Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die verborgenen Welten von Iok - Eine epische Reise in die Tiefen einer anderen Welt Auf dem geheimnisvollen Planeten Iok, wo die Zeit in Monden gemessen wird und der Himmel nie ganz hell oder dunkel wird, entscheidet ein uraltes Ritual über das Schicksal junger Seelen: die Tikka. Für Elowen, einen unscheinbaren Jungen aus einer einfachen Versorgerfamilie, sollte es ein Tag wie viele werden - eine Prüfung, ein Schritt ins Erwachsensein. Doch das Orakel verkündet ihm eine Aufgabe, die unmöglich scheint: Er soll einen Ort finden, den noch nie ein Iokaner zuvor betreten hat. Diese scheinbare Demütigung durch den machthungrigen Hohepriester Mikmok katapultiert Elowen in ein Abenteuer, das weit über das hinausgeht, was ein junger Jäger je erwarten würde. Von der verschneiten Eiswüste des dunklen Kontinents Nokkis bis zu den dunklen Tiefen des Ozeans, wo längst vergessene Mächte schlummern, muss Elowen nicht nur gegen Hunger, Kälte und Hoffnungslosigkeit kämpfen - sondern auch gegen die Schatten in sich selbst.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rechtliches
Disclaimer:
Alle aufgeführten Namen, Personen und Begebenheiten sind fiktiv und frei erfunden. Falls sich namentliche oder Übereinstimmungen von beschriebenen Begebenheiten ergeben sollten, so sind diese rein zufällig. Der Autor distanziert sich daher ausdrücklich von allen möglichen Ansprüchen.
Copyright:
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Das Kopieren, Nachdrucken, Vorführen, verteilen in jeglicher Art als Ganzes oder Stücke daraus, ist ohne ausdrückliche Genehmigung des Autors, nicht gestattet und wird rechtlich verfolgt.
Luis Feder © Copyright 2025
Inhalt:
Kapitel:
Gedicht - Erwachen der Seele
Vorwort
Darf ich vorstellen…
01. Vorbereitung zum Fest
02. Vor dem Orakel
03. Unordnung und Hoffnung
04. Die Suche Beginnt
05. Schatten
06. Begleiter
07. Unbehagen
08. Für die Ewigkeit
09. Unterwelten
10. Ich kann euch sehen
11. Rückweg
12. Wer flüstert da
13. Kristallklar
14. Herber Verlust
15. Unter Zeugen
16. Jedem das Seine
17. Epilog
Danksagung
Seit längst vergangenen Tagen,
werden Rituale vollbracht.
Sie stellen die ewigen Fragen
im Schatten der geistigen Macht.
Und geht man dann diesen Schritt,
öffnet die Augen im Dunkeln dem Licht.
Was dort in der Tiefe zu Tage tritt,
entzieht den Worten das Gewicht.
Im Zwielicht beginnt das Verstehen,
wo Stille die Antwort präsentiert.
Man lernt, in sich selbst zu sehen,
was friedlich das Herz inspiriert.
Ein Blick, der nach innen sich neigt,
sieht mehr als das äußere Bild.
Wenn der Geist sich dem Höheren zeigt,
wird die Stille zum leuchtenden Schild.
So kehrt, wer die Seele tief befragt,
verändert zurück aus der düsteren Nacht.
Denn nur wer sich durch das Dunkel gewagt,
hat Flammen des inneren Lichts entfacht.
- Gedicht von Luis Feder -
Iok.
Ja, Iok...
Ein einziger, kurzer Name – und doch trägt er das Gewicht ganzer Zeitalter.
Was sich dort, auf diesem geheimnisvollen Planeten, ereignete, übertraf alles, was der Geist in seinen kühnsten Träumen zu fassen vermag. Es war mehr als nur außergewöhnlich. Es war jenseits des Vorstellbaren, eine Wunde im Gewebe der Wirklichkeit, ein Echo, das bis in die fernsten Winkel des Seins hallt.
Doch bevor wir eintauchen in das, was war, sei eines gesagt: Es hätte überall geschehen können. Denn die Gesetze des Universums sind wie das Schweigen zwischen den Sternen – unsichtbar, doch allgegenwärtig. Ob in einem fernen Spiralarm unserer eigenen Galaxie oder in den dunklen Weiten zwischen zwei Universen – das Fundament der Wirklichkeit ist überall dasselbe. Vielleicht also, irgendwo da draußen, unter einem anderen Himmel, in einer anderen Sprache, geschah etwas Ähnliches. Doch diese Geschichte gehört Iok.
Beginnen wir also von vorn.
In den majestätischen Weiten des Alls, wo selbst Licht zu einem Flüstern wird, erscheinen Entfernungen bedeutungslos. Jenseits des sichtbaren Universums, wo Raum und Zeit bereits erste Anzeichen von Müdigkeit zeigen, befand sich eine Gruppe uralter Galaxien, verwoben in einem Tanz aus Gravitation und Glanz. Und hinter ihnen – jenseits von allem, was unsere Instrumente messen, unsere Augen sehen und unsere Vernunft begreifen können – begann die Ausdehnung eines anderen Universums: ein junges, wachsendes, sich entfaltendes Reich der Möglichkeiten. Ein Multiversum, vielgestaltig und geheimnisvoll.
An genau jenem Übergang, wo das Bekannte in das Unvorstellbare übergeht, thronte eine gewaltige, ehrfurchtgebietende Scheibengalaxie: Xolo.
Sie war nicht nur groß – sie war monumental. In Äonen langsamen Wachstums hatte sie sich kleinerer Galaxien bemächtigt, sie eingesogen wie ein kosmisches Raubtier, das die Beute mit Geduld und Gravitation umgarnt, bis sie sich schließlich mit ihm vereinte. Nebel, Sternhaufen, leuchtende Gaswolken – alles war eingespeist worden in das sich drehende Rad dieses galaktischen Kolosses. Und im Zentrum von Xolo tobte das unaufhaltsame Herz der Finsternis: ein supermassereiches Schwarzes Loch, ein Vielfaches schwerer als Milliarden Sonnen, verschlingend, was sich ihm näherte, selbst das Licht, das einst von den Sternen kam.
Rund um dieses Zentrum vollzogen zahllose Sterne mit ihren Planeten einen rasenden Tanz – einer schneller als der andere. Ganze Sonnensysteme wirbelten in atemberaubender Geschwindigkeit um den Ereignishorizont. Während nahegelegene Sterne in weniger als einem einzigen Mond das Zentrum umrundeten, bewegten sich die äußeren Regionen mit bedächtiger Langsamkeit.
Die Ausdehnung Xolos betrug rund dreihunderttausend Lichtmonde – eine Maßeinheit, wie sie nur in den Schriften der Alten Galaxien verwendet wurde. Innerhalb dieser unermesslich großen, rotierenden Scheibe lebten etwa zweihundert Milliarden Sterne. Nicht bloß einzelne Lichtquellen – nein, ganze Systeme mit Planeten, Monden, Asteroidengürteln und Wolken aus Staub und Eis.
Und ganz am Rand, dort, wo die Bewegung der Galaxie sich in Zeitlupe zu vollziehen schien, wo eine Umkreisung um das Zentrum mehr als fünfzig Millionen Monde dauerte – dort existierte ein Sonnensystem, unscheinbar, abgelegen und doch außergewöhnlich.
Der Stern dieses Systems war kein Riese, kein Gigant mit glühender Krone, sondern ein zurückhaltendes Licht inmitten dunkler Weiten – ruhig, stetig, verlässlich. In seiner lebensfreundlichen Zone umkreisten ihn zwei Planeten, beide reich an Leben.
Einer dieser Planeten war Iok.
Er war kleiner als sein Bruderplanet Kuru, doch keineswegs unscheinbar. Auf seinen Kontinenten kroch, schlich, sprang und flatterte das Leben in unendlicher Vielfalt. Kleine und mittelgroße Tiere durchstreiften die Ebenen, Wälder und Gebirge. Ihre Formen hatten sich an das angepasst, was das Land ihnen abverlangte: Einige waren mit dichtem Fell geschützt gegen die Kälte der Nachtregionen, andere mit schimmernden Schuppen gewappnet gegen die Glut der Tage. Manche hatten zwei Beine, andere vier, sechs oder acht.
Es gab auch Geschöpfe der Lüfte – geflügelte Jäger, deren scharfe Augen Beute aus großer Höhe erspähten. Sie glitten lautlos durch den Himmel, wie ein Teil des Windes.
Die Flora war nicht weniger vielfältig. In zahllosen Farben, Formen und Strukturen bedeckten Pflanzen das Land: vom dichten Blätterdach der Wälder bis zu den spärlich bewachsenen Hochebenen, von wasserliebenden Schilfgewächsen bis zu genügsamen Überlebenskünstlern, die selbst in kargem Fels Halt fanden. Doch so schön sie auch waren – nur wenige trugen essbare Früchte. Die meisten waren trügerisch, betörend oder gar gefährlich.
In den dichten Waldregionen existierten sonderbare Wesen – Mischwesen, halb Pflanze, halb Tier. Sie wuchsen fest im Boden, verwurzelt seit ihrer Geburt. Doch ihre Gliedmaßen bewegten sich mit muskelähnlicher Kraft, und primitive Sehorgane ließen sie Licht von Dunkel unterscheiden. Über die feuchte Erde zogen sie Wasser, und mit tentakelartigen Auswüchsen schnappten sie nach kleinen, fliegenden Insekten, die sich ihnen zu nahe wagten. Sie waren weder ganz Tier noch Pflanze – sie waren etwas Drittes, etwas Eigenes.
Und doch war Iok nicht allein.
In zyklischen Abständen – bestimmt durch die Konstellationen der Sterne, durch Gezeiten und Signale aus der Tiefe des Raumes – pflegte er regen Austausch mit seinem Nachbarplaneten: Kuru.
Die beiden Welten verbanden mehr als nur ein Orbit. Sie waren einander Brüder – verschieden im Wesen, doch verwoben durch Handel, Geschichte und ein stilles gegenseitiges Verständnis. Während Kuru für seine Fortschrittlichkeit, seine Maschinen und seine kühlen Technologien bekannt war, lebte Iok in tiefer Harmonie mit der Natur, getragen von einem uralten, spirituellen Wissen.
Was dort geschah – auf Iok – war daher nicht nur eine planetare Begebenheit.
Es war ein Ereignis, das das Gleichgewicht zweier Welten berührte.
Ein Moment im Universum, der für immer nachhallen sollte.
Die Bewohner von Iok, diesen zarten Kindern eines uralten Planeten, richteten ihr Leben nicht nach den kalten Regeln der Logik allein, sondern nach dem warmen Puls der Erinnerung, der über Generationen hinweg in ihren Herzen schlug.
Während auf dem benachbarten Kuru die Wissenschaftler als Leuchtfeuer des Fortschritts galten und in ihren Elfenbeintürmen Theorien und Maschinen erdachten, war es auf Iok der Geistliche, der das höchste Ansehen genoss – Hüter alter Weisheit, Träger des heiligen Wortes, Mittler zwischen irdischem Leben und Weltgeist.
Natürlich gab es auch auf Iok Gelehrte – Forscher des Lichts, der Sterne, der Pflanzen und Formen. Doch ihre Bedeutung war nicht aus Macht oder Status geboren, sondern aus der liebevollen Harmonie, die das iokanische Volk mit sich selbst, der Natur und dem Kosmos verband. Respekt galt allen, die dienten, die beitrugen, die die Zahnräder des Daseins geschmeidig hielten. Wissenschaft war nicht Konkurrenz zur Spiritualität – sie war ihr Bruder, geboren aus derselben Sehnsucht, das Unbegreifliche zu begreifen.
Die Gesellschaft von Iok war ein lebendiges Gewebe, gewoben aus Pflicht, Mitgefühl und einem tiefen Sinn für Gleichgewicht. Da gab es die Versorger – Männer und Frauen, die mit geschärftem Sinn in die Wälder zogen, auf der Suche nach essbaren Früchten, Wurzeln und heilkräftigen Kräutern, die in der stillen Sprache des Morgentaus flüsterten. Andere jagten, stets mit Demut, niemals aus Gier, sondern um das Leben zu nähren. Wieder andere versorgten Tiere, pflegten Felder, ackerten den fruchtbaren Boden – ein Wissen, das sie mit großer Dankbarkeit von Kuru übernommen hatten, als der Handel zwischen den Planeten zu einem festen Band wurde, das Welten verband.
Die Konstruktoren waren stille Helden – Handwerker und Baumeister, die mit geübter Hand Häuser errichteten, Brücken schlugen, Tempel pflegten und jene Geräte schufen, die das tägliche Leben stützten. Doch strebten sie nicht nach Ruhm oder Ehrfurcht – sie bauten, weil es dem Leben diente.
Denn Ruhm war auf Iok nie Selbstzweck. Der größte Lohn war das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein – eines Netzwerks aus Licht, Wind und Geist, getragen von einer unausgesprochenen Übereinkunft: Lebe in Achtung vor allem, was ist.
Die Iokaner lebten im Einklang mit der Welt, die sie hervorgebracht hatte. Sie sahen sich nicht als Herrscher über die Natur, sondern als Hüter ihrer Geheimnisse. Ihr Glaube galt den Acht Winden, jenen unsichtbaren Kräften, die Tag und Nacht über das Antlitz Ioks fegten. Diese Winde waren nicht nur meteorologische Phänomene – sie waren Wesenheiten, uralt und machtvoll, geboren aus dem kosmischen Atem.
Die Entstehung dieses Glaubens war tief verwoben mit dem langsamen Tanz des Planeten. Denn Iok drehte sich kaum. In ferner Vorzeit, vor Milliarden von Monden, hatte ein gewaltiger Einschlag – oder vielleicht die schützende Umarmung seines Mondes – die Rotation fast vollständig zum Erliegen gebracht. So zeigte Iok stets dieselbe Seite seiner Sonne.
Dies hatte weitreichende Folgen: Auf der hellen Seite wuchs Leben in sanftem Licht, während die dunkle Hälfte in ewiger Kälte lag. Zwischen diesen beiden Welten, an den scharfen Kanten der Kontinente, tobten unablässig Stürme. Die Winde – heiß, kalt, reißend – wurden so zu Göttern. Sie konnten sanft tragen oder zerstörerisch zerreißen. Sie schufen und vernichteten. Sie brachten Träume und nahmen Leben.
So lernten die Iokaner, die Winde zu deuten, zu achten, zu hören. Aus dem Wind entstand ihr Glaube. Aus dem Glaube wuchs ihre Weisheit. Und diese Weisheit mündete im größten Mysterium ihrer Kultur: dem Orakel.
Das Leben auf Iok war in vier heilige Meilensteine gegliedert – Geburt, Erwachsenwerden, Vermählung und Tod. Zu jeder dieser Schwellen trat der Iokaner vor das Orakel, stets begleitet von einem Geistlichen, der als Dolmetscher der Götter galt. In geweihter Stille lauschte man dem Flüstern des Planeten, das durch Dampf, Zischen, Grollen und Beben sprach – und der Geistliche deutete es, übertrug es in Worte, die das Leben lenken sollten.
Als Neugeborener wurde man gesegnet.
Als Heranwachsender erhielt man seine Aufgabe.
Als Liebender empfing man den Segen zur Verbindung.
Und als Verstorbener wurde man mit einem letzten Wort in die Ewigkeit entlassen.
Das bedeutendste dieser Rituale aber war das Tikka – das heilige Erwachsenwerden.
Am fünfzehnten Mond ihres Lebens, standen alle jungen Iokaner am Fuß des Orakel-Tempels, bekleidet mit der traditionellen Gewandung, die Stirn mit kunstvollen Bändern und Symbolen geschmückt. In die Stirnbänder war immer ein seltener Stein eingefasst. Dort empfingen sie ihre persönliche Aufgabe – ein Ruf, der vom Planeten selbst kam. Die Erfüllung dieser Aufgabe machte sie zu vollwertigen Mitgliedern ihrer Gesellschaft. Kein Titel, kein Alter allein machte einen zum Erwachsenen – nur das Tikka.
Doch was war das Orakel?
Der Planet Iok bestand aus drei Kontinenten: Akkis, Nokkis und Ikkis.
Nur einer – Akkis – war bewohnbar. Denn während Nokkis in ewiger Nacht lag, erstarrt, vereist, lautlos, war Ikkis eine sengende Wüste, verbrannt unter der ewigen Sonne, eine flirrende Landschaft aus Feuer und Spiegel.
Zwischen diesen Extremen tobten die stärksten Winde – dort, an den Grenzlinien zwischen Licht und Dunkel, zwischen Kälte und Glut.
Doch genau auf Akkis, im sanften Dämmerlicht des Lebens, stieg der Atem des Planeten empor – durch heilige Geysire, gespeist aus dem glühenden Innern, gelenkt von den Bewegungen dreier mystischer Monde. Über jedem dieser Geysire errichteten die Iokaner prächtige Tempel – nicht aus Prunk, sondern aus Ehrfurcht.
Und wenn der Geysir zischte, wenn Dampf und Stimme emporstiegen, dann sprach das Orakel.
Es war eine uralte Kunst, fast ein Tanz aus Lauschen, Deuten, Ahnen. Nur die Geistlichen, geschult über Generationen, waren in der Lage, aus Ton, Rhythmus und Klang der Erde die Worte herauszuhören, die für das Schicksal eines Einzelnen bestimmt waren. Die Stimme des Planeten war nicht laut – sie war vielschichtig, geheimnisvoll, voller Andeutungen. Nur wer sein eigenes Ego vergaß, konnte sie wahrhaft hören.
So lebte Iok – zwischen Wind und Weisheit, zwischen Aufgabe und Einklang.
Und genau dort, an einem dieser Geysire, unter dem zischenden Hauch der Welt, begann eine Geschichte, wie sie nur einmal in einer Million Monde geschieht...
Elowen
Elowen war der Held dieser Geschichte,
doch wusste er es noch nicht.
Wie könnte er auch?
Denn in den stillen Morgenstunden,
wenn der Nebel sich wie ein hauchdünner Schleier über das Land legte und der Ruf der ersten Windgreiflinge die Wälder durchdrang, war Elowen nur ein Junge.
Ein einfacher, barfüßiger Junge aus den bescheidenen Hütten des Nordhanges von Akkis,
wo die Erde mager und das Leben schlicht war.
Er war der Sohn von Thorne und Elara, Versorger seit Generationen – Jäger, Sammler, Ernährer der Sippe.
Ihre Hände waren von Schwielen gezeichnet, die Gesichter vom Wind gegerbt, die Stimmen rau vom vielen Erzählen am Feuer,
wenn sie von ihren Gängen in die uralten Wälder berichteten, von Begegnungen mit scheuen Kreaturen, vom Duft reifer Kawa-Früchte und dem heiligen Zittern beim Anblick eines Eoras, eines Waldtieren, der nur den Reinen erschien.
Elowen war als Kind still gewesen. Nicht aus Furcht, sondern aus Tiefe.
Seine Augen – dunkelbraun mit einem grünlichen Stich wie das weiche Moos an den Felswänden des Flusses Nira – blickten oft ins Leere, doch seine Gedanken reisten weit. Während andere Kinder mit Steinen warfen und Winddrachen jagten, saß Elowen an alten Wurzeln und hörte dem Wald zu.
Er glaubte, dass Bäume miteinander flüsterten. Er glaubte, dass der Wind eine Sprache hatte, die nur jene verstanden, die lange genug schwiegen.
Seine Hände waren geschickt, obwohl er das Jagen nicht liebte. Er konnte Fallen bauen, kannte die Wege der Tiere, doch sein Herz schlug für das Beobachten, nicht das Töten.
Er sammelte Federn, hörte dem Tropfen der Höhlen zu und hatte ein seltsames Gespür für das Verborgene.
Elara meinte oft, er sei wie ihr verstorbener Vater, ein Träumer, der das Unsichtbare sehen konnte.
Thorne hingegen war strenger. Er liebte seinen Sohn,
doch wollte er aus ihm einen Mann machen – einen Versorger wie er selbst, fest, verlässlich, notwendig. Nicht einen Wanderer in den Wolken.
Nun war Elowen fünfzehn Monde alt, das heilige Alter. Der Tag seines Tikka nahte – die Stunde, in der der Planet ihm seine Aufgabe nennen würde. Eine Aufgabe, die nicht nur seinen Lebensweg bestimmen, sondern ihn in den Kreis der Erwachsenen heben würde.
Seine Eltern hatten gehofft, dass er den Pfad der Versorgung wählen würde, dass er sich den anderen anschlösse, die mit Speer und Satteltasche durch die Wälder streiften. Vielleicht würde er sogar das Jagen wieder lieben lernen.
Doch Elowens Herz pochte anders.
In seinen Träumen war er immer weiter fort, unter Wasser, in dunklen Höhlen, zwischen Sternen, in Räumen, die nicht nach Raum rochen, und Stimmen, die nicht von dieser Welt waren. Er konnte nicht sagen, was ihn rief, nur dass etwas rief – etwas Uraltes, etwas Vergessenes, etwas, das tief unter der Haut von Iok pulsierte.
Er war ein gewöhnlicher Junge, doch sein Geist war auf geheimnisvolle Weise mit etwas Ungewöhnlichem verwoben. Seine Geburt war von einem leisen Beben begleitet gewesen – eine Erscheinung, die man später vergessen hatte. Nur die alte Seherin des Tals hatte damals leise gemurmelt:
„Er kommt nicht, um zu bleiben. Er kommt, um zu öffnen.“
Elowen wusste nichts davon. Er wusste nur, dass er anders träumte als die anderen. Und dass in seinem Innern ein leiser Widerstand gegen das Gewöhnliche wuchs. Nicht aus Arroganz. Sondern weil sein Herz nach Wahrheit dürstete. Nicht nach Ruhm. Nicht nach Macht. Nicht einmal nach Bedeutung.
Nun, an der nahenden Zeit seines Tikka, war er unruhig. Der Himmel hatte sich verändert – seltsame Farben zogen über den Horizont, und die Winde, die sonst in langen, vertrauten Atemzügen durch das Tal glitten, wechselten plötzlich die Richtung. Die kleinen Flugtiere flogen tiefer.
Die alten Steine an der Weggabelung knisterten leise im Licht des Untergangs. Irgendetwas war im Begriff, sich zu verändern.
Und Elowen – ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen, ein einfacher Sohn zweier ehrlicher Hände – würde der erste sein, der es zu spüren bekam.
Was auch immer das Orakel sprechen mochte – es würde nicht das sagen, was man von einem Versorgerkind erwartete. Denn Iok hatte lange geschwiegen. Zu lange. Und nun war Elowens Zeit gekommen.
Mikmok
In einer Siedlung, in der der Wind Geschichten trug und das Zischen der Geysire als göttliche Offenbarung galt, lebte ein Mann, dessen Wort mehr wog als jede Waffe, jedes Werkzeug, jede Tat. Sein Name war Mikmok – Hohepriester, Orakelsprecher, und Herr über Leben und Tod im Kreis seiner Siedlung. Seine Frau Calista starb früh an einer Krankheit nach der Geburt ihrer zweiten Tochter.
Hoch oben, wo die Nebel nie ganz wichen, stand sein Tempel – aus obsidianfarbenem Gestein errichtet, durchzogen von silbernen Linien, die sich bei Sonnenaufgang leise zu bewegen n. Dort, im Innersten des Heiligtums, lebte Mikmok. Ein Gelehrter des Kosmos, ein Bewahrer alter Runen, der letzte Schüler der Windzeichenmeister. Sein Verstand war scharf wie der Frosthauch über den Nordklippen, sein Wissen um die Sterne reichte zurück bis in Zeiten, in denen die Sprache der Winde noch nicht verschriftlicht war.
Sein Körper war hager, doch nicht schwach – er bewegte sich mit bedächtiger Würde, als würde jedes seiner Schritte vom Rhythmus des Planeten gelenkt. Seine Augen, tief und grau wie verhangene Himmel, vermochten selbst in der Dunkelheit der Geysirgänge Zeichen zu erkennen. Seine Robe, aus gewebtem Blattseide, trug das Emblem der Acht Winde – ein uraltes Symbol, das nur jenen zustand, die die Prüfungen des Orakels bestanden hatten.
Mikmok war vieles: Astronom, Magier, Alchemist, Ratgeber, Sprachrohr des Göttlichen. Er verstand es, die Bewegungen der Sterne mit den Strömungen der Luft zu deuten. Aus dem Dampf der Quellen konnte er Träume lesen, und mit einem Tropfen eines selbstgebrauten Elixiers konnte er Wunden heilen, an denen gewöhnliche Heiler verzweifelten.
Doch so hoch seine Stellung, so tief war auch der Abgrund, in dem sich ein Teil seines Wesens verbarg.
Denn Mikmok war nicht nur ein Diener des Lichts.
Er war dem Glanz des Edelgrüns verfallen.
Jenem seltenen, geschliffenen grünen Edelstein, der als Währung auf Iok galt – Zeichen von Wohlstand, Macht und Einfluss. Kein anderer auf dem Kontinent besaß so viele dieser Steine wie er. In den Gewölben unterhalb seines Tempels lagerten Hunderte, vielleicht Tausende – funkelnd wie gestohlene Sterne, leuchtend wie Versuchungen aus einer anderen Welt.
Längst hätte er alles haben können, was das Herz eines Sterblichen begehrt. Und doch – es reichte ihm nie.
Was als Gabe begann – als Lohn für weise Entscheidungen, als Opfergabe der Dankbaren – wurde langsam zu einem Hunger.
Kein gieriges, wildes Verlangen. Nein, Mikmoks Gier war still, kontrolliert, wie eine Schlange unter Laub.
Er tat nichts offen Unrechtes. Doch seine Gunst war leichter zu gewinnen, wenn Edelgrün den Weg pflasterte.
Manche Entscheidungen des Orakels begünstigten plötzlich jene, die großzügiger spendeten.
Andere wurden hinausgezögert, wenn die Opfergaben ausblieben.
Einige flüsterten davon – doch keiner wagte es, laut zu sprechen. Denn Mikmok war der Träger der Stimme Ioks.
Und wer die Stimme des Planeten in Zweifel zog, zweifelte am Willen des Universums.
Trotz dieser dunklen Seite blieb er der mächtigste Mann der Region. Nicht durch Gewalt, sondern durch Glauben.
Denn die Bewohner von Iok glaubten an Zeichen, an Deutungen, an Gleichgewicht.
Und Mikmok wusste, wie man Zeichen deutet. Er wusste, was zu sagen war – und was besser im Nebel blieb.
Er war weder ein Dämon noch ein Heiliger.
Er war Mikmok – ein Wesen aus Fleisch, Geist und Schwäche.
Ein Mann, der dem Himmel näher stand als alle anderen, und doch manchmal vom Glanz der Steine geblendet wurde.
Und nun näherte sich der Tag, an dem er einem jungen Iokaner namens Elowen gegenübertreten sollte –
einem einfachen Jungen mit einem Herzen so rein wie die Luft über den Quellhügeln.
Was würde Mikmok in ihm sehen? Ein Werkzeug? Einen Auserwählten? Eine Gefahr?
Noch sprach das Orakel nicht.
Doch der Wind hatte sich bereits gedreht.
Miora
Inmitten des heiligen Orakelhauses, wo das Schweigen ehrfürchtig war und die Luft nach Myrrhe und Sternenstaub roch, wuchs ein Mädchen heran, das selten gesehen, doch niemals ganz übersehen wurde. Miora, die jüngere Tochter des ehrwürdigen Mikmok, war eine jener stillen Existenzen, deren Gegenwart das Gleichgewicht hielt – auch wenn die Welt es kaum wahrnahm.
Sie war kaum dem Kindesalter entwachsen und trug doch bereits die feinen Linien der inneren Reife im Blick. Ihre Augen – von einem hellen, beinahe durchscheinenden Braun – wirkten wie klare Teiche nach einem Sturm: ruhig an der Oberfläche, doch tief und unergründlich in ihrem Grund. Ihre Haut war sonnengeküsst vom Licht der Dämmerstunden, ihre Stimme so weich, dass sie eher klang wie ein Hauch im Gras, als wie Worte. Und doch – wenn sie sprach, lauschte man, als ob die Luft stillstand.
In diesem Mondzyklus wurde Miora fünfzehn Monde alt.
Ein heiliger Moment im Leben eines jeden Iokaners – der Ruf des Orakels, die Zeremonie des Tikka, die Bestimmung durch die acht Winde. Doch während andere in diesem Alter mit Erwartung und Hoffnung überschäumten, war es bei Miora ein stilles Beben, ein vorsichtig gehüteter Funke unter einer Decke aus Pflicht und Zurückhaltung.
Ihre verstorbene Mutter Calista wollte sie immer schützen. Doch die Angst, die Sorge um sie, hat sie zerfressen. Sie war wie ein Gift, das sich langsam in ihr Herz grub, bis nichts mehr von ihr übrig war. Und eines Morgens war sie fort. Wie eine Kerze, die zu schnell niederbrannte.
Sie war die zweite Tochter Mikmoks, und das bedeutete auf Iok nicht einfach nur, jünger zu sein – es bedeutete, im Schatten einer Bestimmung zu stehen, die bereits vergeben war. Loyana, ihre ältere Schwester, war das Licht in Mikmoks Augen. Sie war schön wie der erste Morgentau, weise wie eine alte Seherin und so eifrig in der Lehre des Orakels, dass man sie bereits als Anwärterin auf das Amt der Hohenpriesterin bezeichnete. Es war strenger Brauch, dass der amtierende Hohepriester seinen Nachfolger bestimmte. Offiziell hatte Mikmok Loyana aber noch nicht zu seiner Nachfolgerin bestimmt. Insgeheim wusste aber jeder, dass sie es mit Sicherheit werden würde.
Miora hingegen… war nicht auserwählt.
Zumindest nicht nach den Maßstäben ihres Vaters. Auch wenn sie in Bezug auf ihr Wissen ihrer älteren Schwester in nichts nachstand.
Mikmok war ihr gegenüber streng, oft kalt – ein Mann, dessen Herz für sie selten Wärme fand. Wo er für Loyana Gedichte aus den Windzeichen sprach, ließ er Miora schweigend an den Aufgaben des Hauses wachsen. Schon früh musste sie lernen, den Staub der Gänge mit bloßen Händen zu beseitigen, die heiligen Gewänder zu waschen, ohne sie je selbst tragen zu dürfen. Wenn Speisung im Hause Mikmok stattfand, war es Miora, die die dampfenden Schalen trug und sich am Ende mit den Resten begnügte.
Doch niemals klagte sie.
Denn irgendwo in ihrem Innersten – in jener stillen Kammer ihres Herzens, wo Kindheitsträume und erste Sehnsüchte wie Sternensamen ruhten – trug sie einen Wunsch, der stärker war als jedes Leid:
Die Anerkennung ihres Vaters.
Sie hoffte – mit jener stummen Kraft, die nur jene kennen, die nie verwöhnt wurden – dass ihre Reifeprüfung alles ändern würde.
Dass das Orakel ihr eine Aufgabe schenken würde, so groß, so leuchtend, so unbestreitbar, dass Mikmoks kalte Miene von Stolz berührt würde.
Dass er sie sehen würde – nicht nur als die zweite Tochter, nicht nur als Dienerin unter einem heiligen Dach, sondern als das, was sie wirklich war:
Ein leuchtender Stern, noch verborgen hinter Nebel, bereit, sein Licht zu entfalten.
Miora war kein Blatt im Wind.
Sie war der Wind, der noch nicht gelernt hatte zu tanzen.
Ein Hauch von Zauber ruhte auf ihr, eine Ahnung von etwas, das größer war als die Gemächer, die sie reinigte. Ihre Sinne waren fein, ihre Gedanken weit, ihr Herz voller Mitgefühl. Und obwohl sie sich nie offen widersetzte, lebte in ihr eine stille Unbeugsamkeit – die Kraft jener, die nicht fordern, sondern warten…
…bis der richtige Wind kommt.
Und dieser Wind, so wusste sie tief in sich, würde bald wehen. Vielleicht nicht heute. Vielleicht nicht morgen. Doch bald würde das Orakel sprechen – und vielleicht würde es Miora sein, die Ioks wahre Stimme trägt.
Loyana
Wenn das Orakel sang, war es Loyana, die am ersten lauschte.
Wenn die acht Winde über die Tempelkuppen jagten, war sie es, die ihre Stimmen am klarsten vernahm.
Loyana, Mikmoks Erstgeborene, war wie aus einem Lied der Ahnen gewoben – schön, stolz, und von beinahe unheimlicher Anmut durchdrungen. Ihre Bewegungen erinnerten an die feinen Wellen eines heiligen Quellsees, ihre Stimme klang wie das geflüsterte Echo alter Weissagungen. Sie war wie geschaffen, um gesehen zu werden – und sie wusste es.
Ihr Haar war von tiefem Schwarz, schwer wie Nacht auf Nokkis, wenn kein Mond sie küsst, und fiel ihr wie Seide über die Schultern. Ihre Augen waren bernsteinfarben – hell wie geschliffenes Edelgrün im Feuerlicht – durchdringend, wachsam, voll wissender Ruhe. Man sagte, wer ihr zu lange in die Augen sah, musste sich selbst erkennen – oder vergehen.
Sie war eine, die die Blicke auf sich zog, nicht durch Prunk, sondern durch eine stille Autorität.
Schon als Kind war sie von einer Aura umgeben gewesen, als würde das Orakel sie auf Schritt und Tritt segnen. Mikmok, ihr Vater, der Hohepriester, sah in ihr sein eigenes Ebenbild – oder vielmehr: das, was er gern gewesen wäre, frei von Schwäche, rein in der Berufung, unerschütterlich im Glauben. Er formte sie wie ein Bildhauer ein Denkmal – mit Strenge, mit Hingabe, mit Ehrfurcht.
Und Loyana nahm diese Rolle mit Anmut an.
Sie widersprach nicht.
Sie zweifelte nicht.
Zumindest nicht nach außen.
Sie lernte die alten Sprachen, die Zeichen der Winde, die Bewegungen der Sterne. Sie konnte den Atem des Geysirs deuten, als spräche der Planet nur zu ihr. Ihr Wissen um die Riten, um die Übergänge von Leben und Tod, um das Geheimnis des ewigen Kreises war beeindruckend – und doch nie protzig.
Denn Loyana war vieles, doch niemals töricht.
Ihr Stolz war leise. Ihr Ehrgeiz war scharf, verborgen unter einem Mantel aus Gelassenheit. Doch wer genau hinsah, erkannte: Sie wollte mehr.
Mehr als nur Tochter sein. Mehr als nur Anwärterin auf ein Amt.
Sie wollte über Iok wachen, wie der große Mond über die Gezeiten wacht – schweigend, kraftvoll, ewig.
Und so war sie im Volk geliebt, bewundert, gefürchtet. Die Jungen verehrten sie wie eine Göttin. Die Alten blickten ihr mit gemischten Gefühlen nach – denn zu viel Licht warf auch Schatten.
Insbesondere auf ihre Schwester Miora, deren leises Wesen kaum durch Loyanas Schein dringen konnte. Ob Loyana dies bemerkte? Vielleicht.
Ob sie es bedauerte? Nur die Winde könnten es sagen.
Denn in Loyanas Herz schlummerte auch ein Zwiespalt, den sie keinem offenbarte.
Ein feiner Riss im makellosen Bild, wie eine kaum sichtbare Linie in kostbarem Glas.
Manchmal, in stillen Nächten, wenn der Geysir schweigt, saß sie allein am Rand des Tempels und blickte in die Sterne – lange, ohne sich zu rühren. Dann schien sie zu fragen, ob das Licht, das sie trug, wirklich ihr eigenes war… oder nur das Echo eines fremden Willens.
Doch bei Sonnenaufgang war sie wieder die Loyana, die alle kannten: Die Auserwählte. Die Strahlende. Die Tochter, die alles war.
Keyan
Keyan war der Sohn des Hauses Darn’Kel, einer ehrwürdigen Linie von Konstruktoren, deren Name auf Iok wie aus edlem Gestein gemeißelt stand. Seine Eltern, Galadon und Vaeda, galten nicht nur als Meister des Bauens, sondern auch als Hüter alter Konstruktionsgeheimnisse, die bis zu den ersten Städten Akkis’ zurückreichten. Ihre Werke prägten das Antlitz des Landes – Brücken, die Winde lenkten, Türme, die den Himmel küssten, und Tempel, die dem Orakel Ehre erwiesen.
Keyan war mit silbernem Löffel geboren, doch mit wertvollem Werkzeug aufgewachsen. Schon früh lernte er das Spiel mit Formen und Kräften, mit Linien und Gewichten. Sein Spielzeug waren keine Knochenfiguren oder Winddrachen aus Blättern, sondern kleine Modelle von Hebevorrichtungen, Miniaturhäuser aus gehärtetem Lehm, sogar bewegliche Wasserleitungen.
Und wenn andere Kinder auf Bäume kletterten, kletterte Keyan auf die Gerüste der Bauherren – immer unter den wachsamen Augen seiner Familie, die ihm jedes Risiko abnahm und jeden Fall abfederte.
Er war gutaussehend, das musste man ihm lassen. Mit einem Gesicht wie gemeißelt aus hellem Sandstein, goldbrauner Haut von der Sonne Akkis’ geküsst, und Augen von dunklem Braun – wie Wasserholz in einem stillen Becken.
Sein Haar war stets gepflegt, seine Gewänder fein und geschmückt mit Stickereien, die seine Herkunft nicht nur verrieten, sondern feierten. Er bewegte sich mit dem Selbstbewusstsein eines jungen Windgreifers, der noch nie Windböen fürchten musste.
Doch obwohl er im Überfluss lebte, war Keyan nicht hochmütig.
Nicht offen zumindest.
Sein Stolz war subtil – wie ein gut geöltes Scharnier, das kaum zu hören, aber unverkennbar war. Er war höflich, redegewandt, beliebt unter den Gleichaltrigen – doch man spürte, dass er nie gelernt hatte, zu warten, zu entbehren oder zu bitten. Was er wollte, bekam er.
Oder er wusste, wie man es sich nahm.
Sein Geist war scharf, sein Wille stark. Er träumte davon, eines Tages die Konstruktionen Ioks auf ein neues Niveau zu heben, Maschinen zu entwerfen, die mit den Kräften der Winde und des Wassers gleichermaßen arbeiteten. Visionen hatte er viele – und auch die Mittel, sie zu verwirklichen.
Doch was ihm fehlte, war Demut.
Ein Herz, das nicht nur plant, sondern auch spürt. Er war gut, zweifellos. Aber gut sein genügt nicht immer.
Die Tikka-Zeremonie war für Keyan weniger Prüfung als Bühne. Er war überzeugt, dass das Orakel ihm eine Aufgabe von großer Bedeutung geben würde – etwas Glanzvolles, Außergewöhnliches, das seiner Herkunft würdig war. Vielleicht eine Aufgabe, die ihn dem Orakel näherbrachte?
Vielleicht gar ein Auftrag, der seine Familie in den Rang der geistlichen Kaste erhob? Solche Gedanken wagte er nicht auszusprechen – doch sie flüsterten in seinem Innern wie die Stimmen kleiner, ehrgeiziger Dämonen.
Was er nicht ahnte: Das Orakel hört nicht auf Reichtum. Es hört auf das, was darunter liegt. Und was sich in seinem Herzen verbarg – war noch nicht geformt. Noch nicht geprüft. Noch nicht gereinigt.
Voron und sein Pilot Teres vom Planeten Kuru
Voron – Der Händler zwischen Welten
Voron war ein Kind des Nachbarplaneten Kuru, ein Händler von Ruf und Rang, dessen Name auf Iok stets mit einem Lächeln und einem Nicken begrüßt wurde. Er war nicht von edlem Geblüt, doch sein Ruf eilte ihm stets voraus – wie der Duft seltener Gewürze, die er mit sich führte. Seine Gestalt war kräftig, gedrungen, mit Händen, die von mondelangem Entladen und Feilschen gezeichnet waren. Die Haut von warmer Kupferfarbe, das Gesicht ganz fein und ohne Falten.
Sein Blick war wach, seine Augen blitzten wie frisch geschliffene Tiron-Gläser – eine Erfindung von Kuru, die Licht in alle Richtungen brachen.
Er konnte mit einem halben Blick den Wert eines Tauschgutes erkennen, hörte Lügen im Zögern der Stimme und wog Hoffnungen wiegenweise auf den Waagschalen seines Bauchgefühls.
Voron war kein Händler aus Gier – sondern aus Leidenschaft. Der Austausch, die Bewegung von Dingen zwischen Welten, das Weben von Verbindungen zwischen Kulturen – das war sein Lebenselixier.
Er war stets in Bewegung. In jedem Zyklus flog er mit seinem windgeglätteten Schiff, der Zai’Rem, durch die unsichtbaren Ströme zwischen Kuru und Iok. Sein Schiff war kein Kriegsflügel, sondern ein fliegender Basar – voller Kammern, in denen sich Stoffe aus Lichtseide, Werkzeuge aus funkengehärtetem Stahl, Kräuter, die im ewigen Dämmerlicht Kurus wuchsen, und Glasgefäße, die beim Atmen sangen, verbargen.
Auf Iok war Voron mehr als ein Händler – er war ein willkommener Bote aus einer anderen Welt. Die Kinder folgten ihm, wenn er in den Siedlungen ankam, in der Hoffnung, eine kleine Kostbarkeit aus seiner Tasche zu erhaschen. Die Erwachsenen achteten ihn, weil er immer gerecht handelte, niemals versuchte, mehr zu nehmen, als ihm zustand – und stets bereit war, auch einmal eine Schuld stundenweise zu vergessen, wenn die Umstände es forderten.
Doch trotz all seiner Erfahrung, seines Charmes und seiner Geschichten, war Voron kein Narr.
Er wusste: Der Handel war nur dann von Wert, wenn Vertrauen ihn trug.
Und Vertrauen – war ein Gut, das schwerer wog als Edelgrün.
Teres – Der junge Sternenpilot
An Vorons Seite, im schmalen Cockpit der Zai’Rem, saß ein neuer Schatten: Teres, ein junger Pilot, kaum älter als Miora und Elowen, und doch bereits in den Himmel getreten – zumindest an dessen Schwelle.
Teres war schlank, mit langen Fingern, wie gemacht für die Hebel, Schalter und die Glasbildplatten des Schiffes. Seine Haut hatte das matte Grau vieler Kuruaner, die selten unter freiem Himmel wandelten, und seine Augen – weit und neugierig – blickten stets, als suchten sie nach etwas, das jenseits der Sterne lag.
Er war kein geborener Navigator. Noch verwechselte er manche Koordinaten, und bei seiner ersten Landung auf Iok hatte er das Schiff beinahe auf einem Viehgehege zum Stehen gebracht. Doch er war lernwillig, schweigsam, aufmerksam. Er verehrte Voron wie einen Lehrmeister aus alten Zeiten und schrieb sich jedes seiner Worte ins Herz.
Teres hatte noch nie zuvor einen anderen Planeten betreten. Für ihn war Iok ein Wunder – ein lebendiges, atmendes Mosaik aus Farben, Gerüchen und Lauten. Die Winde machten ihm Angst, doch auch Ehrfurcht. Die Pflanzen, die sich im Rhythmus der Sonne öffneten und schlossen, waren für ihn wie lebendige Träume.
Er glaubte an die Geschichten, die man sich auf Kuru über das Orakel erzählte – als wäre es ein Wesen aus Dampf und Licht, das die Schicksale wie lose Blätter durch seine Finger wehen ließ. Er hoffte, dass er eines Tages, wenn seine Pflicht getan und sein Mut gewachsen war, selbst vor das Orakel treten dürfte – nicht um etwas zu empfangen, sondern um zu verstehen.
So kamen sie – der Händler mit den vielen Geschichten und der Jüngling mit den stillen Fragen. Beide verband das All, das große Fließen zwischen den Welten. Beide trugen Fracht – der eine sichtbar, der andere verborgen.
Und ihre Ankunft – so harmlos sie auch schien – würde das Schicksal Ioks auf nie dagewesene Weise berühren.
Der Tempel des Orakel in Kobi, der Hauptstadt von Akkis´
Der Tempel des Orakels in Kobi – Stimme des Planeten, Herz des Volkes
Hoch über den geschäftigen Ebenen von Kobi, wo der Boden warm atmet und die Winde in endlosen Tänzen durch die Häuserschluchten gleiten, erhebt sich aus dem Dunst aufsteigender Geothermalquellen ein Bauwerk von solch erhabener Schönheit, dass der Blick eines jeden Iokaners unweigerlich dort verweilt: der Große Orakeltempel von Kobi.
Er thront auf einem leuchtenden Felsplateau, das durch seismische Kräfte aus dem Innersten Ioks gehoben wurde, ein heiliger Ort, geformt von der Berührung dreier gewaltiger Elemente: Feuer, Wasser und Wind. Die Legenden berichten, dass hier einer der uralten Geysire emporbrach – ein Atemzug des Planeten – und die ersten Geistlichen aus Dampf und Flüstern seine Stimme vernahmen. Um diesen heiligen Ort, aus dessen Adern heißer Nebel in ewigen Spiralen aufstieg, wurde der Tempel errichtet.
Die äußere Architektur des Tempels folgt keiner Linie, wie sie sterbliche Hände entworfen hätten. Seine Form ist organisch – als sei er gewachsen statt gebaut. Weite Bögen aus schimmerndem Gestein umarmen den Geysir in der Mitte. Die Wände bestehen aus Trakith, einem seltenen Stein, der bei wenig Sonnenschein golden glimmt und bei Wind silbern schimmert. Überall flüstert es, klirrt es, tönt es – denn der Wind spielt in den vielen Hohlräumen des Tempels eine Melodie, die sich ständig wandelt, wie ein Lied, das der Planet singt.
Im Zentrum, wo der Geysir seine dampfenden Schwaden ausstößt, steht der Hörstein – ein monolithischer, spiralförmig gewundener Obelisk aus schwarzem Obsidian. Hier legt der amtierende Hohepriester seine Hand auf, um mit dem Orakel zu sprechen. Die Dämpfe steigen dabei empor, tanzen um das Haupt des Fragenden und flüstern Antworten in einer Sprache, die nur die Gelehrten der Winde – wie Mikmok – zu deuten wissen.
Um den Hörstein ist ein Ring von acht offenen Fensterbögen eingelassen – einer für jeden der acht Winde, denen die Iokaner huldigen. Jeder dieser Bögen ist einem Windheiligen gewidmet, und durch jeden weht zu bestimmten Zeiten ein bestimmter Hauch – kalt, warm, schnell, kreisend, flüsternd, tobend, tragend oder schneidend. Der Tempel ist so gebaut, dass zu jeder Tageszeit ein anderer Wind durch den heiligen Kreis zieht, als ob das Orakel wähle, durch welchen Aspekt es spricht.
Die inneren Hallen des Tempels sind geschmückt mit Wandmalereien, die das kollektive Gedächtnis des Volkes bewahren. In silbernen Pigmenten, gemischt mit Asche vergangener Hohepriester, sind dort die großen Ereignisse Ioks verzeichnet: Die Ankunft des ersten Handelsschiffes von Kuru. Die Erhebung der ersten Tikka-Auserwählten. Die Offenbarung der Winde.
In den Seitenflügeln des Tempels wohnen die Geistlichen, die Novizen, die Windsängerinnen und die Hüter der Texte – eine Gemeinschaft, die Wissen und Glaube mit Gleichmut bewahrt. Hier lebt auch der Hohepriester, in einer schlichten Kammer – zumindest offiziell –, denn nicht alle Geistlichen leben in Gleichheit, wie man an Mikmok deutlich sehen kann.
Und außerhalb des Tempels, auf dem weiten Platz von Kobi, versammeln sich zu jeder Tikka-Zeremonie hunderte von Bewohnern. Hier legen junge Seelen ihr Schicksal in die Hände des Orakels, treten barfuß auf den warmen Stein, blicken in die aufsteigenden Dämpfe und lauschen der Stimme, die aus dem Herzen des Planeten zu ihnen spricht.
Der Tempel von Kobi ist kein bloßer Ort – er ist ein Lebewesen. Er atmet. Er sieht. Er hört. Und manchmal, so glauben die Ältesten, besucht er sie in ihren Träumen.
Es war ein herrlicher, heiterer und warmer Tag auf Iok. Die Brise des heiligen Nordwindes wehte pfeifend die warme Luft des nahegelegenen, aufgeheizten Meeres in die Ortschaften. Dieser Wind brachte den wohlriechenden Duft von Salzwasser über die Küstenregion hinaus, tief ins Land hinein. Er strich über die sandfarbenen Dächer, durch die offenen Fenster und über die Gärten von Kobi – der Hauptstadt Akkis’, einer Siedlung, so friedlich wie ein lang geträumter Traum, und zugleich erfüllt von aufgeregtem Puls, denn die Tikka-Zeit stand bevor.
In dieser heiligen Zeit wandelte Mikmok, der zuständige Hohepriester, in gemächlichem Schritt durch die gepflasterten Wege seiner Siedlung. Seine Robe aus rostbraunem Linwar-Stoff wehte leicht im Wind, das Silber seiner Brustspange schimmerte im Sonnenlicht. Er war nicht in Eile – nie war er in Eile. Die Mondzyklen hatten ihn gelehrt, dass Zeit sich beugen ließ, wenn man sie ehrte.
Die Gassen von Kobi waren erfüllt vom Klang des Lebens: das Lachen von Kindern, das Klirren von Werkzeug in den Werkstätten, das Klatschen nasser Tücher in den Händen der Wäscherinnen. Die Häuser, aus hellen Tonsteinen erbaut, wirkten freundlich und offen, mit weiten Innenhöfen und rankenden Blüten, die aus Töpfen an den Fensterbalken herabhingen.