Die Vererbung individuell erworbener Eigenschaften - Wolfram Forneck - E-Book

Die Vererbung individuell erworbener Eigenschaften E-Book

Wolfram Forneck

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Beschreibung

Vorliegende Arbeit untersucht den wissenschaftlichen Disput zwischen dem britischen Philosophen Herbert Spencer und dem Freiburger Zoologen August Weismann über die Vererbung individuell erworbener Eigenschaften, der in den 1890er Jahren geführt wurde. Vorangestellt ist ein historischer Abriss zu dieser Fragestellung sowie die Theorien der beiden Disputanden, der Keimplasmatheorie August Weismanns und des primär soziokulturell orientierten Evolutionskonzeptes Herbert Spencers, das im Diktum des "Survival of the Fittest" kulminierte. Nachgestellt ist eine Darstellung des "Lyssenkoismus" des sowjetischen Biologen Trofim Denissowitsch Lyssenko. Dieser Lyssenkoismus überschätzte (ähnlich wie Herbert Spencer) die Umwelteinwirkung auf biologische Organismen im Sinne einer kommunistisch-marxistisch geprägten Milieutheorie und desavouierte damit die wissenschaftlich-genetische Forschung in der Sowjetunion von 1930 bis in die Mitte der 1960er Jahre.

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Seitenzahl: 141

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Exposee

Vorliegende Arbeit untersucht den wissenschaftlichen Disput zwischen dem britischen Philosophen Herbert Spencer und dem Freiburger Zoologen August Weismann über die Vererbung individuell erworbener Eigenschaften, der in den 1890er Jahren geführt wurde. Vorangestellt ist ein historischer Abriss zu dieser Fragestellung sowie die Theorien der beiden Disputanden, der Keimplasmatheorie August Weismanns und des primär soziokulturell orientierten Evolutionskonzeptes Herbert Spencers, das im Diktum des „Survival of the Fittest“ kulminierte. Nachgestellt ist eine Darstellung des „Lyssenkoismus“ des sowjetischen Biologen Trofim Denissowitsch Lyssenko. Dieser Lyssenkoismus überschätzte (ähnlich wie Herbert Spencer) die Umwelteinwirkung auf biologische Organismen im Sinne einer kommunistisch-marxistisch geprägten Milieutheorie und desavouierte damit die wissenschaftlich-genetische Forschung in der Sowjetunion von 1930 bis in die Mitte der 1960er Jahre.

Diese Arbeit wurde im Dezember 1983 als Zulassungsarbeit zum Staatsexamen im Fach Biologie am Institut für Biologie III der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau bei den Professoren Dr. Rainer Hertel und Dr. Carsten Bresch vorgelegt.

Inhalt

1. Vorwort

2. Abriss zur Geschichte der Vererbung erworbener Eigenschaften

2.1. Vorwissenschaftliche Periode

2.2. Wissenschaftliche Periode ohne ausreichende Kenntnisse von Entwicklung und Vererbung

2.3. Prüfung biologischer Grundfragen

2.3.1. Beliebige Wandlungsfähigkeit contra Konstanz der Arten

2.3.2. Anthropozentrische Teleologie contra Dysteleologie und Antiteleologie

2.3.3. Pangenesistheorie contra Keimplasmatheorie

2.3.4. Variabilität contra Konstanz der Erbfaktoren

2.4. Wissenschaftliche Ursachenforschung

2.4.1. „Empirische Belege“ für den Lamarckismus

2.4.2.Indirekte Beweise und theoretische lamarckistische Behauptungen

2.4.3. Allgemeine Behauptungen ohne empirische Begründung

2.4.4. Zusammenfassende Betrachtung

2.4.5. Das Zentral-Dogma der Molekularbiologie

3. WEISMANN und die Vererbung erworbener Eigenschaften

3.1. WEISMANN als Vertreter der Vererbung erworbener Eigenschaften

3.2. Die theoretische Kritik am Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften

3.3. Die Kontinuität des Keimplasmas

4. Das Evolutionskonzept Herbert SPENCERs

4.1. Die Wurzeln: Ontogenese als Modellfall der Evolution

4.2. Universalität und Kontinuität

4.3. „The persistence of force“ und die Notwendigkeit der Evolution

4.4. Die Evolutionsformel SPENCERs

4.4.1. Evolution und Dissolution

4.4.2. Integration und Differenzierung

4.5. Survival of the Fittest

4.6. Die Vererbung erworbener Eigenschaften

5. Der Disput zwischen SPENCER und WEISMANN

5.1. Der historische Verlauf

5.2. Die inhaltlichen Aspekte des Disputes

5.2.1. Das taktile Auflösungsvermögen der Haut

5.2.2. Die Telegonie oder Fernzeugung

5.2.3. Degenerationserscheinungen

5.2.4. Die harmonische Anpassung oder Koadaptation

5.2.5. Die „Neutra“ staatenbildender Insekten

5.2.6. Der Einfluss der Nahrung bei staatenbildenden Insekten

5.2.7. Instinkte

5.2.8. Anpassungserscheinungen „bloß passiv funktionierender Teile“

5.2.9. Die Vererbung von Verstümmelungen und Verletzungen

5.2.10. Die musikalische Begabung des Menschen

5.2.11. Die Germinalselektion

5.3. Generelle Betrachtungen

5.3.1. Extremer Reduktionismus contra moderater Mechanismus

5.3.2. Definitionen des Phänomens Leben

5.3.3. Das Verhältnis von Vererbung und Variabilität

5.3.4. WEISMANN und die Bedeutung der Zytogenetik

6. Der Fall LYSSENKO

6.1. Die Vorgeschichte (1929- 1935)

6.2. Die erste Phase (1935 - 1941)

6.2.1. Der Kampf gegen Klassenfeinde

6.2.2. Die neue Biologie

6.2.3. Die Auseinandersetzung mit WAWILOW

6.3. Die Nachkriegsphase (1946 - 1962)

6.3.1. Die „historische“ Tagung der Lenin-Akademie für landwirtschaftliche Wissenschaften und ihre Folgen

6.3.2. Das Wiedererwachen der Genetik

6.4. Der Niedergang LYSSENKOs (1962 - 1966)

7. Kurzbiographien

7.1. Herbert SPENCER 80

7.2. August WEISMANN

8. Zusammenfassung

9. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

„Wissenschaft entwickelt sich nicht nach autonomen Gesetzen im luftleeren Raum. Sie wird von Menschen gemacht, die ihre Kreativität für neue Ideen, ihre Intelligenz und Urteilsfähigkeit, aber auch ihre Hoffnungen und Befürchtungen, ihre Wünsche und Abneigungen in diese Arbeit einbringen. So kommt es zu Paradigmen, von denen geleitet die historische Entwicklung einen oft diskontinuierlichen und teils langsamen, dann wieder überstürzt raschen Verlauf nimmt - ähnlich einem Fluß, der über lange Strecken behaglich breit dahinfließt, sich dann reißend und mit Turbulenzen durch eine Enge stürzt und oft unerwartet seine Richtung ändert. Genau wie Geschwindigkeit und Richtung des Flußlaufes nicht nur vom Flußbett selbst und der Menge des zugeführten Wassers abhängen, sondern auch von den geographischen Formationen in der Umgebung, so haben die geistigen und gesellschaftlichen Zeitströmungen einen Einfluß auf die Wissenschaft.“1

Eine solche Umbruchsituation, in der der Strom der Wissenschaft plötzlich seine Richtung ändert, ist im Jahre 1883 gegeben, als August WEISMANN zum ersten Male die Hypothese einer Vererbung erworbener Eigenschaften wissenschaftlich anzweifelt.2 In diesem Aufsatz sind bereits die wesentlichen Elemente seiner Vererbungstheorie enthalten. „Er vertrat zwar nicht als erster, aber als erster mit aller Konsequenz den Gedanken, dass die Vererbung auf der unveränderten Weitergabe spezifischer stofflicher Träger von Erbanlagen von einer Generation auf die andere beruht […]. Gegen die Auffassung, die Vererbung sei eine Eigenschaft des Gesamtorganismus schlechthin, bemerkte er treffend: „Mit demse1ben Recht, mit dem man eine Vererbungssubstanz leugnet, könnte man auch eine Denksubstanz leugnen und behaupten, der Mensch dächte mit dem ganzen Körper, da ja das Gehirn allein ohne den Körper auch nicht denken kann.“3 Die WEISMANNsche Vererbungstheorie zeigt die nahezu beliebige Unwahrscheinlichkeit des Konzeptes der Vererbung erworbener Eigenschaften auf.

Regressionen sind auch in der Wissenschaft möglich, und so wird die Hypothese der Vererbung erworbener Eigenschaften im 20. Jahrhundert nochmals heiß umkämpft.

„Ist das vorherrschende gesellschaftliche System einer Wissenschaft feindlich gesonnen, dann wird ihr allmählich der Boden entzogen, […]. Seit Ende der dreißiger Jahre war […] die Genetik in der Sowjetunion tabu. An ihre Stelle trat, offiziell gefördert, der pseudowissenschaftliche Lyssenkoismus, der die Ergebnisse der Genetik ableugnete und behauptete, die Erbkonstitution könne durch Manipulation der Umwelt fast unbegrenzt in der gewünschten Richtung verändert werden.”4

Die in dieser Arbeit geschilderte Auseinandersetzung um die Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften wird zeigen, wie tief dieser Komplex in die verschiedensten Zweige der Biologie, aber auch in Bereiche der Geisteswissenschaften hineinreicht.

„Who now reads Spencer? It is difficult for us to realize how great a stir he made in the world.”5 Vor ähnlichen Schwierigkeiten sieht sich der Verfasser dieser Arbeit. Denn SPENCERs Werk scheint der heutigen Welt weit entrückt.

SPENCERs Philosophie steht unter Zeitgenossen in hohem Ansehen. Sein biologisches Werk dagegen - vor allem die Principles of Biology6 – erfährt wegen mangelnder Evidenz bei generalisierenden Schlüssen einige Kritik:7

„[…] it is wonderfully clever, and I dare say mostly true. I feel rather mean when I read him: I could bear, and rather enjoy feeling that he was twice as ingenious and clever as myself, but when I feel that he is about a dozen times my superior, even in the master art of wriggling, I feel aggrieved. If he had trained himself to observe more, even if at the expense, by the law of balancement, of some loss of thinking power, he would have been a wonderful man.”

Herzlich danken möchte ich den Professoren Dr. Carsten Bresch und Dr. Rainer Hertel vom Institut für Biologie III an der Universität Freiburg im Breisgau.

1 VOGEL / PPOPPING (1981), 41.

2 WEISMANN (1883).

3 LÖTHER (1963), 463 f.

4 VOGEL / PPOPPING (1981), 41 f.

5 PARSON (1967), 3.

6 SPENCER (1876), SPENCER (1877).

7 DARWIN an HOOKER am 10. Dezember 1866 In: F. DARWIN (1959), II, 239.

2. Abriss zur Geschichte der Vererbung erworbener Eigenschaften

2.1. Vorwissenschaftliche Periode

Die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften reicht weit zurück in das vorwissenschaftliche Denken des Menschen. Hiervon zeugen Sagen, Märchen, Erzählungen des Volksaberglaubens wie auch Volkssitten aus allen Kulturkreisen.

In der vorwissenschaftlichen Periode wird die Frage einer Vererbung erworbener Eigenschaften zumeist unbedenklich bejaht. So berichtet uns die griechische Heldensage nach dem Adelsdichter PINDAR, vom Geschlecht der Pelopiden, wie eine körperliche Eigenschaft, die der Ahnherr Pelops erworben hat, sich als Adelszeichen auf seine Nachkommen überträgt:8

„Pelops war von seinem unmenschlichen Vater Tantalos für ein Gastmahl der Götter geschlachtet worden. Die in diesem Fall mitleidigen Götter hatten jedoch den zerstückelten Leichnam wieder zusammengesetzt und lebendig gemacht. Nur die eine Schulter fehlte und mußte durch Elfenbein ersetzt werden. So ward des Pelops Schulter elfenbein und weiß. Als Folge davon waren […] alle Nachkommen, alle Pelopiden: Atreus, Thyestes, Agamemnon, Menelaos, Iphigenie und Orestes von Geburt an durch einen weißen Schulterfleck oder ein ähnliches Mal ausgezeichnet.“

Ein anderes Beispiel liefert die Sage über Phaeton, den halb-menschlichen Sohn des Helios. Dieser hatte seinem Vater die Erlaubnis abgerungen, mit dem Sonnenwagen um den Himmel zu fahren. Die Pferde, die den Wagen zogen, rannten so nahe an dem Land Äthiopien vorbei, dass die Einwohner Verbrennungen erlitten. Auf diese Weise erwarben sie sich ihre schwarze Hautfarbe, die sie auf alle ihre Nachkommen vererbten.9

Die Vorstellung einer Vererbung erworbener Eigenschaften findet sich oft in Märchen: So gebiert die Frau eines Fischers zwei „Goldkinder“10, nachdem sie zuvor zwei Stücke eines goldenen Fisches verschluckt hat. Diesen „Goldfisch“ hatte ihr Mann gefangen:11

„‘Hör’, sprach der Fisch, […] ‘zerschneid mich in sechs Stücke, zwei davon gib deiner Frau zu essen, zwei deinem Pferd, und zwei leg‘ in die Erde, so wirst du Segen davon haben.’ Der Mann […] tat, wie er ihm gesagt hatte. Es geschah aber, daß aus den zwei Stücken, die in die Erde gelegt waren, zwei goldene Lilien aufwuchsen, und daß das Pferd zwei goldene Füllen bekam, und des Fischers Frau zwei Kinder gebar, die ganz golden waren.“

Oft findet sich auch die Vorstellung des „Versehens“ im Märchengut. So „versieht“ sich die Mutter in eine Person oder ein Wunschbild. Das sich entwickelnde Kind weist später im Sinne einer Vererbung erworbener Eigenschaften mit dem „Versehen“ intendierte Eigenschaften auf:12

„Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätt ich nur ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen! Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Sneewittchen (Schneeweißchen) genannt.“

Wenn solche Sagen und Märchen vom Erzähler nicht faktisch verstanden wurden, so liegt ihnen doch die Überzeugung zugrunde, dass die erzählten Vorgänge prinzipiell vorkommen.

2.2. Wissenschaftliche Periode ohne ausreichende Kenntnisse von Entwicklung und Vererbung

Eine der ältesten Erklärungen für die Vererbung erworbener Eigenschaften bietet die Schrift „Über Luft, Wasser und Land“ des HIPPOKRATES (460 - 377 v. Chr.), in der dieser nicht nur den individuellen Einfluss des Klimas auf Gesundheit und Krankheit der Menschen, sondern auch das Zustandekommen menschlicher Rassenunterschiede behandelt. Er nimmt hierfür eine unmittelbare Einwirkung des Klimas oder anderer äußerer Einflüsse an und erläutert dies am Beispiel der Makrokephalen ausführlich:13

„Zunächst habe ich über die Makrokephalen zu handeln. Denn es gibt nirgends einen anderen Volksstamm mit einer ähnlichen Schädelbildung.

Anfänglich war nämlich der Brauch die Hauptursache für das Langwerden der Köpfe, unter solchen Umständen aber trägt auch die Natur zum Brauch bei. Man hält dort nämlich die mit dem längsten Kopf ausgestatteten Menschen für Angehörige der edelsten Rasse.

Es verhält sich aber folgendermaßen: So oft ein Kind zur Welt kommt, gestalten sie, wenn es noch schwach ist, seinen noch zarten Kopf mit den Händen und zwingen ihn, in die Länge zu wachsen, indem sie ihm eine Binde und was sonst an Hilfsmitteln nötig ist, anlegen. Hierdurch wird die rundliche Gestalt des Kopfes gestört, die Länge aber noch gemehrt. So bewirkte der Brauch ursprünglich, daß ein solches Wachstum entstand.

Im Laufe der Zeit wurde dies jedoch zur Natur, so daß man den Brauch nicht mehr nötig hatte. Der Samen geht nämlich von dem gesamten Körper aus. Von gesunden Teilen gesunder von krankhaften Teilen krankhafter. Wenn nun in der Regel von Kahlköpfigen Kahlköpfige, von Blauäugigen Blauäugige, von Schielenden Schielende gezeugt werden, und für eine andere Erscheinungsform dasselbe gilt, was hindert da, daß von einem Langköpfigen ein Langköpfiger gezeugt wird?

Jetzt aber kommen sie nicht mehr in derselben Form wie früher auf die Welt, denn der Brauch herrscht infolge der Gleichgültigkeit der Menschen nicht mehr.“

Dieser Brauch ist mehrfach durch Schädelfunde belegt. Makrokephal deformierte Schädel sind nicht nur für die von HIPPOKRATES erwähnten skytischen Volksstämme auf der Krim, sondern beispielsweise auch für Indianerstämme nachgewiesen.14

HIPPOKRATES vertritt hier die Panspermielehre, die den Samen - bei der Frau das Menstruum - als „Gemisch von winzigen stofflichen Repräsentanten […] aller Organe und Gewebe der Eltern“ ansieht. „Das Kind ist […] hinsichtlich der Summe seiner Qualitäten präformiert, determiniert, jedoch nicht streng, da dem Einfluß von, Luft, Wasser und Land’ ein bedeutender Spielraum zugestanden wird.“15

Im Gegensatz zu HIPPOKRATES verneint ARISTOTELES (384 - 321 v. Chr.) die Panspermielehre. Er vertritt das Konzept der Epigenese.16 An der Hypothese der Vererbung erworbener Eigenschaften hält indessen auch er fest:17

„Die Kinder werden ihren Erzeugern ähnlich nicht allein in angeborenen, sondern auch in später erworbenen Merkmalen. Denn der Fall ist vorgekommen, daß wenn die Eltern Narben hatte, ihre Kinder an derselben Stelle das Zeichen der Narbe hatten und in Chalkedon zeigte sich bei dem Kinde eines Vaters, welcher auf dem Arme ein Brandzeichen hatte, derselbe Buchstabe, nur verwischt und nicht scharf ausgeprägt.“

Lange Zeit vergeht, bis die Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften experimentell zweckmäßig angegangen werden kann. Es fehlen Erkenntnisse über Vererbung sowie zur Ontogenese und Phylogenese. Dazu müssen zunächst einige Vorfragen wissenschaftlich geklärt werden.

2.3. Prüfung biologischer Grundfragen

Mögen uns heute vielleicht die wissenschaftlichen Ansätze im Altertum naiv-phantastisch erscheinen, so gebührt ihnen jedoch zusammen mit den Sagen das Verdienst, die Vielseitigkeit der Fragestellung aufgeworfen zu haben. So reift langsam die Erkenntnis heran, dass zunächst drei grundsätzliche biologisch-genetische Fragestellungen bearbeitet werden müssen:

Gibt es überhaupt einen Erbwandel?

Welchen Wert und Zweck haben erbliche Anpassungen?

Was ist Ursache des Erbwandels?

Eine systematische Klärung der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften wird durch einen starren von Vorurteilen geprägten Dogmatismus lange Zeit behindert. Verschiedene, oft dogmatisch vertretene Grundhypothesen müssen zunächst erschüttert werden - so etwa die Hypothese einer beliebigen Wandlungsfähigkeit der Arten oder die Hypothese einer auf den Menschen bezogenen Zweckmäßigkeit in der Natur wie auch die Pangenesistheorie. Dies geschieht zumeist durch ebenso dogmatisch vertretene Gegenthesen.

Im Folgenden sollen vier solcher antithetisch formulierten „Dogmenpaare“ zur Sprache kommen, aus deren Ringen sich eine wissenschaftliche Erarbeitung der Problematik um die Vererbung erworbener Eigenschaften entfaltet.

2.3.1. Beliebige Wandlungsfähigkeit contra Konstanz der Arten

Seit der Entdeckung Amerikas und des Seeweges nach Indien wird durch die Erschließung vieler neuer Länder eine lawinenartig anwachsende Zahl neuer Arten bekannt. Diese geht in ihrer Höhe weit über das hinaus, was man den biblischen Schöpfungsberichten entnehmen zu dürfen glaubt. Man erklärt sich diese große Artenzahl durch eine Abänderung ursprünglich geschaffener Arten. Teilweise wird eine beliebige Wandlungsfähigkeit der Arten vertreten.18

Wenn ein Naturforscher vom Format eines Albrecht VON HALLER (1707 - 1777) behaupten kann, der Weizen auf dem Acker verwandele sich in Quecke und Lolch19, solange man glaubt, Enten könnten an Bäumen wie Früchte wachsen20 und Frösche und dergleichen entstünden aus Schlamm, solange musste die Vererbung relativ geringfügiger erworbener Eigenschaften völlig unproblematisch erscheinen.

Carl von LINNE (1707 - 1778) räumt mit seinem Gegendogma von der Konstanz der Arten mit dem Aberglauben an eine faktisch beliebige Wandelbarkeit der Arten auf. Erst in dieser Auseinandersetzung eröffnen sich wissenschaftlich ernst zu nehmende Vorstellungen wie die Abstammungslehre LAMARCKs (1744 - 1829) und GEOFFROY SAINT-HILAIREs (1772 - 1844), die eine allmähliche, langsame Umwandlung der Arten vertreten, eine Ansicht, die sich schließlich durch DARWIN siegreich durchsetzt.

Die Problematik: Konstanz und / oder Variabilität wird später auf genetischem Niveau neu aufgeworfen.21

2.3.2. Anthropozentrische Teleologie contra Dysteleologie und Antiteleologie

Die „ältere Teleologie“ vertritt vor allem in der Physikotheologie22 des 17. und 18. Jahrhunderts die Annahme einer auf den Menschen bezogenen Planmäßigkeit der Natur und der in der Natur wirkenden Zweckursachen. Schon früh werden gegen eine solch anthropozentrische Teleologie aus philosophischen Kreisen Einwände erhoben. So vertreten zunächst DESCARTES und SPINOZA solche dysteleologischen oder antiteleologischen Einstellungen.23 Für KANT24 ist der Zweck ein „Fremdling in der Naturwissenschaft“. Zweckmäßigkeit sieht er nicht als konstitutives, sondern nur als regulatives, d.h. heuristisches Prinzip an.25 Viele Biologen übernehmen solche Auffassungen, andere gehen darüber hinaus und erklären jede Wert- und Zweckforschung im Bereich der Naturwissenschaft für unzulässig - wie etwa SCHLEIDEN:26

„Die Teleologie oder die Lehre von der Zweckmäßigkeit in der Natur […] ist auch in ihrer richtigen Anwendung jetzt so ziemlich bei allen bedeutenden Naturforschern bei Seite geschoben […]. Da mag ein Mensch sich daran ergötzen, daß eine Blumenkrone so gebaut ist, daß ein Insekt wohl hineinschlüpfen, aber nicht eher wieder entkommen kann, als bis es durch sein unruhiges Umherlaufen den Blütenstaub auf die Stempelmündung übertragen hat, worauf sich durch das Verwelken der Blumenkrone sein Kerker öffnet! Immer bleibt es aber ein Notbehelf für beschränkte Köpfe und es ist mit Recht seit langem in zahllosen Parodien verspottet worden.“

Erst aus dem Ringen dieser beiden Strömungen geht als vermittelnde Korrektur ein Begriff der Zweckmäßigkeit im „rein ökologischen“ Sinne hervor, der jeglicher anthropomorpher und anthropozentrischer Bedeutungsinhalte entbehrt:27