Die unterirdische Sonne - Friedrich Ani - E-Book

Die unterirdische Sonne E-Book

Friedrich Ani

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Beschreibung

Am Rand der Nacht, in der Stille der Nacht allein

Eine Insel. Ein Haus. Ein Keller. Fünf Jugendliche, die mit Gewalt darin festgehalten werden. Kein Tageslicht. Und täglich wird einer von ihnen nach oben geholt. Doch niemand spricht über das, was dort geschieht. Denn wer spricht, stirbt, bekommen sie gesagt. Die Lage scheint aussichtlos, und Angst, Wut, Schmerz, Verzweiflung und Sehnsucht lassen die Jugendlichen beinahe verrückt werden. Doch nichts kann sie retten vor den schrecklichen Dingen, die geschehen. Bis ein neuer Junge zu ihnen gebracht wird, der nicht bereit ist, die Gewalt zu akzeptieren.

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Seitenzahl: 344

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Friedrich Ani

DIE

UNTERIRDISCHE

SONNE

Roman

cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2014

© 2014 cbt Verlag, München

Alle Rechte vorbehalten

Abdruck der Liedzeilen aus »Mein Herz brennt von Rammstein«:

Musik und Text: Richard Kruspe, Paul Landers,

Till Lindemann, Doktor Christian Lorenz, Oliver Riedel, Christoph Schneider,

© by Musik Edition Discoton GmbH/Universal Music

Publishing Group und © TAMTAM FIALIK Musikverlag e. K.

Umschlaggestaltung: semper smile, München

unter Verwendung von Motiven von

© Shutterstock (Mika Shysh, suns07)

SK · Herstellung: KW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-09159-0

www.cbt-jugendbuch.de

ERSTER AKT

1

»Ich hab keine Angst, hab ich nicht …«

»L-Lügner.«

»… Hab ich einfach nicht, Schiss vielleicht, aber Angst, nö, Angst hab ich keine. Wenn wir Ski fahren waren, bin ich immer Schuss runter, mach ich immer noch. Mein Vater sagt immer: Geh den Schritt, denk nicht nach, tu’s! Er kennt sich aus, der war Profi, mein Vater, zweite Liga, gesetzt, ist in jedem Spiel aufgelaufen, vier Tore im Pokal, er war fester Bestandteil der Mannschaft, der Trainer hat auf ihn gebaut. Ohne meinen Vater wär da nichts gelaufen, die wären niemals aus der dritten Liga aufgestiegen ohne ihn. Hab Filme gesehen …«

»K-Kannst du n-nicht mal sch-still sein …«

»… Auf seiner Feier liefen die besten Spiele seiner Laufbahn, als Loop im Hintergrund, für die Gäste, ohne Ton. Aber ich kenn die alle mit Ton, das ist ja klar. Wir haben die immer wieder angeschaut, mein Vater und ich, in seinem Partykeller. Entspannte Abende, mein Alter in der Bundesliga. Und ohne den ganzen Kreuzbandhorror und Adduktorenhorror und Muskelfaserrisshorror würd der heut noch spielen, und zwar in der ersten Liga.

Das ist eben das Risiko. Wenn du den entscheidenden Schritt machst, musst du damit rechnen, dass dir einer von hinten reingrätscht. Damit rechnest du, aber es nützt dir nichts.

Er hat alles versucht bis zur letzten Minute, die besten Ärzte, Reha mit persönlichem Trainer. Meine Ma hat ihn unterstützt, wo sie nur konnte. Hab ihn oft besucht, hab die Bälle geholt. Ein eiserner Mann, mein Vater. An seinem Vierzigsten vor … vor Kurzem, da waren sie alle da, und sie haben ihn hochleben lassen und Bier gesoffen, wie nur Profis saufen. Ich war stolz auf meinen Vater. Meine Ma, glaub ich, auch.

Er macht jetzt Autovermietung, hab ich euch das schon erzählt? Also, wenn einer von euch eine perfekte Kiste braucht, mein Vater ist euer Mann. Hab mir schon überlegt, später so eine Vermietung aufzumachen, da kannst du gut Geld verdienen, die Geschäftsleute und die Touristen brauchen immer ein Auto, das ist solide, das hat Zukunft.«

»B-bitte sei jetzt m-mal k-kurz ruhig, b-bitte.«

»Ja, genau, Maren. Kapiert? Hör auf die Maren, Mann! Jetzt hab ich deinen blöden Namen vergessen.«

»Conrad.«

»Hunger.«

»Du nervst, Sophia.«

»Du hast gar nichts zu sagen.«

»Autovermietung! Touristen? Dann fang doch hier auf der Insel damit an, da gibt’s Milliarden Touristen, jeden Tag, einer blöder als der andere.«

»Sind wir auf einer Insel?«

»Conrad, ja? Hol mal Luft. Ob wir auf einer Insel sind? Wie bist du denn hergekommen?«

»S-so was darfst d-du n-nicht fragen, Eike, d-das ist v-verb-boten.«

»Entspannung, Maren. Bleib einfach liegen.«

»Ich will was essen.«

»Heut gibt’s nichts mehr, blöde Kuh.«

»S-Sophia ist k-keine b-blöde K-Kuh, sie ist m-meine F-Freundin.«

»Schon recht, Maren. Hey, Conrad! Ich hab dich was gefragt. Bist du taub? Sind deine Ohren Schrott oder was? Sind wir auf einer Insel? Wo denn sonst, du Schrotthändler.«

»Die haben mir was zu trinken gegeben, dann war ich weg. Total. Hab nichts mitgekriegt, ehrlich. Zwischendurch haben sie mich aus dem Kofferraum geholt, damit ich neue Luft krieg. Sie haben mir was zu trinken gegeben und Sandwiches. Das war’s. Und dann haben sie mir die Augen verbunden …«

»H-hast du n-nicht das M-Meer g-gero-gerochen, C-Conrad?«

»Nö. Ich war die ganze Zeit im Kofferraum und dann in dem Zimmer oben, bis … gestern oder so. Seit wann bin ich jetzt bei euch hier unten? Gestern, oder? Gestern, oder? Oder nicht?«

»V-vielleicht«, sagte Maren.

»Wenn du reden willst, red.«

»Hab deinen Namen vergessen.«

»Sophia.«

»Ich sag ja, er hat Schrottohren«, sagte Eike. »Der Schrotthändler mit seinen Schrottohren.«

»Wir haben’s kapiert, Eike. Hör zu, Conrad, wenn’s dir gut tut, quatsch. Nerv uns aber nicht. Das Wichtigste ist, kein Satz über oben.«

»Haben sie mir gesagt, immer wieder und wieder, bevor … bevor …«

»Sprich nicht drüber.«

»Okay, Maren.«

»Ich heiß Sophia.«

»Tschuldigung …«

»Beruhig dich. Ganz ruhig, Conrad. Da ist noch Wasser in der Flasche, trink einen Schluck. Gut. Setz dich endlich hin. Entspann dich. Denk an was Schönes. Du hast nicht gecheckt, dass du am Meer bist? Egal, Schwester Regal. Ist ja nicht verboten, den Namen der Insel auszusprechen. Den hat jeder von uns gehört. Außer dir. Die Insel heißt Vohrland.«

»Kenn ich.«

»Warst du schon mal da?«

»Nö. Vohrland. Hab ich nicht gewusst, Sophia, wirklich.«

»Schon okay. Trink noch einen Schluck. Du sollst trinken. Ist wichtig. Gut. Pause. Durchschnaufen. Wir wissen Bescheid, wir sind da, wo du bist. Schau dich um: Fernseher, Toilette. Wir kriegen unser Essen.«

»Scheißfraß.«

»Verhunger doch, Eike, dann bleibt mehr für uns. Du gewöhnst dich dran, Conrad. Denk nicht nach. Denk nicht, was morgen ist. Morgen wird’s so oder so. Ja? Jetzt bist du hier. Genau seit gestern. Du redest, also bist du nicht stumm. Du atmest, du hast Augen und Ohren. Du bist ein menschliches Wesen. Wie wir alle.«

»Ich heul gleich.«

Sophia beugte sich zu Eike hinunter und verpasste ihm eine so harte Ohrfeige, dass er anfing zu weinen. Aber nur kurz. Er war elf Jahre alt und in seinem Herzen wohnte ein böser Hund.

Sophia war vierzehn Jahre alt und hatte Hände, die niemandem winkten.

Maren war dreizehn und ihr Stottern nichts als das Lächeln ihrer Stimme.

Conrad war sechzehn und ein Elfmeterkiller und seit einer Woche der Auswurf seiner Träume.

Als die schwere Eisentür geöffnet wurde, drehten sich Maren, Sophia und Eike sofort zur Wand. Conrad machte es ihnen nach, weil Sophia ihn mit ihrer kalten Hand im Nacken packte und mit sich zog. Er schloss dann, wie sie, die Augen.

Die Person, die Leon zurückbrachte, zog ihm den Leinensack vom Kopf, wartete einen Moment und verriegelte die Tür von außen.

Leon trug eine grüne Hose und ein gelbes Sweatshirt.

Er war zwölf Jahre alt, und jedes Mal, wenn er an seinem Blut roch, freute er sich, dass es zu ihm gehörte.

»Bin wieder da«, sagte er in den Rücken der anderen. Seine Stimme klang mechanisch wie das Flüstern einer Puppe. Und wie immer brauchten diejenigen, die zurückgeblieben waren, eine Weile, bis sie es wagten, sich umzudrehen.

Leon blieb einfach stehen. Dann fiel er auf die Knie, kippte zur Seite, und sein Schluchzen begann. So wussten sie, dass er noch lebte, und fassten sich an den Händen. Conrad hätte am liebsten nie mehr losgelassen.

Manchmal war Leon davon überzeugt, Philip Lahm wäre sein Bruder. Er wachte auf, und ohne dass er von dem Fußballspieler geträumt hätte, glaubte er, sich an Gespräche mit ihm zu erinnern. Er blieb dann liegen und dachte nach. Über taktische Maßnahmen, Bewegungsabläufe, die Tricks, den Gegner durch unerwartete Raumöffnung und Stellungswechsel zu verwirren.

Wenn seine Mutter ihn zum zweiten Mal drängte, endlich aufzustehen, hielt er die Augen geschlossen und sagte: »Hab Traumsach zu erledigen.« Du mit deiner Traumsach, erwiderte dann seine Mutter und ließ ihn noch fünf Minuten liegen. Sie war eine Meisterin der Zeitplanung und schaffte es jeden Tag, dass ihr Sohn um Punkt fünf vor acht im Klassenzimmer saß. Von der Wohnung bis zur Schule brauchte er zu Fuß keine zehn Minuten. Und wenn er, was zum Glück nicht allzu oft passierte, mit seiner Traumsach im Badezimmer weitertrödelte, fuhr sie ihn mit dem Auto hin.

An seine Mutter dachte Leon jetzt besser nicht. Er lag auf seiner Matratze im Dunkeln und horchte auf die anderen. Kein Laut. Sie schienen zu schlafen, jeder unter seiner Wolldecke, jeder nah an der Wand.

Er dachte, obwohl er es eigentlich nicht wollte, an seinen ersten Tag in diesem Haus. Vielleicht kam er deswegen drauf, weil es oben heute nach frisch gebackenem Zwetschgenkuchen gerochen hatte. Wie damals.

»Damals«, dachte er und war sich sofort sicher, dass er das Wort zum ersten Mal dachte. Normalerweise gehörte das Wort seiner Mutter. Die sagte oft: Damals hatten wir noch lange Kabel an den Mikrofonen, oder: Wenn ich damals die schwere Grippe ordentlich auskuriert hätte, hätte ich nicht meine Stimme verloren.

Das alles hatte sie ihm schon erzählt, als er sechs Jahre alt war. Später fing sie immer wieder damit an und er gewöhnte sich daran. Einmal entschuldigte sie sich bei ihm und meinte, sie habe sonst niemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Dann weinte sie. Und er beschloss, ihr in Zukunft auf jeden Fall immer zuzuhören, ganz gleich, ob er die Sachen von damals schon alle kannte oder sie nicht ganz kapierte.

Leon hatte niemanden, dem er so gern zuhörte wie seiner Mutter. Sein Vater war ziemlich schweigsam gewesen. An ihn wollte er jetzt überhaupt nicht denken. Er wusste nicht einmal mehr genau, wie sein Vater ausgesehen hatte. In der Wohnung hing kein Foto von ihm, seine Mutter hatte schon ewig aufgehört, über ihn zu sprechen.

Am ersten Schultag, das wusste Leon noch, war sein Vater zum ersten Mal nicht aufgetaucht. Einen Monat später zogen seine Mutter und er in die kleine Wohnung, in der sie immer noch lebten. Ich ja nicht mehr, dachte Leon und horchte wieder.

Jemand schnaufte lauter als die anderen, bestimmt Conrad. Ihm musste jeder zuhören, den ganzen Tag, das ging nicht anders. Conrad war der Neue, er durfte das: reden, bis ihm der Mund ausfranste. Bei den anderen war es das Gleiche gewesen. Von einer Minute zur anderen hatte jeder angefangen, seine Geschichte zu erzählen, schon morgens um acht, und am nächsten Tag von vorn.

Reden war gut, reden war besser als heulen.

Daran, dass alle trotzdem heulten, hatte Leon sich gewöhnt.

Woran er sich niemals gewöhnen würde, war alles andere.

Oft dachte Leon, dass er an seinem elften Geburtstag an dem grünen Häuschen hätte vorbeigehen und hinunter zum Fluss laufen sollen, wo ihn hinter all den dicht gewachsenen Büschen und Bäumen niemand bemerkt hätte. Doch wahrscheinlich hätte er es so lange nicht ausgehalten. Ganz sicher sogar.

Aber wenn, dachte er am heutigen Sonntag seit dem Aufstehen fast ununterbrochen, ihm rechtzeitig die Worte seiner Mutter eingefallen wären, und wenn er bei dem komischen Geräusch, das er an der Tür hörte und das ihm gleich verdächtig erschienen war, umgedreht wäre, hätte er ein großer Fußballspieler werden und in einer Villa im Grünen leben können.

Stattdessen war er in einem Keller gefangen.

Manchmal hatte er solche Schmerzen, dass er nicht einmal einen Ball festhalten konnte. Er hatte keinen Ball, aber wenn er seine zitternden Hände und seine flatternden Arme betrachtete, wusste er Bescheid.

Seine Mutter sagte immer: Geh da nicht rein, das ist ein ekliger Ort.

Wieso hatte er nicht daran gedacht? Das war doch leicht, sich so einen Satz zu merken, vor allem, weil seine Mutter ihn immer wieder gesagt hatte.

Sonst war doch niemand da, dem sie so einen Satz hätte sagen können.

Nur er. Und er hatte zugehört. Jedes Mal.

Und dann hatte er den Satz vergessen.

Das Geräusch hatte er doch gehört! Und er war trotzdem reingegangen. Obwohl er ein wenig Angst gehabt hatte.

Nicht genug Angst.

Und als er wieder denken konnte, dachte er als Erstes an den Satz seiner Mutter, und dann heulte er. Das Auto, in dem er gefesselt und halb betäubt lag, raste über die Autobahn. Auch wenn er nicht hätte schwören mögen, dass es eine Autobahn war und nicht eine Achterbahn in einem Albtraum. Wie früher, wie damals, als er noch klein war und seine Mutter ihm in der Nacht den Schweiß vom Körper wischen musste, weil das Rasen im Traum einfach nicht aufgehört hatte.

Plötzlich hielt er die Luft an. Da war ein Geräusch, bildete er sich ein, kein Schnaufen. Schritte?

Er atmete mit weit offenem Mund lautlos ein und aus. Vielleicht hatte er sich getäuscht. So fest er konnte, presste er die Augen zu. Im Raum war es vollkommen dunkel. Es gab kein Fenster, das Licht wurde automatisch ein- und ausgeschaltet. Wie spät es sein mochte, wusste Leon nicht, aber er glaubte nicht, dass jetzt noch jemand von oben herunterkäme und einen von ihnen abholte.

Seit einem Jahr wurde er abgeholt und zurückgebracht. Was mit ihm in der Zwischenzeit passierte, durfte niemand erfahren.

Niemals. Wer darüber redete, musste sterben. Davon war er überzeugt.

Leon vergaß das Geräusch, das wahrscheinlich sowieso nicht existiert hatte, und zog die Wolldecke noch ein Stück höher.

Bevor Eike und die anderen kamen, hätte er sowieso mit niemandem darüber reden können. Er redete auch nicht mit sich selbst. Das hatte er eigentlich gern getan, nachts im Bett, wenn er aufwachte und vor lauter Stille Herzklopfen bekam.

Das war zu Hause gewesen, in seinem weichen Bett mit den bunten Kissen und dem Elch und dem Löwen, die ihn bewachten, obwohl er eigentlich schon zu alt für Stofftiere war. Seit er hier war, fiel Leon jeden Abend vor Müdigkeit in einen bleiernen Schlaf und wachte erst auf, wenn das Licht anging oder Eike ihm auf den Kopf klopfte, als wäre sein Kopf eine Tür.

Als im Lauf des Jahres Eike und die anderen kamen, hätte Leon dem einen oder anderen vielleicht etwas zuflüstern können.

Flüstern war verboten.

Wer flüstert, stirbt, hatte einer der Männer gesagt. Dann war er gegangen und hatte die schwere Eisentür verriegelt, die aussah wie die Türen in Fernsehfilmen, die im Gefängnis spielten. Bloß ohne Klappe.

Hungern mussten sie nicht. Leon leckte sich die Lippen. Heute hatte jeder ein halbes gegrilltes Hähnchen und Pommes frites essen dürfen. Eike hatte seines stehen lassen und nur die Pommes gegessen. Sophia und Conrad hatten sich Eikes Hähnchen geteilt. Sie hätten ihm, Leon, etwas abgegeben, wenn er gewollt hätte. Er war so in Gedanken versunken, dass für seinen Bauch keine Luft mehr übrig geblieben war.

Dann war er abgeholt worden und die anderen hatten einen Film im Fernsehen geschaut.

»Sch-schläfst d-du sch-schon?«

Die Stimme war leise, wie gehaucht. Trotzdem stieß Leon einen Schrei aus und fing an, am ganzen Körper zu zittern.

In Wahrheit hatte er nicht geschrien, seine Stimme war bloß in seinem Kopf explodiert. Die Angst vor der Strafe, die, so vermutete er, noch viel schlimmer wäre als alles, was er sonst ertragen musste, passte auf Leon auf wie ein Kuscheltier. Niemals hätte er in der Nacht einen Laut von sich gegeben oder sonst etwas Verbotenes getan.

»Sch-Schuldigung«, flüsterte Maren.

Wann sie sich neben ihn gelegt hatte, war Leon nicht klar. Er umklammerte die Decke und drückte seinen Kopf tief ins Kissen. Irgendwie machte Maren dasselbe, direkt neben ihm, auf seinem Kissen. Als sie ihre Hand auf seinen Hinterkopf legte und mit ihren Lippen sein Ohr berührte, hielt er wieder die Luft an. So lange, bis er glaubte, zu ersticken. Dann wurde ihm die Berührung ihres Mundes an seinem Ohr bewusst und er machte keinen Mucks. Genau wie Maren.

Nach einer Zeit, die ihm ewig vorkam, dachte er, dass diese Berührung das Schönste war, was er seit einem Jahr erlebt hatte. Niemals würde er jemandem davon erzählen, nicht einmal Maren.

Wenn die Männer ihn – weil er einen Fehler begangen hatte oder sie ihn nicht mehr brauchten oder einfach nur so – töten sollten, würde er in der letzten Sekunde an Marens Lippen an seinem Ohr denken.

»H-hab eine B-Bitte.«

Leon blieb stumm. Es kam ihm vor, als könnte er ihren Atem bis in seinen Bauch spüren. Mit der Hand, die vorher an seinem Hinterkopf gewesen war, umschloss sie nun seine Ohrmuschel. »H-halt bitte d-deine H-Hand an meinen B-Bauch, b-bitte, Leon.«

Er begriff nicht, was sie damit meinte. Er wusste es, aber seine Vorstellung reichte nicht an ihre Worte he-ran.

Behutsam drehte er den Kopf in ihre Richtung. Die Augen hielt er geschlossen, als wäre Maren dann weniger nah. Mit einer langsamen, umständlichen Bewegung knickte er seinen linken Arm ab und schirmte mit der Hand seinen Mund ab.

»Versteh ich nicht«, sagte er leise. Er glaubte nicht, dass Maren ihn verstanden hatte.

»S-so.« Mit ihren kalten Fingern nahm sie seine immer noch zitternde Hand und zog sie auf ihren Bauch, unter ihr Sweatshirt. Er schämte sich sofort. Ganz fest hielt sie seine Hand dort, mit ihrer obenauf.

Zum dritten Mal wagte er nicht zu atmen, was ihm diesmal nur ein paar Sekunden gelang. Sein Herz schlug so wild, dass er glaubte, es wäre durch die Mikrofone bis nach oben zu hören.

»D-danke, L-Leon. Ist sch-schon b-besser.«

Die Furcht, was passieren würde, falls einer der Erwachsenen die Szene auf dem Monitor mitkriegte, verscheuchte Leon mit dem Gedanken an Marens Lippen an seinem Ohr.

Ihr Bauch war jetzt wärmer als vorher, dachte er. Nach einer Weile überlegte er, ob er seine Hand ein winziges Stück bewegen sollte.

Als hockte plötzlich ein Depp in seinem Kopf, der was mitzubestimmen hatte, rannen ihm Tränen über die Wangen.

Leon unterdrückte ein Schluchzen und presste die Lippen aufeinander. Das dämliche Heulen machte seinen Handwunsch kaputt.

Aber er nahm die Hand nicht weg. Marens Bauch hob und senkte sich. Leon glaubte schon, sie wäre direkt neben ihm eingeschlafen.

»D-danke«, flüsterte sie. »T-tut jetzt n-nicht mehr so w-weh. Ich g-geh jetzt w-wieder r-rüber.«

Sie rückte von ihm weg und er drückte seine Hand auf ihren Bauch.

»Warte.« Er horchte. Jemand schnaufte, bestimmt Conrad. Sonst war es still. Er beugte sich über Marens Kopf und berührte mit seinen Lippen ihr Ohr, das, wenn seine Nase nicht durchgeknallt war, nach Pflaumenkuchen roch. »Ich verrat dir was, nur dir.«

Sekundenlang traute er sich nicht, weiterzuflüstern.

»Ich hab heut Geburtstag.«

Als wäre die Situation für ihn nicht schon verwirrend genug, fuhr Marens Kopf herum, und bevor er einmal Luft holen konnte, drückte sie ihm einen Kuss auf den Mund.

Im nächsten Moment war sie verschwunden, so lautlos im Dunkeln, wie sie gekommen war. Leon lag auf dem Rücken, schnupperte an seiner Hand und dachte, dass er schon ewig nicht mehr so viele Geschenke an seinem Geburtstag bekommen hatte.

2

Montag, das hatten sie herausgefunden, war meist ein guter Tag. Ohne, dass sie jemals darüber gesprochen hätten, bedeutete ein guter Tag, dass nur einer von ihnen abgeholt und nicht mehr als zwei Stunden gebraucht wurde.

Meist mussten sie zu zweit oder dritt nach oben gehen.

Nach dem Frühstück – eine Scheibe Brot mit Erdbeermarmelade für jeden und eine Tasse Schokolade – setzten sie sich an den rechteckigen Holztisch und sahen einander an. Jeden Montag, jeden Tag.

An diesem Montag war Sophia die Letzte, die aus dem Bad kam. Sie setzte sich an die rechte Schmalseite des Tisches und verbreitete einen strengen Geruch nach Seife. Eike wurde fast schlecht, aber er sagte nichts, jedenfalls nicht direkt.

Eike saß neben Conrad an der hinteren Längsseite des Tisches, mit dem Rücken zur Wand und dem Blick zur Tür. So lautete die Regel. Wer neu war, musste sich auf einen der beiden Wandstühle setzen. An diesem Montag hatte niemand Lust, etwas zu sagen. Sogar der Fernseher blieb aus.

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