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Wir müssen nicht in den tiefen Dschungel vordringen, um den Wundern der Natur zu begegnen. Ein Blick auf unsere Teller genügt! Das fängt mit dem Geschmack unserer Speisen an: Warum gibt es überhaupt süße Früchte? Was erzählt uns das über die Evolution und unser Zusammenleben mit der Pflanzenwelt? Weshalb schmecken Raubkatzen nichts Süßes? Und wieso können wir Menschen viele tausend Arten von bitter unterscheiden? Mit Sinnenfreude und Entdeckerlust liest Bill François im Buch der Natur, das wir auf unseren Esstischen finden, und zeigt uns den großen, immer wieder überraschenden Zusammenhang des Lebens. Er berichtet von der Fliege, die den Käse erfand, und von den prähistorischen Elefanten, die hinter jedem Zucchinigratin stecken. Und während unsere Lust auf Salz zwar nichts mit schönen Sommertagen am Strand zu tun hat, hängt sie direkt mit unserer Herkunft aus dem Meer vor Millionen von Jahren zusammen. Als fantastischer Erzähler und virtuoser Erklärer offenbart Bill François uns die Naturgeschichte unserer Speisen und findet den Bauplan des Lebens in einer Zitronentarte. Auf diese Weise öffnet er unsere Augen für jene natürliche Vielfalt, die uns ernährt und am Leben hält.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
BILL FRANÇOIS
Die unwahrscheinliche Süße der Erdbeeren
Erstaunliche Geschichten aus der Speisekammer der Natur
Aus dem Französischen von Frank Sievers
C.H.BECK
Cover
Speisekarte
Textbeginn
Titel
Speisekarte
Widmung
Vorwort
von Guy Savoy (Sternekoch und Besitzer des Restaurants
Guy Savoy
in Paris)
Statt eines Aperitifs
Wo alles mit einer Pistazie beginnt.
Gemischter Salat
Quiche mit Südgemüse
Vorspeisenplatte
Brotkorb
Putenfrikassee
Hähnchenkeule mit Pommes frites
Beilage: Pommes frites
Geschwenktes Rindfleischkambodschanischer Art
Einseitig gebratener Lachs
Fischfilet
Pilz-Omelett
Obstsalat
Mi-cuit au chocolat
Zitronentarte mit Orangenabrieb
Statt eines Epilogs:Ein Kaffee … und die Rechnung
Zum Buch
Vita
Impressum
Für den Buchdrucker, der meine ersten Bücher gedruckt und mir das Rezept beigebracht hat, wie man Papier und Karton in Traummaschinen verwandelt: meinen Großvater
Für die Überraschung, wenn wir mit der Gabel eine alte Erinnerung aufspießen, für den Schauder, wenn wir etwas zum ersten Mal probieren, für das Glück, wenn wir Aromen und Erlebnisse mit anderen teilen …
… und für all die anderen Geschichten, die Ihnen Ihre Mahlzeiten noch schreiben werden
Für einen Koch ist es immer ein besonderer Moment, wenn er seinen Gästen sein Menü präsentiert. Es ist der Auftakt zu ihrem Mahl, ein erster Einblick in die Genüsse, die sie erwarten. Heute darf ich Sie zu einer Verkostung der ganz besonderen Art einladen.
Die Kunst des Kochens besteht für mich darin, dass wir aus Nahrungsmitteln, die voller Geschichte und Geschichten stecken, ein freudiges Ereignis kreieren. In diesem Buch gehen wir den entgegengesetzten Weg: Ausgehend von den Genüssen verschiedener Gerichte hören wir uns die Geschichten an, die ihre Zutaten uns zu erzählen haben. Und was für Geschichten! Eine wahrhafte Reise durch Raum und Zeit unternehmen wir hier, um von den außergewöhnlichen Schicksalen jener Arten zu erfahren, von denen wir uns ernähren.
Vor über fünfzehn Jahren erhielt ich einen ungewöhnlichen Brief. Ein Schüler schrieb mir, er wolle sich gern für den Sommer meiner Küchenbrigade anschließen. Der Stil des Schreibens und die Motivation des jungen Mannes erregten meine Aufmerksamkeit, weshalb ich seiner Bitte stattgab … Seitdem sind wir einander freundschaftlich verbunden. Und ich war, ohne es zu wissen, einer von Bill François’ ersten Lesern.
Heute ist Bill François Biophysiker und Autor. Wenn er sich nicht gerade damit beschäftigt, die Geheimnisse der Natur mit den Mitteln der Wissenschaft zu durchdringen, fasst er sie für uns mit der Feder in Erzählungen. Es wundert mich nicht, dass ihn seine Leidenschaft für die Gastronomie niemals verlassen hat: Wissenschaftliche Strenge und künstlerisches Feingefühl miteinander zu verbinden, um aus natürlichen Zutaten große Gefühle zu schaffen … wäre das nicht auch eine gute Beschreibung für die Arbeit von uns Köchen?
In diesem Buch macht sich der Autor zu unserem Koch. Er vermengt geheimnisvolle biologische Phänomene und überraschende historische Fakten, um daraus ungeahnte Geschichten zu kreieren. Dabei würzt er sie mit wohldosierten Worten und richtet sie an wie der Koch seinen Teller. Ein gelungenes Rezept: Manche Bücher liest oder verschlingt man, dieses Buch genießt man. Am liebsten würde man sogar noch einen Nachschlag nehmen, denn die Düfte, die diese Seiten verströmen, machen uns Lust, immer noch mehr zu erfahren.
Und zu erfahren gibt es wahrlich viel! Das Restaurant ist ganz ohne Zweifel der zivilisierteste und kultivierteste Ort der Welt. Doch dank dieses Buches lernen wir, dass es uns auch Einblicke in die wilde Natur gewährt. Wenn wir von dem großen Abenteuer unserer Nahrungsmittel lesen, von ihrer Evolution, ihrer Hybridisierung, ihren Reisen, reichern sich unsere Speisen mit Erinnerungen und Exotik an. Ich weiß jetzt, dass sich in einem Salat mit Avocado manchmal faule Riesen verbergen, dass wir unser Apfelmus den Bären verdanken und hinter unserer Zitronentarte Meteoriten stecken … Und dieses Wissen eröffnet uns eine neue Perspektive auf unseren Platz in der großen Nahrungskette des Planeten. Seitdem ich der Geburt der ersten Erdbeere beigewohnt habe, die sich zwischen Spionen in Patagonien, Freibeuterschiffen und bretonischen Gärten abspielte, werde ich diese Frucht nie mehr so verspeisen wie früher. Und wie gern hätte ich Frank Buckland – Sie werden ihn in diesem Buch noch kennen lernen – in mein Restaurant eingeladen, einen Mann, der in seiner zügellosen Kühnheit und seinem zügellosen Appetit alle nur erdenklichen Nahrungsmittel probierte. Ich bin mir sicher, gemeinsam hätten wir uns die tollsten Gerichte ausgedacht – nur leider lebte er in einem anderen Jahrhundert. Ich danke Bill François dafür, dass er diesen gastronomischen Abenteurer und sein sagenhaftes Leben für uns wiederaufleben lässt, diesen vergessenen Visionär, der heute aktueller ist denn je.
Vor allem aber schenkt uns dieses Buch eine Zutat, die als Würze für unsere Speisen unabdingbar ist: ihre Naturgeschichten. Nun ist es an uns, den Köchen dieser Welt, sie in unsere Rezepte aufzunehmen.
Wenn dieses Buch Sie, liebe Leserinnen und Leser, spüren lässt, dass jede Mahlzeit ein Abenteuer ist, eine Reise in das Innerste des Lebens, dann hat es sich seinen Platz neben den Kochbüchern in Ihrem Küchenregal ganz gewiss verdient.
Man könnte meinen, der Kellner hat uns die Pistazien nur auf den Tisch gestellt, um uns noch etwas hinzuhalten. Um mit ihnen unseren Appetit anzuregen. Denn natürlich kann man, ist die erste Pistazie geknackt, nicht mehr damit aufhören. Aber es gibt auch noch einen anderen Grund, warum sie hier stehen. Sehen Sie sich die Pistazien nur einmal an: Mit ihrer leicht geöffneten Schale sehen sie aus, als würden sie uns anlächeln. Als wollten sie uns irgendetwas sagen …
Den Auftakt unseres Festmahls bilden heute die Pistazien, weil wir es ihnen verdanken, dass wir diese Speisekarte überhaupt lesen können. Um genau zu sein, einer ganz bestimmten Pistazie, auch wenn sie aussah wie alle anderen. Auf die Welt kam sie im Herbst des Jahres 1701 an einem Pistazienbaum im Osmanischen Reich. Sie ist es, die uns die Wahrheit enthüllt hat.
In dem Moment, als sie gepflückt und zu hundert anderen in einen Leinensack geworfen wurde, hielt sich unsere Pistazie schon für verkauft, um alsbald geröstet und auf irgendeinem Orientteppich zwischen zwei dampfenden Gläsern Minztee geknackt zu werden. Ein banales Pistazienschicksal. Doch an diesem Tag blieb ein unerwarteter Gast vor dem Basarstand stehen. Ein Reisender. Er sah aus, als käme er von weit her, und staunend betrachtete er all die Haufen mit den getrockneten Früchten.
Dieser Mann hieß Tournefort. Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn als Botaniker hatte er noch nie solche «grünen Mandeln» gesehen. Stolz über sein Fundstück, kaufte er die Pistazie, ohne noch über den Preis zu verhandeln, und beschloss, sie nach seiner Rückkehr in die Heimat im Jardin du Roi, dem Königlichen Garten, einzupflanzen.
König Ludwig XIII. war häufig krank. In der Hoffnung auf neue Heilmittel hatte er seinen Ärzten im Osten von Paris ein großes Feld überlassen, auf dem sie Pflanzen untersuchen konnten. Entdeckten die Heiler auch kein Wundermittel, so schufen sie zumindest einen herrlichen Garten, der mehrere Jahrhunderte überdauern sollte. Zu der Zeit, als Tournefort seine Pistazie dort einpflanzte, war der Jardin du Roi eine wissenschaftliche Stätte, die ihresgleichen suchte. Ein frühes Beispiel dafür, wie Studien und Wissensverbreitung Hand in Hand gehen können. Auf den für alle Menschen zugänglichen Alleen erzählten die reisefreudigen Botaniker den Spaziergängern von ihren Entdeckungen, und zwar nicht mehr auf Latein, sondern auf Französisch, damit alle es verstehen konnten. In den Gewächshäusern und Beeten verströmten Pflanzen aus fernen Ländern ihre neuen Düfte.
Die Besucherinnen und Besucher kamen scharenweise herbei und fragten die Fachleute wissbegierig über das geheime Leben der Pflanzen aus. Das Wachstum der Bäume, Heilmittel, mysteriöse Pflanzengifte, zu allem gab es die wunderbarsten Geschichten zu erzählen. Zu allem – außer zu einem Thema: den Blüten. Stellte ein neugieriger Besucher dazu eine Frage, wurden die Gelehrten duckmäuserisch. Verlegen wichen sie der Frage aus oder brummten mit hochrotem Kopf irgendeine nichtssagende Antwort. Warum waren Blüten so schön? – Reiner Zufall. Welchen Zweck erfüllten sie für die Pflanzen? – Keinen. Sie waren nur zur Zierde da. Und der Pollen? – Schlicht und einfach eine Ausscheidung der Pflanzen. Die Besucher nickten enttäuscht, während die Botaniker eilends das Thema wechselten.
Nun gab es aber einen bestimmten Grund, weshalb sich die Gelehrten scheuten, über die Blüten zu sprechen: weil sie etwas ahnten. Ihnen war aufgefallen, dass sich die Blüten zweier nah beieinander wachsender Bäume in Früchte verwandelten, aus denen Nachkommen keimten. Die Vorstellung, Pflanzen könnten sich untereinander genau wie Tiere oder Menschen auf geschlechtliche Weise fortpflanzen, war ihnen jedoch schlichtweg zuwider. Wie konnten sich so reine Wesen wie eine Lilie oder ein Gänseblümchen derart ruchlosen Sünden hingeben? Das war einfach nur abscheulich, ja unvorstellbar. Weiße Blüten, das Symbol der Unschuld schlechthin, Blüten, mit denen Kirchen geschmückt wurden, sollten derart niederen Instinkten dienen?
Die Fachleute weigerten sich, auch nur daran zu denken. Stattdessen redeten sie sich lieber ein, Blüten besäßen keinerlei Funktion, wozu ihnen die Geistlichen gern ihren Segen gaben, da ihnen diese Theorie sehr entgegenkam.
Somit gab es damals niemanden, der verstand, wie die Liebe bei den Pflanzen vor sich geht. Und ohne das Wissen über ihre Biologie konnte man über ihre Geschichte nur mutmaßen. Wer sich weigerte, den Blüten zuzuhören, für den blieben sie stumm, dazu verdammt, sich im Geheimen zu lieben. Doch das sollte sich durch die Pistazie bald ändern.
Umhegt von den Gärtnern des Königs, schlug der Samen aus dem Orient im Pariser Boden bald Wurzeln. Schnell wurde daraus ein schöner, starker Pistazienbaum, der jedes Jahr in langen Rispen pastellgrüne Blüten trug, von denen indes keine einzige jemals zur Frucht reifte.
Im April 1717, der Baum war inzwischen sechzehn Jahre alt, zog seine Blütenpracht den Blick eines Träumers auf sich, der durch den Garten flanierte. Sébastien Vaillant, ein ehemaliger Schüler von Tournefort, beschäftigte sich seit langem mit der Frage, was es mit den Blüten auf sich hatte. Ihm schien es unlogisch, dass die Natur diesen Einfallsreichtum und diese Energie aufbrachte, um etwas zu erschaffen, das «nur zur Zierde» da war. Er bohrte nach. Und erfuhr auf diese Weise von einigen unorthodoxen Gelehrten aus Skandinavien, deren Werke in Frankreich verboten waren. Sie behaupteten, Pflanzen hätten ein Geschlecht. Ihre Theorie schien einleuchtend. Aber ohne eindeutige Beweise hatten sie nichts in der Hand, um die unter den Fachleuten vorherrschende Meinung zu brechen.
Nun gehörte Vaillant zu jener Art von Mensch, von der wir alle einige Exemplare kennen: Wenn ihnen beim Aperitif eine Pistazie unterkommt, die sich nicht öffnen lässt, legen sie sie nicht einfach unauffällig in die Schale zurück und nehmen sich eine neue, sondern sie geben nicht auf, ruinieren sich notfalls den Fingernagel oder riskieren, dass sich ihr Messer verbiegt. Sie versuchen es beharrlich weiter. Und das Geheimnis der Blüten sollte Vaillant nicht lange widerstehen.
Als er den Pistazienbaum sah, machte er sich auf die Suche nach einem zweiten Baum derselben Art. Er fand ihn, etwas andere Blüten tragend, ein paar Straßen weiter im Jardin des Apothicaires. Auch dieser Baum hatte niemals Früchte. Da kam der Botaniker auf die Idee, einen Blütenzweig des einen Baums über den Blüten des anderen auszuschütteln. Ein paar Wochen später erntete er jubelnd die ersten Pariser Pistazien, womit er den unwiderlegbaren wissenschaftlichen Beweis von der Bestäubung der Pflanzen erbracht hatte.
In der Akademie der Wissenschaften berichtete Vaillant mit ziemlich blumiger Wortwahl von seiner Entdeckung: «Die Blüten sind das Geschlecht der Pflanzen», verkündete er gleich zu Beginn, um sodann Stempel und Staubblätter mit den weiblichen und männlichen Genitalien der Tiere zu vergleichen und von den «Liebesspielen» der Bäume und ihrem «gewaltsamen Verkehr» zu sprechen – Begriffe, die für die damalige Zeit extrem gewagt waren. Im hinteren Teil des Saales jauchzten die Pennäler und Medizinstudenten, während vorn, in vorderster Front, die Jesuiten außer sich waren.
Der Botaniker bezahlte einen hohen Preis für seinen Tabubruch. Seine Karriere war damit beendet, er wurde aus den Reihen der Gelehrten alter Schule verbannt, die sich die größte Mühe gaben, möglichst schnell Gras über seine Worte wachsen zu lassen. Aber dafür war es jetzt zu spät, die Pistazie der Pandora war geöffnet, die Wahrheit ans Licht gebracht. Die Menschen wussten nunmehr über das Intimleben der Pflanzen Bescheid. Vaillant selbst machte es nichts aus, dass er sich am Ende nicht einmal mehr Fleisch leisten konnte – denn schon das geringste Gemüse in seinem Suppentopf flüsterte ihm bezaubernde Geheimnisse zu.
Dank einer bescheidenen Pistazie hat also die Menschheit von der Geschichte der Pflanzen erfahren, von ihrer Vergangenheit wie auch von ihrer Zukunft. Denn das Verständnis von ihrer Fortpflanzung hat auch ein Licht auf ihre Evolution geworfen und auf die engen Bande zwischen dem Reich der Pflanzen und dem Reich der Tiere. Eine Millionen Jahre alte Geschichte, die auch die unsere ist.
Aber auf unserem Tisch sind die Pistazien nicht die Einzigen, die für uns Süßholz raspeln. Ein Haufen spannender Lebewesen drängelt sich auf unseren Tellern. Romantische Pflanzen und unzählige Insekten, die für deren Liebesleben unerlässlich sind, ganze Bakterienvölker, die unseren Käse verfeinern, aber auch kasachische Bären, die hinter unserem Apfelkuchen stecken, prähistorische Elefanten, die sich in unserem Zucchinigratin verbergen, wie die großen Gesetze des Lebens in einer Schale heißer Pommes. Und wenn wir ganz genau hinsehen, entdecken wir in unserer Gemüsebrühe sogar Wale und Delfine! Wir müssen nicht weit reisen oder in den Dschungel gehen, um die Wunder der Natur zu beobachten. Nein, unsere Speisen beherbergen für alle, die sich die Zeit nehmen, ihre Geschichten zu goutieren, eine überbordende Fülle an Leben.
Jetzt ist es aber Zeit für unsere Bestellung. Aus der Küche brutzeln Noten von Olivenöl zu uns herüber. Der Kellner windet sich einem Seiltänzer gleich zwischen den Blicken hindurch, jongliert mit den Tabletts, causiert in Wortspielen und Reimen. Stimmen und Düfte wehen durch den Raum.
An einem Tisch rufen sich Freunde beim Essen vergangene Feste in Erinnerung. Die Kinder spielen mit dem Hund vom Nachbartisch, der nur Augen für ihre Teller hat. Vorn auf der Terrasse schießen die Touristen noch vom kleinsten Appetithäppchen ein Foto.
Der Kellner hat die Karte vor Ihnen auf das Platzdeckchen gelegt. Nun halten Sie das Menü in Ihren Händen.
Das Speisen im Restaurant ist wie eine Geschichte, die wir lesen. Zuallererst schlagen wir das Buch auf. Darin gibt es mehrere Kapitel – Vorspeise, Hauptgang und Dessert – mit verschiedenen Hauptdarstellern – Pflanzen und Tieren –, den Beilagen als Nebenfiguren, mit Saucen und Würzen als Szenerie. All diese Akteure mit ihren natürlichen Aromen bringt die Kochkunst für uns zum Sprechen, auf dass wir ihre Gespräche genießen können.
In jedem Menü kommen die verschiedensten Arten miteinander in Austausch. Ihre Stimmen nehmen uns ein Aroma lang mit um die Welt und durch die Epochen, führen uns in den Alltag anderer Lebensformen ein und machen uns mit Männern und Frauen bekannt, die sich auf die Suche nach ihnen begeben und unserer Speisekarte ihr Wissen eingehaucht haben.
Unser Menü bietet Ihnen alles, was Sie wollen. Nehmen Sie nach, so viel Sie nur möchten, aufgewärmt sind die Geschichten sogar noch köstlicher. Serviert werden ausschließlich saisonale Produkte – und das ist gut so, denn Geschichten haben immer Saison.
Sollten Sie bestimmte Zutaten wegen einer Allergie, Ihrer Religion oder aus persönlicher Abneigung nicht verzehren können, habe ich eine gute Nachricht für Sie: Als Erzählung können Sie sie dennoch genießen. Sie riskieren keinerlei unerwünschte Nebenwirkungen.
Alle Gerichte wurden aus frischen Zutaten eigenhändig zubereitet. Manche Anekdoten werden sogar tagesfrisch serviert, gerade vom Baum der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnis gepflückt. Andere liegen schon seit Jahrtausenden im Einmachglas und scheinen mit der Zeit immer nur weiter gereift zu sein.
Außerdem sind alle Zutaten in diesem Menü natürlich, authentisch und geprüft. Sie stammen ausschließlich aus Quellen kontrollierter Herkunft. Sie müssen mir das aber nicht einfach glauben, ich kann dafür gern einen Zeugen benennen.
Der Pistazienbaum, der 1701 gepflanzt wurde, steht noch heute. Seine Blätter sind grüner denn je, und es geht ihm blendend. In seinem Pariser Garten, der heute Jardin des Plantes heißt, hat er in seinem langen Baumleben viele der Menschen, Pflanzen und Tiere getroffen, denen wir während unseres Festmahls begegnen werden. Er kennt sie persönlich, die Entdecker der Geschichten unseres Menüs, ja sogar einige Vorfahren der Zutaten, aus denen sie bestehen. Sein Blattwerk wirft mit seinem Schatten dreihundert Frühlinge an Vertraulichkeiten auf Ihre Speisen.
«Haben Sie gewählt?», erkundigt sich der Kellner, Block und Stift gezückt. Oh. Ähh, nein. Wenn Sie zu den Menschen gehören, denen die Wahl im Restaurant zum Martyrium gereicht, dann kann ich Sie für dieses Mal beruhigen. Sie müssen sich hier nichts aussuchen. Sie können es sich heute sparen, verzweifelt durch die Karte zu blättern, den Kellner um eine Empfehlung zu bitten oder, als letzten Ausweg, dasselbe zu bestellen wie Ihr Tischnachbar. Bei diesem Menü kosten Sie Gang für Gang von allen Speisen, die auf der Karte stehen.
Ich wünsche Ihnen guten Appetit!
Wo die Salate vom Leder ziehen.
Wo dank der Bitterkeit die Schmetterlinge flattern.
Wo sich Fett in Genuss verwandelt.
Wenn uns Pflanzen etwas von Salaten erzählen, hören wir meist nicht zu. Zugegeben, ihre Geschichten unterscheiden sich schon sehr von denen, die wir uns untereinander erzählen, weshalb es uns schwerfällt, sie überhaupt zu vernehmen.
Wir Menschen erzählen unsere Geschichten vor allem mit Worten. Manchmal fügen wir ihnen noch Bilder hinzu oder auch Musik. Bei den Salaten ist das anders. Hier geht alles über den Geschmack.
Wenn wir in einen Happen Salat beißen, erstrahlen unzählige Aromen zugleich in unserem Mund. Wer ihnen ein wenig Aufmerksamkeit schenkt, erfährt ein verwirrendes Sinneschaos, eine Art unkoordiniertes Feuerwerk. Für gewöhnlich genießen wir den Salat als Ganzes, ähnlich wie ein abstraktes Gemälde: Wir suchen darin nicht nach Bedeutung. So als gäbe es an einem Aroma nichts zu verstehen. Als wollte uns der Salat nichts sagen.
Aber natürlich haben alle diese Aromen genau wie unsere Worte eine Bedeutung, und sie tragen Geschichten in sich. Ob süß, salzig, bitter oder irgendeine andere Geschmacksrichtung, sie alle stehen auf ihre Weise für die jahrhundertelangen Abenteuer der Evolution, dank derer wir sie schmecken können. Sie sind die Vermittler, über die uns die Pflanzen von ihrer Herkunft erzählen, von ihrem Leben und von der Verbindung, die zwischen ihnen und uns besteht.
Feldsalat- für Kopfsalatblatt blättern wir mit unserer Gabelspitze durch die Seiten des Buches vom Leben. Wo fangen wir an?
Da, vom Tellerrand blinzelt uns eine scharlachrote Kirschtomate an. Hören wir ihr doch einmal zu.
Die Tomate lacht uns an, zum Anbeißen frisch. Vor allem aber: wahnsinnig süß. Daran denken wir nur selten, wenn wir einen Salat essen. Wie süß er eigentlich ist. Nehmen wir zum Beispiel nur die hineingewürfelte Paprika, oder mehr noch die gebratenen Auberginenstreifen – sie munden fast wie Karamell. Und mit all seiner Süße erzählt uns der Salat eine zuckersüße Geschichte, die von unserer Freundschaft mit den Pflanzen handelt.
Die war nicht gottgegeben. In den Anfängen ihres Lebens auf der Erde waren Pflanze und Tier verfeindete Brüder. Die Pflanzen bewehrten sich mit Nadeln und Bitterkeit, um die Tiere abzustoßen. Ihre Samen und Pollen hüteten sie wie ihr teuerstes Gut und überließen sie allein dem Zufall des Windes. Blüten und Früchte gab es noch nicht, die Welt war ein monotones Grün in Grün, von Süße noch keine Spur.
Es ist nicht ganz leicht, sich vorzustellen, wie in dieser vormaligen Zeit, die uns kaum essbare Pflanzen überliefert hat, ein Salat wohl geschmeckt haben mag. Eine einzige Zutat ist bis in die heutige Zeit erhalten geblieben und erinnert uns an diese dunkelgrünen Stunden: der Pinienkern. Er, der vor 300 Millionen Jahren das Licht der Welt erblickt hat, erhellt unsere Teller bis heute mit seinem prähistorischen Glanz. Die Pinie gehört zu den sogenannten Nacktsamern, primitiven Pflanzen, die Nadeln besitzen, aber keine Blüten. Sie bewahrt ihre Kerne wie einen Schatz in ihrem Zapfen, der sie wie ein Panzer vor Angriffen durch Tiere oder Feuersbrünste beschützt. Und da der Baum seine Nachkommen vor den Flammen geschützt wusste, wurde er selbst zum Pyromanen. Sein harzreiches Holz wirkt bei Waldbränden wie ein Brandbeschleuniger, aus denen seine Samen als einzige Überlebende hervorgehen, um sich ganz ohne Widersacher an der verbrannten Erde gütlich zu tun. Die Ambra-Note unserer Pinienkerne zeugt noch von dieser raubeinigen Zeit, in der die Pflanzen nur Wind und Feuer zum Freund hatten.
In den Wäldern des Jura braute sich sodann im Schatten der von den riesigen Dinosauriern zurechtgestutzten Koniferen eine heimliche Revolution zusammen. Einige Pflanzen, die anders als die anderen waren, verbündeten sich mit den Tieren und eröffneten für sie ein traumhaftes Restaurant: die Blüte. Auf den Tischen, die mit farbenfrohen Blütenblättern dekoriert waren, servierten sie den Insekten einen köstlichen Nektar und ließen sie dafür ihren Pollen weitertragen. Als zweiten Gang erdachten sich die Pflanzen die Frucht, von der jede und jeder kosten durfte. Die einzige Bedingung: Wer die Frucht verspeisen wollte, musste die Samen entweder vorher oder nachher in der Welt verstreuen, damit sie in Gegenden reisen konnten, wohin sie von allein nicht gelangten. Von diesem Tausch profitierten alle. Ein Transportmittel gegen eine gute Mahlzeit. Wenn wir Pflanzen pflücken oder sammeln, töten wir sie nicht – wir helfen ihnen. Das wissen sie, und das danken sie uns.
Es brauchte also einen Pistazienbaum in einem Pariser Garten sowie dreihundert Jahre intensiver Forschung zur Evolution, um die Tragweite dieser Beziehung zu begreifen. Heute wissen wir, dass sie das Gesicht der Erde verändert hat. Die Anfänge dieser Verbindung entstanden unter dem Deckmantel des Unterholzes. Unser Salat gestattet uns, die Aromen dieser allerersten freundschaftlichen Verbindung zu betrachten. Die Avocado und der schwarze Pfeffer sind direkte Nachfahren der ältesten Familien der Blütenpflanzen, die den allerersten Schritt auf die Tiere zu gemacht haben.
Der Lorbeer und der wundersame Sternanis gehören ebenfalls zu diesen uralten Geschlechtern, die im prähistorischen Dickicht kreuchten und dort die Versöhnung zwischen Tieren und Pflanzen in die Wege leiteten.
Ehe sich irgendwer versah, war alles auf den Kopf gestellt. Die neue Klasse der Bedecktsamer hatte einen ungeahnten Erfolg. Dank ihres Bündnisses mit den Tieren sowie der kleineren Zellen, mit denen sie effizienter Fotosynthese betreiben konnten, besiedelten sie alle Gegenden der Welt. Plötzlich leuchteten die Landschaften in ungekannten Farben. Und die Erde erlebte endlich ihren ersten echten Frühling.
Am Ende der Kreidezeit, vor 65 Millionen Jahren, schlug ein berühmter Meteorit auf irdischem Boden auf und löste verheerende Vulkanausbrüche aus, die zu einem Massenaussterben führten. Drei Viertel aller damals lebenden Arten starben aus, darunter die Gesamtheit der Dinosaurier bis auf jene Exemplare, aus denen sich die heutigen Vögel entwickelten. Mondartige, trostlose Weiten müssen fortan das Bild der Erde geprägt haben. So stellen wir es uns jedenfalls vor – aber so war es mitnichten. Auf den rauchenden Ruinen begannen die Samen der Bedecktsamer, die überlebt hatten, zu keimen. Vielfarbige Felder erblühten wie zur Hommage an eine untergegangene Welt.
Auf diesem Planeten, auf dem alles von Grund auf neu gebaut werden musste und auf dem baumartige Farne und Nadelbäume große Verluste hinnehmen mussten, herrschten plötzlich die Blütenpflanzen vor. Deren Entwicklung schritt im Gleichklang mit den Tieren voran. Um für sie noch attraktiver zu werden, schenkten sie ihren Früchten ein neues Aroma, eine neue Süße. Die Tiere wiederum legten sich eine Vorliebe für diese Geschmacksrichtung zu, der sie einen bevorzugten Platz in ihrem Speiseplan einräumten. Dort also hat unsere Lust auf Süßes ihren Ursprung: in diesem Freundschaftsbeweis der Pflanzen.
Wir können von Glück reden, dass wir Süßes schmecken. Denn die Pflanzen haben nicht allen ein solches Geschenk gemacht. Säugetiere wie Raubkatzen, die keine Früchte fressen, sind zum Beispiel für dieses Aroma taub. Sie helfen den Pflanzen nicht, ihren Samen zu verbreiten – dann dürfen sie sich auch nicht wundern, dass ihnen diese Köstlichkeit verwehrt bleibt.
Die Chilischote geht sogar noch weiter: Sie sucht sich sehr genau aus, mit wem sie sich anfreundet. Zweifelsohne gehören wir Menschen zu ihren Feinden. Sie entfacht auf unserer Zunge einen wahren Flächenbrand, damit wir sie bloß nicht verzehren. Das liegt daran, dass wir als Säugetiere ihre Samen vollständig verdauen und sie dann nicht mehr keimen können. Daher versucht diese Pflanzen alles, um uns von ihren Früchten fernzuhalten. Die Vögel wiederum sind dem Chili wohlgesinnt. Von ihrem Verdauungsapparat bleiben seine Samen unberührt, sodass sie von den gefiederten Freunden weit fortgetragen werden. Deshalb hat der Chili ein spezielles Molekül entwickelt, das Capsaicin, das im Säugetiermund einen Brand auslöst, bei Vögeln dagegen keinerlei Wirkung zeigt. Auf der Insel La Réunion werden die furchterregendsten Chilisorten übrigens «Vogelchili» genannt.
Neben den frischen Tomaten bräunen sich in unserem Salat noch die geviertelten getrockneten Tomaten. Sie fügen der Süße ein weiteres Aroma hinzu, das unseren Gaumen umschmeichelt. Wir alle kennen es, ohne es vielleicht bewusst wahrzunehmen. Beschreiben ließe es sich als eine Art Geschmackskondensat. Die Rede ist von umami. Umami ist zum Beispiel in Sojasauce, Parmesan oder Brühwürfeln zu finden. Es gehört wie süß zu den fünf grundlegenden Geschmacksrichtungen, die wir mit unserer Zunge schmecken. Erst vor Kurzem hat die Forschung festgestellt, dass es sich tatsächlich um einen eigenen Geschmack handelt, für den wir eigene Rezeptoren besitzen, und wie der Zufall es will, wurde diese Entdeckung in Japan gemacht, dem Land, in dem diese Sinnesqualität allgegenwärtig ist, von der Misosuppe bis zum Seetang.
Auch unsere Freundschaft zu umami verdanken wir der Evolution. Diese Geschmacksrichtung gibt uns nämlich einen Hinweis auf Proteine und lockt uns mithin zur nahrhaften Mahlzeit, was schon mit der Muttermilch beginnt. Unsere alten Kumpel, die Früchte, haben sich auch das zunutze gemacht, um noch mehr feinschmeckende Tiere anzulocken. Unmengen an Glutamat haben Tomaten, Pampelmusen und unzählige weitere Früchte in sich angereichert und schenken uns damit umamireichen Genuss.
Aber das Obst muss sich diese beiden Geschmacksrichtungen, süß und umami, auch erst einmal verdienen: Es braucht einen langen Reifungsprozess, damit die Tomate sie herstellen kann. Denn nur was lange währt, wird endlich gut.
Während die Frucht reift, verändert sie auch ihre Farbe, damit man sie besser sehen kann. Wenn sie noch wächst, hüllt sie sich in Grün und versteckt sich im Blattwerk. Aber wenn sie reif ist, beginnt sie zu strahlen und macht uns damit Appetit. Mit ihrem kräftigen Rot spricht sie zu uns, ja verlangt sie förmlich von uns, in sie hineinzubeißen.