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Im Nordosten Afghanistans kämpfen verschiedene Gruppen und politische Mächte um die Vorherrschaft: Die Alliierten Truppen setzen alles daran, um das Land am Hindukusch bald verlassen zu können und die politische Verantwortung in die Hände der Einheimischen zu geben. Nur, wem können sie vertrauen? Das Land versinkt in Machtkämpfen zwischen verschiedenen Volksgruppen, Stämmen, Islamisten und ausländischen Geheimdiensten. Eine geplante Loya Jirga, Versammlung der einflussreichen Stammesältesten, in der wichtige politische und ethnische Fragen diskutiert werden sollen, könnte die Machtverhältnisse klären. Allerdings sind die einzelnen Anführer untereinander so zerstritten, dass die Zusammenkunft schon bevor sie begonnen hat, zu scheitern droht. Gleichzeitig taucht in der Schweiz ein Afghane mit einem Edelstein beim renommierten Archäographen Éduard Berniér auf. Der Stein wurde von Nawid, einem Paschtunenknaben, unter dramatischen Umständen gefunden. Nach anfänglichem zögern ist Berniér bereit, den Fund selbst unter die Lupe zu nehmen. Da er sowieso auf dem Weg nach Neu Delhi und nach Kabul ist, trifft es sich zudem gut, dass der Auftraggeber, der Stammesälteste der paschtunischen Hamidzai, ihn kennenlernen will. Es beginnt eine wilde Jagd durch den Nordosten Afghanistans nach einem geheimnisumwitterten Schatz. Von diesem ist schon in den Überlieferungen der afghanischen Geschichte die Rede. Der Schatz birgt aber auch die verlockende Aussicht, das Schicksal der afghanischen Gemeinschaft besser kennenzulernen und daraus Rückschlüsse für die Loya Jirga zu gewinnen – und ruft entsprechend Gegenkräfte auf den Plan, die am materiellen Wert des Juwels oder am politischen Status Quo des Nachbarlandes interessiert sind. Berniér und seine Verbündeten, allen voran der Knabe Nawid, unterdessen der letzte Nachfolger des Stammesältesten der Hamidzai, werden auf eine Odyssee geschickt, in der Freundschaft und Vertrauen überlebensnotwendig werden. cyrill-delvin.net
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Seitenzahl: 605
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die verlorene Legende Afghanistans
Ein Schweiz-Afghanistan-Roman
Cyrill Delvin
Dies ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Vorstellungskraft des Autors oder fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.
Die verlorene Legende Afghanistans
E-Book, zweite deutsche Ausgabe
Alle Rechte vorbehalten.
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
›Am Anfang der Demokratie steht das gegenseitige Abwägen der gemeinsamen Geschichte – und der daraus zu erarbeitenden politischen und kulturellen Dimensionen für die Gegenwart und die Zukunft.‹
Unermüdlich schraubte sich der Adler über der flimmernden Bergflanke nach oben. Unbekümmert der ungewöhnlichen Betriebsamkeit auf der Straße tief unter ihm.
»Wusste gar nicht, dass die Allianz so viele Lastwagen hat«, murmelte Rashad, lässig ans Steuer gelehnt, »hoffentlich gibt es bald wieder anständige Ware in Faizābād … aah, Faizābād …«
Der jugendlich aussehende Mitdreißiger seufzte. Vor einer Stunde hatten ihn die Milizen an der Spitze des entgegenkommenden Konvois angeherrscht, gefälligst Platz zu machen und zu warten. Mehr als siebzehn mit Frachtcontainern beladene Sattelschlepper hatte er bereits gezählt. Neben unzähligen militärischen Begleitfahrzeugen.
Obwohl genügend Zeit war, um rechtzeitig bei Vater einzutreffen, war er nervös. Zu lange hatte er ihn nicht mehr gesehen. Nicht, weil Faizābād während der letzten zwei Jahre wegen der Taliban schlecht zu erreichen gewesen wäre. Viel früher schon hatte er sich entschlossen, seine Heimat zu verlassen und dadurch seinem Schicksal zu entgehen. Aus freien Stücken. Oder aus egoistischem Tatendrang? Damals war er vor der provinziellen Enge geflohen – und der ideologischen Kleinkariertheit des Familienoberhaupts. Aber eigentlich war es Zaina, der er gefolgt war.
Das Autoradio plärrte ihre gemeinsame Musik ab einer rauschenden Kassette. Kein halber Tag war vergangen und bereits vermisste er sie, die Frau seines Lebens …
Zwei Jahre war die Stadt umkämpft gewesen, bevor die Nord-Allianz mit Unterstützung der Amerikaner die Taliban rausgeworfen hatten. Der Erfolg der Allianz, so brüchig er war, gab doch Anlass zur Hoffnung. Faizābād war der letzte Ort gewesen, der von den Gottesschülern genommen worden war. Und es war der erste, der ihnen nun abgerungen worden ist. Andere Städte harrten noch immer unter dem Joch der islamistischen Diener aus. Nicht zum ersten Mal. Und nicht alle sehnten sich nach Freiheit.
Fünfzehn Jahre hatte Funkstille geherrscht, bevor der Vater sein verlorenes Schaf zurückgerufen hat. Seine Brüder waren inzwischen alle tot. Gefallen in diesem gnadenlosen Befreiungskampf, der zum Erstaunen aller über den Sālang-Pass nach Norden geschwappt war. Es war sonnenklar, weshalb er nach ihm verlangte. Eine Stunde früher oder später spielte wahrlich keine Rolle
»… einundzwanzig … zweiundzwanzig …« Dazwischen immer wieder Pick-ups mit schwer bewaffneten Milizen.
Das Interesse an den vielen Lastwagen verflog bei Nawid so schnell, wie es gekommen war. Er hatte seinen Großvater noch nie gesehen und es war ihm überhaupt nicht klar, weshalb sie ihn besuchen sollten. Insbesondere, weil sein Vater auch nicht sonderlich erfreut schien und seine Mutter beim Abschied geweint hatte. Das tat sie sonst nie. Aber die Absichten der Erwachsenen blieben für den klein gewachsenen Dreizehnjährigen unergründlich – vorerst.
Viel näher lag ihm, was sich über ihnen abspielte. Ohne auf die Selbstgespräche seines Vaters zu achten, klebte er seit geraumer Zeit an der Frontscheibe des alten Renaults. Mit verdrehtem Kopf beobachtete er den im Zenit kreisenden Adler.
Zwei Krähen schossen auf einmal auf den großen Vogel zu. Sie versuchten vergeblich, den König der Lüfte in einen Kampf zu verwickeln. Dieser verspürte keine Lust dazu und drehte gemächlich ab. Unerschrocken folgten die schwarzen Biester. Hinter den großen Felsbrocken, die den Ausweichplatz säumten, auf dem sie nun schon so lange hatten warten müssen, verschwand das Trio aus dem Blickfeld des Jungen.
»Kann ich ihm folgen?«
»Wem? Wem willst du folgen?«
»Dem Adler.«
»Was?«
Der schmächtige Junge blickte seinen Vater mit großen Augen an. Ein klares Indiz dafür, dass ihn etwas umtrieb.
»Ja, aber geh nicht zu weit, ich glaube, wir können bald weiterfahren.«
Bereits war die Wagentüre geöffnet und der Knabe hinter den Steinblöcken verschwunden.
Wären wir damals nur gleich nach Amerika ausgewandert, bevor die Radikalen den Hindukusch genommen haben.
Kaum hatte Nawid den Felsblock umrundet, erblickte er den bedrängten Adler wieder. »Er wird so oder so gewinnen«, grinste er und schritt langsam dem bergwärts führenden Pfad entlang. Den Blick unablässig himmelwärts gerichtet, bemerkte er nicht einmal den Hirten, der hinter einem Felsblock Schutz vor der stechenden Mittagssonne gesucht hatte.
Der junge Mann schaute dem Knaben aus dem Augenwinkel, halb belustigt, halb abschätzig nach, bevor er sich entschied, weiter zu dösen. Blasierter Stadtträumer!
»… sechsundzwanzig …« Rashad trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Die schwer bewaffneten und grimmig dreinblickenden Soldaten der Allianz behagten ihm überhaupt nicht. Dass seine drei Brüder mit ihnen gekämpft hatten, machte ihm die Gesellen nicht sympathischer. Als jüngster, jetzt einziger Sohn, weit entfernt von der restlichen Familie, meinte er noch zu viel vom Leben vor sich zu haben, als dass er blauäugig dem Ruf der Miliz gefolgt wäre. Umgekehrt lebte er schon lange genug, um zu verstehen, dass die Taliban unterdessen zum größeren Übel geworden waren, als es die Russen je gewesen waren. Das war auch in Mazār-i šarīf zu bemerken, wo die Freiheiten mit jedem Tag etwas weniger wurden. Kaum spürbar im Einzelnen, über das Ganze jedoch einschränkend. Der Verlust seiner Brüder innert weniger Monate in diesem neuesten Krieg bekräftigte seine abweisende Haltung nur.
Ist es überhaupt ein Krieg, ist es nicht vielmehr das Leben? Mein Nawid soll dieses Schicksal nicht teilen, niemals. Vielleicht sollten wir doch wegziehen. Vielleicht ist es jetzt aber in Faizābād sicherer als bei uns zuhause.
Ernst blickte er das Seitental empor, ohne den Jungen zu sehen, als ein Pick-up auf den Abstellplatz abbog und hinter dem Renault stehen blieb. Rashad traten Schweißperlen auf die Stirne.
Der Anführer stieg aus dem dritten und letzten Wagen, der zehn Meter versetzt hinter dem Renault angehalten hatte. Er gestikulierte die schwerfälligen Milizen von den Ladeflächen herunter.
Rashads Hände begannen zu zittern. Was wollen sie von mir?
Der Anführer aber winkte die Leute nach vorne zu einem am Straßenrand stehenden LKW. Dieser war dem Abgrund zu nahe gekommen und verstopfte die Fahrbahn für die nachfolgenden Laster. Der Fahrer wies die Soldaten auf die Talseite der nicht geteerten Straße, wo die Räder den Boden schon nicht mehr berührten. Der Schlepper hatte einen geplatzten Reifen und drohte jeden Moment, in die Tiefe zu rutschen.
Rashad hielt sich verkrampft am Steuerrad fest und beobachtete das Geschehen. Noch plärrte ihre Musik aus dem Kassettengerät. Hoffentlich kommt Nawid nicht gerade jetzt zurück! Verstohlen nach rechts blickend, sah er den Jungen jedoch eben hinter den nächst gelegenen Felsbrocken hervorkommen. Die Alliierten brauchen ebenso wenig einen Grund, jemanden umzubringen, wie die vermaledeiten Taliban, ging es dem Vater durch den Kopf und er öffnete die Türe.
Kaum ausgestiegen, rannten bereits zwei Soldaten mit erhobenen Gewehren auf ihn zu. Ihm blieb gerade noch genügend Zeit, seinen Sohn mit einem Wink klar zu machen, dass er sich hinter den Felsen verstecken solle.
Erschrocken sah Nawid die beiden Männer auf seinen Vater losstürmen, aber dessen Blick war eindeutig. Flink schlüpfte er hinter den Block und streckte seinen Kopf vorsichtig hervor.
Die Soldaten hatten ihn nicht bemerkt. Sie geboten Rashad harsch, seine Hände zu heben und sich zu ihnen umzudrehen.
»Was willst du?!«
»Nichts«, antwortete Rashad so ruhig wie möglich, »nur etwas die Beine vertreten.«
»Los, ab in den Wagen!«
Sie fuchtelten mit den Gewehren herum.
Derweil war auch der Anführer zum Wagen getreten: »Halt!«, sagte er zu Rashad. »Was haben wir denn da, ein Hazāra? Alleine unterwegs, in einem gestohlenen Wagen?«
»Ich bin –»
»Schweig! Wahrscheinlich hast du den Besitzer umgebracht.«
Die Häme, mit der ihn der Offizier verunglimpfte, ließ Rashad rot anlaufen. Was fiel dem Alliierten überhaupt ein? Er war ein Paschtune, das war doch offensichtlich.
»Ich bin kein …«
»Sei still, räudiger Schiit«, beleidigte ihn der andere abermals. »Du kannst von Glück reden, ich bin in guter Laune. Los, hilf den anderen beim Lastwagen!«
Rashad schaute dem Kommandanten einen Moment zu lange in die Augen. Der wuchtige Seitenhieb warf ihn bäuchlings auf die Motorhaube, wo er mit dem Kopf hart aufschlug. Benebelt sah er Nawid, der hinter dem Felsen hervorguckte. Rashad rappelte sich auf und sagte mit blutender Zunge: »Ich habe verstanden.«
Unter dem Gelächter der drei Soldaten torkelte er zum Lastwagen und half den anderen. Der wilde Fluss rauschte zu ihnen empor, als ob er nach Opfern lechzte, während der Fahrer den geplatzten Reifen ersetzte. Trotz seiner Angst entging es Rashad nicht, dass mit den Containern etwas nicht stimmte. Er war davon ausgegangen, dass der Konvoi Ware nach Faizābād geliefert hatte. In der umgekehrten Richtung nach Kunduz gab es kaum etwas zu transportieren. Noch nicht. Aber die Transporter waren nicht leer. Irgendetwas war geladen, das lebte.
Tiere? Woher sollen die herkommen …? Ab und zu waren ein verhaltenes Stöhnen oder gedämpfte Laute zu hören. Eher ein Quietschen als richtige Schreie. Schweine? Das wäre ja noch abstruser. Menschen? Es wurde weder geredet noch an die Containerwände geklopft.
Rashad verscheuchte den Gedanken und stemmte sich wie die anderen gegen den Anhänger. Als der Reifen ersetzt war, manövrierte der Fahrer den Laster auf die Straße zurück, von der er eben deswegen abgekommen und beinahe den Hang hinunter gestürzt war. Der bärbeißige Kommandant beorderte seine Leute auf die Pick-ups zurück.
Rashad trottete zu seinem Wagen, als sich der Anführer vor ihm aufpflanzte. »Danke für deine Hilfe«, spottete dieser.
Rashad wusste nicht, was ihn überkam, als er nach den Containern fragte.
»Elende Schweine – so wie du.«
Ihm blieb der Mund offen stehen.
Die Miene des Offiziers hellte sich bei diesem Anblick und beim Gedanken an die Fracht sichtlich auf. »Willst du mitfahren?«, fragte er mit gierigem Blick auf den Renault, »das wär doch ein passendes Gefährt für einen Chef …«
»Aber die ersticken doch?«
»Ersticken!«, erwiderte er belustigt. Ohne sich umzusehen, winkte er seine beiden Leibwächter herbei und sagte: » Jamal, Kaden, habt ihr das gehört, die ersticken ja da drin.«
Sie stimmten in sein grausiges Gelächter ein.
Rashad biss sich auf die Zunge.
»Sollten wir ihnen nicht ein wenig Luft verschaffen?«, fragte Jamal mit einem breiten Grinsen.
Wortlos drehte sich der Offizier um und nahm Kaden die Kalaschnikow ab.
»Ich dachte nur – «
»Du halt die Schnauze!«
Im gleichen Moment feuerte der Anführer drei Salven auf die beiden Container ab. Jamal tat es ihm gleich. Diesmal waren die Schreie aus dem Inneren unüberhörbar. Aus einigen der Löcher flossen menschliche Flüssigkeiten heraus.
Rashad vermochte seinen ungläubigen Blick nicht abzuwenden.
Der Anführer reichte die Waffe zurück und meinte befriedigt: »Ihr nehmt den Wagen, du kannst zu Fuß gehen.« Damit stieg er in seinen Pick-up.
Der Vater blieb schockiert stehen. Nicht seines Wagens wegen, sondern wegen des Sattelschleppers, der seine Fahrt wieder aufnahm, als ob nichts geschehen wäre. Die beiden Milizionäre wollten eben in den Renault einsteigen, als der Motor des vorderen Wagens aufheulte und rückwärts auf den zur Salzsäule erstarrten Rashad zuschoss. Unfähig zu reagieren, wurde er überrollt.
Der Offizier kurbelte das Fenster herunter und rief den Soldaten grölend zu: »Habe ich nicht gesagt, er solle gehen?«
Die beiden Milizen grinsten und stiegen in den Renault. Rashad lag auf dem Bauch und krümmte sich vor Schmerzen. Unter dem Wagen hindurch konnte er gerade den Felsblock sehen, hinter dem Nawid hervorschaute. Der Junge kniete zitternd auf dem Boden und blickte ihn an. Der Verletzte gebot ihm unmissverständlich, versteckt zu bleiben. Trotz der zehn Meter Distanz erkannte Nawid die Todesangst in den Augen seines Vaters. Noch etwas anderes sah er: Stolz und Liebe, die er für ihn empfand. Am deutlichsten aber nahm er die Sorge wahr, die sein Vater um ihn hatte. Der Blick sprach Bände und prägte sich dem Knaben für immer ein.
Kaum war der Anführer hinter der nächsten Kurve verschwunden, stieg Jamal wieder aus und inspizierte den am Boden liegenden Mann. Er drehte ihn mit dem Fuß auf den Rücken.
»Bitte«, röchelte dieser schwer atmend.
Der Soldat hob sein Gewehr und senkte es sogleich wieder.
Zwischen den Lastwagen folgten drei Mannschaftsfahrzeuge, die nicht recht zu den anderen Begleitfahrzeugen passten. Der mittlere Panzerwagen bremste ab. Aus dem Inneren musterte ein amerikanischer Offizier die Situation auf dem Abstellplatz. Ein Zwischenfall? Eine private Abrechnung?
Jamal winkte ihm verlegen zu, weiterzufahren.
Offenbar war es dem Amerikaner die Szene nicht wert, das klimatisierte Fahrzeug zu verlassen, welches erneut beschleunigte. Sobald es außer Sichtweite war, hob Jamal das Gewehr und schoss Rashad ohne mit der Wimper zu zucken in den Kopf.
Ohne zu wissen weshalb, durchfuhr Nawid beim Knall und dessen Echo in den Felswänden nur der eine Gedanke: Der Adler gewinnt immer! Dieser Gedanke überlagerte alles andere mit einer Kraft, die ihn vergessen ließ, wo er war, was er war, was geschehen war, was er gesehen hatte, was geschehen mochte. Meinte er bloß oder hörte er tatsächlich den Kampfschrei des großen Vogels über sich?
Der Todesschütze gab seinem Kompagnon ein Zeichen zu warten und näherte sich dem Felsbrocken, um sich zu erleichtern. Nawid konnte nicht klar denken und kroch ängstlich zurück. Jamal vernahm das Rascheln, das er für eine Schlange hielt. Laut stapfend umging er den Block. Zu seiner Überraschung kauerte da ein Junge, der mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hochstarrte.
»Na, was haben wir denn da?«
Ein Lächeln kräuselte sich um seine Lippen, als er ein paar Schritte zurücktrat: »Kaden, das musst du dir ansehen!«
Der Gerufene stieg aus, drückte die Zigarette auf der Motorhaube aus und gesellte sich zu seinem Kameraden.
»Sieh an, sieh an!«, hellte sich Kadens Miene beim Anblick des am Boden hockenden Knaben auf.
»Ein gefundenes Fressen, unverdorben – nicht wahr?«, sagte Jamal und hielt dem Kameraden gleichzeitig die hohle Hand hin.
»Ein Bača für Major Zayd«, versuchte dieser abzulenken.
Jamal schaute ihn durchdringend an. Er kannte seinen Mitkämpfer gut genug. Einmal in den Händen von Kaden, würde es der Junge nicht einmal zu Leutnant Burhān, ihrem Anführer, schaffen, geschweige denn zum Major. Zu hübsch der Knabe, zu verlockend die Gelegenheit, zu groß der Hunger.
»Was will der schon mit einem Hazāra-Jungen anfangen?«, stachelte Jamal Kaden weiter an, die Hand mit Nachdruck hingestreckt. Lieber nahm er eine Zigarette von seinem Kollegen, als sich mit einem quengelnden Balg den Tag zu vermiesen.
»Also dann.« Gespielt unwirsch kramte Kaden eine Zigarette aus seiner Brusttasche.
»Nur so kurz?«, spottete Jamal.
Zerknirscht rückte der beleibte Soldat einen zweiten Glimmstängel heraus.
Jamal steckte sich eine Zigarette an und schlenderte zum Renault zurück. Mittlerweile hatte der letzte Lastwagen die Stelle passiert. Der rauchende Soldat setzte sich hinter das Steuer und drehte die Musik lauter. Auf keinen Fall wollte er das Schreien und Stöhnen hinter dem Felsen mit anhören müssen.
Er wippte im Rhythmus hin und her und steckte sich die zweite Zigarette an.
Mit dem letzten Zug erstarb auch die Musik. Außer dem dumpfen Rauschen des Flusses und des Autos, die ab und zu vorbeifuhren war nichts zu hören. Ohne die Kassette zu wenden, blieb er noch einen Moment sitzen.
Schließlich rief er ungeduldig zum Felsen hinüber: »Nun mach endlich, wir müssen weiter.« Er erhielt keine Antwort. Idiot! Entnervt stieg er schließlich aus: »Was ist los mit dir? Beweg deinen Arsch her …« Außer dem Summen der Fliegen über der Leiche neben dem Wagen war nichts zu vernehmen.
Nur noch zwei Tage bis zum großen Tiermarkt in Artin Jelow.
Sindo war mit der Ziegenherde auf dem Weg dorthin. Natürlich waren es nicht seine Ziegen, aber er trug die Verantwortung für die Tiere, voll und ganz. Vor sechs Wochen hatte er Bakhtingan verlassen und war seither in den Bergen unterwegs. Auf den Markt, der das Ende des Frühjahreszugs und den Beginn des Sommers markierte, freute sich der schlaksige Bursche. Am meisten der Mädchen wegen. Nachdem die strengen Taliban endlich fort waren, durfte man den Mädchen wieder in die Augen schauen. Und träumen … Sein Traum hieß Laleh und war ausnehmend schön.
Halb eingenickt hing er auf der kühlen Seite eines mächtigen Steinblocks solcherlei Gedanken nach, als er jemanden kommen hörte. Aufstehen oder nicht? Die Ziegen sah er weiter oben im schmalen Tal nach Gras scharren, sie waren in Sicherheit. Die Sonne hatte den Zenit überschritten, er würde so oder so bald weiterziehen müssen. Also blieb er lieber sitzen. Der riesige Lastwagenkonvoi auf der Straße war Störung genug.
Gleich darauf ging ein Knabe an ihm vorbei, ohne irgendetwas wahrzunehmen außer dem Adler über ihnen. Als der Kleine kurze Zeit später denselben Pfad zurückkam, hatte er immer noch keine Augen für den Hirten. Halb verärgert über die Ignoranz des offensichtlich paschtunischen Knaben wollte er ihm eben nachrufen, als er vom etwa fünfzig Meter entfernten Abstellplatz Autotüren knallen und Befehle rufen hörte. Das war kein gutes Zeichen! Im Nu war er auf den Beinen und spähte hinter dem Felsen hervor. Der Kleine hatte sich ebenfalls hinter einen Felsen gleich neben der Straße geduckt.
Mist,was ist da los? Wer war der Mann, der beim PKW verprügelt wurde? Die Salven, welche etwas später abgefeuert wurden, galten offensichtlich nicht diesem, sondern – den Containern? Sindo konnte es nicht lassen und huschte ein paar Felsbrocken näher, um mit anzusehen, wie der Mann von einem Toyota überfahren wurde. Der junge Hirte kriegte Gänsehaut. Er konnte sich keinen Reim auf die Ereignisse machen. War es ein Taliban-Kämpfer? Dann ist der Junge ein Komplize? Aber wie ein Kämpfer sieht der nicht gerade aus. Die anderen waren auf jeden Fall von der Allianz. Nur schon, weil amerikanische Panzerwagen mit dem Konvoi unterwegs waren.
Diese ungehobelten Fremden! Zwar hatten sie geholfen, die Taliban aus der Gegend zu vertreiben, aber die Geschichten, die ihm sein Onkel erzählt hatte, warfen kein allzu gutes Licht auf die selbsternannten Befreier Afghanistans. Ein falscher Blick und … Wie seinem Cousin Mishal geschehen, der an einem amerikanischen Checkpoint getötet wurde. Nicht erst seit damals hielt Onkel Borak genauso wenig von den Besatzern wie von den Gotteskämpfern.
Sindos Neugierde übertraf jedoch seine Bedenken. So schlich er weiter zur Straße, bis er einen Felsblock hinter dem Jungen war. In der Zwischenzeit waren die Pick-ups weitergefahren. Noch bevor er den Platz erneut im Blickwinkel hatte, hörte er einen einzelnen Schuss. Verflucht, sie sind noch da!
Gleich darauf erschienen zuerst einer, dann noch ein zweiter Soldat. Sie hatten den Jungen entdeckt. Neben dem Wagen lag der überfahrene Mann nun regungslos da.
Wieso haben sie ihn erschossen, also doch ein Taliban, oder ein Spion?
Ganz gleich, wer jener war, dem Knaben würde es schlecht ergehen. Das erkannte der Hirte schon am Ausdruck des fetten Soldaten. Zudem konnte er ihre Worte deutlich hören.
Sie werden ihn schänden und dann umbringen, dachte Sindo.
Dem jungen Mann wurde es mulmig.
Misch dich nicht ein, er gehört nicht zu dir, sagte ihm seine innere Stimme. Verdammt, wieso bin ich bloß nicht abgehauen …? Ja, wenn es um seine Ziegen gegangen wäre … Er wäre hervorgestürmt wie ein Löwe. Aber ein fremder Junge, ein Paschtune, einer aus der Stadt dazu, das konnte ihm doch egal sein. Es geht dich nichts an!
Der Soldat mit der Hakennase kehrte zum Wagen zurück.
Der andere legte seine Waffe zur Seite und riss dem zitternden Jungen das Übergewand hoch.
Nawid wollte sich wehren, wenigstens den üblen Mann beißen. Aber der Körper gehorchte ihm nicht mehr. Ebenso wenig seine Gedanken. Mit einem Schwung wurde er auf den Bauch geklatscht. Das einzige, was ihn immer noch beschäftigte, war der Kampf des Adlers gegen die beiden Krähen.
Der dicke Mann zog ihm die Hosen herunter. Das Gefühl für sich und die Welt verschwand wie die Theaterbühne hinter dem Schlussvorhang.
Mit geschlossenen Augen sah Nawid deutlich, wie sich die beiden Rabenvögel im Sturzflug näherten, um den Steinadler zu attackieren. Vergebens. Dieser kreischte immer wieder auf und zerriss das Gefieder der schwarzen Vögel mit seinen scharfen Klauen und dem kräftigen Schnabel.
Der Junge merkte, wie er kräftig zu Boden gedrückt wurde und der Mann über ihn kniete. Bis die Krähen endlich von ihm abließen. Der Siegesschrei des Adlers durchfuhr Nawid wie ein Messer. Unwillkürlich öffnete er die Augen und hob den Kopf leicht an. Wenige Meter vor ihm sah er zwei große schwarze Augen, die ihn entgeistert anstarrten.
Nawid flehte weder, noch bettelte er.
Der Blick des wehrlosen Jungen ging Sindo durch Mark und Bein. Bei Allah, deiner Ziege würdest du helfen, aber das Schicksal eines Jungen lässt dich kalt? Ohne weiter nachzudenken, ging er um den Felsbrocken herum, hinter dem er bisher verborgen gewesen war.
Nachdem die Augen aus seinem Gesichtsfeld verschwunden waren, ließ Nawid seinen Kopf sinken. Er hatte wohl halluziniert. Nun lenkten ihn auch keine Gedanken mehr ab. Ihm dämmerte, was gleich geschehen musste. Dennoch lag er wie gelähmt da, unfähig, sich zu regen. Während das Bild des sterbenden Vaters vor seinem inneren Auge vorüberzog, rannen ihm Tränen durch die geschlossenen Lider. Seine Finger verkrallten sich tief in den lehmigen Boden. Er vergrub sich in sein Schicksal.
Sindo wollte sich eigentlich anschleichen, aber in Tat und Wahrheit rannte er geduckt vorwärts und machte entsprechend Lärm. Aber der Mann war zu sehr mit sich und seinem Gewand beschäftigt, als dass er etwas anderes wahrgenommen hätte. So umrundete der Hirte das ungleiche Paar unbemerkt und zog seinen Dolch.
Mit geschlossenen Augen, konzentriert auf sich und seine Beute, bemerkte Kaden nicht, wie sich nur einen Schritt hinter ihm jemand erhob.
»Schweinehund«, zischte der Hirte durch die Zähne. Noch während er den fleischigen Kopf am Schopf nach hinten riss, durchtrennte er dem völlig perplexen Mann die Kehle mit einem sauberen Schnitt. Genauso, wie das Ziegenblut beim Schlachten hervorschießt, kam es Sindo in den Sinn; und darin hatte der junge Afghane Übung.
Ein gurgelndes Geräusch war das Letzte, was Kaden von sich gab.
Nawid biss sich auf die Zähne, als die schwere Hand unkontrolliert über seinen Rücken fuhr und sich schwallweise etwas Warmes über seinen entblößten Hintern ergoss. Er bemerkte noch, wie der Mann zur Seite rutschte und stöhnte, bevor ihm vor Ekel schwarz vor Augen wurde.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem Rücken und schaute in dieselben schwarzen Augen wie zuvor.
»Wir müssen hier verschwinden«, schüttelte ihn Sindo heftig.
Nawid fasste sich an seine Hüfte, die Hose war hochgezogen. Er fasste sich ans Gesäß, das noch immer feucht war. Die schmierige Flüssigkeit an seinen Fingern war tief rot. Blut! Was hat er bloß mit mir gemacht? Erschrocken wagte er nicht mehr, sich zu bewegen und schloss die Augen wieder. Er wusste, dass der Schmerz erst kam, wenn man die Verletzung sah.
Sindo rüttelte ihn erneut und zog ihn halb auf: »Los, wir müssen weg!«
Halb benommen sah Nawid den Soldaten neben ihm auf dem Rücken liegen. Er war blutverschmiert und blickte ihn mit glasigen Augen an. Noch immer wartete Nawid auf den kommenden Schmerz. Er wollte sprechen, aber die Lippen versagten ihren Dienst.
»Komm schon!«, Sindo zerrte den Jungen auf die Beine und weg vom Felsblock, weg von der Straße, weg von seinem toten Vater in Richtung Berge hinauf.
Der Knabe strauchelte mehrmals, so dass ihm Sindo schließlich unter die Arme griff und ihn mehr schleppte als führte. Ich bin nicht verletzt?
Kaum waren sie ein paar Meter so gegangen, als sie den Soldaten vom Wagen her rufen hörten. Eilig warfen sie sich hinter den nächsten Felsblock. Der Hirte sah gerade noch, wie sich der Soldat mit der Hakennase dem Stein näherte.
»Mist!«, fluche dieser, als er den toten Kameraden hinter dem Felsen erblickte.
Sindo zog seinen Kopf zurück und drückte sich und den Jungen ganz nahe an den aufgeheizten Stein. Gerade rechtzeitig, bevor der Milizionär ziellos in ihre Richtung feuerte.
»Verdammte Hurensöhne …!«, schrie Jamal das Tal hinauf.
Er hat uns gesehen. Voller Angst wartete Sindo auf sich nähernde Schritte und umfasste krampfhaft den blutigen Dolch. Aber der Allianzsoldat kam nicht. Kurz darauf hörten sie die Wagentüre zuknallen und das Auto mit Vollgas wegrasen. Sindo spähte vorsichtig um den Felsen. Die beiden Toten lagen unverändert da, das Gewehr war weg. »Sie werden wiederkommen«, sagte er mehr zu sich selber als zum Knaben, der zitternd neben ihm kauerte. Ihnen blieb nicht viel Zeit. »Ich bin Sindo.«
Nawid blickte ihn verstört an.
»Wie heißt du?«, fragte der Hirte unbeholfen, »war das dein Vater?«
Keine Antwort. Aber die Augen des Jungen sagten alles. Nawid versuchte zu sprechen, brachte aber nur ein Stammeln hervor. Zu groß hing ihm der Kloß im Hals.
Sindo spähte einmal mehr auf die Straße hinunter. »Wir müssen uns verstehen«, drängte er nach einer kurzen Pause. »Wenn wir uns nicht verstehen, werden sie uns töten.«
Nawid brabbelte unverständlich.
»Verflucht noch mal, bist du blöd?!«, brauste Sindo auf. Es war das erste Mal, dass er einen Menschen getötet hatte. Der Handgriff war ihm genauso leicht gefallen wie beim Schlachten einer Ziege. Aber es war doch so anders. »Was habe ich mir bloß dabei gedacht, jetzt suchen sie mich und nicht ihn«, murmelte er in sich zusammensackend.
Wütend kreischte der Adler über ihnen und wich den Geiern, die sich langsam dem Ausstellplatz näherten.
»Danke …«, hauchte Nawid endlich. Der Adler gewinnt doch immer? »… ich bin – Nawid – «, mehr vermochte er im Moment beim besten Willen nicht zu sagen.
Sindo öffnete die Augen und blickte ihn an. Ich könnte ihn einfach hier lassen, dachte er sich. Stattdessen sagte er: »Wir müssen von hier verschwinden.« Der Hirte schüttelte seinen Kopf und blickte talaufwärts. Seine Ziegen waren unbekümmert am Grasen. Schon bald musste er sie zum Schutz für die Nacht ins Steingehege weiter oben treiben. Bis dort war es mindestens eine Stunde Fußmarsch. »Komm – du kannst mir beim Zusammentreiben der Ziegen helfen.«
Ohne sich umzublicken, ging er den Pfad entlang. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Der Junge kauerte noch immer beim Felsen. »Sie werden wiederkommen und nach uns suchen«, meinte Sindo nervös.
Nawid drehte sich ab und schaute auf den unter ihnen liegenden Platz. Sein Vater glich aus der Ferne einer Puppe. Verdreht wie er dalag, unachtsam weggeworfen.
Sindo ging zu ihm zurück: »Du kannst nichts mehr tun, er ist tot.«
»Wieso? Ich hab doch gar nichts getan?«
»Jeder ist schuld – in diesem Land, irgendwie«, erschauerte Sindo beim Gedanken an seine eigene Bluttat. Schließlich fasste er den Knaben bei der Hand und zog ihn hinter sich den Weg hinauf.
Erst jetzt ließ sich Nawid wegführen. Er spürte, dass die Verbindung zu seinem Vater unwiederbringlich gelöst worden war. Und er wusste nicht, was er tun sollte. Er glaubte, dass Sindo ihm nicht böse wollte. Was hätte er auch sonst glauben sollen? Mit der immer hastiger werdenden Vorwärtsbewegung und der sich senkenden Sonne verkrochen sich seine Gedanken langsam in dem neuen, dunklen Abgrund, der sich in seiner Seele auftat.
Jamal hatte inzwischen das amerikanische Begleitfahrzeug eingeholt und hupend zum Stehen gebracht.
»Was ist?«, schnauzte ihn der Dolmetscher aus dem Fond des Panzerwagens an.
»Ein Taliban-Hinterhalt, sie haben Kaden erschossen. Ihr müsst das Nest sofort ausheben …!«
Der Offizier auf dem Beifahrersitz musterte den wild gestikulierenden Alliierten skeptisch durch seine verspiegelte Sonnenbrille.
»Wie viele? Bewaffnung?«, ließ er knapp via den Übersetzer fragen.
»Ich weiß nicht. Sie haben den verunfallten Mann und meinen Kameraden hinterrücks ermordet. Ich konnte gerade noch in den Wagen springen und – schnell, bevor sie sich in den Bergen verschanzen …«
Dem Amerikaner war deutlich anzusehen, dass er Jamal kein Wort glaubte. Schon wollte er den Befehl zum Weiterfahren geben, als Burhān, der Anführer des Gefangenentransports, zu ihnen stieß.
»Was ist los?«, sagte er in gebrochenem Englisch.
Der braungebrannte Amerikaner deutete mit dem Kopf wortlos zum Soldaten, der inzwischen ausgestiegen war.
Nach einem gedämpften aber intensiven Palaver schlug ihn der afghanische Offizier heftig ins Gesicht. »Artina, Memme …!«, war das einzige vernehmbare Wort.
Zum Panzerfahrzeug gewendet ließ er verlauten: »Offensichtlich hat sich eine Gruppe Taliban im Tal beim Abstellplatz verschanzt. Zur Sicherung der Straße müssen sie ausgehoben werden. Du musst eure Aufklärung und Unterstützung anfordern.«
»Ich glaube deinem Soldaten kein Wort«, erwiderte der Offizier kühl.
»Du kannst glauben, was du willst – wir werden gehen und ich werde deine mangelnde Kooperationsbereitschaft melden.«
Der Amerikaner nahm seine Sonnenbrille ab und fixierte den hitzigen Allianz-Anführer durchdringend, bevor er aus dem Panzerfahrzeug stieg. Der hoch dekorierte Zweisternegeneral überragte den kleingewachsenen Burhān um mehr als einen Kopf.
»Ich warne dich, Aziz Burhān«, sagte Generalmajor DeWitt ruhig, »du wirst die Verantwortung für diese Operation alleine tragen müssen.«
»Ich bin bereit, für mein Land zu kämpfen, im Gegensatz – «
»Still!« unterbrach ihn der Amerikaner zischend.
Beide wussten sehr wohl, mit wem und wovon sie sprachen.
Unverzüglich ließ DeWitt seine Panzerwagen wenden. Sie brausten los, ohne auf die anderen zu warten. Via Funk forderte er von der US-Basis in Mazār-i šarīf Satellitenaufklärung und zwei Kampfhubschrauber vom Luftstützpunkt in Kunduz an. Er wollte den Schauplatz ungestört inspizieren, bevor das Tohuwabohu losgehen würde.
Burhāns zunächst zufriedene Miene verdüsterte sich, als er mit seinen Leuten den Amerikanern nicht zu folgen mochte. Er traf auf dem Abstellplatz ein, als dieser bereits durch sechs amerikanische Soldaten gegen das Seitental hin abgesichert war. »Verflucht«, brummte Burhān, als er zu DeWitt lief, der gerade beim Toten kniete.
Überfahren und dann erschossen, war sich der Generalmajor schnell schlüssig. »Wo ist der Soldat?«, fragte er beim Aufstehen.
»Er liegt hinter dem Felsen da.«
Burhān stellte sich zwischen ihn und den besagten Felsblock.
Ein Hinterhalt? Wortlos ging DeWitt zum Panzerfahrzeug zurück und schaute sich die nun eintreffenden Live-Satellitenbilder an. Diese zeigten in der Tat zwei Punkte, die sich in nicht allzu weiter Entfernung das Tal hinaufbewegten. Die Auflösung war zu ungenau, um Einzelheiten zu erkennen. Allerdings war das Bewegungsmuster eindeutig: Zwei Menschen liefen langsam von ihrem Standort weg, ohne Deckung zu suchen, ohne schweres Gerät bei sich zu haben. Dazu eine Menge kleiner Tiere.
»Werten Sie aus, wann und woher die beiden kamen!«, befahl er dem Aufklärer im Fond. Ohne Burhān anzusehen, der unterdessen hinter dem Generalmajor stand, stieg DeWitt ein und schloss die Türe. Er machte sich sein eigenes Urteil über die Angelegenheit.
»… ich gehe davon aus, dass sie uns zugunsten ihrer eigenen Angelegenheiten ausspielen wollen«, meldete er dem Oberbefehlshaber General Scott in Kabul.
»Setz ein Exempel, aber vermeide jedes Risiko. Sei auf der Hut, den Freischärlern ist nicht zu trauen. Dir ist klar, dass du eigentlich gar nicht in der Pampa draußen sein dürftest – nicht jetzt, wo die Basis in Mazār für uns so wichtig geworden ist … Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, sind weitere Tote, und schon gar nicht tote GIs!«
»Jawohl, General Scott, ich werde die Aufklärung mit den Hubschraubern vornehmen.«
Eine Viertelstunde später näherten sich die beiden Kampfhubschrauber. Die Bat Two zog eine Erkundungsschlaufe über das wegführende Tal. »Keine Spur von feindlichen Subjekten oder Kampf-Arsenal in Reichweite, weiter oben eine Ziegenherde und zwei Männer gesichtet«, meldete Captain Hensley dem Generalmajor bevor sie aufsetzten, um ihn aufzunehmen. Noch waren sie nicht am Boden, als DeWitt den Wagen verließ und schnurstracks auf den Felsen zulief, hinter dem der tote Soldat liegen sollte.
Burhān hastete ihm nach und schrie, um das Dröhnen der Rotoren zu übertönen: »Wollen wir nicht gleich losfliegen?«
Ohne sich umzusehen, gab der Amerikaner zurück: »Ich fliege los, wenn ich es befehle – keine Angst, du wirst deine Show bekommen.« Was er hinter dem Stein vorfand, bestätigte ihn in seiner Ansicht. Es ging hier um irgendwelche Stammesangelegenheiten. Dem Soldaten war offensichtlich die Kehle aufgeschlitzt worden. Wäre es wirklich ein Hinterhalt der Gottesschüler gewesen, gäbe es nicht bloß zwei, sondern viele Tote. Und vor allem Spuren von echten Kampfhandlungen. Aber nichts davon war zu entdecken.
»Diese Bastarde«, schnaubte Burhān.
DeWitt kniete neben den Toten. Er wurde überrascht, hat sich nicht gewehrt, die Hosen halb unten. Hmm … Neben der Leiche muss noch jemand gelegen haben. Eine Frau, ein Kind? Nur für das geübte Auge zu sehen, zeichneten sich zwei kleine Handabdrücke ab. Auf dem Bauch, wehrlos? Dank seinem Spürsinn hatte er schon manche Situation richtig eingeschätzt – nicht zuletzt deswegen hatten er und seine halbe Mannschaft damals in al-Kuwait überlebt. Er sah hier keine Gefahr für sich und seine Soldaten. Mit rotem Kopf stand er auf und lief zum Hubschrauber.
Burhān tänzelte hinter ihm her wie ein Schoßhund: »Ich komme mit zwei Soldaten mit.«
Der Generalmajor blieb abrupt stehen und brüllte: »Taliban? Pass auf, dass du deine Party oben am Berg nicht verpasst!«
Als die beiden Hubschrauber abhoben, sah DeWitt, wie der Anführer seine Soldaten zu Fuß das Tal hinaufhetzte. Von wegen Hinterhalt! Aber was wollte Burhān – Ehre, Rache …?
Sindo und Nawid waren noch keine zwanzig Minuten hochgestiegen, als sie die schweren Fahrzeuge unten im Tal hörten. Sie kommen! Und weiter hetzten sie. Der Ältere hastig und nervös, der Jüngere außer Atem und wie in Trance.
Die ersten Ziegen, die ihren Weg kreuzten, beruhigten den Hirten spürbar. Die Leitziege trottete den beiden nichtsahnend hinterher, gefolgt vom Rest der Herde. Wenn wir es nur bis zum Unterschlupf schaffen, bevor uns die Soldaten sehen können, betete Sindo vor sich hin, sonst ist es vorbei.
Schweigend sputeten sie sich eine weitere halbe Stunde bergaufwärts. Dann hörten sie die Hubschrauber. Einer flog hoch über sie hinweg.
Gegen die Amerikaner haben wir keine Chance.
Der felsige Unterstand war zum Greifen nahe. Aber was nutzte es, sich in einem Hirtenunterschlupf zu verstecken, mit einer ganzen Armee auf den Fersen? Sindo verließ aller Mut und er blieb stehen.
»Sind das deine Ziegen«, fragte Nawid, nachdem er Sindo eingeholt hatte, in einer komischen Mischung aus Atemlosigkeit und Unbeteiligtsein?
Sindo sah ihn irritiert an: »Ja – ähm, nein …« Aber sie verraten uns, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. »Siehst du den Felsspalt da oben? Dort können wir uns verstecken.«
Sie erreichten die Höhle, als der Lärm der Maschinen immer lauter wurde.
»Geh hinein und verkriech dich so weit nach hinten, wie du kannst!«
»Und du?«
»Ich werde zu den Ziegen schauen«, antwortete Sindo resigniert, was soll ich sonst tun?
»Ich bleibe bei dir«. Langsam fanden die Worte zu Nawid zurück.
»Besser du gehst rein, wer weiß, was alles noch passiert.« Auch wenn ihm das Herz in die Hosen rutschte, versuchte er, so gut es ging, hoffnungsvoll zu wirken. In seiner Verzweiflung wurde ihm jedoch klar, was zu tun war. Er musste die Verfolger von der Höhle weglocken. »Geh! Ich werde sie ablenken.«
Ohne sich nochmals umzublicken, sprang er den Hang hinauf. Er rief die Leitziege, welche jedoch unbeirrt stehen blieb. Schließlich war ihr Nachtquartier im Steingehege neben dem Unterschlupf und die Sonne hatte die nach Osten ausgerichteten Hänge bereits im Stich gelassen. Nawids unbeholfener Versuch, das Tier wegzuscheuchen, beförderte nur dessen Starrsinn.
»Verschwind jetzt!«, rief Sindo über die Schultern zurück.
Er war noch keine hundert Meter weiter oben, als die Hubschrauber Springböcken gleich über die kleine Kuppe vor dem Schlupfwinkel auftauchten. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die voll ausgerüsteten Infanteristen sprangen in unmittelbarer Nähe von Sindo aus den schwebenden Maschinen.
Der Hirte drehte sich zu ihnen um und hob zitternd die Hände über den Kopf. Seine Haare standen waagrecht nach hinten und er beugte sich gegen den Wind vor. Nur keine falsche Bewegung, sonst geht es mir wie Mishal.
Innert Sekunden legten die Amerikaner den Afghanen flach auf den Boden. Bevor die Hubschrauber aufgestiegen waren, um in Stellung zu gehen, hatten die Soldaten ihn nach Waffen durchsucht und den Dolch sichergestellt. Zwei fassten ihn darauf an den Oberarmen und stellten ihn auf die Füße. Generalmajor DeWitt trat mit dem noch blutigen Dolch in der Hand vor den jungen Mann.
Sindo starrte darauf. Er hatte keine Zeit gefunden, das Blut abzuwischen.
»Ich bin Generalmajor DeWitt und Befehlshaber der amerikanischen Truppen hier. Was ist vorgefallen?«
Zur Überraschung des Burschen sprach der Offizier Darī. Sindo antwortete nicht.
»Wie heißt du?«
Nur nichts Falsches machen. »Sindo-Kalil Abidi – aus Bakhtingan«, sagte er, ohne aufzublicken.
DeWitt schwieg und schaute ihn ernst an. Schließlich wiederholte er: »Was ist vorgefallen?«
»Ich weiß nicht«, wich Sindo aus.
»Wo ist der andere?«
Sindo hob die Schulter, ohne den Amerikaner anzusehen. Nur keinen falschen Blick …
DeWitt spürte dessen Angst, oder war sie nur gespielt? Er musste auf der Hut sein. »Wo ist der andere?«, sagte er mit Nachdruck.
»Wer – «
»Keine Lüge!«
Ohne den Blick vom jungen Afghanen abzuwenden, gab er den anderen Handzeichen, worauf sich zwei Vierergruppen zerstreuten. Besorgt schielte Sindo in Richtung der Felsspalte, neben der die Ziegenherde um das Gehege drängte. DeWitt hatte die Reaktion erwartet und wies die beiden Gruppen entsprechend über Funk an, den Spalt zu sichern.
»Vorsichtig!«, befahl er, während er sich selber in Richtung des Felsens bewegte.
Die GIs näherten sich von der Seite, so dass sie selber nicht zur Zielscheibe werden konnten. Den Tieren wurde das nun doch zu viel. Der Leitziege folgend, begannen sie, sich gemächlich dem kargen Grünzeug entlang talaufwärts zu fressen.
DeWitt stieg gegen den Spalt hinab, zwei Soldaten schleppten Sindo hinterher. Aus der nahen Deckung heraus und so, dass es Sindo begriff, befahl er Bereitschaft, die Kluft mit einer Handgranate zu säubern und zu stürmen.
»Was ist vorgefallen? Ich frage nicht noch einmal.«
Sindo überlegte, ob er nicht doch alles abstreiten sollte. Nur nichts Falsches sagen.
DeWitt hob die Hand. Er war sich nicht sicher, ob der Afghane einlenken würde.
»Nein …«, flüsterte Sindo schließlich. Zitternd sah er den Amerikaner an. Für das, was er getan hatte, musste er alleine geradestehen.
DeWitt zog seine Sonnenbrille ab. Der Jugendliche besaß ausgesprochen feine Gesichtszüge mit dunklen Mongolenaugen. Ein Turkmene? Ein Hazāra? Schwer zu sagen. Er ließ seinen Arm sinken, für ethnologische Studien blieb keine Zeit.
»… es ist ein Junge, sein Vater wurde unten von den Soldaten getötet.«
Der Offizier besaß genügend Menschenkenntnis, um die Wahrheit im Ausdruck seines Gegenübers zu erkennen. Doch da war noch mehr. Und er besaß auch genügend Erfahrung, um die Heimtücke zu kennen, mit der hier gelogen wurde. Also fragte er knapp: »Und?«
»Der Soldat wollte ihn schänden und – ich habe ihn … getötet!« Eine Träne quoll hervor. Sindo war sich nicht im Klaren, ob um dessentwillen, was er getan hatte oder um dessentwillen, was mit ihm geschehen würde. Auf keinen Fall aber wollte er vor dem Amerikaner als Schwächling dastehen, also senkte er sein Haupt.
Der Offizier gab seinen Leuten einige Befehle in Englisch und schritt näher zur Höhle, ständig darauf bedacht, in Deckung zu bleiben. Auf sein Zeichen hin rückten die GIs mit Sindo nach. Neben dem Spalt stehend, befahl er ihm: »Ruf den Jungen!«
»Nawid, komm heraus«, rief Sindo zögerlich.
Keine Antwort.
Dann bestimmter: »Du musst herauskommen …!«
Aber nichts rührte sich.
Vom Tal herauf näherten sich die ersten Milizsoldaten.
Burhān würde die beiden Afghanen töten, eine entsprechende Situation zu provozieren, dürfte ihm nicht schwer fallen. Das galt es unbedingt zu vermeiden; weniger wegen möglicher weiterer Opfer als aus strategischen Überlegungen. Schließlich durften sie sich nicht beliebig ins Bockshorn jagen lassen. Sonst waren dieser Krieg und damit ihr Auftrag nicht wie geplant schon bald zu Ende. Und er würde noch weitere Jahre seines Lebens am Hindukusch verbringen müssen.
»Ich werde hineingehen«, sagte DeWitt kurz entschlossen zu Colonel McColin, »halten Sie die anrückenden Milizen im Auge!«
»Sir, Sie können da nicht reingehen«, erwiderte der Offizier. Nach kurzem Zögern fügte er an: »Ich werde ihn herausholen.«
»Und was willst du ihm sagen?«
»Meine Sprache verstehen alle, das Reden überlasse ich dir, aber nicht alleine, in einer Höhle, von der wir nicht wissen, was oder wer sich darin versteckt!«
McColin hatte Recht, aber der Generalmajor war darauf bedacht, die Situation zu deeskalieren, und zwar schnell. Zu ihm gebeugt flüsterte er: »George, ich möchte den Jungen nicht vor der Miliz exponieren, unter meinen Augen lasse ich kein weiteres Massaker zu!«
»Ich verstehe«, quittierte der Colonel und gab entsprechende Anweisungen.
DeWitt zog Waffe und Taschenlampe hervor und schlüpfte durch den schmalen Felsspalt. Dahinter öffnete sich eine unerwartet geräumige Höhle. Neben einer Feuerstelle sah er eine ausgebreitete Wolldecke und ein Bündel liegen. Es roch nach kaltem Rauch. Der Ort schien als Unterschlupf genutzt zu werden, nur von den Hirten?
Auf den ersten Blick konnte der Amerikaner keine Gefahr ausmachen. Niemand war zu sehen oder zu hören. Im hinteren Teil verengte sich die Höhle ähnlich wie beim Eingang. Vorsichtig durchquerte er die Kluft und zündete mit der Lampe in den Spalt. Das Weiß zweier Augen leuchtete im Lichtkegel auf. Es ließ ihn nicht los.
»Komm mit erhobenen Händen hervor!« Der Amerikaner zielte unablässig mit der Waffe in Richtung des Augenpaares. »Ich tue dir nichts.«
Nawid konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen. Die Pistole wirkte bedrohlich, die Worte nicht. Was war zu tun? Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, trat er schließlich einen kleinen Schritt vor und hob die Arme. Nachdem nichts passierte, einen weiteren, und noch einen. Bis er fast in der Mitte des Unterschlupfs stand.
DeWitt hielt ihn scharf im Visier, als er um ihn herumging, um den hinteren Teil zu inspizieren. Die Kaverne war dort fertig, niemand versteckte sich mehr. Er musterte das eingetrocknete Blut auf Nawids Gewand. Er ist nicht verletzt, wie sonst könnte er so da stehen. Als er wieder vor dem Jungen stand, senkte er die Waffe.
»Ich bin Generalmajor DeWitt und Befehlshaber der amerikanischen Truppen. War das auf dem Parkplatz dein Vater?« Er brauchte die Antwort nicht abzuwarten, der Blick des Knaben verriet es. »Weshalb wurde er getötet?«
Nawids Augen wurden wässrig: »Ich …«
»Noch zweihundert Meter, Sir«, rief der Colonel in die Höhle.
Sie mussten jetzt gehen. »Wenn du willst, nehmen wir dich mit und bringen dich nach Hause?«
Der Junge stand bewegungslos mit erhobenen Händen da. Beim Gedanken an seine Mutter begann er zu schluchzen.
»Sir?«
»Komm!« Der Generalmajor wollte den Jungen packen. Der jedoch wich erschrocken einen Schritt zurück.
»Sir!«
»Willst du hierbleiben?«
Nawid glitt zurück in das Dunkel der Höhle.
»Okay, dann …« Ist auch besser – wenn Burhān den Knaben nicht zu Gesicht bekommt. DeWitt trat rückwärts durch den engen Felsspalt ins Freie.
»Und?«, wollte McColin wissen.
»Wir gehen den Milizen entgegen und werden sie mit dem Konvoi wie geplant nach Mazār-i šarīf geleiten. Die Hubschrauber sollen auf dem Parkplatz warten. Kein Wort von den Jungen«, befahl er den nahe stehenden Soldaten.
Zu Sindo sagte er: »Du bleibst hier und passt auf den Knaben auf – versteck dich da oben und lass dich nicht blicken – und dann verschwindet von hier!«
Der Hirte machte sich schleunigst davon.
Nawid bereute seine Entscheidung, kaum hatte der Amerikaner den Unterschlupf verlassen. Was, wenn die anderen Männer zurückkommen? Schließlich ging er zum Ausgang. Aber es war niemand mehr da. Auch nicht die Ziegen oder Sindo. Einzig die Milizsoldaten sah er keine hundert Meter weiter unten um eine Ecke biegen. Erneut von Panik ergriffen, schlüpfte er in die Höhle zurück.
Gleich ist es vorbei, sie werden kommen und mich töten!
Sein Atem ging schwer. Er zwängte sich so weit wie möglich in die hinterste Felskluft. Schweiß trat ihm auf die Stirn und er begann unkontrolliert zu schlottern. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag verlor er die Kontrolle über seine Gedanken und seinen Körper. Langsam begann seine Welt zu verblassen, ohne dass ihm schwarz vor Augen geworden wäre. Ohne Zeitgefühl harrte er aus, gebannt wie die Maus vor der Schlange, bis ihn ein Schuss aufschreckte.
Die Soldaten sind zurück und haben Sindo getötet.
Dann fiel ein zweiter Schuss. Galt er ihm, war er jetzt tot?
Aber es war noch nicht fertig, es fiel ein weiterer Schuss, und noch einer, immer mehr, ohne Ende. Mit jedem Schuss sah Nawid seinen Vater aufs Neue sterben. Die Macht der Vorstellung drückte den Jungen fester und fester in die Nische. Er hatte keine Ahnung, wann der Horror endlich aufhörte und er rücklings in ein abgrundtiefes Loch zu stürzen begann.
Etwas unterhalb des Unterschlupfes traf DeWitt auf Burhān und seine Milizionäre. Er war auf alles gefasst. Der Colonel bildete die Nachhut und dirigierte seine GIs in taktisch günstige Positionen, ohne dass es die anderen bemerkten.
»Hier ist nichts, keine hinterhältigen Taliban! Der Ziegenhirte hat Schüsse von der Straße her gehört, aber keine Kämpfer gesehen.«
»Das soll ich glauben?«, keuchte Burhān keck.
»Glaub, was du willst«, erwidertet der Amerikaner scharf, »wir leben noch, sind nicht angegriffen worden und haben unsere Befehle auszuführen. Anweisungen von deinem General notabene, die Gefangenen sicher nach Mazār-i šarīf zu eskortieren – und nicht Babysitter für deine eigenen Leute spielen. Ist das klar?!«
Der afghanische Offizier lief puterrot an.
»Sind wir uns einig?«, sagte DeWitt nachdrücklich.
»Ja«, presste der Paschtune zornig hervor und machte auf dem Absatz kehrt. Nicht ohne zuvor den Bergkamm genau zu mustern. Guckte da nicht jemand hinter einem Felsen hervor? Der Ziegenhirte? Während dem Abstieg dachte er schnaubend an die Mörder seines ihm treu ergebenen Leibwächters. Ich werde diesen Bengel und seine Helfer erledigen – so wahr mir Allah helfe – sobald der räudige Wachhund wieder in seinem klimatisierten Stall in Mazār sitzt. Als sie die zerstreute Herde erreichten, zog er seine Pistole und tötete zwei Ziegen. Das austretende Blut vergrößerte seine Wut nur noch mehr. Vor seinen Augen sah er das Menschenblut fließen, nach dem ihm dürstete.
Burhāns Gebaren und Grinsen waren für den nachfolgenden Generalmajor ein offenes Buch: Der Milizionär würde zurückkehren und Rache nehmen.
Von oben herab beobachtete Sindo den Abzug der Soldaten. Sobald sie außer Sicht waren, machte er sich zur Höhle auf. Dann fielen die beiden Schüsse. Erschrocken ging der Hirte in Deckung. Als sich nach einiger Zeit nichts regte, beschloss er, bis zur Kuppe hinabzuschleichen. Er musste sicher sein, dass die Männer weg waren, bevor er mit Nawid weggehen konnte. Und den Ziegen!
Von der Kuppe herab konnte er sehen, wie sie zur Straße hinabstiegen, die inzwischen selber im Schatten lag. Mit scharfen Augen sah er auch, dass zwei Soldaten der Allianz etwas auf den Schultern trugen. Ziegen? Meine Ziegen?, ging es ihm durch den Kopf.
Nullkommanichts war alles vergessen.
Sie haben mir zwei Ziegen geschossen – Lumpenpack! Das habe ich nun davon. Er war drauf und dran hinabzustürmen, als er in den Bergflanken über ihm die anderen Tiere ausmachte, welche dorthin geflüchtet waren. Hoch über den Felskanten sah er einen Steinadler im letzten Licht der Sonne davonfliegen. Der Verlust von zwei Ziegen würde ihn mehr als seinen Verdienst kosten. Fluchend kletterte er die steilen Geröllhalden hoch, um das Leittier zu holen.
Je anstrengender der Aufstieg, desto ruhiger wurde er – immerhin hatte er einen Jungen gerettet, ohne dafür selber getötet zu werden. Hätte er nicht zuerst zum Jungen gehen sollen? Sindo langte sich an den Kopf. Der Siebzehnjährige war nicht gewohnt, so viele Entscheidungen auf einmal zu treffen. Und dieser Krieg machte alles nur noch schwieriger. Und er hatte heute zum ersten Mal getötet …
Beim Abstellplatz angekommen, luden die Amerikaner die beiden Leichen in die Hubschrauber. Jamal, der noch immer neben dem Renault stand, blutete heftig aus der unterdessen krumm hervorstehenden Nase und einer großen Platzwunde am Hinterkopf. Es war das letzte Mal, dass ihn DeWitt sah. In der beginnenden Dämmerung kehrten die beiden Hubschrauber mit ihrer Besatzung in die Basis zurück. Die Berge bereiteten sich endgültig auf die kommende Nacht vor.
Bis Sindo mit der Herde zurückkam, war die Dämmerung schon weit fortgeschritten. »Du kannst herauskommen, die Soldaten sind weg!«, rief er in die Höhle.
Es blieb still.
»Wir können nicht hier bleiben, wir müssen weiterziehen …« Er trat in die Höhle: »Nawid, bist du da?«
Drinnen war es stockfinster. Der Knabe war weg, das bemerkte Sindo auch ohne Taschenlampe. Und wenn er zur Straße hinunter ist? Musste er jetzt den Jungen suchen gehen? Nein, sagte sich der Hirte, zwei Ziegen genügen. Ganz zu schweigen vom Soldaten, den er auf seinem Gewissen hatte … Er starrte eine Weile in die Finsternis. Noch nie war es ihm in dieser Höhle unheimlich zumute gewesen. Aber heute war alles anders. Sie wirkte bedrohlich und – mächtiger als sonst.
»Hallo?«, flüsterte er beinahe andächtig.
Totenstille.
Also gut, gab er sich schließlich einen Ruck, band draußen die Leitziege im Steingehege fest und machte sich auf den Weg in die dunkle Schlucht hinunter. Wenn, dann ist er zur Straße gelaufen.
Je weiter er sich vom Unterstand entfernte, desto unruhiger wurde er.
Hat er denn gar keine Angst, oder ist er einfach nur dumm?
War der Hirte enttäuscht, oder rührte sich sein Gewissen? Immerhin hatte er des Knaben wegen einen Menschen getötet. Doch der Abstellplatz war leer. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, aber der Hirte hielt sich bedeckt. Dazwischen rief er vergeblich nach Nawid. Er ist nicht hier, es wird ihn jemand mitgenommen haben. Ist das meine Schuld, ich habe doch geholfen? Vielleicht ist er noch verstörter als die Ziegen.
Auf dem Rückweg zum Unterstand erinnerte er sich an den eigenen Vater. Einen Vater, an den er gar keine Erinnerung haben konnte. Kurz vor seiner Geburt war er von den Taliban getötet worden. Nicht von jenen, die jetzt hier waren. Sondern von den Taliban, welche die Muğāhidīn als amerikanische Verräter angesehen und reihenweise aufgeknüpft hatten. So hatte es ihm jedenfalls Onkel Borak erzählt, der den Waisen Sindo zwar aufgenommen, aber nie dessen Vater hatte sein wollen. Von seiner Mutter wusste er gar nichts. Die Frauen redeten nie von ihr. Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte … ob sie geweint hatte, als sie ihn nach Bakhtingan schicken musste …?
Dieses Schwalbennest am kargen Felsen. Den Onkel würde er am Markt bald zu sehen bekommen. Und dann würde er für die verlorenen Ziegen Rede und Antwort stehen müssen. Kein Vergnügen, obwohl es der Onkel nicht schlecht mit ihm meinte. Das Geschäft ging immer vor.
Gerade jetzt inszenierte der Abendstern hinter den Bergspitzen seinen glänzenden Abgang. Wieso muss er immer der Sonne hintendreinhinken? Möchte er nicht manchmal lieber der Morgenstern sein?
Er hatte er sich so sehr auf das Fest gefreut – Laleh.
In Gedanken versunken entfachte er zurück in der Höhle wie gewohnt ein Feuer. Es würde kalt werden, in dieser Nacht. Der Ort wurde seit Menschengedenken von den Hirten als Unterschlupf benutzt. Parvaiz, sein alter Lehrmeister, hatte ihm alle Weiden, Pfade und Unterstände gezeigt. In den zugegebenermaßen wenigen Jahren, die er hierher kam, war er noch nie einem anderen Hirten begegnet. Vom Alten hatte er auch das Schlachten der Ziegen gelernt.
Das Feuer warf sein Schattenspiel tief in die Höhle hinein. Auf einmal sah er den zuckenden Soldaten vor sich. Als ob sie hinter ihm hergehinkt wären, erreichten damit die Erinnerungen an den Tag den Unterschlupf. Nicht nur das Zucken, sondern auch das gurgelnde Geräusch des Sterbens erwachte wieder zum Leben. Es war alles da, wenn auch anders. Hätte er nicht so schnell wie möglich von hier verschwinden sollen? Mit oder ohne Junge, die Soldaten würden sich nach Rache sehnen. Betreten von seiner eigenen Unbedarftheit seufzte er in das Feuer.
Und dann sah er Nawid an der Wand stehen. Oder gaukelte ihm der flackernde Schein etwas vor, das gar nicht da war? Der Knabe stand nicht an der Wand. Dennoch stimmte etwas nicht. Es dauerte lange, bis er begriff. Es lag nicht an seinen Gedanken oder Halluzinationen. Sondern, handfester, daran, dass dort, wo die Höhle eigentlich hätte fertig sein sollen, ja immer schon fertig war, auf einmal ein Loch klaffte. Kein riesiges, er hätte knapp hindurchzukriechen vermocht, aber es war ein Loch. Er war sich sicher, dass es vorher nicht da gewesen war!
Aber woher kam es? Hatte es etwas mit Nawid zu tun? Der Hirte starrte mit offenem Mund darauf. Es zog ihn geradezu magisch an. Es musste etwas mit dem Jungen zu tun haben! Endlich stand er auf, nahm einen lodernden Ast und trat zum rückwärtigen Felsspalt, wo ihm das schwarze Nichts höhnisch entgegengähnte.
Die Hand hindurchstrecken?
Niemals!
Hindurchkriechen?
Auch das verwarf er. Nicht aus Angst, auch wenn ihm mulmig zu Mute war. Aber er war nicht für das Innen gemacht, mehr für das Außen. Vielleicht könnte er bei Tageslicht mehr erkennen? Je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Nur einen Schritt entfernt war immer noch nichts zu erkennen. Schließlich streckte er den Ast hinein, um die Schwärze aus dem Loch zu vertreiben.
Vor Schreck ließ er das brennende Holz fallen und wich zurück. Zwei Schreie erklangen auf einmal. Der eine kam von ihm selber. Das wusste er ganz genau. In der Nische lag zusammengekrümmt eine blutbedeckte Leiche.
Diese schrie ebenfalls auf. Der feurige Ast war ihr auf die linke Hand gefallen, die sich reflexartig darum schloss, bevor sie ihn heftig zur Seite schleuderte, das Feuer erlosch und es wieder still wurde.
»Bist du es?« Es musste der Junge sein, wer sonst? Unsicher wich Sindo einen weiteren Schritt zurück.
»Sindo …?«, kam es wirr zurück. Es dauerte eine Weile, bis Nawid aus dem abgrundtiefen Dämmerzustand zurückfand, in den er vor geraumer Zeit hineingefallen war. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war sein Vater – geh nicht zu weit … und wie er ihn unter dem Auto hindurch angestarrt hatte. Es waren zwei gute Augen, die erloschen, kaum war der Schuss gefallen. Waren es nicht mehrere Schüsse gewesen? Ob er noch da lag? »Ich bin doch nicht weit weggegangen …«
»Nawid? Ist alles in Ordnung?«
»Ich weiß nicht.« Die Brandwunde an seiner linken Hand begann derart zu schmerzen, dass ihm das Wasser in die Augen trat. Aber das tat ihm nicht weh. Er biss sich auf die Zähne und wollte sich gerade aufrappeln, als zusammen mit dem letzten Aufglühen der Gluten neben ihm noch etwas anderes, Grünes aufglänzte.
In seinen nassen Augen tanzten die roten, orangen und bezaubernd grünen Glanzlichter wie in einem Kaleidoskop. Es war seltsam. Wunderschön, aber seltsam. Das Schauspiel dauerte bloß einen Atemzug und endete mit dem Verlöschen der Funken am Boden.
Was war denn das? Hatte er schon wieder geträumt? Er tastete mit der rechten Hand neben sich. Da war der Ast, der nur noch warm war. Und daneben lag etwas Kaltes und Glattes. Es fühlte sich an wie Glas, aber ohne scharfe Kanten. Es passte gut in die Kinderhand und wog schwerer als ein Stein. Ein Metallklumpen?
»Bist du verletzt?«, wollte Sindo wissen, da sich Nawid nicht weiter bewegte.
»Nein, es geht.« Er packte das Ding und schob es in seine Tasche, während er steif aus dem Loch kroch.
Im spärlichen Schein des Feuers schaute ihn Sindo verwundert an: »Wie um Himmels Willen hast du dieses Loch gemacht?«
»Ich? Ich habe es nicht gemacht, es war schon da …«, antwortete Nawid. Oder doch, überlegte er sich? »Ich – bin hineingefallen.«
»Hineingefallen? Aber da ist die Höhle fertig, und in den Felsen fällt man nicht einfach so hinein.«
Nawid überlegte angestrengt: »Als geschossen wurde, habe ich mich ganz fest an die Wand gedrückt, und dann fiel ich nach hinten.«
Sindo schüttelte den Kopf. Der Gedanke an die Schüsse und seine beiden verlorenen Ziegen brachte ihn in die kalte Nacht zurück. Es war jetzt keine Zeit, diesem Loch nachzuhängen, wahrscheinlich lagen da nur ein paar lose Felsbrocken, die er früher nie bemerkt hatte.
»Wer hat geschossen?«, fragte Nawid.
»Die Milizsoldaten haben zwei meiner Ziegen getötet«, murrte der Hirte, »wir müssen weg von hier, sie werden nach uns suchen.«
»Wohin?«
»Weg von der Höhle, hinauf in die Berge.«
Nawid machte ein betrübtes Gesicht. Hatte er gehofft, er würde zur Mutter nach Hause gehen können? Jedoch kümmerte etwas anderes ihn mehr, er musste es einfach wissen,
»Ist Vater – noch unten?«
»Nein, die Amerikaner haben die Leichen mitgenommen«, antwortete Sindo, ohne aufzublicken. Er war bereits dabei, seine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken und trat den Rest des Feuers aus. Er hatte einen waghalsigen Entschluss gefasst. Sie würden über den alten Schmugglerpfad auf ein Hochplateau auf der anderen Seite der Berge gehen, wo sie den Tag unbehelligt verbringen konnten. Den Abstieg von dort durch die große Felswand in das Nebental würden sie dann schon irgendwie schaffen.
Parvaiz hatte ihm von diesem Weg erzählt. Die Muğāhidīn nutzten ihn, um die russischen Stellungen zu umgehen. Aber er war seit Urzeiten begangen, von Räubern, die Karawanen plünderten; oder von den Paschtunen, die gegen die Engländer kämpften … Also würde es auch für sie klappen.
Vor dem Unterschlupf blickte der Hirte zum sternenklaren Himmel hoch. Es war noch nicht Mitternacht und kalt. Selber warf er sich seine Decke um und gab Nawid eines seiner alten Felle. Obwohl er nicht richtig zählen konnte, wusste er nach kurzer Zeit, dass alle seine Ziegen da waren. Alle mit Ausnahme von Starla und Siria!
»Bleib dicht hinter mir und pass auf den Weg auf, wir gehen über einen steilen Pass in ein Tal, wohin die Soldaten uns nicht so leicht folgen werden.« Damit liefen sie los. Vorbei an der Stelle, wo die Amerikaner Sindo am späten Nachmittag gestellt hatten.
Sindo vermisste Parvaiz, den alten Hirten aus Bakhtingan, mit dem er so lange unterwegs gewesen war und der ihm alles beigebracht hatte. Er vermisste die Geschichten, die der alte Mann abends erzählt hatte, und seine Gelassenheit und Zufriedenheit. Er war ihm mehr ein Vater als sein eigener Onkel, der ihm bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass er in seiner Schuld stehe und für ihn arbeiten müsse.
Noch auf dem Sterbebett schwärmte Parvaiz vom Leben, dem kommenden Frühling und den Frauen … seine letzten Worte jedoch klangen irgendwie seltsam: »Weißt du, Sindo, Allah hat alle Menschen gleich gemacht. Aber es gibt Menschen, die ernsthaft glauben, einige seien gleicher als andere. Vor diesen hüte dich. Suche die Menschen, die im anderen ihresgleichen sehen.«
Was er wohl damit gemeint hat? Besser sein, ja, aber gleicher sein als andere, wie soll das gehen? Parvaiz erschien ihm immer schon als weiser Mann, obwohl dieser, genau wie er selber, niemals eine Schule von innen gesehen hatte.
Die Ziegen zeigten ihre Unsicherheit darüber, wohin dieser nächtliche Marsch führen sollte, auf ihre Weise. Das Leittier und seine Nebenbuhler drängten sich zum Hirten, die weniger Ehrgeizigen und Jüngeren scharten sich um den Knaben.
Für Nawid war es das erste Mal überhaupt, dass er in der Nacht im unwegsamen Gelände unterwegs war. Er war in der Stadt aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Nicht zu den Gottesanbetern, sondern in eine richtige Schule. Und er lernte gerne. Draußen zu spielen bedeutete ihm mehr notwendige Abwechslung als Freude.
Und zu allem Unbill war er todmüde, hungrig und durstig. So stolperte er ständig und fiel immer wieder hin. Wenigstens lenkten ihn diese äußeren Strapazen von den inneren Bildern ab, die ihn in der Höhle heimgesucht hatten. Selbst die ungewöhnlichen Schatten und Umrisse der Felszacken, die der Viertelmond fabrizierte, bedrohten ihn nicht.
Nicht zuletzt der Tiere wegen. Ihre lebhafte und verspielte Weise beruhigte schließlich auch Nawid. Einzig die verbrannte und vom Stolpern zusätzlich geschundene Hand ließ ihm keine Ruhe. Wenn er sie in die Tasche steckte und den Stein umklammerte, linderte das den Schmerz erheblich. Unwissend, woher die kühlende Wirkung kommen sollte, malte er sich aus, dass der Brocken magische Kräfte haben müsse. Wieso sonst hätte er in der Höhle dermaßen wundersam gefunkelt?
Sindo schaute immer wieder zurück, wegen seiner Herde und dem Jungen. Während des immer steileren Aufstieges dämmerte ihm eines: Durch seine Tat hatte er für diesen Verantwortung übernommen. Egal, ob es ein Paschtune, ein Stadtmensch oder ein weinerlicher Knabe war – er war alleine und ohne ihn verloren. So wie ich, so wie Parvaiz für mich. Gleicher oder meinesgleichen …? Ob er wollte oder nicht – wenigstens bis er ihn sicher nach Hause schicken könnte.
Je näher sie dem Pass kamen, desto abschüssiger wurde das Gelände. Einen Pfad gab es schon lange nicht mehr und bei den heikelsten Passagen über die Geröllhalden nahm Sindo Nawid bei der Hand. Das Trampeln der Herde und das Poltern der losen Steine, die talwärts flogen, waren die einzigen Geräusche, welche die Stille der Nacht durchbrachen.
Endlich oben angekommen, sank Nawid erschöpft zu Boden.
»Hier, trink etwas«, hielt ihm Sindo den Schlauch hin.
Dieser nahm ein, zwei Schluck und streckte ihn zurück.
»Du musst mehr trinken!«
Aber das Wasser brannte Nawid derart in der Kehle, dass er nicht mehr hinunter brachte: »Ich kann nicht.«
»Es ist nicht weit bis zur Hochebene hinunter, dort machen wir Rast. Siehst du das Steinmännchen hier?«, versuchte ihn Sindo abzulenken.
Nawid drehte den Kopf und betrachtete den Steinhaufen, auf dem oben zwei große Hörner thronten. Überraschenderweise erinnerte es ihn an einen kleinen buddhistischen Tempel, wie er ihn schon einmal in einem Buch gesehen hatte.