Die Venus aus dem Eis - Nicholas J. Conard - E-Book

Die Venus aus dem Eis E-Book

Nicholas J. Conard

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Beschreibung

Archäologische Sensationsfunde auf der Schwäbischen Alb: Wie und warum der Mensch die Kultur erfand

In einer Höhle auf der Schwäbischen Alb wurden 2008 spektakuläre Funde ausgegraben: Rund um Die Venus aus dem Eis und »die älteste Ansammlung figürlicher Kunst auf der Welt« (Nature) bringen uns Entdecker Nicholas J. Conard und Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer das Leben der ersten Menschen nahe. Und das Ganze in einer spannenden Mischung aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und erzählerischer Spekulation. Was Nicholas J. Conard und sein Team bei Grabungen in den Karsthöhlen zwanzig Kilometer westlich von Ulm entdeckten, lässt die Welt den Atem anhalten: Die Venus vom Hohle Fels, 40 000 Jahre alt, ist die älteste bekannte Menschendarstellung überhaupt. Und sie ist nicht die einzige Sensation: Pferde, Mammuts, ein Löwenmensch, eine Flöte aus dem Flügelknochen eines Geiers, die das älteste Musikinstrument der Welt sein könnte, lassen die Fachwelt von einem »künstlerischen Urknall« sprechen. In einer faszinierenden Doku-Fiktion spürt Conard gemeinsam mit Jürgen Wertheimer der großen Frage nach, wie die Kultur des Menschen entstand. Ihr Buch versetzt uns zurück in die Zeit der Jäger und Sammler: Wie wohnten, jagten und überlebten die Frühmenschen? Welche Sprache, Rituale, Kulte hatten sie? Sind sich Homo sapiens und Neandertaler im Donautal begegnet?

Das erste und einzige Buch über die Weltsensation: Die ältesten Funde menschlicher Kunst wurden in Deutschland ausgegraben.

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Inhaltsverzeichnis
Die Venus aus dem Eis - ein archäoliterarischer Versuch
TEIL 1 - Von gefährlichen Begegnungen und einem fragwürdigen Tausch
Verloren
Aurls Irrlauf
Copyright
Die Venus aus dem Eis - ein archäoliterarischer Versuch
Jedes Buch hat seine Geschichte, so auch dieses, das wir einen »archäoliterarischen Versuch« genannt haben. Die Geschichte dieses Buches beginnt am 9. September des Jahres 2008, als das Team um den Archäologen Nicholas Conard in einer Höhle des Achtals, nicht weit von Ulm entfernt, einen erstaunlichen Fund machte: in drei Meter Tiefe, einer Schicht, die auf 40 000 Jahre vor heute datiert wird, stoßen die Archäologen auf einige zunächst unscheinbar wirkende Elfenbeinbruchstücke, die sich nach und nach als Teile einer fast vollständig erhaltenen Frauenfigur herausstellen sollten. Die Sensation ist perfekt, als sich erweist, dass die kleine »Venus vom Hohle Fels«, wie sie bald genannt wird, mehr als 10 000 Jahre älter ist als die gleichfalls weltbekannte »Venus von Willendorf« aus Österreich. Denn jener Fund beweist, dass es nicht übertrieben ist, den »Hohle Fels« im abgelegenen Achtal bei Schelklingen auf der Schwäbischen Alb als einen Ursprungsort menschlicher Kreativität und »kultureller Emergenz« zu sehen: Nicht nur die bis heute älteste bekannte Menschenfigur wurde hier gefunden, sondern auch - in derselben Höhle und nur 70 Zentimeter von der Venus entfernt - die ältesten Musikinstrumente der Welt, und zwar mehrere, zum Teil sehr gut erhaltene Flöten.
Die Story von diesen menschheitsgeschichtlich bedeutsamen Funden geht seitdem als Sensation um die Welt und erregt die Fantasie der Experten ebenso wie die des großen Publikums. Als die Funde in Nature publiziert werden, erhält die Redaktion mehr Reaktionen als je zuvor. Fragen über Fragen stellen sich dem Ausgräber und jedem Interessierten: Was waren das für Menschen in der Urzeit? Wie ähnlich waren sie uns? Wie lebten sie? Entwickelte der Mensch die Kunst tatsächlich auf der Schwäbischen Alb? Warum gerade dort? Wie kam es zu diesem Schub an Kreativität? Wer schnitzte die Venus? Wer die Flöte? Welche Funktion hatte die Kunst? Wie klang ihre Musik?
Doch all diese Fragen gehen ins Leere, denn die Menschen, die zu diesen Dingen gehören, sind verschwunden; umso stärker wurde das Verlangen, von den Hinterlassenschaften auszugehen und die Geschichte zu rekonstruieren, die sich hier abgespielt haben mag.
Der Steinzeitarchäologe aber ist hier befangen. So sehr es ihn reizt, Spekulationen muss er sich versagen. Er ist ein Wissenschaftler, der seine Disziplin als exakte Wissenschaft begreift. Was er nicht wirklich mit den Methoden seines Faches belegen oder mithilfe von naturwissenschaftlichen Untersuchungen beweisen kann - davon muss er schweigen, so sehr es ihn auch drängen mag.
Da kommt es dem Paläolithiker gerade recht, wenn er auf einen berufsmäßigen Interpreten und Fabulierer trifft, auf einen Literaturwissenschaftler, dessen Tagesgeschäft es ist, stumme Dinge zum Sprechen zu bringen und Theorien in Geschichten zu verwandeln, um so einen »Horizont« aufzuspannen, vor dessen Hintergrund die Menschen im Achtal auf der Schwäbischen Alb vor 40 000 Jahren plötzlich lebendig werden.
So erwarten den Leser dieses Versuchs weder Fantasy noch Poesie. Und obgleich es sich um ein Experiment handelt, verfolgen wir auch keine experimental-archäologischen Absichten. Nicht wir verwandeln uns auf Zeit in Eiszeitmenschen und tun so »als ob«. Sondern die Menschen, die damals lebten, nehmen Gestalt an und kommen uns etwas näher. Dabei erhebt unsere Geschichte nicht den Anspruch, eine Wirklichkeit von damals authentisch abzubilden. Nein, die Geschichte liegt nur locker wie ein Tuch über den wenigen Fakten und umspielt sie.
Wir kennen allein die Werkzeuge und die Waffen, die Kunstwerke und den Schmuck aus der Eiszeit und ziehen als Urgeschichtler unsere Schlüsse daraus. Doch über die Menschen, die diese Werkzeuge und Waffen benutzten, die Kunstwerke und den Schmuck herstellten, wissen wir sehr wenig. Wir wissen nichts darüber, was in ihren Köpfen vor sich ging, kennen kein Sterbenswort von den Worten, die diese Menschen vor Zehntausenden von Jahren miteinander wechselten. Alles, was wir von ihnen zu wissen glauben, entspringt letztlich unseren eigenen Gedanken und Gefühlen und ist 40 000 Jahre von dieser uns völlig fremden Wirklichkeit entfernt.
Aus der Unzufriedenheit mit dieser Asymmetrie zwischen Fund und Befund, Artefakt und Existenz erwuchs das Projekt, die Methode der Archäologie und die der Erzählung miteinander in direkte Berührung zu bringen und den Versuch zu starten, Faktenwissen und Erfindungskraft miteinander zu verbinden.
Für den an Fakten orientierten Archäologen bedeutet dies, sich von Spekulationen zumindest anregen zu lassen. Der Erzähler wiederum muss es sich gefallen lassen, seine Erfindungen und Findungen am straffen Zügel der konkret gegebenen Situation zu führen.
Zusammengenommen entsteht aus dieser »interdisziplinären Disziplinierung« im besten Fall mehr als eine bloße Addition: eine solide Spurensuche im Reich der Möglichkeiten, ein kontrolliertes »So könnte es gewesen sein«.
Um das in dieser Form wohl einmalige Projekt starten zu können, haben wir uns einige Spielregeln gegeben, die unbedingt beachtet werden müssen, um Missverständnisse zu vermeiden:
Alles, was definitiv nicht ausgeschlossen werden kann, muss möglich sein.
Es darf nicht verboten sein, die ferne Wirklichkeit mit heutiger Sprache zu benennen.
Es muss verboten sein, die ferne Wirklichkeit mit heutiger Psychologie zu beschreiben.
Wir wollen nicht illustrieren (weder mit Bildern noch mit Wörtern). Die Bilder müssen im Kopf des Lesers entstehen, nicht auf der Netzhaut.
Erzählung ist - auch - Wissenschaft. Wissenschaft ist - auch - Erzählung.
Keine Möglichkeit darf ausgeschlossen werden, weil sie ungewöhnlich ist. Aber jede Möglichkeit, die ausgeschlossen werden kann, muss verworfen werden.
Auf dem relativ schmalen Grat dessen, was übrig bleibt, wenn man diese Spielregeln anwendet, ist vielleicht etwas entstanden, das man als »Wissenschaftsfiktion« bezeichnen könnte. Es kann Sinnzusammenhänge herstellen, die über die Addition von Fakten hinausgehen und aus spekulativen Wahrscheinlichkeiten erlebte Möglichkeiten machen.
So hat sich die Fachwissenschaft lange Zeit um die Frage der Vermischung von Neandertalern und anatomisch modernen Menschen weltanschaulich grundierte Schlachten geliefert, bis die Untersuchungen von Johannes Krause und Svante Pääbo hier Klarheit schafften. Ja, der Neandertaler und der moderne Mensch haben sich genetisch vermischt. Schon bevor im April 2010 aus Leipzig diese Nachricht gekommen ist, war eine solche Vermischung für die Geschichte, die wir erzählen wollten, konstitutiv. Die Fiktion war der Wahrheit schneller nahegekommen als die Wissenschaft. Dieser schöne Zufall zeigt, dass sich Gedankenspiel und Datenbank nicht ausschließen. Und wenn die Paläogenetiker (fürs Erste) andere Erkenntnisse geliefert hätten, hätte dies in unseren Augen unsere Erzählung nicht widerlegt.
Die Hauptleistung des Erzählens liegt in der Fähigkeit, Menschen und ihre Dinge zur Sprache zu bringen. Was hier - naturgemäß - eine Möglichkeit, aber auch ein Problem beinhaltet: 40 000 Jahre entfernt und ohne die Spur auch nur eines Lautes, eines einzigen Wortes im Archiv, gilt es dennoch, den Figuren, die hier auftreten, eine Sprache in den Mund zu legen. Eine notwendig anachronistische Sprache, immerhin jedoch eine Sprache, die es möglich machen soll, die stumme Rede der Dinge zu verstehen, sie zu übersetzen. Jeder aber weiß, dass Übersetzungen immer nur Annäherungen sind: Mit dem Bewusstsein von PC-Nutzern Eiszeitrituale zu ergründen ist an sich ein fragwürdiges - im wahrsten Sinne ein »des Fragens würdiges« Vorhaben. Denn nur so können wir erkennen, ob und welche Spuren und Brücken es zwischen uns und ihnen gibt.
Ein Gedankenexperiment, das es auch erlaubt, sich die Frage nach dem Wesen«kultureller Entwicklung«, nach der Bedeutung von »Kunst« neu zu stellen. Dabei wird »Entwicklung« weder als linearer noch als bewusster, gar zielgerichteter Prozess begriffen, sondern als ein Vorgang, bei dem Zufall, Konfrontation mit dem Unbekannten, Reaktion und Mischung die entscheidenden Ingredienzien und Triebfedern sind. »Biokulturelle Evolution« wird als Verlauf begriffen, der nicht das »Recht des Stärkeren« dokumentiert, sondern ein komplexes, stetiges Sich-Neukonditionieren als Schlüsselerlebnis in den Mittelpunkt setzt. Mit anderen Worten, wir zeigen Menschen, die sich permanent neu erfinden müssen, um zu überleben. In diesem und nur in diesem Sinn handelt es sich in der Tat um ein survival of the fittest - was durchaus auch einen Triumph der Schwäche meinen kann.
Denn bei all dem, was wir unter Fortschritt verstehen, geht es letztlich nicht um bessere Waffen oder schärfere Klingen, sondern um die Köpfe und Hände, die damit umgehen. Materielle Kultur ist ohne ihre Benutzer wertlos. Ohne materielle Kultur aber lassen sich umgekehrt auch die spannendsten Ideen nicht umsetzen.
Im Verlauf unserer Geschichte werden wir zu Zeugen geglückter Momente, in denen beide Ebenen einander begegnen, zur Sache und zur Sprache kommen. Es sind Augenblicke, in denen Menschen auf Umweltfaktoren wie plötzliche Klimaveränderungen oder unerwartete Situationen wie etwa die Begegnung mit bis dahin unbekannten Menschengruppen reagieren und dabei Eigenschaften und Fähigkeiten an sich entdecken, von denen sie bis dahin nichts wussten. Zum Beispiel die Fähigkeit, Zufälle als Zusammenhänge zu begreifen, mit Sprache nicht nur einzelne Dinge zu benennen, sondern auch allgemeine Vorstellungen zu umreißen, Konzepte von Raum und Zeit abstrakt auszudrücken und vieles mehr.
Wir alle wissen, dass solche Entwicklungsschübe nicht immer linear erfolgen und nicht immer auf der Grundlage planvollen Handelns oder gar eines Heilsplans. Doch die Fähigkeit des Menschen, insbesondere in Krisen und Umbruchszeiten schnell zu reagieren und den Überlebensspielraum kreativ zu nutzen, könnte das hervorbringen, was wir im Nachhinein »Kunst« und »Kultur« nennen: Gott und die Welt - beides auch Erfindungen des Menschen. Wie diese Geschichte selbst, die so stattgefunden haben könnte, doch vielleicht niemals so stattgefunden hat. Authentisch hingegen sind die Schauplätze, die alle in der Region der Alb zu finden sind, bis hin zur »Versickerung« der Donau und der »Warmen Quelle« bei Algershofen.
Alles, was wir tun können, ist, uns auf der Grundlage von Funden und Indizien, die einen mehr oder weniger zufälligen Ausschnitt der damaligen Welt repräsentieren, eine mögliche Wirklichkeit auszudenken.
Wer will, kann sich nun in die Erzählung stürzen und sich in eine mögliche Eiszeitwirklichkeit versetzen. Er mag dabei das Angebot der kurzen Artikel mit dem wissenschaftlichen Fachwissen, von dem wir ausgehen und das wir in die Erzählung eingestreut haben, unmittelbar an Ort und Stelle zur Kenntnis nehmen oder eben bei Bedarf nachlesen.
Nicholas Conard und Jürgen Wertheimer,
Tübingen im Sommer 2010
Bild 1
Die Steinzeit auf einen Blick
TEIL 1
Von gefährlichen Begegnungen und einem fragwürdigen Tausch
Verloren
Als sie zu ihnen gekommen war, war sie am Ende gewesen. Ein Fundstück, im Schneesturm verloren. Wölfe waren in der Dämmerung aufgetaucht mit gelb leuchtenden Augen. Khar hatte sich von ihrer Gruppe losgerissen. Hatte sich weggeduckt. Hatte das Gesicht in den Boden gepresst. Bis zum Hals hatte sie ihr Herz pochen gehört, als die Tiere immer näher gekommen waren. Die Krallen der Wolfspfoten schurrten ganz nahe an Khars Kopf vorbei. Atemstöße fauchten durch die Luft. Der scharfe Geruch der Tiere. Dann wurden die Geräusche wieder leiser. Alles war still. Erst wagte sie nicht, sich zu bewegen. Dann konnte sie es nicht mehr. Ihr Körper hatte sich in Eis verwandelt. Das Blut in ihr war gestockt. Sie war totes Holz. Wie lange sie so lag, wusste sie nicht. Plötzlich das Rütteln. Man drehte sie auf den Rücken. Grimmige Augenpaare starrten sie an. Zum ersten Mal bellten diese harten Laute auf sie ein. Wörter aus lauter harten Brocken, zurechtgeschnitten und ausgespuckt. Die Leute ihres Stammes klangen anders. Rund waren ihre Wörter, Kiesel aus dem Fluss. Sie kamen aus dem Schlund, tief aus dem Schlund. Ganz offenbar sprachen diese Wesen über sie. Mit beweglichen, hechelnden Lippen und gierigen Mäulern. Was sie mit ihr machen sollten? Ihr vereistes Herz pochte. Ihren Kopf zog sie aus Angst so weit zwischen die Schultern, bis er im Bauch war. Die Füße hatte ihr kalter Körper längst eingezogen. Vielleicht könnten Kinder von ihr nützlich sein? Aber mager, wie sie war? Taugte als Köder, vielleicht? Als Vorrat?
Sie hatte die Augen geschlossen. Wartete. Nichts. Hörte nichts mehr. Roch sie nicht mehr. Öffnete die Augen. War allein.
Später waren sie wiedergekommen. Zwei Frauen. Sie packten sie mit festen Griffen in ein Fell und schleiften ihre Beute hinter sich her zu den anderen. Wieder schwollen die Stimmen an. Besonders die einer Frau. Ihre harten, kehligen Wortstöße ließen die Stimmen der anderen allmählich versickern. Murmelnd gaben sie nach. Wieder wurde sie übers Eis geschleift. Wie lange? Sie wusste es nicht. Sie hörte nur das Keuchen derer, die sie zogen. Einmal wurde der Fellsack, in dem sie steckte, aufgerissen. Stechende Augen musterten sie von weit oben. Sie lebte. Also ging es weiter, über Eisklumpen und Geröll, eine Anhöhe hinauf. Sie konnte das Feuer riechen. In der Höhle wurde sie ausgepackt. Taute langsam auf. Das Blut begann prickelnd wieder zu fließen. Um sie her im Halbdunkel viele Augenpaare, die sie nicht unfreundlich, eher unschlüssig musterten. Keiner schien zu wissen, wie es jetzt, da sie hier war, mit ihr weitergehen sollte. Die Frauen sahen, dass sie schwach war. Die Männer, dass sie jung war. Ballast oder Beute? Fleisch oder Knochen? Was tun? Wieder bellten die Stimmen, flogen hin und her, verknäulten sich ineinander. Sie wusste nicht, was das bedeuten sollte, ob es etwas bedeutete.
Dort, wo sie herkam, wurde nicht so viel geredet. Sie hatten nicht dauernd Wörter ausgespuckt. Das hier war ganz anders. Sie konnte es nicht greifen. Diese Leute gingen mit den Wörtern anders um, und am Ende wurde immer aus vielen Stimmen eine Stimme.
So war das bei ihnen nie gewesen, wenn sie ihre Wörter herausließen und sich anknurrten und angurrten. Es gab starke und schwache Wörter, und manchmal torkelten sie wild durcheinander. Ihre Wörter waren wie ein Vogelschwarm, der erschreckt aufflog und sich wieder niederließ. Bei diesen hier zogen die Wörter wie Wildgänse in einer keilförmigen Linie. Ihre Wörter zerstoben. Diese griffen an. Ihre Wörter rochen nach Erde und fühlten sich an wie Steine. Diese waren scharfe Klingen und rochen wie beißender Rauch.
Seither waren viele Tage vergangen. Khar führte schon viele dieser neuen Wörter im Mund. Aber sie blieben Fremdkörper, die ihr fast die Zunge zerbrachen. Und doch hatte sie die Zungenbrecher gierig in sich hineingewürgt, kaum dass sie das erste Mal damit in Berührung gekommen war. Damals im Eis, als sie von ihren Leuten im Schneesturm wegen ein paar Wölfen im Stich gelassen worden war. Bis dahin hatte sie immer gewusst, zu wem sie gehörte. Dieses Gefühl war zerbrochen. Von den Eigenen preisgegeben und von Fremden aufgelesen. Von den Fremden, denen sie immer aus dem Weg gegangen waren. Die sie umgangen und gemieden hatten. Für die sie keinen Namen hatten. Weil sie dachten, wer keinen Namen hat, hat keine Macht.
Wenn Khar in die hochmütigen und forschenden Gesichter ihrer Retter blickte, wurde ihr klar, weshalb sie noch immer am Leben war. Warum man sie schonte. Sie hatte keinen Ausdruck dafür, aber sie wusste, um was es ging. Nicht um sie. Es ging denen darum zu erfahren, wie sich ihre Leute verhalten würden. Sie wollten alles wissen, das stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Selbst wenn sie mit halb geschlossenen Augenlidern ums Feuer kauerten, beiläufig in der Glut herumstocherten und auf die Schatten an der Wand starrten. Sie lagen auf der Lauer und warteten darauf, loszuschlagen. Nicht mal als ihr eine der Frauen einen kleinen Lederbecher mit heißem Wasser gab, wechselte sie einen Blick mit Khar. Ihr Versuch, der Frau zu danken, die nur wenig älter als sie zu sein schien, ging ins Leere. Blicklos schob sie ihr ein Stück gebratenes Fett zu, warm noch, das Khar gierig verschlang.
Aurls Irrlauf
Ein drückendes Schweigen lastete auf der kleinen Gruppe von Männern und Frauen, die einander gegenüber hockten. Ein Docht blakte in der Schale einer Höhlennische. Die Flamme warf einen matten Schein auf die halb verschatteten Gesichter. Es musste eine Entscheidung fallen. Dafür gab es Regeln. Wer die Verlorene im Stich gelassen hatte, musste handeln.
Jemanden zu verlieren war das Übelste. Ein böses Gefühl grub sich in die Brust. Die Köpfe waren taub. Ab und zu hob einer die Augen. Aber er fand keinen, der seinen Blick erwidert hätte. Sie saßen stumm aneinandergedrückt. Sie wussten, dass sie handeln mussten. Sie wussten nicht, wie.
Die Versuche, Khar wiederzufinden, hatten zu nichts geführt. Als sie die Schleifspuren entdeckt hatten und ihnen nachgegangen waren, ahnten sie, was geschehen war. Das Schlimmste war eingetreten. Jemanden zu verlieren war ein Unglück. Es schwächte die Sippe. Eine Frau zu verlieren, war ein noch größeres Unglück. Man büßte nicht nur sie ein, sondern auch ihre Kinder. Wenn man eine Frau verlor und andere sie bekamen, war das beschämend und musste wiedergutgemacht werden.
Endlich stieß Aurl einen knurrenden Laut aus und senkte das Kinn. Er war geflüchtet. Der Leitwolf hatte ihn mit gekräuseltem Nasenrücken und entblößtem Gebiss angebleckt. Es gab keine Entschuldigung. Er war nicht unbewaffnet gewesen. Er hatte Angst um sein Leben gehabt. Man läuft nicht weg. Das hatte Aurl gewusst, als seine Beine mit ihm weggelaufen waren. Er hatte Khar sich selbst überlassen. Vor ein paar Wölfen, den Speer in der Hand, wegzulaufen, das war jämmerlich. Er stand auf und verzog sich nach hinten. Für ihn war hier jetzt kein Platz mehr. Die anderen schauten nicht auf. Er war allein.
Wie konnte man so etwas ungeschehen machen? Was konnte er anbieten? Felle. Feuerstein. Das hatten die Namenlosen im Überfluss. Die Namenlosen hatten immer alles gehabt, seit sie hier eingedrungen waren. Immer mehr als sie selbst.
Die Flamme zuckte schwach. Einer zog den Docht höher. Niemand gab einen Ton von sich.
Am nächsten Tag brach Aurl auf. Man ließ ihn gehen. Streifte ihn mit einem kurzen Blick. Einer der Männer gab ihm im Vorbeigehen einen Stoß. Dann war er draußen. Der eisige Wind nahm ihm fast den Atem. Der Mond stand als scharf geschnittene Scheibe am frühen Morgenhimmel. An Tagen wie diesem verließ man die Höhle nicht. Es war so kalt, dass auch die Tiere sich aneinanderdrückten. An den Boden oder zwischen Schneewächten geduckt, versuchten sie nur zu überleben.
Die Neandertaler undHomo sapiens
Die beherrschende Menschenform der mittleren Altsteinzeit (300 000 bis 40 000 Jahre vor heute) ist in Europa der Neandertaler, der sich im westlichen Eurasien aus dem Homo heidelbergensis entwickelt hat.
Die Neandertaler mussten sich auf wechselnde Klimabedingungen zwischen mediterranen Warm- oder subarktischen Kaltphasen einstellen und auf Umweltveränderungen reagieren. Sie lernten als erste Menschenart auch während der Kaltzeiten dauerhaft in Europa zu überleben und waren in ihren Lebensräumen mobil. Ihre aktive Lebensweise brachte starke körperliche Belastungen mit sich, die sie durch ihren robusten Körperbau ausgleichen konnten. In Freilandstationen, Höhlen und unter Felsschutzdächern finden sich Lagerplätze, Jagd- und Schlachtplätze. Schlagplätze für Steine (z. B. Feuerstein) lassen sich bei Rohmaterialvorkommen identifizieren. Mit der effektiven Levalloistechnik stellten die Neandertaler standardisierte Abschlagformen her, die zu verschiedenen Geräten wie Spitzen, Schaber, Messer etc. weiterverarbeitet werden konnten. Ästhetisches Empfinden spiegelt sich unter anderem in der Verwendung von roten und schwarzen Farbpigmenten im Zusammenhang mit Bestattungen wider, außerdem lassen älteste Grabfunde Frühformen einer Totenfürsorge erkennen.
Während sich in Europa der Neandertaler entwickelte, entstanden in Afrika aus dem Homo erectus vor etwa 200 000 bis 150 000 Jahren die ersten anatomisch modernen Menschen. Schließlich wanderte diese neue Menschenart vor etwa 40 000 Jahren nach Europa ein.
Die ältesten Funde des modernen Homo sapiens sind die etwa 200 000 Jahre alten Fossilreste aus Omo Kibish sowie die etwa 160 000 Jahre alten Fossilreste aus Herto (beide in Äthiopien). Wie zuvor der Homo erectus breitete sich der anatomisch mo-derne Mensch vor etwa 100 000 Jahren von Afrika über den Nahen Osten in die ganze Welt aus und erreichte vor rund 40 000 Jahren erstmals Europa. Mit Erscheinen des Homo sapiens sapiens, also dem heutigen Menschen, in Europa begann eine neue Epoche mit einschneidenden soziokulturellen Veränderungen.
Bild 2
Schädel eines Neandertalers aus Shanidar (Irak, etwa 60 000 Jahre alt) im Vergleich mit einem Schädel eines anatomisch modernen Menschen aus Pr̆edmosti (Tschechien, etwa 24 000 Jahre alt)
Bild 3
Die Pfeile zeigen die Wanderbewegungen des modernen Menschen um 40 000 Jahre vor heute. Er wanderte aus Afrika über den Vorderen Orient, das Donautal nach Norden und Westen und entlang der Mittelmeerküste nach Europa ein und siedelte in Gesamteuropa. Die Haupteinwanderungsroute lief wahrscheinlich entlang der Donau. Er verbreitete sich von Südwest-Deutschland in die übrigen Teile Mittel- und Westeuropas. Der in der Erzählung in den Raum gestellte Weg über das Rhonetal nach Norden ist ebenfalls plausibel.
In Europa finden sich alle Hinweise auf jene kulturelle Modernität, die sich unter anderem in einer künstlerischen Auseinandersetzung der Menschen mit ihrer Umwelt äußert, welche uns von allen anderen Arten unterscheidet.
Die Neandertaler haben, morphologisch gesehen, andere Schädel als der moderne Mensch. Ihr Hirnschädel war flach und lang gestreckt, das Hirn geringfügig größer, ihre Stirn flach und über den Augen wulstig. Die Wangengrube fehlte und das Kinn war fliehend. Der Körper der Neandertaler war gekennzeichnet durch einen großen Brustkorb, große Gelenkenden an den massiven Langknochen; die Oberschenkelknochen waren gebogener. Im Allgemeinen war der Neandertaler kleiner und gedrungener und hatte einen robusteren Knochenbau als der anatomisch moderne Mensch.
Es ist sicher, dass Neandertaler und moderner Mensch einander gelegentlich begegnet sind. Erst jüngst konnte durch paläogenetische Untersuchungen nachgewiesen werden, dass die beiden Menschenformen sich vermischt haben, dass der Genpool des Homo sapiens wenige Prozente des Erbgutes des Neandertalers beinhaltet. Neandertaler und moderner Mensch hatten also miteinander Sex und gemeinsame Nachkommen.
Der Neandertaler zog sich nach und nach in südeuropäische Refugien zurück. Wir können heute davon ausgehen, dass der moderne Mensch den Neandertaler um etwa 30 000 Jahre vor heute vollständig ersetzt hat.
Auf der Schwäbischen Alb sind zahlreiche Fundplätze von Neandertalern bekannt wie die an Vogelherd, Bockstein und Hohlenstein im Lonetal, wo ein isolierter Oberschenkelkochen eines Neandertalers gefunden worden ist.
Aurl hatte keine Wahl. Wusste, dass er es jetzt tun musste. Schon der Weg hinunter zum Fluss war eine Qual. Die Eisschollen hatten sich mehr als mannshoch aufeinandergeschoben. Aurl fand auf dem stumpfen Eis keinen Halt. Seine Hände steckten in starren Bärenfellfäustlingen. Mit einem Steinbrocken musste er sich Tritte ins Eis schlagen. Nur so konnte er die Barrieren übersteigen. Immer wieder abrutschend und nachfassend, kämpfte er sich langsam nach unten, stand endlich mit brennenden Lungen auf dem eisgepanzerten Fluss. Die Oberfläche war nicht glatt, sondern mit Tausenden von buckeligen Eisblumen geriffelt, die jeden Schritt zur Qual werden ließen. Selbst die dicken Sohlen der Fellschuhe, die er sich doppelt um die Füße gebunden hatte, waren in Gefahr, von den scharfen Kanten des Eises zerschnitten zu werden. Zerstörte Füße wären das Ende. Jeder wusste das. Alles konnte man sich brechen, alle Glieder quetschen. Wer nicht mehr gehen konnte, war verloren.
Dieses Flussbett war eine Falle, und er war allein. Er konnte nicht zurück. Die Eisblumen bildeten Muster, mäandernde Rillen, an denen entlang er sich langsam vorarbeiten konnte. Hunger hatte er nicht. Aber die flach stehende Sonne, die den Zenit des kurzen Tages längst überschritten hatte, ließ ihn spüren, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Die schräg einfallenden Strahlen brachen sich an den Kanten der Eiskristalle und warfen funkelnde Blitze, die ihn blendeten. Er kniff die Augen zusammen. Wenig später stand die Sonne über einer steilen Hügelkuppe. Die für kurze Zeit fast vergessene Kälte fuhr ihm unter die Haut und kroch ihm in die Knochen. Er war nicht schwächlich, hatte im Sommer und Herbst wie üblich Fett angesetzt. Aber die Kraft war jetzt wie weggeschmolzen. Sein Körper fühlte sich taub an. Er musste die Nacht irgendwie überstehen.
Aurl spürte, dass er noch nicht am Ende war. Winternächte, allein, draußen, hatten für ihn nichts Erschreckendes. Jetzt, im Dämmerlicht, fand er leicht eine Stelle, an der das Eis blaugrün verschattet überhing, eine Nische, in der er sich verkriechen konnte. Mit wuchtigen Schlägen hackte er sich Eisbrocken zurecht und mauerte sich von innen Stück für Stück selbst in eine Zelle aus Eis ein. Mit der Zeit würde der Atem die Luft etwas erwärmen. Er würde nicht erfrieren. Das hatten sie von den Bären gelernt. Den Atem fast stocken lassen, das Herz verlangsamen, alle Bewegung anhalten, zu Stein werden. Das war kein Schlaf. Das war Tod auf Zeit. In diesem Zustand dämmerte er bewusstlos, trieb zwischen Tod und Leben, nicht einmal Träume zogen durch das stillgelegte Gehirn.
Als wieder Tageslicht durch die Haut seiner Zelle aus Eis sickerte, begann sich die Starre seines Körpers unendlich langsam zu lösen. Aurl erwachte aus seinem Todesschlaf. Er schob im Mund kleine Eisbrocken hin und her, um den brennenden Durst zu löschen, der ihn mehr als der Hunger quälte.
Ein scharfer Schlag mit dem Faustkeil, und der Deckel der Eiszelle zersplitterte. Vor ihm lag das bläulich schimmernde Nichts. In ihm das Verlangen zu tun, was zu tun war.
Sein Körper war in den steifen Hüllen seiner Kleidung gefangen. Im Verlauf der Nacht waren die Felle an seinem Körper zu einem Panzer gefroren, ein Panzer, den er jetzt Glied für Glied zum Platzen brachte. Es war wärmer geworden. Ein dichtes Gewölk schob sich vor die aufgehende Sonne.
1. Auflage
© 2010 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Gesetzt aus der Sabon von Uhl + Massopust, Aalen
eISBN 978-3-641-04513-5
www.knaus-verlag.de
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