Die verborgene Bibliothek - Alberto Manguel - E-Book

Die verborgene Bibliothek E-Book

Alberto Manguel

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Beschreibung

Alberto Manguel, der vielleicht größte Leser unserer Zeit, erzählt in zehn unterhaltsamen und ebenso gelehrten Abschweifungen von der wunderbaren Komplizenschaft zwischen Leser und Buch und von seinen ganz persönlichen Leseeindrücken. Ein Leben lang waren ihm seine Bücher Inspiration und Freunde. Jetzt ist er ohne sie, denn seine Bibliothek schlummert verpackt in Umzugskartons. Im Geiste stöbert er nun durch die Seiten der Weltliteratur und durch die Bibliotheken seines Lebens - die Stadtbüchereien seiner Kindheit, später seine eigenen Bibliotheken in Paris, London, Mailand, in der schwülen Hitze von Tahiti. Alberto Manguel war der Vorleser des erblindenden Dichters Jorge Luis Borges und ist seit 2016 als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek in Buenos Aires sein Nachfolger. Mit seiner »Geschichte des Lesens« begeisterte Manguel Millionen Leser auf der ganzen Welt. Mit Walter Benjamins berühmter Rede »Ich packe meine Bibliothek aus« im Anhang als weiteres Lesevergnügen.

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Seitenzahl: 186

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Alberto Manguel

Die verborgene Bibliothek

Eine Elegie und zehn Abschweifungen

Aus dem Englischen von Achim Stanislawski

FISCHER E-Books

Mit einer Rede von Walter Benjamin

Inhalt

WidmungMottoMeine letzte Bibliothek befand [...]Erste AbschweifungÖffentliche Bibliotheken, mit virtuellen [...]Zweite AbschweifungAls ich am ersten [...]Dritte AbschweifungIch hätte aus meinen [...]Vierte AbschweifungAn dem Tag, an [...]Fünfte Abschweifung»Sammeln: Kontrolle behalten über [...]Sechste AbschweifungDieses Gefühl, in dem [...]Siebte AbschweifungIch erlernte die schwierige [...]Achte AbschweifungAls ich anfing, dieses [...]Neunte AbschweifungDie argentinische Nationalbibliothek, die [...]Zehnte AbschweifungIch bin der Überzeugung, [...]Ich packe meine Bibliothek ausDank

Für Craig

Wäre auch Einer in den Himmel gestiegen und betrachtete die Einrichtung des Weltalls und die Schönheit der Gestirne; so würde die Bewunderung dieser Dinge doch reizlos für ihn sein, die hingegen ihm höchst erfreulich gewesen wäre, wenn er nur irgend eine Seele gehabt hätte, der er seine Beobachtungen hätte mittheilen können.

 

Cicero, Von der Freundschaft

Meine letzte Bibliothek befand sich in Frankreich, in einem alten steinernen Pfarrhaus im Süden des Loiretals, in einem kleinen Dörfchen mit weniger als zehn Häusern. Mein Partner und ich wählten diesen Ort, weil direkt neben dem Haus eine uralte, teilweise abgetragene Scheune stand, groß genug, um meine Bibliothek zu beherbergen, welche zu dieser Zeit auf etwa 35000 Bücher angewachsen war. Ich dachte, sobald die Bücher ihren Platz gefunden hätten, würde ich auch den meinen finden. Doch es sollte anders kommen.

Als ich zum ersten Mal das zweiflügelige schwere Eichentor aufschob, das hinaus in den Garten führte, wusste ich: In diesem Haus will ich leben. Der von einem steinernen Torbogen gefasste Blick fiel von hier auf zwei uralte Japanische Schnurbäume, die ihren Schatten auf eine blühende Wiese warfen, deren sattes Grün sich bis zu einer in einiger Entfernung noch erkennbaren Mauer erstreckte. Man erzählte uns, während der Bauernkriege seien Korridore unter der Erde gegraben worden, die vom Haupthaus zu einem entlegenen, nunmehr langsam in sich zusammensackenden Wehrturm führten. Mein Partner verbrachte Jahre damit, den Garten wieder instand zu setzen. Er pflanzte Rosenbüsche, legte einen kleinen Gemüsegarten an und kümmerte sich um die sträflich vernachlässigten Bäume, deren hohle Stämme die vormaligen Besitzer mit Abfällen vollgestopft hatten und deren Kronen stark ausgedünnt waren. Wenn wir durch den Garten gingen, sprachen wir darüber, dass wir uns als seine Hüter und nicht als Besitzer sahen, denn der Ort (wie wohl jeder Garten) war erfüllt von einem eigenen Geist, den die Alten das Numinose nannten. Plinius erklärt, das Gefühl des Numinosen, das uns zuweilen in einem Garten überfällt, komme daher, dass in früheren Zeiten die Bäume Tempel der Götter waren – und die Götter haben das nicht vergessen. In der hintersten Ecke des Gartens standen zwischen den Überresten eines aufgegebenen Friedhofs aus dem neunten Jahrhundert einige Obstbäume, auch hier hätten sich die antiken Götter wohl heimisch gefühlt.

Der von einer Mauer umfasste Garten war ein außergewöhnlich ruhiger Ort. Jeden Morgen gegen sechs Uhr ging ich noch schlaftrunken runter in die mit dunklem Holz vertäfelte Küche, machte mir eine Tasse Tee, setzte mich hinaus auf die kleine Steinbank, unsere Hündin an meiner Seite, und sah dabei zu, wie das Sonnenlicht langsam die Mauer hinaufkletterte. Dann nahm ich sie mit in meinen Turm, der an die Scheune angrenzte, und las. Nur das Singen der Vögel (und im Sommer das Summen der Bienen) durchbrach die Stille. Abends kreisten winzige Fledermäuse über uns, und wenn es völlig dunkel geworden war, verließen die Eulen ihr Nest im nahegelegenen Kirchturm (wir kamen nie dahinter, warum sie es gerade im Glockenstuhl gebaut hatten) und stürzten sich in die Nacht, um ihr Abendessen zu fangen. Es war ein Pärchen Schleiereulen. In Neujahrsnächten jedoch glitt eine riesige weiße Eule, ganz wie der Engel, der in Dantes Beschreibung das Schiff der Seelen an die Küste des Purgatoriumsberges geleitet, lautlos durch die Finsternis.

Die alte Scheune, deren Steine noch das Siegel des Maurers trugen, der sie im 14. Jahrhundert erbaut hatte, beherbergte meine Bücher fünfzehn Jahre lang. Unter diesem von verwitterten Balken getragenen Dach versammelte ich die Überlebenden aus den vielen vorangegangenen Bibliotheken, die ich seit meiner Kindheit zusammengetragen hatte. Ein professioneller Sammler hätte wohl nur eine Handvoll dieser Bücher für wertvoll befunden: Eine Bibel mit herrlichen Illuminationen, angefertigt im 13. Jahrhundert in einem deutschen Skriptorium (ein Geschenk des Romanciers Yehuda Elberg), ein Handbuch der Inquisition aus dem 16. Jahrhundert, ein paar illustrierte Bücher von zeitgenössischen Künstlern, dazu eine Menge Sonderdrucke und signierte Ausgaben. Aber mir fehlte (und fehlt bis heute) das Geld und das Expertenwissen, um ein echter professioneller Sammler zu werden. In meiner Bibliothek saßen Frischlinge aus der Penguin-Taschenbuchreihe einträchtig neben würdevollen, in Leder gebundenen Patriarchen. Die in meinen Augen wertvollsten Bücher waren diejenigen, mit denen ich eine private Erinnerung verband, wie meine Ausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm aus den 1930er Jahren, gedruckt in düsteren gotischen Lettern – eines der ersten Bücher, das ich gelesen habe. Auch viele Jahrzehnte später treiben Erinnerungsfetzen aus meiner Kindheit an mir vorbei, wann immer ich die vergilbten Seiten dieses Buches aufschlage.

Ich ordnete meine Bibliothek ganz nach meinen Bedürfnissen und Vorlieben. Anders als eine öffentliche Bibliothek musste sich meine keiner festen Klassifikation unterwerfen, die auch Außenstehende begreifen würden. Eine sehr eigene Logik bestimmte ihre Geographie. Die Sprachen, in denen die Bücher im Original geschrieben worden waren, gewährten eine grobe Unterteilung. Alle auf Spanisch, Französisch, Englisch oder Arabisch geschriebenen Bücher (Letzteres eine Sprache, die ich weder sprechen noch lesen kann) fanden sich auf dem gleichen Regalbrett wieder. Ein paar Themenbereiche – Geschichte des Buches allgemein, die Faustlegende, Literatur und Philosophie der Renaissance, Gay Studies und mittelalterliche Bestiarien – hatten ihre eigenen Sektionen. Bestimmte Autoren und Genres waren gegenüber anderen privilegiert: Ich besaß Tausende Detektivromane, aber nur sehr wenige Geschichten über Spione, mehr Platon als Aristoteles, die gesammelten Werke von Zola, kaum ein Buch von Maupassant, den ganzen John Hawkes, die komplette Cynthia Ozick, aber nur sehr wenige Bücher von der Bestsellerliste der New York Times. Ich hatte auch ganze Regale voll schlechter Bücher, die ich aufbewahrte für den Fall, dass ich einmal ein Beispiel für ein wirklich schlechtes Buch bräuchte. In seinem Vetter Pons bietet Balzac eine Erklärung für dieses obsessive Verhalten an: »Eine Obsession«, schreibt er, »ist ein Vergnügen, das den Status einer fixen Idee erlangt hat.«

Ich wusste, dass wir nur die Hüter des Hauses und Gartens waren. Die Bücher jedoch gehörten zu mir, sie waren ein Teil von mir. Im Englischen gibt es das geflügelte Wort von einem gewissen Typ Mensch, der einem anderen nur ungern sein Ohr oder die Hand leiht: Ich hingegen verleihe ungern Bücher. Wenn ich will, dass ein Freund ein bestimmtes Buch liest, dann kaufe ich es lieber und schenke es ihm. Ich bin davon überzeugt, dass das Verleihen von Büchern einer Anstiftung zum Diebstahl gleichkommt. In der Leihbibliothek einer meiner Schulen prangte ein eigenartig strenger und gleichzeitig freigiebiger Hinweis: »DIESE BÜCHER GEHÖREN NICHT DIR: SIE GEHÖREN ALLEN.« In meiner Bibliothek wäre so ein Schild undenkbar gewesen. Meine Bibliothek war ein zutiefst privater Raum, ein Abbild meiner selbst, das mich umschloss.

Als Kind wuchs ich in Israel auf, mein Vater vertrat dort als Botschafter sein Heimatland Argentinien. Mein Kindermädchen ging oft mit mir zum Spielen in einen Park, der in Teilen einem gut gepflegten Garten glich, sich aber irgendwann in sandige Dünen verlor. Riesige Schildkröten krochen dort umher und zogen ihre fein gemusterten Spuren in den Sand. Einmal stieß ich auf eine Schildkröte, deren Panzer zur Hälfte abgerissen worden war. Sie starrte mich mit ihren uralten Augen an, während sie sich über die Dünen in Richtung der fernen See schleppte, beraubt um einen wesentlichen Teil ihrer selbst, der sie beschützt und definiert hatte.

Ich glaube, dass meine Bibliothek am besten erklären kann, wer ich bin oder einmal war. Sie ist mein veränderliches Selbst, das sich über die Jahre kontinuierlich gewandelt hat. Und trotzdem ist meine Beziehung zu Bibliotheken schon immer zwiespältig gewesen. Ich liebe die Bibliothek als Ort. Ich liebe die öffentlichen Gebäude, die wie das Emblem jener Werte wirken, die eine Gesellschaft sich selbst gesetzt hat, eindrucksvoll oder bescheiden, einschüchternd oder einladend. Ich liebe die endlosen Reihen der Buchrücken, mit ihren bei englischen und italienischen Büchern vertikal von oben nach unten laufenden Titeln, die jedoch (aus einem mir immer noch schleierhaften Grund) bei deutschen und spanischen Büchern von unten nach oben laufen. Ich liebe die gedämpften Geräusche, die gedankenschwere Stille, das schummrige Licht der Leselampen (besonders jener mit grünem Glas ummantelten, klassischen Bibliothekslampen), die von den unzähligen Ellenbogen der Besucher blank polierten Tische, den Geruch nach Staub, Papier und Leder oder bei den neueren Gebäuden den Geruch der Plastiktischplatten und des nach Karamell duftenden Putzmittels. Ich liebe das alles sehende Auge des Informationsschalters und die sibyllinische Beflissenheit der Bibliothekarinnen. Ich liebe die Kataloge, besonders die alten Karteikartenschränke (wo immer sie noch erhalten sind) mit ihrem auf Schreibmaschine getippten oder handschriftlich notierten Angebot. Wenn ich eine Bibliothek betrete, ganz egal welche, fühle ich mich, als wäre ich wie durch einen Zauberspruch, den ich nie ganz verstanden habe, in eine andere Dimension transportiert worden, in der nur noch das Wort existiert. Ich weiß, hier irgendwo auf diesen Regalen ist meine vollständige, meine wahre Geschichte verborgen. Und alles was ich brauche, um sie zu finden, ist genügend Zeit oder etwas Glück. Aber ich finde sie nie. Meine Geschichte entzieht sich mir immer wieder, weil es nie die eine endgültige Geschichte ist.

Zum Teil liegt das daran, dass es mir schwerfällt, in einer geraden Linie zu denken. Ich schweife zu gern ab. Ich schaffe es einfach nicht, ausgehend von ein paar Fakten über ein Netz logisch aufeinander aufbauender Argumente zu einer folgerichtigen Lösung zu kommen. Egal wie stark meine anfängliche Absicht auch ist, immer gehe ich auf irgendeinem Abweg verloren. Ich stoppe auf halber Strecke, um ein Zitat zu bewundern oder einer Anekdote zu lauschen. Ich lasse mich von sachfremden Fragen ablenken und werde von einem sich daran anschließenden Strom neuer Ideen weggetragen. Ich beginne über das eine zu sprechen und komme unmerklich auf etwas ganz Anderes. Zum Beispiel nehme ich mir vor, über das Thema Bibliothek nachzudenken, und sobald ich mir zu diesem Zweck eine wohlgeordnete Bibliothek vorstelle, fördert mein schweifender Verstand weitere, ganz unerwartete und wahllose Bestände zutage. Ich denke »Bibliothek« und im gleichen Moment stürze ich in das Paradox, dass eine Bibliothek jegliches Ordnungssystem durch sich zufällig ergebende Paarungen und spontane Affinitäten auf dem Regal unterlaufen muss, und dass ich es vorziehe, anstatt mich an den alphabetischen, numerischen oder thematischen Pfad zu halten, den eine solche Bibliothek mir zur Orientierung nahelegt, mich von diesen ungeplanten Affinitäten verführen zu lassen, womit mein anfängliches Thema dann nicht mehr nur die Bibliothek ist, sondern sich auf das wunderbare Durcheinander der Welt selbst ausdehnt, welches wiederum die Bibliothek versucht, in irgendeine Form von Ordnung zu bringen. Ariadne verwandelt für Theseus das Labyrinth in einen unfehlbaren, geraden Weg, mein Geist verwandelt den geraden Weg in ein Labyrinth.

In einem frühen Essay bemerkt Borges, eine Übersetzung könne als ein weiterer Entwurf des Originaltextes angesehen werden, denn der einzige Unterschied zwischen einer Übersetzung und der früheren Version eines Textes sei ein chronologischer, kein hierarchischer: »Anzunehmen, daß jede neue Kombination von Elementen dem Original zwangsläufig unterlegen sei«, schreibt Borges, »hieße anzunehmen, daß der Entwurf 9 zwangsläufig dem Entwurf H unterlegen sei – und es kann ja nur vorläufige Entwürfe geben. Der Begriff eines definitiven Texts ist der Religion oder dem Überdruß vorbehalten.« Genau wie der Text nach Borges’ Verständnis keine definite Form hat, habe auch ich keine definitive Biographie. Meine Geschichte ändert sich von Bibliothek zu Bibliothek, oder besser vom Entwurf einer Bibliothek zum nächsten. Keine Bibliothek ist die definitive, keine die letzte.

In einer meiner frühesten Erinnerungen (ich war wohl zwei oder drei Jahre alt) sehe ich ein an der Wand über meinem Bettchen hängendes Regalbrett, welches sich unter den Büchern biegt, aus denen mein Kindermädchen mir allabendlich Gutenachtgeschichten vorlas. Das war meine erste eigene Bibliothek. Als ich mir selbst etwa ein oder zwei Jahre später das Lesen beigebracht hatte, wurden die nun in einer für mich erreichbaren Höhe angebrachten Bücher zu meinem eigenen kleinen Reich. Ich erinnere mich, wie ich die Bücher umsortierte und sie immer wieder nach geheimen Regeln, die ich mir ausgedacht hatte, neu gruppierte: Alle Bücher der Reihe Golden Books mussten beieinander stehen, die dicken Märchensammlungen durften die schmalen Beatrix-Potter-Bändchen nicht berühren, meine Kuscheltiere hatten auf einem anderen Regalbrett Platz zu nehmen. Ich war überzeugt, dass schreckliche Dinge passieren würden, wenn ich diese Regeln nicht beachtete. Aberglaube und Bibliothekarskünste sind eng miteinander verbunden.

Diese meine erste Bibliothek stand in einem Haus in Tel Aviv. Die Nächste wuchs gemeinsam mit mir in Buenos Aires heran. Bevor wir zurück nach Argentinien zogen, hatte mein Vater seine Sekretärin gebeten, genügend Bücher zu kaufen, um die Regale in unserem neuen Haus zu füllen. Pflichtbewusst kaufte sie also ganze Wagenladungen an Büchern bei einem Antiquar in Buenos Aires ein, merkte aber, als sie die Bücher einräumen wollte, dass viele von ihnen nicht ins Regal passten. Doch sie verzagte nicht und ließ einfach die Bücher zurechtschneiden und in dunkelgrünem Leder neu binden, was dem Zimmer in Kombination mit dem dunklen Eichenholz die wohltuende Atmosphäre einer Waldwiese verlieh. Aus dieser Bibliothek stibitzte ich das eine oder andere Buch, um es meiner eigenen hinzuzufügen, die bereits drei Wände meines Zimmers füllte. Beim Lesen dieser beschnittenen Bücher musste man sich die weggefallenen Zeilen hinzudenken, eine Übung, die mich bestens darauf vorbereitete, später die Cut-Up-Bücher von William Burroughs zu lesen.

Danach kam die Bibliothek meiner Jugendjahre, in der fast alle Bücher bereits enthalten waren, die mir auch heute noch am meisten bedeuten. Großzügige Lehrer, leidenschaftliche Buchhändler und Freunde, für die das Verschenken eines Buches der höchste Akt der Intimität und Vertrautheit war, halfen mir, sie aufzubauen. Ihre liebenswerten Geister gehen auch heute zwischen meinen Regalen um, die Bücher, die sie mir vermachten, tragen noch immer ihre Stimmen in sich, so dass ich, wenn ich Tania Blixens Phantastische Erzählungen oder Blas de Oteros frühe Gedichte aufschlage, den Eindruck habe, das Buch nicht selbst zu lesen, sondern es laut vorgelesen zu bekommen. Das ist einer der Gründe, warum ich mich in meiner Bibliothek niemals allein gefühlt habe.

Fast alle Bücher aus dieser Zeit ließ ich zurück, als ich 1969, einige Jahre vor Beginn der Militärdiktatur, Argentinien in Richtung Europa verließ. Ich vermute, wenn ich wie viele meiner Freunde geblieben wäre, hätte auch ich meine Bibliothek aus Angst vor der Polizei vernichten müssen, denn in dieser schrecklichen Zeit konnte man schon der Subversion bezichtigt werden, wenn man mit einem verdächtig wirkenden Buch in der Hand auf der Straße gesehen wurde. (Ein Bekannter wurde tatsächlich als potentieller Kommunist verhaftet, weil er Stendhals Rot und Schwarz bei sich trug.) Damals hatten die argentinischen Klempner alle Hände voll zu tun, weil viele passionierte Leser ihre Bücher in der Toilettenschüssel verbrannten und durch das Feuer das Porzellan zum Springen brachten.

Wo auch immer ich mich niederließ, wuchs wie durch Urzeugung eine Bibliothek um mich herum. In Paris, London und Mailand, in der schwülen Hitze Tahitis, wo ich fünf Jahre lang als Verleger arbeitete (meine Melville-Romane zeigen noch die Spuren polynesischen Schimmels), in Toronto und in Calgary. Ich sammelte Bücher, und wenn es Zeit wurde zu gehen, packte ich sie in Umzugskartons und zwang sie, so geduldig wie möglich in Lagerräumen, die in Wahrheit Gräber waren, auf mich zu warten, in der vagen Hoffnung, eines Tages wieder auferstehen zu können. Jedes Mal fragte ich mich, wie es so weit hatte kommen können: Würde dieser dichte Dschungel aus Papier und Tinte eine weitere Periode des Winterschlafs überstehen, um dann aufs Neue meine Wände wie Efeu zu überwuchern?

Meine Bibliothek, ob sie nun in den Regalen prangt oder in Pappkartons verpackt ist, war niemals ein einheitliches Ding, und ist vielmehr ein Hybride aus unzähligen phantastischen Kreaturen, zusammengesetzt aus den vielen Bibliotheken, die ich während meines ganzen Lebens wieder und wieder aufgebaut und dann verlassen habe. Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht irgendeine Form von Bibliothek besaß. Deshalb sehe ich die Gesamtheit meiner Bibliotheken als eine Art vielschichtige Autobiographie, in der jedes Buch für mich eben jenen Augenblick konserviert, in dem ich es zum ersten Mal in der Hand hielt. Die Kritzeleien am Seitenrand, gelegentlich ein Datum auf dem Vorsatzblatt, ein ausgeblichener Fahrschein, der aus einem mysteriösen Grund eine Seite markiert. Alles Versuche, mich daran zu erinnern, wer ich damals war. Aber meistens bleibt es bei dem Versuch. Denn mein Erinnerungsvermögen hat eigenartigerweise weniger Interesse an mir selbst als an meinen Büchern. Ich finde es einfacher, mich an eine vor langer Zeit einmal gelesene Geschichte zu erinnern als an den jungen Mann, der ich damals war.

Eine Leihbücherei besuchte ich zum ersten Mal während meines Aufenthalts an der Saint Andrew’s Scots School in Buenos Aires, die ich bis zu meinem zwölften Lebensjahr besuchte. Sie wurde 1838 als bilinguale Schule gegründet und war damit die älteste britische Schule in Südamerika. Ihre Bibliothek war, obwohl nicht sehr groß, für mich ein magischer Ort voller Abenteuer. In diesem dunklen Wald aus Regalen, die im Sommer einen schweren erdigen Geruch verströmten und im Winter nach nassem Holz müffelten, fühlte ich mich wie einer der Entdecker aus Rider Haggards Romanen. Ich ging regelmäßig dorthin, um meinen Namen auf die Warteliste für den neuen Titel aus der Hardy-Boys-Serie zu setzen oder eine Sammlung Sherlock-Holmes-Geschichten zu entleihen. Die Schulbibliothek schien, soweit ich das nachvollziehen konnte, keiner durchgängigen Ordnung zu folgen. Neben Büchern über Dinosaurier stand Black Beauty, Kriegsromane standen neben Biographien berühmter englischer Dichter. Dieser unübersichtliche Bücherhaufen, der allem Anschein nach zu keinem anderen Zweck zusammengetragen worden war, als den Schülern eine möglichst große Auswahl zu bieten, entsprach genau meinem Temperament. Ich wollte auf keine geführte Tour geschickt werden, ich wollte das Recht, wie es im Mittelalter üblich war (zumindest hatten wir es in der Schule so gelernt), vom Bürgermeister den Schlüssel zur Stadt überreicht zu bekommen und frei umherzuschweifen.

Ich habe öffentlich zugängliche Bibliotheken immer geliebt, dennoch muss ich etwas gestehen: Ich arbeite nicht gerne dort. Ich bin einfach zu ungeduldig. Ich möchte nicht auf die Bücher warten müssen, die ich lesen will, was aber unumgänglich ist, es sei denn die Bibliothek verfügt über ein offenes Magazin. Außerdem kann ich es nicht leiden, nicht auf die Seitenränder der Bücher schreiben zu dürfen, die ich entliehen habe. Vor allem will ich ein Buch nicht zurückgeben müssen, wenn ich in ihm etwas für mich Überraschendes oder besonders Kostbares gefunden habe. Wie ein gieriger Plünderer will ich, dass die einmal gelesenen Bücher mir gehören sollen.

Vielleicht habe ich deshalb auch Schwierigkeiten mit virtuellen Bibliotheken: Man kann ein Gespenst nicht wirklich besitzen (obwohl das Gespenst von dir Besitz ergreifen kann). Ich brauche die Materialität der Wörter, die stoffliche Präsenz der Bücher, ihre Form, Größe und Textur. Zwar verstehe ich, wie praktisch immaterielle Bücher sein können und wie wichtig sie für das 21. Jahrhundert sind, doch ich selbst kann für sie nur eine platonische Liebe aufbringen. Wahrscheinlich trifft mich deshalb der Verlust der Bücher, die meine Hände so gut gekannt hatten, so besonders schmerzlich. Ich bin wie der ungläubige Thomas. Ich muss berühren, um glauben zu können.

Erste Abschweifung

Alle unsere Plurale sind im Grunde genommen singulär. Was ist es also, das uns aus der Festung unseres Selbst hinaustreibt, um die Gemeinschaft und das Gespräch mit anderen zu suchen, die uns endlos spiegeln in dieser uns allen gemeinsamen, höchst sonderbaren Welt? Der platonische Mythos von der Doppelnatur der ersten menschlichen Wesen, die von den Göttern entzweit wurden, liefert uns eine Erklärung für dieses Bedürfnis: Wir suchen zeitlebens voller Sehnsucht nach unserer anderen Hälfte. Und doch sind all das Händeschütteln und Umarmen, alle akademischen Debatten und Kontaktsportarten nicht genug, um die Individualität, zu der wir verurteilt worden sind, aufzubrechen. Unsere Körper sind wie Burkas, die uns von den anderen Menschen abschirmen. Um uns von unseren Mitmenschen zu isolieren, müssen wir gar nicht wie Symeon Stylites auf eine Säule irgendwo in der Wüste klettern. Wir sind verdammt zu Singularität.

Jede neue Technologie birgt in sich auch die Hoffnung auf Wiedervereinigung. Unsere Vorfahren versammelten sich unter Höhlenmalereien, um in ihren kollektiven Erinnerungen an Mammutjagden zu schwelgen, Lehmtafeln und Papyrusrollen erlaubten es ihnen, mit weit entfernten Freunden und sogar zu den Toten zu sprechen. Johannes Gutenberg brachte uns dann die Illusion, dass wir nicht einzigartig sind und dass jedes Exemplar des Quixote genau wie alle anderen derselben Ausgabe ist (ein Trick, der die meisten Leser nicht überzeugt hat). Versammelt vor dem Fernseher waren wir gemeinsam Zeugen von Neil Armstrongs erstem Schritt auf dem Mond. Doch nicht zufrieden damit, dieser großen ungeheuren Masse passiver Zuschauer anzugehören, erträumten wir uns neue Vorrichtungen, mit denen wir imaginäre Freunde sammeln können, um ihnen unsere intimsten Geheimnisse und privatesten Bilder zu posten. Zu keiner Tages- oder Nachtzeit sind wir noch unerreichbar: Wir halten uns für die anderen verfügbar, ob nun im Schlaf, während des Essens, auf Reisen, auf der Toilette oder während wir uns lieben. Wir haben das alles sehende Auge Gottes neu erfunden. Die stumme Kameradschaft des Mondes, die Vergil einst genoss, ist uns nicht mehr vergönnt. Wir geben uns nicht mehr dem süßen und stillen Rate der Gedanken hin, wie Shakespeare es getan hat. Nur wenn sich zufällig ein alter Freund auf Facebook bei uns meldet, beschwören wir noch einmal die Erinnerung an längst vergangene Dinge herauf. Der Geliebte kann nicht mehr vermisst werden, ein Freund nicht mehr aus den Augen verlorengehen: Mit einem Fingerschnippen können wir sie erreichen, und sie uns. Wir leiden am Gegenteil der Agoraphobie. Wir werden heimgesucht von ständiger Präsenz. Jeder ist immer hier.

Der sehnliche Wunsch, uns mit den Worten und Gesichtern der anderen zu umgeben, durchzieht alle unsere Geschichten. In einer Erzählung des Titus Petronius schlendert Enkolpius durch ein römisches Museum, betrachtet die Bildnisse der Götter in ihren amourösen Verstrickungen und realisiert dadurch, dass er nicht der Erste und Einzige ist, der den Stachel der Liebe spürt. Im alten China des 8. Jahrhunderts beschrieb der Dichter Du Fu einen betagten Gelehrten, der seine Bücher als ein Abbild des vielgestaltigen Universums phantasiert, die ihn wie ein Herbstwind umwehen. Im 10