte sich einmal im Kreis, als könnte ihm ein Rundumblick durch die Hütte helfen, die Dinge besser zu verstehen.

»Hallo, Sarah Best«, sagte Mary Oram, die unbemerkt hinter ihm durch die Tür getreten war, und alle drehten sich nach ihr um. Sie war eine zwergenhafte Person, nicht größer als Ada, trug Kleider aus grobem Nesselstoff und Wolle, eine bunte Strickmütze auf dem kahlen Kopf und einen Lederbeutel über der Schulter. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren so hell und dünn, dass ihr Gesicht ebenfalls kahl wirkte. Sie erinnerte an eine schlecht gemachte, mit Sägemehl gefüllte Puppe, die plötzlich zum Leben erwacht war. Ihre Hände waren zart und blass und hatten keine Fingernägel. Sie nickte den Kindern zu, die nebeneinander auf der Bettkante saßen. »Ihr zwei seid beide von mir!«, sagte sie, doch die Kinder waren zu erschrocken von ihrem Anblick, um nachzufragen, was sie damit meinte. Ada überlegte, ob wohl alle Menschen in Mockbeggar so aussahen, sprachen und sich bewegten wie Mary Oram.

»Ich hab ihm doch gesagt, es is noch nich so weit«, sagte Sarah Best.

Nachdem der Vater losgerudert war, hatten die Wehen die Mutter aus dem Bett getrieben. Sie war in der kleinen Hütte an die hundertmal auf und ab gegangen und hatte schließlich Ada aufgefordert, sich hinzuknien und ihr die Schuhe anzuziehen, damit sie draußen umherlaufen konnte. Innerhalb einer Stunde hatten die krampfartigen Schmerzen so stark nachgelassen, dass sie etwas essen konnte. Am Nachmittag dann war klar gewesen, dass nichts weiter passieren würde, und sie hatte den Rest des Tages damit verbracht, Seetang von der Wasserkante zum Gemüseacker in den Hügeln zu schleppen.

Mary Oram durchquerte das Zimmer und schob eine Hand unter die Kleidung der Mutter, um nach dem Baby zu tasten. »Weißt du, wie weit du bist?«

»September letztes Jahr. Da hatt ich das letzte Mal den monatlichen Besucher«, flüsterte die Mutter.

Der Vater marschierte an ihnen vorbei, ließ sich in sein Bett fallen und zog die Decke über den Kopf.

»Dauert nich mehr lang, bis es so weit is«, sagte Mary Oram. »Keine zwei Wochen, würd ich meinen. Es sei denn, dies Kind hier hat andere Vorstellungen.«

»Ich schneid’s bald mit nem Fischmesser raus, wenn ich’s noch länger mit mir rumschleppen muss!«

Der Vater schnarchte bereits unter der Decke. Mary Oram sagte: »Am besten bleib ich, wo ich schon mal hier bin. Dann muss dein Mann nich noch mal hin- und herrudern.«

»Ja, gute Frau«, sagte die Mutter. »Sie können das Bett mit den beiden Kindern hier teilen, bis wir die Sache hinter uns haben.«

»Ich kann auch im Schuppen schlafen«, bot Evered hastig an, worauf Ada ihm die Fingernägel ins Handgelenk grub.

»Ich brauch bestimmt nich viel Platz«, sagte Mary Oram. »Ihr werdet gar nich merken, dass ich da bin!«

Die nächsten fünf Nächte schlief die Frau mit ihnen in ihrem Einzelbett; Ada lag an der Wand, Kopf bei Fuß neben Evered und dieser wiederum Kopf bei Fuß neben der Hebamme. Sie trug auch nachts Strickmütze und Schuhe und lag die ganze Nacht unbeweglich da wie eine Leiche.

Diese Phasen totenähnlichen Schlafes schienen allerdings die einzige Zeit zu sein, in der Mary Oram ruhig war. Evered verbrachte die Tage damit, seinem Vater am Ufer beim Bau der überdachten Plattform zu helfen, wo während der kommenden Saison der Kabeljau ausgenommen und gesalzen würde. Er stand bis zu den Hüften im eiskalten Atlantikwasser und half dabei, das Fundament für die Plattform zu setzen, auf der später Schneidtisch und Salzhütte stehen würden; er hielt die Pfähle fest, während sein Vater oben zugange war. Dennoch gefiel ihm diese Arbeit weitaus besser, als Mary Oram dabei zuzuhören, wie sie über die richtige Behandlung von Frostbeulen schwatzte oder erzählte, dass ein ordentlicher Schreck bei einer Schwangeren zu bleibenden Schäden beim Säugling führen konnte, und gleich darauf die zahllosen Hautmale und Missbildungen beschrieb, denen sie bei ihrer Arbeit begegnet war, nebst den mutmaßlichen Ursachen dafür. Sie könnte einem Baum die Rinde abschwatzen, stellte der Vater in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Bewunderung fest.

Evered dachte darüber nach, wie wenig seine Eltern redeten, außer über die Arbeit, die zu erledigen war, oder über die Unwägbarkeiten des Wetters. Er hatte angenommen, dass alle Erwachsenen so wären, und spürte nun in Mary Orams Gesellschaft ein drückendes Gewicht auf der Brust. Es kam ihm vor, als hätte sich die halbe Welt in ihrem Gefolge in die Hütte gedrängt und zerquetschte ihn nun in ihrem Gewimmel.

Auch Ada ging Mary Oram aus dem Weg, setzte sich lieber auf eine Ruderbank im Boot und schaute Vater und Bruder bei der Arbeit zu, reichte ihnen Werkzeug an oder hielt Holzpfähle fest, während diese zusammengenagelt wurden. Diese Person, die ihr in Größe und Gestalt so glich, während Gesicht und Gebaren zu einem ganz anderen Wesen gehörten, hatte etwas Gruseliges an sich. Ada wurde den Gedanken nicht los, dass sie selbst ein ähnliches Schicksal erleiden und in ihrem kindlichen Körper alt werden könnte. Aus Angst, es könne sich womöglich um eine ansteckende Krankheit handeln, hielt sie sich lieber von Mary Oram fern und bestand darauf, dass Evered zwischen ihnen schlief.

Von ihrem Platz im Boot aus fragte Ada, wie lange Mary Oram wohl noch bei ihnen in der Bucht bliebe.

»Bis das Baby kommt«, sagte der Vater.

Sie grübelte einen Moment über diese Antwort nach, die keine war. »Und wenn das Baby nicht kommt?«

Der Vater lachte. »Dann wird sie wohl hierbleiben, bis die Welt untergeht!«

Ada hatte keine Ahnung, ob der Vater das ernst meinte oder scherzte. In jedem Fall war ihr der Gedanke gänzlich neu, dass die Welt, die sie kannten, womöglich nicht beständig war, sondern vielmehr etwas Kreatürliches, Vergängliches.

Ada warf Evered einen prüfenden Blick zu, um herauszufinden, ob dieser Gedanke auch für ihn neu war. Doch ihn beschäftigte etwas ganz anderes.

»Kann es denn sein, dass das Baby gar nicht kommt?«, fragte er. Er musste daran denken, wie seine Mutter in der Hütte auf und ab gegangen war, als sie am Morgen aus ihren Betten gekrochen waren. Sie hatte, eine Hand auf dem mächtigen Leib, laut gestöhnt und sich auf die Unterlippe gebissen. Er dachte an ihre Drohung, sich selbst mit einem Messer aufzuschlitzen, falls das Kind sein Kommen noch weiter verzögerte. »Warum sollte das Baby denn nicht kommen?«

»Gottverflucht noch mal«, sagte der Vater. »Können wir jetzt einfach die Plattform fertig bauen?«

Er blickte mit zusammengekniffenen Augen an den Kindern vorbei den Hang hinauf. Beide drehten sich um und sahen Mary Oram vor der Hütte stehen. »Es ist so weit«, rief sie ihnen zu.

»In Ordnung«, sagte der Vater.

»Schicken Sie die Kleine rauf«, rief Mary Oram, ehe sie wieder in der Hütte verschwand. Dann hörten sie in der Stille einen unbekannten Ton, einen kehligen Klagelaut, der kaum mehr menschlich klang.

»Was ist das?«, fragte Evered.

»Ich schätze, das ist deine Mutter«, sagte der Vater. »Los, geh rauf, Tochter«, sagte er dann.

»Wozu braucht Mary Oram mich da oben?«

»Für alles, was da so zu tun ist, nehm ich an.«

Ada starrte Evered an, doch er wich ihrem Blick aus.

»Na los«, wiederholte der Vater, und sie wandte sich ab und ging in Richtung des gequälten Schreis der Mutter.

Die Tür stand weit offen, ebenso wie der Holzladen des einzigen Fensters, doch das Tageslicht gelangte kaum bis ans andere Ende der Hütte, wo es nie richtig hell wurde. Mary Oram hatte Wasser über der Feuerstelle aufgesetzt, die Lampe angezündet und dort hingestellt, wo die Mutter lag, die Röcke bis über die Oberschenkel hochgeschlagen. Der Lehmboden war mit einer Schicht trockenem Sand bedeckt, in den Sarah Best, wie Ada sah, mit einem Stock dicht neben der Feuerstelle ein Muster gezeichnet hatte, eine komplizierte Folge ineinander verschlungener Kreise.

»Komm her und halt die Lampe!«, sagte Mary Oram, als sie Ada an der Tür entdeckte.

Ada hatte noch nie zuvor die nackten Beine ihrer Mutter gesehen – geschweige denn das schwarze Haarbüschel zwischen den Beinen oder den fleischigen Schlitz, der aussah, als würde ihre Mutter dort jeden Moment auseinanderreißen.

»Komm schon näher«, blaffte Mary Oram. »Hier frisst dich keiner!«

Ada trat mit der Lampe näher heran, obwohl sie Mary Orams Beteuerung nicht recht glaubte. Sie versuchte, hinter dem gewaltigen Bauch das Gesicht der Mutter zu erkennen, doch es lag außerhalb des Lichtscheins.

»Weißt du schon, dass du eine Schwester bekommst?«, fragte Mary Oram.

Ada starrte sie mit offenem Mund an. Einen Moment lang hatte sie völlig vergessen, dass im Mittelpunkt dieser grotesken Situation ein Kind stand. Sie schüttelte den Kopf.

»Na dann«, sagte Mary Oram. »Du bekommst eine Schwester. Das hab ich gleich gewusst, wie ich reinkam und deine Mutter da sitzen sah. Gott gebe, dass sie sich nicht so lange Zeit lässt wie du damals!«

»Ich?«

»Zwei volle Tage haben wir hier festgesessen und auf dich gewartet! Ich – mit deinem Vater als einzige Hilfe. Schöne Hilfe, denn der is mittendrin einfach umgekippt!« Sie reckte den Arm und schob Adas Hand mit der Lampe in Richtung ihrer ausgebreiteten Utensilien. Ada sah dort ein Rasiermesser liegen. »Ich glaub allerdings, diesmal ist es ein ganz schöner Brocken!« Mary Oram nahm eine Nadel und hielt sie ins Licht, um einen Faden einzufädeln. »Sarah Best«, sagte sie, »wenn du das nächste Mal ein Kind kriegen willst, krieg ein Kind und kein verdammtes Kalb!«

Ihre Mutter stützte sich auf die Ellbogen und tauchte aus der Dunkelheit in den Schein der Lampe. Ihr Gesicht war halb verborgen hinter dem Haar, das ihr schweißnass auf der Haut klebte. »Halt die Klappe, Mary Oram!«, sagte sie. »Bei Gott, halt einfach die Klappe!« Dann sank sie zurück in die Dunkelheit. Sie hatte einen so wilden, unvertrauten Ausdruck im Gesicht, dass es Ada vorkam, als läge dort eine Fremde, die nur in Umriss und Gestalt ihrer Mutter glich.

»Sie spricht bloß wegen dem Baby so«, sagte Mary Oram ruhig. »Beim letzten Mal hat sie unter den Wehen auch ein paar ziemlich gemeine Sachen zu deinem Vater gesagt!«

Ihre Mutter stieß einige unverständliche, gotteslästerliche Worte aus und verfiel dann wieder in Wehgeschrei. Mary Oram legte Nadel und Faden zurück aufs Bett, und als die Wehe vorüber war, schob sie die nagellosen Finger ihrer Kinderhand in Sarah Bests Körper und wühlte, den Blick zur Decke gerichtet, blindlings darin herum.

»Es geht voran, Missus«, sagte Mary Oram.

»Ist es bald vorbei?«, flüsterte Ada.

»Es geht voran«, wiederholte Mary Oram bloß.

Doch den ganzen Vormittag über und bis in den Nachmittag hinein geschah nichts Ersichtliches; die wiederkehrenden Wehen waren wie Knoten in einer endlosen Leine, die sich den Tag lang abrollte. Sie aßen nichts, und weder Evered noch der Vater wagten sich in die Hütte, um nach dem Rechten zu sehen oder sich selbst etwas zu essen zu beschaffen.

Von Zeit zu Zeit schickte Mary Oram das Mädchen weg, um die Schale mit schmutzigem Wasser zu leeren und sie mit frischem heißem Wasser aus dem Topf über dem Feuer zu füllen, und mehrfach beugte Ada sich über das Bett und wischte mit einem Tuch das gepeinigte Gesicht ihrer Mutter ab.

Es wurde allmählich dunkel, als sich etwas tat, und dann ging es Schlag auf Schlag. Adas Mutter stemmte sich mit neuer Entschlossenheit in das Gewicht des Ungeborenen und presste, und Mary Oram rief nach mehr Licht, als das Köpfchen sichtbar wurde, ein Schimmer rosafarbener Haut und glitschiges dunkles Haar. Ada hatte schon Stunden zuvor erraten, welch abwegiger Prozess hier bevorstand, obwohl es ihr physikalisch immer noch unmöglich erschien. Sie verspürte einen Druck auf ihrer Blase, heftig und immer stärker werdend, doch die Dringlichkeit der gegenwärtigen Ereignisse zwang sie, an ihrem Platz zu bleiben.

»Wir müssen dem Kind ein bisschen helfen«, verkündete Mary Oram und nahm das Rasiermesser. Als Ada begriff, wofür die Klinge gedacht war, schoss der Schock durch ihren Körper wie glühende Kohlen, und sie pinkelte auf den Lehmboden. Das Pipi lief ihre Beine hinab auf die nackten Füße, doch sie weinte nicht und schaffte es, auf ihrem Posten zu bleiben, während Mary Oram den schrecklichen Handgriff vollzog.

Nachdem das Köpfchen erst einmal sichtbar geworden war, glitt das Baby in einem Schwall Blut und Flüssigkeit heraus, und Mary Oram kniete neben dem Bett, um das glitschige Neugeborene in ihrem Schoß aufzufangen. Ada starrte das hässliche Ding an, das noch mit einer Art Schnur an der Mutter festhing und die Augen vor dem ungewohnten Licht und der Kälte fest zugekniffen hatte. Es sah aus, als wäre es erst halb fertig; der rote, unförmige Kopf wirkte drei Nummern zu groß für den Körper. Mary Oram schob einen Finger in den winzigen Mund und holte einen Klumpen gelblichen Schleim heraus, dann hob sie das Kind an den Fußgelenken hoch und schlug ihm auf den Hintern. Schließlich legte sie den schreienden Säugling auf den Bauch der Mutter, schnitt mit dem Rasiermesser die Nabelschnur durch und band sie mit einem Knoten ab.

»Wir brauchen eine Schüssel frisches Wasser«, sagte Mary Oram.

Ada hatte Angst umzukippen, wenn sie sich bewegte. Mary Oram warf ihr einen prüfenden Blick zu und nahm ihr dann die Lampe aus der Hand.

»Gut gemacht, Mädchen«, sagte sie. »Und jetzt hol uns frisches Wasser.«

Auf zitternden Beinen schleppte Ada die Schale herein; ihre Füße waren nass vom kalten Urin, der Boden der Hütte eine einzige Schweinerei aus Blut und Nachgeburt, doch sie bemühte sich, nicht einen Tropfen Wasser zu verschütten, als könnte ein solches Missgeschick zusätzliches Unheil über sie alle bringen. Sie stellte das Wasser auf dem Bett neben der Mutter ab, die dem Neugeborenen auf ihrer Brust etwas ins Ohr murmelte. Dann setzte sie sich auf das andere Bett und hörte, wie ihre Schwester greinte, während Mary Oram mit ihren Verrichtungen fortfuhr, nacheinander jede Gliedmaße des Säuglings anhob und nachzählte, ob auch alle Finger und Zehen vorhanden waren.

Ada verstand nicht, was sie da gerade miterlebt hatte. Es erschien ihr kaum möglich, dass das, was die Mutter soeben durchgemacht hatte, der normale Lauf der Dinge war und nicht etwa ein furchtbares Unglück, von dem sie sich vermutlich nie wieder erholen würde.

»Bring die Lampe noch mal her«, rief ihr Mary Oram über die Schulter zu, und Ada stand auf, um die Lampe näher an den geschundenen Körper ihrer Mutter zu halten. Mary Oram nahm Nadel und Faden, und einen Moment lang befürchtete Ada, dass sie die Mutter der Länge nach zunähen wollte.

»Ist es immer so?«, flüsterte sie.

»Was meinst du, Kind?«

Ada gestikulierte mit der Lampe in Richtung ihrer Mutter, während Mary Oram drei ordentliche Stiche setzte, dann den Faden verknotete und abschnitt. »Na, so«, sagte Ada.

Mary Oram stand auf und lächelte dem Mädchen zu. »Nein, Schätzchen«, sagte sie. Sie reinigte sich die Hände in der Wasserschale und wischte sie an ihrer schmuddeligen Rockschürze ab. »Manchmal geht’s auch ganz und gar nicht gut aus.«

Evered und sein Vater hielten sich in einer Art stillschweigenden Übereinkunft den ganzen Tag über von der Hütte fern. Eine Zeit lang bemühte sich Evered, an der Miene seines Vaters abzulesen, ob es Grund zur Sorge gab, doch der Gesichtsausdruck des Mannes verriet ihm nichts. Und solange die Arbeit sie beschäftigt hielt, gelang es ihm beinahe zu ignorieren, was sie zu ignorieren versuchten.

Es hatte ihn überrascht, dass man Ada zu Hilfe gerufen hatte, obwohl sie kaum mehr als ein Kind war. Immer, wenn er zufällig zur Hütte hinaufschaute, traf ihn die enorme Tragweite dessen, was seine Schwester da aus erster Hand mitbekam, mit voller Wucht, wie eine kräftige Böe, wenn er aus der Abdeckung einer Huk herausruderte. Jedes Mal, wenn es ihn mit voller Breitseite erwischte, musste er kämpfen, um das Boot wieder in den Wind zu richten und die Böe abzuwettern. Aber er strengte sich an, die offenkundige Gleichgültigkeit seines Vaters zu imitieren, und arbeitete in einem gleichmäßigen, mechanischen Rhythmus, der eine ganz eigene beruhigende Wirkung auf ihn hatte.

Nachdem sie den letzten Pfahl auf der Plattform befestigt hatten, holte sein Vater Schaufeln und Leinensäcke aus dem Lagerschuppen, und sie marschierten zum westlichen Ende der geschützten Bucht, zu der einzigen Stelle, an der es genügend Sand zum Abtragen gab. Mit den hölzernen Schaufeln, die vor einer halben Ewigkeit in Mockbeggar verfertigt wurden und deren Mulden vom ständigen Gebrauch schon ganz glatt geschliffen waren, schippten sie Sand in die Säcke, karrten sie zur baumlosen Stelle unterhalb der Hütte und stellten sie dort ab. Dann gingen sie zum Bach – weit genug von den Qualen der Frau entfernt, dass der Wind einen Großteil der Geräusche abhielt, wenn auch nicht restlos. Sie tranken Wasser aus der hohlen Hand, um ihren Hunger zu stillen, dann zündeten sie ein Feuer an, setzten sich in die Wärme und warteten.

»Wie lange wohl noch, bis sie fertig sind?«, fragte Evered.

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Kann sein, dass wir hier draußen schlafen müssen.«

»Was wolltest du mit dem Sand?«

»Ich schätze, wir müssen die Hütte sauber machen«, sagte sein Vater. »Und eine neue Schicht ausstreuen.«

Bis zum Einbruch der Dunkelheit dauerte es noch einige Zeit, doch Sennet Best streckte sich neben dem Feuer aus, bedeckte sein Gesicht mit einem Arm und schlief ein. Evered schlenderte zur Flutgrenze hinunter und suchte nach einer Krebshülle oder einem Stück Treibholz für Adas Sammlung. Auf dem Bord über ihrem gemeinsamen Bett hatte Ada allerlei Fundstücke aufgestellt und arrangierte diese immer wieder neu, bis das Gesamtbild zu ihrer Zufriedenheit ausfiel. Evered fand es immer eigenartig befriedigend, diese Sammlung zu betrachten; als gäbe es eine innere Logik, die bestimmte, wo eine Muschel oder ein einzelner Stein im Verhältnis zum Ganzen hingehörte. Er hatte gelegentlich selbst versucht, die Gegenstände anders zu arrangieren, besaß jedoch keinerlei Begabung dafür, und das Ergebnis sah immer nur aus wie die willkürliche Ansammlung von Abfällen, um die es sich tatsächlich handelte.

Da Ebbe herrschte, kletterte Evered über die Felsen und suchte ziellos die Gesteinsspalten ab, um die Zeit totzuschlagen. Hin und wieder hielt er inne und fragte sich, was wohl in der Hütte vor sich ging, das es erforderlich machte, hinterher den ganzen Sand vom Boden zu kehren.

Nachdem der unangenehme Teil geschafft war, wusch Mary Oram das Baby und wickelte es, und das genügte schon, um das Kind menschlicher erscheinen zu lassen und es in das Reich der Hütte und ihrer Bewohner zu holen.

»Sie is dir wie aus dem Gesicht geschnitten, Sarah Best«, sagte die Hebamme.

Ada sah, dass die Nasenform des Kindes und das Grübchen auf seinem Kinn der Mutter ähnelten. Und mit dieser Erkenntnis veränderte sich das Gesicht, das zunächst so fremdartig und grotesk gewirkt hatte, auf einmal vollkommen.

»Wie heißt sie?«, fragte Ada.

Sarah Best schlief halb, ihr Mund ruhte auf dem flaumigen Köpfchen des Babys, und sie blickte Ada an, ohne den Kopf zu heben. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wie sollen wir sie nennen?«

Es war Ada noch nie zuvor in den Sinn gekommen, dass man einem Menschen erst einen Namen geben musste. Sie hatte gedacht, man würde damit geboren. Durch den fehlenden Namen erschien ihr der Säugling plötzlich beinahe so nackt und bedauernswert wie in dem Moment, als er in Mary Orams Schoß gelandet war.

Die Liste mit christlichen Namen, die Ada kannte, war nicht sehr lang und entstammte dem halben Dutzend eigenwillig überlieferter Bibelgeschichten, die ihre Mutter ihr erzählt hatte – und die diese wiederum aus ihren frühen Kindertagen im Gedächtnis bewahrt hatte, ohne die Möglichkeit einer Korrektur durch Priester oder Kirche. Da gab es Ruth, die Schwiegertochter oder Schwägerin von Naomi, die ihren Mann und zwei Söhne verlor, woraufhin beide Frauen an einen Ort namens Boaz im Heiligen Land zogen. Dann gab es Rachel, die ihre Schwester Leah tötete, um deren Mann zu heiraten, und dann im Kindbett starb. Und dann war da natürlich noch Maria, die beim Beerenpflücken im Herbst vom Tau nasse Füße bekam und deshalb mit Jesus schwanger wurde.

Mary Oram hieß schon so wie die Mutter von Jesus. Und Ada fand, dass die Geschichten von Ruth, Naomi und Rachel allesamt zu düster klangen, um das Leben ihrer Schwester zu überschatten. Aber da gab es noch Martha, die Schwester von Lazarus, die ihren Bruder aus dem Grab erweckte, als hätte der nur ein kurzes Nickerchen gehalten.

»Du solltest jetzt besser die Männer holen«, sagte Mary Oram. Sie war schon dabei, das Feuer zu schüren und im Halbdunkel eine Mahlzeit zuzubereiten. »Die sind wahrscheinlich inzwischen fast verhungert!«

Ada berührte die Wangen ihrer Schwester. Die perfekt geschwungenen Ohren waren so durchsichtig, dass selbst das schwache Licht der Lampe hindurchschimmerte. Es schien kaum möglich, dass ein so zartes, kleines Wesen im Mittelpunkt jenes schrecklichen Sturms gestanden hatte, der gerade über sie hinweggezogen war. Die letzten Stunden kamen ihr vor wie ein Traum, der nun hinter ihnen lag und bereits seine Unmittelbarkeit verlor. Eine Hand des Babys war zur Faust geballt und kreiste sacht in der Luft wie ein unbelebter Gegenstand, der vom Wind bewegt wird.

»Wie wäre es mit Martha?«, schlug sie vor.

Sarah Best nickte. »Martha ist gut«, sagte sie. »Und jetzt geh deinen Vater holen.«

Draußen vor der Hütte konnte Ada in der Ferne beim Bach das heruntergebrannte Feuer sehen. Evered schlenderte suchend an der Flutgrenze gleich unterhalb entlang, eine kleine dunkle Gestalt vor dem immer dunkler werdenden Ozean. Als er sie sah, richtete er sich aus seiner gebückten Haltung auf und hob die Hand. Doch sie zögerte, zum Ufer hinunterzugehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie etwas wirklich Wichtiges erlebt, von dem Evered und ihr Vater nichts ahnten. Sie hatten stundenlang auf jene Neuigkeit gewartet, die sie ihnen nun überbringen konnte – und es bereitete ihr unerwartete Befriedigung, diese noch ein wenig für sich zu behalten.

Sie blieb stehen und schaute hinunter zu Evered, der sie seinerseits anstarrte und schließlich rief. Auf dem Weg zu ihm versuchte sie, ihre Neuigkeiten in eine überschaubare Reihenfolge zu bringen. Sie konnte Evereds Gesicht erst richtig erkennen, als sie nur noch eine Armlänge von ihm entfernt war, und selbst da hätte sie seinen Ausdruck nicht sicher deuten können. Er sah aus, als hätte er etwas angestellt, was sie enttäuschen könnte.

Er streckte ihr die Hand entgegen. »Hier, das hab ich für dich gesucht«, sagte er.

Sie nahm den Gegenstand und hielt ihn näher ans Auge. Es war der Schädel eines Meeresvogels, blank gefressen und so weiß geblichen, dass er in der Dunkelheit zu leuchten schien. Der Knochen war zart gerillt, wie von Hand geschnitzt, und erinnerte sie so sehr an die zarten Windungen am Ohr ihrer Schwester, dass sie auf einmal einen Kloß im Hals hatte.

»Mary Oram kocht Abendessen«, sagte sie.

»Vater ist noch drüben am Bach«, erwiderte Evered. »Ich geh ihn holen.«

Sie nickte und machte sich wieder zur Hütte auf, den Schädel hielt sie vorsichtig in einer Hand. Es war ganz und gar nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie drehte sich noch einmal um und rief ihrem Bruder in die rasch zunehmende Dunkelheit hinterher:

»Sie heißt Martha!«

Evered wandte sich zu seiner Schwester um.

»Den hab ich ihr gegeben«, rief sie. »Den Namen.«

Einen Moment blieben sie so stehen; in der Dunkelheit waren nur noch die groben Umrisse des anderen zu erkennen.

»Wir kommen gleich rauf«, sagte Evered.

Mary Oram blieb noch eine Weile, um ein Auge auf den Säugling und die Mutter zu haben. Nachts lag sie bewegungslos wie eine Tote neben Ada und Evered, die absonderlichen Hände über der Brust gefaltet, selbst dann noch, wenn Martha aufwachte und schrie, um gestillt zu werden. Ada erschienen diese Tage wie eine gesegnete Zeit: Der Winter lag hinter ihnen, und in paar Wochen würde die Hope mit den Vorräten für den Sommer eintreffen; der Säugling war gesund und meistens zufrieden. Doch ab und zu wurde Ada nachts wach und hörte ein leises, unterdrücktes Schluchzen in der Hütte, das offenbar niemand hören sollte und das nur von ihrer Mutter stammen konnte.

Eine Woche nach der Geburt wurde Ada wieder dazu abgestellt, die Lampe zu halten, während Mary Oram sich an der Naht der Mutter zu schaffen machte, die Fäden durchschnitt und mit einer Pinzette herauszog.

»Na bitte«, sagte Mary Oram. »Wieder so gut wie neu!«

Die Mutter warf die Röcke über ihre Beine zurück. »Gott steh mir bei. Ich fühl mich ganz und gar nicht wie neu!«, sagte sie.

»Du wirst noch einen ganzen Haufen Kinder hier rumrennen haben«, sagte Mary Oram.

Doch zu ihrer beider Überraschung barg Sarah Best das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus. Martha lag auf dem Bett neben ihrer Mutter und fing ebenfalls an zu heulen. Mary Oram nahm den Säugling hoch und reichte ihn Ada.

»Ich schwöre«, stieß ihre Mutter im Flüsterton hervor, »ich schwöre, dass ich das nicht noch einmal durchstehe!«

»Ruhig jetzt«, zischte Mary Oram. »Das sagst du nur, weil’s noch so frisch ist. Als die kleine Ada geboren ist, hast du dich genauso gefühlt!«

»Und wie viele hab ich dazwischen verloren?«, erwiderte die Mutter. Es schien sie nicht zu kümmern, dass sich ihre beiden Töchter im selben Raum befanden. »Seit Ada waren’s drei.«

Ada versuchte, die Schwester zu beruhigen, hielt dabei jedoch den Blick auf ihre Mutter gerichtet. Zum zweiten Mal innerhalb einer Woche kam es ihr vor, als blicke ihr aus den vertrauten Gesichtszügen eine Fremde entgegen.

»Da muss man doch was machen können«, sagte ihre Mutter. »Sie müssen doch wissen, was man da machen kann!«

Mary Oram schüttelte den Kopf. »Der Mensch muss ertragen, was er nicht ändern kann«, sagte sie.

»Ich schwör bei Gott«, sagte Sarah Best. »Ich ertränk mich im Meer!«

»Ruhig jetzt«, sagte Mary Oram wieder. Dann wandte sie sich an Ada. »Sie spricht bloß so, weil’s alles noch frisch ist«, sagte sie. »Geh doch mal ein bisschen mit der Kleinen raus und bring sie zu ihrem Vater.«

Ada ließ die beiden Frauen allein und ging zum Schuppen, wo Sennet Best und Evered Holz zugerichtet hatten, mit dem sie einen weiteren Raum an die Hütte bauen wollten. Doch jetzt war niemand da. Sie setzte sich mit dem untröstlichen Säugling in den Schuppen und fühlte sich hilflos, weil es ihr nicht gelang, das Kind zu beruhigen. Bei dem Gedanken an die Drohung der Mutter, sie im Stich zu lassen, wäre sie beinahe selbst in Tränen ausgebrochen.

Evered steckte den Kopf durch die Tür. »Die hat ja ganz schön kräftige Lungen!«, meinte er.

»Ich krieg sie nicht ruhig«, sagte Ada.

Er hob Martha vom Schoß seiner Schwester und legte sich den Säugling in den Arm. Dann kreiste er mit dem kleinen Finger um den Mund des Kindes, bis es anfing, daran zu saugen. Urplötzlich wurde es still, und er lächelte Ada zu. »Du warst genauso, als du noch ’ne kleine Pisstrine warst!«

Sie sagte: »Wir dürfen sie niemals allein lassen, Bruder.«

»Wen? Die Kleine?«

»Versprich mir das«, sagte sie. Evered behielt sein Lächeln im Gesicht, doch es wirkte nicht mehr ganz so überzeugt. Dann nickte er zustimmend.

Der Gemüseacker der Familie befand sich auf einer Anhöhe am westlichen Ende der Bucht. Er lag am Rande eines Torfmoors, das sie die »Downs« nannten, und war die einzige Stelle in Gehweite, wo der Boden tief genug war, um etwas anzubauen. Die feuchte schwarze Erde war kaum fruchtbar, doch sie trugen jedes Frühjahr Seetang und Kapelan vom Strand herauf und hoben ihn als Dünger für Kartoffeln, Rüben und Kohl unter.

Der Acker war die Domäne der Frauen, sie gruben die Erde um und jäteten Unkraut, während Evered und sein Vater mit dem Boot zum Fischen fuhren. Doch da seine Mutter noch im Wochenbett lag und Ada mit Martha beschäftigt war, wurde Evered zum Acker geschickt, um den verrottenden Seetang in den Boden einzuarbeiten. Er war ganz in diese Arbeit versunken, als er plötzlich hörte, wie jemand hinter ihm laut seinen Namen sagte. Vor Schreck ließ er die Schaufel fallen und machte einen Satz über drei Erdfurchen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

»Hab ich dich etwa erschreckt?«, fragte Mary Oram.

»Nein«, sagte Evered. »Alles gut.«

Sie nickte und betrachtete ihn. Im Laufe der Zeit, die Mary Oram bei ihnen verbracht hatte, war ihre Geschwätzigkeit verschwunden, als habe die Stille der Bucht auf sie abgefärbt. Die neue Schweigsamkeit ließ die Frau noch geheimnisvoller und Furcht einflößender wirken. Evered ging zu seinem Spaten zurück und hob ihn so lässig wie möglich vom Boden auf.

»Ich bin gekommen, um meine Aufwartung zu machen«, sagte Mary Oram.

Sie schritt an der von Furchen durchzogenen Parzelle vorbei, bis zu der Stelle, an der das Moor richtig begann. Dort war die schwarze Erde tief genug, um etwas an die sechs Fuß in den Boden zu graben. Die Stelle war kaum zu erkennen, eine kleine rechteckige Senke, umrahmt von Strandsteinen. Es gab keinen Hinweis darauf, wer hier ruhte. Evered setzte seine Arbeit fort, schaute jedoch immer wieder unauffällig hinauf zu der Stelle, an der Mary Oram stand.

»Macht’s dir gar nichts aus, hier oben allein zu sein?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Achseln und drehte einen weiteren Spaten Erde um. Er dachte sich, dass er viel lieber allein gewesen wäre und es eher Mary Oram war, die ihm eine Gänsehaut verursachte, wie sie da auf den Toten hinabstarrte. Er hatte keine Ahnung, weshalb sie das Bedürfnis verspürte, dem Fremden ihre Aufwartung zu machen, und woher sie überhaupt wusste, dass er dort lag – ein Kerl, der eines Tages, in den ersten Jahren, in denen sein Vater die Bucht befischt hatte, an den Strand getrieben worden war. Die Augen von Meerläusen rausgefressen, hatte sein Vater ihm erzählt, und als Evered sich die leeren Augenhöhlen in dem zerstörten Gesicht vorstellte, hatte Sennet Best hinzugefügt: »Aber erzähl bloß deiner Mutter nichts von dem alten Krams, die hat schon genug im Kopf.«

Mary Oram wandte sich vom Grab ab, und Evered fuhr hoch und stützte sich auf den Griff des Spatens. »Das war vor deiner Zeit«, sagte sie.

»Als Vater grad frisch hergekommen war«, sagte Evered, ehe ihm aufging, dass die Frau ihm gar keine Frage gestellt, sondern eine Feststellung gemacht hatte. Sie betrachtete ihn mit einem eigenartigen, jenseitigen Blick, der ihn glauben ließ, dass sie die Worte in seinem Kopf hören konnte, noch ehe er sie ausgesprochen hatte – sogar jene, die er gar nicht aussprechen wollte. »Die Kleine scheint sich gut zu entwickeln«, sagte sie schließlich. »Ich denk, ich mach mich morgen früh auf den Rückweg nach Mockbeggar.«

Er nickte und hoffte, dass sie ihm nicht ansah, wie willkommen ihm diese Neuigkeit war.

»Ich lass dich dann mal weiter arbeiten«, sagte sie.

Er versuchte, ihr nicht hinterherzustarren, und schaufelte weiter. Doch während sie die Anhöhe hinabstieg, warf er ihr einen letzten verstohlenen Blick nach. Und ohne genau zu wissen, was das Zeichen eigentlich bedeutete, malte er hinter ihrem Rücken drei Kreuze in die Luft, wie ihre Mutter es immer tat, wenn sie Krähen sah.

Am nächsten Morgen waren sie vor dem ersten Tageslicht auf. Die Kinder folgten ihrem Vater zur Flutgrenze, während Mary Oram ein letztes Mal Säugling und Mutter untersuchte. Der Tag war klar und sehr kalt. Ada hatte sich im Schatten eines Felsens an eine Stelle gesetzt, wo noch immer Schnee lag, und sah zu, wie ihr Vater und Evered das frisch geteerte Boot ins flache Wasser schoben und an der Plattform festbanden.

Als ihr Vater sie da sitzen sah, sagte er: »Du solltest nicht so im Schnee hocken.«

»Wieso nicht?«

»Die Kälte steigt hoch und in dich rein. Das is nich gut für deine weiblichen Teile …«

»Was für weibliche Teile?«, fragte Evered.

»Geht dich nichts an«, sagte der Vater.

»Was für weibliche Teile?«, wollte auch Ada wissen.

»Wir sind hier gleich so weit«, sagte ihr Vater. »Geh und hol Mary Oram.«

Sie lief den Hang hinauf, während ihre Gedanken kreisten. Sie hatte keine Ahnung, wovor ihr Vater sie hatte warnen wollen. Sie sah die Mutter vor sich, wie sie mit gespreizten Beinen dalag und das Baby ihren Körper zerriss. Wieder fiel ihr die Geschichte von Maria aus der Bibel ein; wie sie beim Beerensammeln nasse Füße bekommen hatte und deswegen mit Jesus schwanger geworden war. Ada fragte sich, ob es irgendwie mit der Kälte zusammenhing, dass sich die Babys im Körper einnisteten.

Sie grübelte immer noch über diese Vermutung nach, als sie die Hütte betrat. Die beiden Frauen befanden sich mitten in einer geflüsterten Unterhaltung und fuhren herum.

»Vater ist so weit«, sagte Ada.

Sarah Best stillte das Baby, und Mary Oram bedeutete ihr sitzen zu bleiben. Sie ging zu Ada an die Tür, blieb dort jedoch stehen und wandte sich noch einmal um. Sie wühlte in ihrem Lederbeutel mit den Utensilien und zog eine Rolle Schnur heraus. Dann ging sie zu Sarah Best zurück, kniete sich neben sie auf den Boden und legte ihr ein Stück der Kordel über den Bauch.