Die Unvollständige - Valerie Bäuerlein - E-Book

Die Unvollständige E-Book

Valerie Bäuerlein

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Beschreibung

Tala ist tot. Die Tochter einer Iranerin und eines griechischen Gastarbeiters soll sich in Berlin das Leben genommen haben. Ungläubig und überreizt streift unsere Erzählerin – eine junge Regisseurin – durch die Stadt. Mit Tala in der Hauptrolle hätte sie hier ihren ersten Film drehen sollen. Tala war ihre Muse, nach vielen Rückschlägen ihre vielleicht einzige Inspiration. Anfangs bändigt die Bewegung ihre Gedanken. Doch Schritt um Schritt verändert ihr Blick die Umgebung. Die Stadt blättert sich vor ihr auf und offenbart Talas Spuren. Während die Erzählerin ihnen folgt, dringt sie immer tiefer in eine verborgene Geschichte von Originalität und Aneignung vor. Und schließlich in ihre eigene, ihr fremd gewordene Vergangenheit.

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VALERIE BÄUERLEIN
DIE UNVOLLSTÄNDIGE
Roman
»On a clear moonless night while 150 nautical miles east of the coast, a whitish glow was observed on the horizon and, after fifteen minutes of steaming, the ship was completely surrounded by a sea of milky-white color with a fairly uniform luminescence ... It appeared as though the ship was sailing over a field of snow or gliding over the clouds.«
Beobachtung vom britischen Handelsschiff S.S. Lima 1995
Ich war lange so umhergewandert, nachdem ich erfahren hatte, was mit Tala geschehen war, man es mir erzählt hatte in einer Kausalkette von wie zwangsläufig aufeinanderfolgenden Ereignissen, deren Folgerichtigkeit sich mir nicht erschloss. Tala war letzte Woche von ihrer langen Reise zurückgekehrt, hatte ordentlich ihre Sachen ausgepackt und verstaut, sich dann ins Bett gelegt, um sich auszuruhen, wie sie sagte, sich aus ihrem Bett, aus ihrem Zimmer aber tagelang nicht mehr hinausbegeben; ihre Eltern wussten sich langsam nicht mehr zu helfen, da stand sie vor zwei Tagen endlich auf und ging hinaus, zu einem Spaziergang, wie sie sagte, sie wollte unbedingt allein gehen, und warf sich dann vor einen Zug.
In den vergangenen Stunden hatte ich versucht, mich in einer scheinbar zufälligen, gedankenverlorenen Bewegung von meiner Wohnung in der Liegnitzer Straße so weit wie möglich zu entfernen und ging nun in der Luisenstraße auf das kupfern leuchtende Bettenhochhaus der Charité zu, das – eröffnet in Talas und meinem Geburtsjahr – schon vor der Zeit marode war, sodass ich es mir in meiner überreizten Verfassung als einen lebenden, langsam die darin niederliegenden Menschen und zuletzt eben sich selbst zerfressenden Organismus vorstellte, während ich linker Hand die roten, ausufernden Backsteinbauten des Hauptgebäudes passierte, die ungleich älter und stabiler waren, und mir recht vertraut durch eine Behandlung, der ich mich vor nicht allzu langer Zeit darin hatte unterziehen müssen, nachdem ich plötzlich meine Stimme verloren hatte und sie über einen Zeitraum von einigen Monaten hinweg auch nur schwerlich wiederfand.
Der Stimmspezialist, zu dem man mich empfohlen hatte, ließ mich bei jedem meiner zahlreichen Besuche Platz nehmen auf einem im Boden verankerten Stuhl in der Mitte des Raumes, schwenkte mich in die Horizontale und untersuchte mit einem schlauchartigen Gerät, ob die auf meinen Stimmbändern entstandenen Knötchen, die angeblich dieses Fehlen der Sprache herbeigeführt hatten, sich wohl zurückgebildet haben mochten. Haben Sie Ihre Stimme in der letzten Zeit über Gebühr beansprucht, hatte er mich bei meinem ersten Besuch gefragt, ich verneinte, worauf er schloss, dass in diesem Fall wohl eine Krise, eine Art psychische Überlastung zu dem Stimmverlust geführt haben müsse, dies komme gar nicht einmal selten vor, sagte er, und dass ich mich unbedingt in der nächsten Zeit schonen und ihn regelmäßig in seiner Sprechstunde aufsuchen solle, wo er sich fortan nur noch mit den anatomischen Erschütterungen weit zurückliegender Ereignisse befasste.
Manchmal, wenn ich so dalag und wartete, dass er mich über seine Untersuchungsergebnisse unterrichtete, stellte ich mir weniger vor, als versetzte es mich, wie durch einen Riss in der Atmosphäre, in eine der anderen Zeitebenen, die diese Mauern bereits gesehen hatten, in die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus, oder die DDR, ich hatte Schwierigkeiten, wieder zurückzufinden, beinahe so, als wanderte ich in den eigenen Erinnerungen, sofern es denn hier überhaupt so etwas wie ein Eigenes geben konnte, oder als sei plötzlich alles Gleichzeitigkeit.
Der Professor in seinem weißen Kittel, dem Ruhestand nicht mehr fern, führte indessen all seine Bewegungen in schlafwandlerischer Präzision aus und schien sogar zu wissen, was in mir vorging, da er mir immer wieder Geschichten erzählte darüber, wie dieses Krankenhaus sowohl in der Nazizeit von der SS wie auch anderen Akteuren, als auch später von der Stasi unterwandert und genutzt worden war, um unliebsame Regimegegner oder andere Ungewollte, aus dem Weg zu räumen, durch Hospitalisierung oder Zwangseinweisung in die Geschlossene, wo sie dann wer weiß welchen Methoden ausgesetzt worden waren, um sie vollends zu brechen, während die, die sich daran beteiligten, sich ihrer Positionen immer mehr versicherten.
Es war mir ja zu diesem Zeitpunkt nur möglich, mich mit einigen wenigen Silben verständlich zu machen, ökonomisch mit den Worten umzugehen, sie beinahe abzuzählen, worauf er mich immer wieder hinwies, weshalb es mir manchmal beinahe so vorkam, als ob er, dessen Laufbahn als Mediziner ja schon einige Jahrzehnte währte, die Zeit der Untersuchungen nutzte, um zu artikulieren, was ihn sonst von innen her erdrückte, in einem Sprechakt, der das ihn Betreffende nach außen und somit von ihm weg brachte, ohne dass ich es mit Nachfragen oder Kommentaren zu seiner Rolle in diesem Schreckenskonstrukt wieder hätte zurückprojizieren können.
Dies ging so bis zu meiner angeblich erfolgten Heilung, die mich wieder in die kommunizierende Welt repatriierte, und zwar unter einem solchen Schock, dass ich gelegentlich in Erwägung zog, mich gänzlich stumm zu stellen und nur noch mit einem Block und einem Bleistift verständlich zu machen, was zum Teil gewiss eine Entzugserscheinung der meine Tage strukturierenden Stunden bei jenem sogenannten Spezialisten gewesen ist, der ja womöglich noch immer und bis in alle Ewigkeit in einem ununterbrochenen Läuterungs- oder Verarbeitungsmechanismus entpersonalisiert, was zu ihm gehört, wie auch ich womöglich an diesem Tag, an dem sich auch sonst plötzlich alles in ungewohnter Deutlichkeit zeigte, nicht ohne Grund wieder an diese Vorkommnisse dachte, als wollte ich aus mir heraustreten und nur noch schauen.
*
An der Abzweigung zur Invalidenstraße, gleich gegenüber dem Naturhistorischen Museum, stand eine Maschine auf dem Straßenpflaster, eine Art überdimensionierter Bohrer, der, zwar von einem Menschen gelenkt doch wie selbsttätig, die vor ihm sich befindliche Straßendecke zum Aufplatzen brachte, indem er ein Stück des etwa zwanzig Zentimeter dicken Pflasters nach dem anderen mit einem krachenden Geräusch wegbrechen ließ, als wolle er bis zum Erdkern vordringen, in der ungeheuerlichen Gewalt aller Maschinen. Ich konnte nicht anders, als für einen Moment zu verharren und meinen Blick auf die Verheerung zu richten, und während ich mich doch eigentlich in diese mir recht fremde Gegend begeben hatte, um nicht umgeben zu sein von Zeichen Talas, kam ich nicht umhin, an Anna Karenina zu denken; wie es Tolstoi gelungen war, die letzten Eindrücke ihres Lebens zu beschreiben – wie sie plötzlich daran hing, bevor der Zug sie traf.
Vielleicht war es eben deshalb, weil ich die Lektüre jenes Romans erst kürzlich beendet hatte, dass ich noch immer nicht glauben konnte, was mit Tala geschehen war, die in einer Art Übertragung nun ebenfalls zur Gestalt einer Erzählung wurde, als hätte sie nie existiert, obwohl auch sie zuletzt plötzlich am Leben gehangen haben mochte, oder auch nicht, und ich nicht wusste, was davon eher zu wünschen sei.
Wie angelegt erschien mir ihr Los nun bereits in der aus einem Film des New-Hollywood-Kinos abstrahierten Szene gewesen zu sein, die ich im Rahmen einer Übung der Filmakademie mit ihr gedreht hatte, in der es, so aus dem Zusammenhang des Plots von Paranoia und Verschwörung gerissen, nach meinem Ermessen nämlich nur noch um eines gegangen war: den Tod, der bereits in alles, in die Fotografien, die die Protagonistin von entlaubten Bäumen aufnimmt, in die Beziehung zu ihrem männlichen Konterpart, und vor allem in sie selbst eingeschrieben war, obwohl ich bei der Vorführung feststellen musste, dass die anderen Studenten in ihren Inszenierungen viel unverfänglicheren, eher auf Spannung angelegten und dem Original verhafteten Interpretationen gefolgt waren.
In meinem beinahe leeren Zimmer hatte Tala auf einem samtgrün gepolsterten Stuhl am Fenster gesessen, die Beine angezogen, einen Fotoapparat in der Hand, und mit so großer Überzeugung ihre vielen Dialogsätze gesprochen, dass in der Einstellung letztlich nur sie in der Kadrage zu sehen gewesen war und nie ihr Gegenüber, das zu einer bloßen Stimme aus dem Off reduziert wurde, woraufhin der Dozent sogar ihre besondere schauspielerische Leistung hervorhob, obwohl sie nie zuvor gespielt hatte, während die Szene an sich und meine Person, die sich ja in diesen ersten Monaten des Studiums zunächst durch ihre künstlerischen Arbeiten erschloss, ihm angeblich rätselhaft wie die Sphinx erschienen.
Wieso haben Sie mich eigentlich gefesselt, hatte Tala gefragt, war es, weil Sie dachten, ich würde die Polizei rufen? Das war ein Irrtum.
Sagen Sie mir warum, hatte er gesagt.
Nun, manchmal, da mache ich ein Bild, hatte sie gesagt, und ich denke, es wird so, wie ich es haben will, und dann wird ein ganz anderes Bild daraus. Normalerweise vernichte ich solche Fotos.
Könnte ich Ihr letztes Bild sehen?
Tut mir leid, so gut kennen wir uns nicht.
Haben Sie jemals einen Menschen gekannt?
Ich weiß nicht, ob ich Sie kennenlernen möchte, denn ich denke, Sie haben nicht mehr lange zu leben.
Vielleicht werde ich Sie überraschen, Sie wissen, dass Sie nicht die Wahrheit sagen.
Wie meinen Sie das, hatte sie gefragt.
Sie möchten mit jemandem zusammen sein, der nicht mehr lange zu leben hat, hatte er gesagt, denn Sie lieben alles, was dem Tode nahe ist, alles, was vergeht.
Das stimmt nicht, hatte sie gesagt.
Sie machen Bilder, wunderschöne tote Bilder, hatte er gesagt, von verwaisten Straßen und toten entlaubten Bäumen im November. Warum hast du mich nicht gebeten, dir die Hände loszubinden, hatte er gefragt.
Daraufhin hatte sie sich von ihrem Stuhl erhoben und war auf ihn zugegangen, sag mir, was du willst, hatte sie gefragt, während sie an der Kamera vorbei wischte und die Kadrage verließ.
Ich möchte das Spiel unterbrechen, für ein paar Stunden nur, für den Rest der Nacht, dann werde ich gehen, hatte er gesagt, nun leiser und vertrauter, während man als Zuschauer auf ein leeres Bild blickte, ein Stuhl vor einem Fenster, der nur noch von einer Abwesenheit kündete, seit Tala hinüber ins Off gegangen war.
Nach dieser Übung hatte ich vorgehabt, einen richtigen Film mit ihr zu realisieren, nach eigener Vorlage, im Grunde hatte ich das wohl schon vorgehabt, als ich ihr in dem kleinen Ladengeschäft in der Akazienstraße begegnet war, in dem sie aushalf; sie hatte zu papierdünnen Paketen gefaltete Blusen zwischen Lager und Umkleide hin und her getragen und mir angereicht, während ich mir ihre Bewegungen bereits von einem Bildausschnitt gerahmt vorstellte, jedoch durch ein mir wohl entsprechendes Zögern erst einige Tage später zurückkehrte und meine Telefonnummer für sie hinterließ, woraufhin sie tatsächlich anrief und erklärte, dass sie schon immer habe spielen wollen, was mich zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr verwunderte; anders als die ausgebildeten Schauspieler, die ich kannte, schien sie über eine Sensibilität zu verfügen, die es ihr erlaubte, sich in so gut wie alles einzufühlen, oder vielmehr nicht erlaubte, sondern beinahe zwang, was ihr vielleicht dann zum Verhängnis geworden ist, nachdem wir nie einen Film miteinander gedreht hatten, weil ich ab einem gewissen Zeitpunkt gar nicht wirklich in der Lage gewesen war, einen Film zu realisieren, und sie, vielleicht eben deshalb, sich auf diese lange Reise begeben hatte, von der ich nur die Stationen wusste, die Verbindungslinien dazwischen, aber nicht die Unschärfen darum herum.
Anstatt nach rechts abzubiegen, wo ich in Richtung Friedrichstraße und Oranienburger Straße geführt worden wäre, ging ich nach links in die Chausseestraße, weil ich das noch nie getan hatte und nichts weniger wollte, als mich in ein Zentrum hineinzubewegen und dort den ständig ineinander strömenden Menschenansammlungen ausweichen zu müssen, ich wollte mich an den Rändern aufhalten, so wie jetzt, als sich rechts von mir eine Brache bis zu zwei noch aus den Anfängen der Industrialisierung stammenden Fabrikgebäuden hin erstreckte, die, eigentlich in brauner Farbe gestrichen, an den abgeplatzten Stellen in der Wand in schöner Maserung einen cremefarbenen Estrich freilegten; gern wäre ich in die Fertigungsanlagen hineingelaufen, um, falls das überhaupt noch möglich war, herauszufinden, was darin wohl produziert worden sein mochte, wenn nicht das Gelände mit einem Bauzaun abgesperrt gewesen wäre, hinter dem auf frisch planiertem Beton eine rote Walze ihre Kreise zog, nach einem unbekannten System, das mir in jenem Augenblick ein weiteres, nicht zu lösendes Rätsel zu stellen schien.
Koh Tao, den soundsovielten, schrieb Tala, sprich es bitte einmal laut vor dir her, Koh Tao, mit Betonung auf den O’s, dann bekommst du ein Gefühl für den Ort, an dem ich mich befinde; übrigens heißt Koh Tao übersetzt Schildkröteninsel, und zwar deshalb, weil es früher um die Insel herum so viele Schildkröten im Meer gegeben hat, die jetzt aber nicht mehr da sind, die verschwunden sind, wie alles verschwindet, aber nun versuchen sie, auf der Insel Schildkröten heranzuzüchten, die sie dann im Meer aussetzen, bis auch diese Schildkröten verschwunden sind, und immer so fort, das ist eben der Lauf der Dinge, und ich bemerke an mir, dass ich mich immer mehr nur noch für jene verschwundenen und verschwindenden Dinge interessiere, zum Beispiel ist Koh Tao auch einmal, von 1933 an, eine Gefängnisinsel gewesen, ihrer großen Entfernung zum Festland wegen, bevor dann ein Premierminister beim König um Amnestie bat, sodass die Gefangenen zurück aufs Festland gebracht wurden, bevor die Insel dann wieder eine lange Zeit unbewohnt war.
Du wirst jetzt sicher denken, dass ich leicht zu verführen sei, eben weniger vorsichtig als du, und doch behaupte ich, dass wir einander ähnlicher sind, als du vielleicht glauben magst, und du, wenn du Koh Tao vor dir her sagst, mit Betonung auf den O’s, auf irgendeine Weise gemeinsam mit mir hier bist, und zwar ohne jene Überfahrt vom Festland überstehen zu müssen, auf der bei unruhiger See alle Reisenden, mit Ausnahme der Besatzung, seekrank gewesen sind, sodass sie auf den schwankenden Decks lagen und nicht damit rechneten, jemals wieder an einem Ufer anzulangen, sich dabei sogar den Tod als Erlösung ihrer Qualen herbeiwünschend, wie in einer Geschichte, die ich unlängst gelesen habe, von einem seekranken Seemann, der seinen Kapitän bat, ihm das Leben zu nehmen, und bereit war, für diese Hilfestellung als Gegenleistung sofort einen Scheck in Höhe von fünfzig Dollar auszustellen, während er da so auf seiner Liege festgeschnallt war, und ich kann es verstehen, nach dieser Überfahrt, denn auch ich habe draußen an Deck gelegen, nachdem ich das Innendeck verlassen hatte, das derart in Aufruhr war, dass die Männer der Besatzung ständig auf die Sitze klettern mussten, um Teile, die sich von den an der Decke befestigten Fernsehgeräten oder gar den Deckenverkleidungen selbst gelöst hatten, wieder anzubringen, bevor sie erneut klappernd zu Boden fielen.
Ich hoffte auf Linderung dieses unerträglichen Gefühls in mir, das mit nichts zu vergleichen ist, indem ich meine Position zu verändern suchte, hoffte auf ein Auge im Sturm, aber es war allein schon schwierig, sich überhaupt fortzubewegen, so sehr wurde das Boot bei jeder neuen Welle, die es erklomm, in die Höhe gerissen, um dann wieder nach unten zu fallen, und als ich endlich draußen an Deck angelangt war, klammerte ich mich zunächst fest an einer metallenen Stange, die im Durchgang angeschraubt war, weil ich sonst vielleicht bei der nächsten Erhebung einfach nach hinten hinaus über Bord gegangen wäre und niemand etwas dagegen getan hätte, selbst wenn es bemerkt worden wäre, so wie auch ich umgekehrt nicht in der Lage gewesen wäre, jemandem zu Hilfe zu kommen, jeder war ja nur mit sich selbst beschäftigt wie im schlimmsten Kriegsgewühl und versuchte, einen Zustand zu erreichen, in dem sich diese Fährfahrt überstehen ließ.
So sank ich an der Stange hinab auf den Boden, da es mir in jenem Augenblick als das einzig Mögliche erschien, sozusagen der Weg des geringsten Widerstands, ich lehnte also an der Wand im Durchgang, die Beine ausgestreckt, die Arme immer noch an der Stange über meinem Kopf, in die Luft gehoben bei jedem neuen Wellenberg, bis dann irgendwann, nach einer unbestimmten Zeit, die eine halbe Stunde, aber auch zehn Stunden hätte betragen können, das Boot am Mae Haad Pier anlegte und ich mich, da es selbst in der Bewegungslosigkeit noch schwankte, mit letzter Kraft an der Stange wieder in die Senkrechte zog, über die Reling aufs Pier, das auf die grünbraunen Hügel zuführte, nicht ohne mich zu fragen, welche Absichten, welche Illusionen oder Projektionen mich eigentlich hierher geführt hatten, an diesen vielleicht letzten Ort meiner Reise, ein Name auf einer Landkarte, der mich allein seines Klanges wegen angezogen hatte, unbeschrieben von einer mit mir verbundenen Geschichte.
Vier S-Bahn-Stationen südlich vom Nordbahnhof hatte man wohl versucht, jegliches Provisorische und Offene, jegliche Durchlässigkeit für Interpretation und Aneignung vollkommen aus dem Stadtbild auszulöschen, ein Platz, dem ich mich aus seinen Tiefen kommend näherte, Rolltreppen, die mich langsam hinauftrugen, durch Verglasungen dem umwölkten Himmel und Gebäuden entgegen, die innerhalb kürzester Zeit entstanden waren und ein neues Zentrum hatten erschaffen sollen, dort, wo so lange nur ein Nichts gewesen war.
Man hatte mir erzählt, einige dieser Bauten, denen man wohl einen metropolitanen Charakter hatte verleihen wollen, sahen nur aus der Ferne so aus, als bestünden sie aus richtigen Ziegelsteinen, die tatsächlich verwendeten Materialien seien indes einiges weniger solide, ein bloßes Trompe l’œil, und es könne sich letztlich nur um überschaubare Zeiträume von wenigen Jahrzehnten handeln, die sie überhaupt standhalten könnten, während die Gassen, die sie zwischen sich schufen, schon jetzt und vielleicht von Beginn an nur zu den üblichen Geschäftszeiten von Flaneuren durchquert wurden, man hier nachts bisweilen überhaupt niemandem mehr begegnete und durch Fensterfronten hineinsehen konnte in ebenfalls verwaiste Cafeterien oder Foyers.
Im Epizentrum dieses künstlich gewachsenen Ortes befand sich indes auf einem Areal, an dessen Rand früher der vom NS-Regime gegründete Volksgerichtshof getagt hatte, ein nach dem an seinem Bau beteiligten, japanischen Elektronikhersteller benanntes Oval, bekrönt von einem künstlichen Berg Fuji, der sinnbildlich der hier fehlenden Berge wegen die Kami, die Geister, beherbergen sollte, unter dem sich nun aber Touristen und Laufkundschaft in großer Zahl sammelte, deren Stimmen zwischen den hohen Wänden widerhallten, untermalt von einem Hintergrundgeräusch, einem durchgehenden Gedröhn, dessen Quelle ich von den Schnitträumen im Obergeschoss aus niemals hatte ausmachen können, das im Winter jedoch seltsamerweise deutlicher erklang als im Sommer.
Auch diesem Gebäude hatte ich mich einst zunächst von seinen Eingeweiden her genähert, dem Kellergeschoss, wo die Kinemathek zwei Kinosäle unterhielt, die ich regelmäßig, beizeiten gar täglich, aufsuchte, zumeist allein, damit mich nichts ablenkte von der Illusion, die die Projektoren dort auf die Leinwand warfen, der umgebende Ort indes so unscheinbar, beinahe kalt in seiner Funktionalität, als wolle auch er nur ein Rahmen sein, die matt stählernen, durchbrochenen Treppen, Wände und Sitzgelegenheiten, die Lettern auf der Ankündigungstafel dafür bereits umso größere Verheißung eines noch ungekannten Genusses, die fremden Sprachen auf den Plakaten, die noch unbekannten und bald doch so vertrauten Gesichter der Akteure.
Zu einer gewissen Zeit schien es ja zumindest, als dienten meine Abende in den Kinosälen dem elementaren Zweck, all das Kunstvolle und Besondere der Filme Ozus, Bressons oder Cassavetes’ in mich aufzunehmen, die Schauspielerführung, die Découpage, die Montage, die kleinen Gesten und Momente, in denen der Film wirklicher erschien als das Leben selbst, ein Nährboden, aus dem ich selbst auch einmal ein Werk erschaffen wollte.