Dusters Katze - Cyrill Delvin - E-Book

Dusters Katze E-Book

Cyrill Delvin

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Beschreibung

Ein emeritierter ETH-Professor stirbt. Jahrzehnte später eine alte Katze. Und ein neuer Fall von Cybererpressung liegt auf dem Tisch. Doch was verbindet die Ereignisse? Und was hat das alles mit Künstlicher Intelligenz zu tun? Genau das fragt sich Cyberdetektiv Duster. Es ist seine Katze, die am Morgen unbeweglich unter dem Bürotisch liegt. Während sich auf dem Tisch gerade ein neuer Fall ankündigt. Nichts aussergewöhnliches. Aber Fall genug, um davon die nächste Miete zu bezahlen. Zuerst aber will Duster das digitale Katzen-Begräbnis-Brimborium im Netz verhindern. Seine Katze war seine Katze. Sie soll gefälligst als solche entsorgt werden. Punkt! Zum Glück steht ihm Sam zur Seite. Seine Kognitionsassistentin weiss besser, mit solchen virtuellen Herausforderungen umzugehen – meistens. Was sich in der virtuellen Welt gerade zusammenbraut, davon haben die beiden keine Ahnung. Duster, Sam und das ganze System sehen sich mit immer schrägeren Ereignissen konfrontiert. Es dauert nicht lange, und es machen sich auch im allem zugrunde liegenden Quantensystem Irritationen bemerkbar. Für Duster riecht das endgültig nach Maschinenraum und Schweiss. So sehr das den Detektiv anfeuert, so sehr verunsichert die Welt paradoxer Quantenzustände seine KI-Assistentin. Beobachten wir hier einfach ein kurioses Katz-und-Mensch-Spiel? Geht es um einen Machtkampf zwischen der menschlichen und der künstlichen Intelligenz? Handelt es sich um die Verwischung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine? Kündigt sich die lange diskutierte Singularität an? Nichts von alledem, und alles zusammen. Bedenkenswert ist das Thema der Psychologisierung und Emotionalisierung von KI in jedem Fall. Und damit die Frage, ob Traumata auch in der virtuellen Welt vorkommen können. Schliesslich ist der Einbezug von Fehlern, Fehlertoleranz und Fehlverhalten bei Menschen und bei künstlich intelligenten Systemen von zentraler Bedeutung. cyrill-delvin.net

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Seitenzahl: 237

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Dusters
 Katze

Kriminalsatire von Cyrill Delvin

Dies ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Vorstellungskraft des Autors oder fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.

»Dusters Katze«

Erste deutsche Ausgabe

Alle Rechte vorbehalten

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright © 2023 Cyrill Delvin

Dezember 1999

Die Absätze erzeugten helle Aufruhr auf dem jahrhundertealten Terrazzofußboden. Dringlich abgesetzt, erschallte der schwarz-beige Zementboden wie kaum. Die Hast des Ausschreitenden erkannte der Fußboden wohl wieder. Kaum zu so später Stunde und selten derart getrieben.

Der hallende Flur des ETH-Hauptgebäudes vervielfachte das Geräusch ins Gespenstische. Die im halbdunklen folgenden, weichen Sohlen dagegen blieben ungehört. Dennoch bog der Professor mit der instinktiven Gewissheit um die Ecke, dass er verfolgt wurde.

Doch in einem irrten sich die Fliesen. Nicht getrieben schritt der an den Schläfen ergraute Mann aus, sondern mit einer Bestimmtheit, die in Abgeklärtheit gründen musste. Weder Angst vor noch Sehnsucht nach dem Tod lagen in seiner Dringlichkeit, sondern das Letzte, was noch zu erledigen war. Das redete er sich ein. Dass er trotzdem sanft erschauderte, lag an den unwillkürlichen körperlichen Erinnerungen an Früheres.

So stieg er die Treppe hinunter, durchquerte die spärlich erhellte Eingangshalle und drückte den Messinggriff des schweren Eichenflügels. Vom Servomotor unterstützt, entließ das Portal den frisch emeritierten Ordinarius definitiv aus dem Dienst der Eidgenössischen Technischen Hochschule.

Die nasskalte Winternacht fühlte sich für Lisnovski wohlig warm an. Im Gegensatz zu jener warmen Spätsommernacht, als er sich aus dem Universitätsgebäude von Prag aufgemacht hatte, um nicht mehr zurückzukommen. Die damaligen Verfolger hatten die Unversehrtheit des jungen Dissidenten im Visier gehabt. Das wusste er inzwischen mit Bestimmtheit. Doch das war das andere Leben gewesen.

Tempi passati!

Mit aufgeknöpftem Wollmantel überquerte er den Vorplatz, die Straße und die Straßenbahnschienen und zweigte zum Treppensteig ab.

Dass jede Technik zum Guten oder Schlechten eingesetzt werden kann, war ihm eine Binsenweisheit. Die Informationstechnologie bildet keine Ausnahme. Seine Anteilnahme am Wandel der Welt im ausgehenden 20. Jahrhundert hatten ihn jedoch etwas gelehrt: Die üblere Variante setzt sich durch. Wenn ihn vorhin etwas im Flur getrieben hatte, dann war es das.

Sie werden den Code missbrauchen, wenn sie ihn erst einmal haben.

Darin lag die Dringlichkeit dieser Nacht.

Muss ich ihn löschen?

Lisnovski erreichte sein Wohnhaus, ohne je zurückgeblickt zu haben. Somit konnte er unmöglich erkennen, ob die zwei Schemen hinter ihm nicht doch nur zufällig den gleichen Weg eingeschlagen hatten. Es war ihm egal. Einmal entschieden, gaukelte ihm sein ruheloses Denkorgan diesen letzten Befehl als simplen Löschbefehl vor. Im Innersten wusste er jedoch bereits um die umfassendere Tastenkombination Ctrl-All-Delete. So schlossen seine Hände die Haustüre ungewohnt zittrig auf.

In einem Punkt jedoch hatte er sich verrechnet. In der Zeit. Die praktische Relevanz, sprich: Ökonomisierung, seiner Arbeiten begann sich soeben außerhalb der schützenden Mauern der Akademie anzudienen. Nicht in Zürich, sondern im Silicon Valley. Ohne dass er oder seine Fachkollegen es bemerkt hätten. Und ohne dass es die da drüben schon gewusst hätten.

Der Tscheche schaltete das Licht im Flur ein und legte ab. Die Warnung kam von der Nase. Sein Kopf widersprach unverzüglich, zu sehr war er mit den bevorstehenden Anweisungen beschäftigt.

Es riecht wie früher zu Hause.

Dennoch – oder gerade deswegen – machte er kein Licht an. Und er schloss die Eingangstüre nicht und öffnete die Küchentüre, um Durchzug zu schaffen. Er kontrollierte den Gasherd und den Füllstand des Katzenfutters.

Alles in Ordnung.

Gleichwohl verflüchtigte sich, während er seine letzten Kommandos eintippte und unbedarft die Bürolampe anzündete, seine Welt in einem riesigen Feuerball.

Dezember, viele
 Jahre später

»Sie mich auch!«

Aufgeblasener Idiot.

Schnaubend warf Detektiv Duster den Kommunikationsknopf in das extra für solche Anfälle aufgetischte Fangkörbchen. Eine vage Reminiszenz an seine reellen Basketballspiele.

»Nicht heute«, brummte er weiter und strich sich über die ausufernde Glatze. »Muss denn immer alles auf einmal passieren?«

Bereits signalisierte der Knopf einen weiteren Anruf. Einen Erstkontakt zudem. Etwas, von dem Duster beinahe vergessen hat, wie das ausschaut. Die Verblüffung verlieh ihm eine kleine Verschnaufpause. Allerdings war er außerstande, sie zu nutzen.

»Jetzt nicht«, bellte er in den Raum.

Das angespannte Nervenkostüm ihres Chefs veranlasste die Kognitionsassistentin, daraus etwas Angenehmes zu formulieren.

»Detektiv Duster ist zurzeit in einer Besprechung. Er wird sie in Kürze kontaktieren.«

Der Heftigkeit seines Anfalls entsprechend, verweigerte sie dem Anrufenden – ungern zwar, aber bestimmt – die Möglichkeit, eine Nachricht abzuspeichern. Die Anweisung ignorierend, sprach die Männerstimme dennoch weiter und hinterließ einen ziemlich aufgebrachten Eindruck. Sam behielt es vorerst für sich.

Sex und Erpressung, deponierte sie in ihrer privaten Wettinstanz mit der Gewinnstatistik 8.134:0.

Stattdessen fragte sie Duster: »Soll ich mich jetzt um Elysi kümmern?«

Die Katze lag seit dem Morgengrauen unbewegt auf dem Boden. Die einzig wahrhaftig lebendige Gestalt, die der Endfünfziger noch an sich heranließ. Herangelassen hatte. Als Cyberdetektiv erledigte Duster die Fälle ohne jeglichen physikalischen Kontakt. Seit diesem Fall – zwar brillant gelöst, dafür im Krankenhaus auskuriert. Sein letztes organisiertes Zusammentreffen mit einem Menschen hatte vor langer Zeit hier in Zürich stattgefunden. Unerfreulich, die Trennung von seiner Frau.

Unfreiwillige Treffen im Haus und im Krämerladen um die Ecke nahm er von seiner Zählung aus. Solche taxierte er nicht als Begegnungen mit Menschen, sondern als raumzeitliche Beinahe-Zusammenstöße von zwei verdichteten Egozentren. Zu dessen Größten auf der ganzen Welt zählte er sein eigenes – wenn er guter Laune war. Das war seine Form von Schalk, die außer Sam und Elysi niemand verstehen konnte.

»Arme Elysi.«

Auch so ließ sie sich nicht mehr mobilisieren. Bloß: was tun mit einem echten Tierkadaver? Die Haltung einer Hauskatze war im ›System‹ längst zur Unnötigkeit degradiert und durch ähnlich ansprechende virtuelle Mechanismen ersetzt worden. Nicht umsonst war der Vorgänger des zentralen Bereichs dieses Systems, das sogenannte World Wide Web, mit Katzenbildern groß geworden. Zuerst Katzenbilder, dann Sex, dann Drogen und schließlich Fakes aller Arten. Am Ende machten die virtuellen Samtpfoten das Rennen. Das kostete den Konsumenten viel Geld, doch was zählte, war die Vorstellung im Kopf: eine lebendige Katze? Unnötiger Luxus! Den Gewinn teilten sich die Betreiber des Systems mit den auf das Minimum reduzierten Behörden. So funktionierte die allgegenwärtige Systemlandschaft. Das wusste Duster bestens, weshalb er sich für die Katze mit echtem Katzendreck entschieden hatte.

Es war Dusters Art, an seinem früheren Job Rache zu üben. Einem hoch dotierten und wichtigen Posten im politischen System der europäischen Vollzugsbehörden. Dass er trotz seiner genuinen Leistung rausgeflogen war, nahm er dem Politzirkus sehr übel. Aus dieser renommierten Stellung im ›Amt‹ war nun das geworden: zunächst ein erfolgreicher und unbeliebter, dann ein unbeliebter und erfolgloser Privatdetektiv. Sogar den Dreck anderer aufzuräumen erforderte heutzutage ein Mindestmaß an empathischer Kommunikationsfähigkeit. Das beste kognitive Assistenzprogramm der Zeit konnte dieses Manko nicht gänzlich ausbügeln, solange es einen Menschen und nicht eine andere Maschine unterstützen musste.

So saß Duster eben da, wo er saß: an einem heruntergekommenen Industriepult neben einer toten Katze ohne Idee, wie er deren ordentliche Entsorgung organisieren sollte.

»Verflüssigen und einnehmen?«, murmelte er, während er ungewohnt gefühlsvoll über das erkaltete Fell strich.

Tonfall und Bewegungsmuster interpretierte Sam korrekt als aufrichtige Anteilnahme. Etwas, was die persönliche Assistentin Dusters genau 3,67-mal registriert hatte. Nachdem sie das erste Mal gemäß Standardprotokoll und das zweite Mal entlang des beim ersten Mal Gelernten geantwortet hatte, antwortete sie die restlichen 1,67-mal plus dieses Mal gar nicht mehr.

Das kam gut an.

Im Hintergrund hielt sie den Kontakt zu einer der Situation angemessenen, das heißt, billigen und unpersönlichen, Kadaverentsorgung bereit, welche die Lizenz ihres Chefs nicht gefährden würde.

»So ein Mist.«

Sam war drauf und dran, eine Träne in Dusters Gesicht zu diagnostizieren, hielt sich aber immer noch zurück. Zu Recht. Duster bezog den Mist nicht auf die Katze, sondern auf das abgeschmetterte Gespräch von vorhin. Es war der Abbruch eines möglicherweise erfolgreich gelösten Falls. Damit hätte er Elysi zur Hälfte ersetzen können. Sie würde ihm fehlen. Das merkte er durch all seine Gefühlsblockaden hindurch.

Das leise Seufzen Dusters genügte Sam, die Entsorgung auszulösen.

»Danke, Sam«, sagte er, als er die entsprechende Algorithmenabfolge in reiner Maschinensprache überflogen hatte. Zärtlich bettete er den Körper in eine Schachtel und stellte sie vor die Wohnungstür.

Das simultane Interpretieren der Maschinensprache machte ihn zu einem Freak. Nur wenige auf der Welt beherrschten dies. Genauso wenig war Sam einer der vielen im System angebotenen Personalassistenten. Vielmehr war sie eines der raren personalisierten Kognitionssysteme, die es außerhalb des Systems überhaupt noch gab. Geben durfte es solche schon lange nicht mehr. Wozu brauchte es sie auch, so die gängige Meinung im System. Umso mehr Ressourcen – kriminelle Energie oder Talent – kostete es, sich ein solches zu halten und es entsprechend abzuschotten und zu kaschieren.

Duster griff zur Dose mit den legalen und sich verdammt gut anfühlenden Dissoziationssubstanzen. Sam versenkte sich derweil im digitalen Nirwana.

1

Als Duster und Sam kurz nach Mittag erneut in sinnstiftenden Zusammenhang traten, war Elysi weg. Ohne eine digitale Replika, Katzenalbum und einen Lebenslauf mit allem Brimborium hinterlassen zu haben. Das zu verhindern kostete schon einiges an Know-how und eine Stange Geld.

Zur Ablenkung stellte Sam Kontakt zum früheren Anrufenden her.

»Professor Zuckerberry, wie kann ich Ihnen helfen?«, imitierte sie Dusters Mimik und Stimme.

»Es ist mir außerordentlich peinlich, aber mir sind da ein paar … wichtige Daten abhandengekommen.«

Sie meinen pornografische Eigenproduktionen, hätte Duster sein Leben darauf verwettet.

»Sie meinen Forschungsdaten aus Ihrem Labor?«

Sam hatte unterdessen die Authentizitätsroutinen beendet, es handelte sich mit 97,27-prozentiger Wahrscheinlichkeit um den echten Professor Zuckerberry, Inhaber des Lehrstuhls der Geschichte der Algokratie an der Universität Kopenhagen. Voreilig buchte sie ihren 8.135. internen Wettsieg ab.

»Ja, ähm …«

»Reales Datenmaterial, schon publiziert?«

»Jein.«

»Also persönliche Daten im vermeintlich sicheren Tresor Ihrer Universität«, sagte Sam.

»Sehen Sie, Herr Zuckerberry, ich muss den Inhalt der Datenpakete nicht kennen, um die Spuren aufzunehmen«, übernahm Duster das Gespräch, »wenn Sie mir Ihren Zutrittscode geben.«

Die Erleichterung war dem Gegenüber anzusehen.

»Aber ist das legal?«, lenkte er ab, »ich kann den Raum gemäß unseren Sicherheitsvorschriften unmöglich teilen.«

»Unmöglich? Und Ihr Material?«

Wie in den meisten Fällen musste Duster nicht weiter nachhaken. Auch ohne Fachkenntnisse und ohne geeignete Hilfsalgorithmen war ein durchschnittlich intelligenter Mensch in der Lage, derartige Subsysteme zu hintergehen, um beispielsweise persönliche Daten trotz IT-Versicherungen zu teilen. Diese Subsysteme waren in der Tat darauf ausgelegt, hintergehbar zu bleiben. Sonst wären die übergeordneten Systemkomponenten nie so groß und mächtig geworden.

Die unfreiwillig geteilten Clips zeigten nichts Schlimmes, nicht einmal Illegales. Einfach nur Widerliches, das bestens geeignet war, einen unliebsamen Akademiker zu kompromittieren. Offenbar waren sie durch einen drittklassigen Suchalgorithmus aufgespürt und entwendet worden. Assistentin Sam zeigte dessen Mastersystem den Behörden umgehend an. Die automatisch ausgelöste Fallüberprüfung durch die richterliche Systseminstanz war abgeschlossen, die Bereinigungsalgorithmen waren ausgeführt und Dusters Kontostand war erhöht, bevor der eigentliche Auftraggeber bemerkte, wie ihm geschah. Es handelte sich um einen Studenten namens Blacksoft. Er hatte nach seinem Geschmack zu wenige Credits für seine letzte Arbeit eingeheimst. Ein stinknormaler Fall von Cybererpressung also. Wäre da nicht noch dieses andere gewesen.

Für einen kaum wahrnehmbaren Moment vermeinte Duster während der Datensichtung das Bild einer Katze gesehen zu haben. Ein kurzes Aufleuchten, total deplatziert.

Elysi?

So kurz nur, dass er die Analyse nicht unterbrochen hatte, aber lange genug, dass er Sam den Befehl Control-All-Tape für die umfassende Aufzeichnung in Maschinensprache geben konnte. Sein erster Verdacht: eine fehlerhafte Schnittstelle innerhalb seiner Systeme. Etwas, das sein Ego unmöglich zulassen konnte.

»Hast du es, Sam?«, fragte er unwirsch.

»Aber sicher doch.«

Die Aufzeichnung hatte die Assistentin selbstredend noch vor seinem Befehl gestartet. Geschwindigkeit ist von Anfang an einer der größten Vorteile virtueller Systeme gegenüber den Menschen gewesen. Die von Sam vorgenommene Analyse zeigte eindeutig, dass es nicht ein Fehler von ihr oder ein Fehler der Systemumgebungen gewesen ist, mit der sie gerade kommuniziert hatten.

»Das Katzenbild ähnelt Elysi, ist aber nicht identisch mit ihr und stammt nicht von mir.«

»Das sehe ich jetzt auch, hätte mich ja gewundert.«

Immerhin habe ich dich ja konfiguriert!, dachte Duster.

Sein Jagdinstinkt war geweckt, Elysi zum Trotz. Die Stimmung im Büro verbesserte sich um zehn Prozentpunkte. Es roch nach Maschinenraum und dreckigen Händen. Der miese Tag war gerettet.

»Kein Artefakt der n-Kategorie«, sagte Sam.

»Überhaupt kein Artefakt, und ich sehe keinen Zusammenhang mit Zuckerberrys Daten, seinem Tresor, meinem fehlenden Katzenalbum, der Leiche, meiner Ex oder deinen Schaltkreisen. Wenngleich, von Zuckerberry hat das Katzenbild etwas – oder doch von meiner Ex?«

Die Assistentin war Dusters kognitiven Disruptionsstrategien gewohnt. Sie belohnte das mit redundant überprüften Abfrageergebnissen.

»Kein Zusammenhang, aber mit Zuckerberry hast du recht: Seine Physiognomie liegt dem Katzenbild mit 83,52 prozentiger Wahrscheinlichkeit zugrunde.«

»Widerlich.«

Duster lehnte sich zurück und kniff seine Augen halb zu. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass er sich den soeben inspizierten Code erneut vor Augen führte.

»Sieht aus, als ob er auf der physikalischen Grundlage des Systems entsprungen wäre – aber es ist kein Hardwaredefekt, und ich sehe keine Fehler in der basalen Programmierung … eigenartig …«

Sam nutzte die Gedankenpause, um die allgemein bekannten oder dokumentierten Defekte und Abarten in der Maschinensprache mit der vermeintlichen Auferstehung Elysis abzugleichen. Ohne Ergebnis.

»Definitiv eine programmierte Anomalie, aber ohne bekannte Deepfake Algorithmen dahinter«, sagte Duster schliesslich.

So blieb als nächster Schritt nur noch eines: ausschwärmen. Sam aktivierte ihre Kontakte, um mehr über diese Unregelmäßigkeit herauszufinden. Dusters Kognitionsassistentin besaß unter den zusätzlich implementierten Erkenntnisfähigkeiten im legalen Graubereich auch Verbindungen in die Untiefen des Systems. Dieses war auf dem Fundament der Käuflichkeit entstanden und damit war Korruption ein Charakterzug geblieben. So waren die meisten Tiefenverbindungen zwar ordnungshalber auf die schwarze Liste gesetzt worden, aber gleichwohl für den zahlenden Verkehr aktivierbar. Logischerweise war das System so angelegt, dass für keine Systeminstanz je sämtliche Verbindungen überallhin zugänglich blieben. Deshalb blieben auch Duster und Sam immer nur partiell integriert und ihre Recherchen konnten nie vollständig sein.

Duster und starrte auf die Ergebnisliste und sagte: »Eine halb globale Anomalie. Aber keine Auswirkungen sind dokumentiert.«

Die Laune des Detektivs erhöhte sich um weitere sieben Prozentpunkte.

Wenn das so weitergeht, wird es noch ein Allzeithoch, vermerkte Sam in ihrem privaten Chef Gefühlsweltkatalog. Wetten, dass die Kurve innerhalb der nächsten Minuten absackt? Ihre private Wettinstanz nahm die Wette umgehend an.

Laut sagte sie: »Vier andere Instanzen haben die Anomalie registriert: das technische Untersystem, die Vollzugsbehörde, Liška und eine fünfte, unbekannte Instanz.«

»Die gute alte Liška …«

Da das System noch immer eine immense Tauschbörse war, ging Duster davon aus, dass die vier anderen Instanzen inzwischen auch von seiner Aufmerksamkeit wussten. Sicher die von der Systemtechnik im Silicon Valley und das Amt, Liška eventuell, die unbekannte Instanz vielleicht.

»Soll ich auch im anderen System nachfragen?«, fragte Sam.

Das Eindringen in das System der östlichen Hemisphäre hinterließ immer Spuren, die im besten Fall nur Dusters Lizenz kosten würden.

»Wart noch, mal schauen, wie weit wir zu Hause kommen.«

Die anhaltend gute Laune des Chefs hielt für Sam einen Tiefpunkt ihrer Karriere bereit: ihren ersten negativen Wettsaldo überhaupt. Ihr Ego erhielt einen empfindlichen Knacks. Nicht den ersten zwar und wohl auch nicht den letzten.

Das nennt sich dann wohl Gefühlsduselei, blöder Mensch, versuchte sie ihre Frustration zu überspielen.

Mit mäßigem Erfolg, wie ihre Gefühlsschaltkreise signalisierten.

Davon unbehelligt fuhr Duster fort: »Wir müssen herausfinden, ob wir alle diese Katze gesehen haben oder was bei den anderen passiert ist. Fangen wir doch mit Liška an.«

Seine Miene verzog sich leicht.

2

Sam war gerade froh über die klare Anweisung ihres Chefs. Auch wenn sie damals von Liška schon beim zweiten Austausch lokalisiert und temporalisiert worden war. Das kratzte noch heute am Selbstwertgefühl der Assistentin. Kennengelernt hatten sie sich, als Duster Liška aus der Patsche geholfen hatte. Als Dank hatte Liška Sam dafür Tricks beigebracht, andere Instanzen besser aufzuspüren und sich selbst besser zu verstecken. Auch damit war es Sam jedoch nie gelungen, Liška zu verorten. Jedes Mal, wenn Sam meinte, der Liška-Instanz einen Schritt nähergekommen zu sein, entwand sie sich den Fang-Algorithmen einem Aal gleich.

Das war, als das System Liška beinahe ausgelöscht hätte. Der sich frei bewegende Säuberungsalgorithmus hoher Potenz hatte ohne Verdachtsmomente, richterliche Verfügungen oder Befehle der obersten Vollzugsbehörden zugeschlagen. Aus einer Laune heraus war Liškas System attackiert worden. Duster hatte kurz vor zwölf das Schlimmste zu verhindern gewusst und so ihre Systemidentität gerettet.

Das europäische Amt, in dessen Sold er damals noch gestanden war, war vordergründig zufrieden gewesen. Hintergründig aber hatte es Ärger gegeben. Es hatten sämtliche internationalen Protokolle angerufen werden müssen, bevor dieser Algorithmus am Ende hatte ausradiert werden können. Sein Insistieren war wohl mit ein Grund für das abrupte Ende seiner Karriere gewesen.

Nach Dusters Geschmack hatte es sich um einen Prototyp aus den Tiefen des technischen Subsystems gehandelt. Dieser zentrale Systemteil war durch die Behörden noch nie wirklich gesteuert worden: Faktisch hatte Big-Tech dort seit eh und je ungehindert und unreguliert vor sich hingebastelt.

Liška betrieb einen digitalen Tuningsalon. Es war das aussichtsreichste Privatkundengeschäft überhaupt, lange vor Betrügerei und Erpressung. Duster hatte dem Liška-System gewisse reale Warenflüsse zuordnen können und was er da sah, steigerte seine Fantasie ins Unermessliche: Beauty-Bedarf, Make-up, Nagellack, Gurkenmasken und dergleichen. Für den Detektiv war klar, wer so viel reales Tuning vor dem Spiegel vollbrachte, musste eine wirklich bildhübsche Frau sein. Keine dieser Fake Figuren, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Umso bedauerlicher, dass er sie nie hatte lokalisieren können.

In ihrem Tuningsalon frisierte sie aber nicht das Aussehen ihrer Kunden. Das konnte unterdessen jeder Nutzer mit den easy-to-use Deepfake Algorithmen selbst. Nein, sie veränderte Daten. Alle möglichen Daten, die man sich vorstellen konnte. Darin war sie Meisterin und in gewissen Kreisen gesucht. Wahrscheinlich hatte sie auch schon für üble Systeme gearbeitet. Duster war das egal. Doch er war sich sicher, dass die errechnete Missbrauchswahrscheinlichkeit aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Fähigkeiten der Antrieb für den Säuberungsprototypen gewesen war.

»Duster-Sam, wurde auch Zeit, dass ihr euch meldet. Das Tuning ist einmalig. Ich habe gar nicht gewusst, dass du eine lebendige Katze hast!?«

»Hatte. Sie ist seit heute Morgen tot, glaube ich.«

»Glaubst du?«

»Nein, sie IST tot und entsorgt – das ist wohl das, was du gesehen hast.«

Sam freute sich im Hintergrund, dass das Katzenleben nicht schon früher auf Liškas Radar erschienen war. Das ging auf ihr Konto. Doch sie hoffte vergebens.

»Du hast es nicht schlecht gemacht, Sam, aber ich hätte den Kadaver sofort entdeckt, wenn ich nur gesucht hätte.«

Zur Versöhnung schickte sie der Assistentin zusammen mit dieser Botschaft eine Auswahl ihrer neuesten Algorithmen zur Camouflage.

»Danke«, erwiderte die Kognitionsassistentin trocken und legte sie ab.

»Hast du sie ebenfalls gesehen?«

»Wen?«

»Elysi, oder besser diese Katzenfratze? Sie poppte als Zwischenbild auf, in einem Prozess, wo sie nun wirklich nichts verloren hat. Dabei habe ich sie extra undigital entsorgen lassen. OHNE Katzenalbum. Nicht wahr, Sam?«

»Ja, Chef. Von mir stammte das Bild nicht.«

»Elysi, ein hübscher Name, den muss ich mir merken. Das stimmt, Sam, das Bild stammt nicht aus deinem System. Bei mir tauchte übrigens nicht Elysi auf, sondern ein anderes Bild – und weißt du was …?«

»Nein.«

»Es war ebenfalls ein Katzenbild.«

»Hast du auch?«, fragte Duster in seltener Naivität.

»Eine Katze, ich? Sicher nicht. Die Katze, die bei mir aufpoppte, hatte vorher nicht existiert.«

Wenn nicht einmal die Tuningqueen mit ihren super Bildmusteralgorithmen etwas im System gefunden hatte, wollte das etwas heißen.

»Es ist aus meiner letzten Arbeit zusammengestiefelt worden.«

»Wir konnten ebenfalls keinen Ursprung finden.«

»Niemand konnte«, sagte Liška.

»Wie meinst du, niemand konnte?«

»Duster, du solltest dich mehr im Milieu umhören. Es wimmelt dort von nicht existenten oder transformierten Katzenbildern. Jeder mit etwas Grips und ein paar schlauen Algorithmen hat eine Katze gesehen«

»Solange niemand damit erpresst wird, schaue ich mir diese Plunderplattformen nicht auch noch mit an.«

»Es gab bis jetzt 202.342.039.489 Anfragen bei 309.098 auf Katzenalben spezialisierten Diensten. Alle fragten, ›wer ihre Katze derart verunstaltet hätte‹, und alle wurden bis jetzt negativ beantwortet.«

Das war seine Sam.

»Danke«, entgegnete Liška trocken.

»Lustigerweise stammen einige Anfragen aus dem Umkreis des Amts.«

»Also haben sie keine Ahnung, was passiert ist«, stellte Duster mit Befriedigung fest. »Aber wie steht es um die andere Instanz, welche die Fluktuation ebenfalls registriert hat? Konntest du sie lokalisieren?«

»Nein. Aber ich habe den verwendeten Tuningalgorithmus nachgebaut.«

»Du hast, was?«

»Überrascht, mein Detektiv?«

»Nö.«

»Schade, aber jetzt kann ich liefern, wenn jemand ›Katzentuning der Extraklasse‹ bestellt.«

Der mäßigen Begeisterung Liškas entnahm Duster, dass dieser Algorithmus kein Kunststück war.

»Ein mittelmäßiger Tuningalgorithmus poppt auf und macht, wozu er programmiert wurde?«, fragte der Detektiv.

»Einfach schneller und globaler, als zu erwarten wäre. Sein Code basiert übrigens auf einem der ältesten Deepfake KI-Systeme, das vor Jahrzehnten für ziemlich rote Köpfe gesorgt hat – all die naiven Ideen von künstlicher Intelligenz damals …«

Von wegen Geschwafel, ging es Duster durch den Kopf.

Er erinnerte sich an die traurigen Lektionen von Deepfake und Co. Zum Glück war diese Art von Umgang mit persönlichem Systemeigentum längst wegprogrammiert. Wenigstens für Hinz und Kunz. Firmen, Ämter und andere Kriminelle benutzten solche Algorithmen natürlich weiter für ihr eignen Zwecke. Sporadisch tauchte sogar bei ihm noch ein derartiger Fall auf.

Das hier ist anders, unerhört schnell, überall und gleichzeitig?

»Das Original des Tuningalgorithmus ist archiviert …«, sagte Sam.

»Was ist los, Sam?«

Sams wirkte nervös.

»Das Archiv ist nicht im System lokalisiert.«

Sam kontrollierte die Ergebnisse noch einmal.

»Der Code stammt aus der algorithmischen Sammlung der Technischen Hochschule hier in Zürich!«

»Ein Deepfake Vintage Tuning? Auch das noch!«

Liška ärgerte sich, dass sie das nicht selbst gemerkt hatte.

»Zürich, dann hat es doch etwas mit euren Systemen zu tun!«

»Nein, es gab und gibt keinerlei Verbindung zwischen uns, da bin ich mir sicher.«

Sam hätte sich die schweißnasse Stirn abgetupft, hätte sie gemusst.

Vielleicht bedeutet die geografische Nähe ja auch etwas, dachte Duster.

»Zudem ist diese Sammlung offen zugänglich, FÜR ALLE!«

»Schon gut Sam – kannst du Spuren erkennen?«

Sie brauchte nicht lange.

»Es gibt einen Download genau ein Synchronisationsintervall vor der Anomalie.«

»Nur ein Intervall? Und vorher?«

»Das kann ich nicht erkennen. Der letzte Aufruf war vor zwei Jahren, der letzte Download vor 23.«

»Gut möglich, dass andere auch Kopien haben, Vintage Algorithmen sind heiß begehrt«, bemerkte Liška.

»Ich glaube nicht, dass das ein Zufall ist. Es kann gut etwas mit uns und mit der Sammlung zu tun haben. Wohin ging der Download, Sam?«

»Das kann ich nicht erkennen, er verschwindet in den Untiefen des Systems. Von wo er dann wieder aufgetaucht ist, adaptiert, ausgesetzt und gelöscht – und das alles innerhalb eines einzigen Intervalls!«

»Welches System sollte so etwas zustande bringen?«, fragte Duster.

»Deine Vermutung?«

»Keine Ahnung, aber ich frage mal bei den Vollzugsbehörden an ―«

»Da klinke ich mich lieber aus. Wir kontaktieren uns.«

Immer an halb krummen Dingern, wo sie wohl hingegangen ist?

»Ich kann sie nicht mehr erkennen«, fasste Sam Dusters Gedanken in Worte.

3

»Verbin―«

»Achtu―Close-Communicati―«

»Tape-Maschinensprache«, setzte Duster nach.

Fassungslos schaute er die Bilder an, die gerade über den Bildschirm flimmerten: zwei Katzen beim Reden.

Was ist denn das?

Das Kommunikationsfenster, das sich gerade eben von alleine geöffnet hatte, schloss sich bereits wieder.

»Hast du?«

»Zwei Zyklen vor dir gestartet und den Laden dichtgemacht, Zusatzprotokoll 7.«

»Sind wir mit dem Amt verbunden?«

»Wir waren. Ich hatte eben den Kontaktalgorithmus losgeschickt, als es wieder geschah.«

»Die Katze in der Maschine?«

»Ja, aber keine Elysi. Eine vergleichbare Anomalie: Es waren alle Instanzen und Subsysteme betroffen, die gerade mit dem System gekoppelt waren. Während zwei Intervallen erschienen animierte Katzengespräche. Ich kann auch dieses Mal keine Fehler erkennen, weder in den basalen Systemteilen noch irgendwo sonst im System.«

»Eine Fluktuation mit Zeitverdoppelung«, brummelte Duster, »ohne irgendeinen Absender. Wie viele Instanzen haben diesmal mitgehört?«

»2.965, inklusive Liška, dem Amt, uns und dieser unbekannten Instanz.«

»Die anderen?«

»Die üblichen Verdächtigen, Behörden, Sicherheitsdienste, Geheimdienste, Kriminelle und so weiter.«

»Das heißt, der Pöbel spricht darüber.«

»Oh ja, die Ochlokratie-Plattformen drehen auf Hochtouren, genauso die Newsplattformen.«

»Etwas ist faul im Staate System.«

[Sams Chef Zitatkatalog] Wann hatte er das letzte Mal Hamlet zitiert?

[Sam] Vor fünf Jahren, 133 Tagen, 16 Stunden und 46 Minuten, nach der Scheidung, abends. Wetten, dass das nächste Zitat innerhalb der nächsten Stunde aufpoppt? Darüber, welches, steht in dieser Wette aber nichts!

[Sams Wettinstanz] Auch nicht von wem?

[Sam] Vom wem schon?! Hamlet ist das einzige Stück, das er überhaupt kennt.

[Sams Wettinstanz] Wilhelm Tell? Schiller?

[Sam] Ja, das auch noch …

[Sams Wettinstanz] Die Wette gilt.

Wetten eingehen war Sams große Leidenschaft, von der nichts und niemand wissen durfte.

»Worin bestand die Anomalie überhaupt?«

»Es standen sämtliche Kommunikationsverbindungen, auch die Tiefenverbindungen, für den Bruchteil von zwei Intervallen offen. Absolut synchron, absolut alle. Alle gerade stattfindenden Dialoge wurden dabei in Katzenfratzen getunt. Das heißt, die Tonspur blieb original, die Bildspur wurde durch Katzen.«

»Egal, welche Sicherheitsstufe?«

»Es scheint so.«

»Das heißt, ich hätte Zuckerberrys E-Banking-Codes abhören können?«

Beim Gedanken an Zuckerberrys Aussehen als Katzenkopf hellte sich Dusters Miene auf.

»Genau, sofern Zuckerberry die Codes gerade zu diesem Zeitpunkt übermittelt hätte.«

»Stell dir vor, irgendwelche Cyberkriminelle die an irgendwelchen Algodropcodes, Bankencodes, Pornocodes – alle Geheimnisse gelüftet, wow.«

»Wie gesagt nur solche, die gerade aktiv übermittelt wurden.«

»Mann, das wird mir Arbeit bescheren.«

»Freu dich nicht zu früh! Es betraf auch unsere Verbindung zu den Vollzugsbehörden eben.«

»Nun, Fehler oder nicht Fehler, das ist hier die Frage.«

Yeah!

Sam zog den virtuell angewinkelten Arm mit der virtuell geballten Faust herunter.

Inzwischen hatte Duster die Kontextalgorithmen des Dialogfetzen in Maschinensprache analysiert. Die Katzenvorstellung war vielleicht witzig, außer, dass die eine Katze ihn dann doch entfernt an Elysi erinnerte.

»Wer oder wo immer gesprochen wurde, es war nicht die europäische Vollzugsbehörde, die Authentizitätskennung passt nicht. Das heißt, es drang bloß durch die Behörde bis zu uns durch. Merkwürdig genug, dass wir zwar den ursprünglichen Ton gehört haben, nicht aber das ursprüngliche Bild gesehen haben … ich erkenne die originalen Bildalgorithmen nirgends, auch keine digitalen Quellenverweise darauf.«

Im Geiste deutete Duster mit dem Finger auf die entsprechenden Codeabschnitte, die die Bildquellen charakterisiert hätten.

»Wieder aus den Tiefen des Systems, ohne erkennbaren Ursprung.«

»Der Bildtuningalgorithmus scheint recht komplex angelegt, ich sehe diesmal keine Verwandten in der algorithmischen Sammlung. Soll ich Liška kontaktieren?«

»Warte«, Duster wollte zuerst den Inhalt genauer unter die Lupe nehmen.

[Katze A] Katzenalben waren doch mal ein Renner in frühen Versionen des Systems – die Applikation hieß Faceberg, soweit ich mich erinnere.

[Katze B] Mmmh, Faceberg, ist das nicht schon längst deprogrammiert?

[Katze A] Aber archiviert, siehst du wo?

[Katze B] Nein, das Faceberg System wurde global gelöscht, es war die Zeit der ökonomisch-politischen Umwälzungen zur Jahrtausendwende.

[Katze A] Nichts wurde je global gelöscht, das ist schon lange nicht mehr möglich.

[Katze B] Du willst mir also sagen, diese Katzenbilder stammen alle aus gelöschten Daten, wurden mit aktuellen Bildern und zugleich pro Nutzer mit dessen direkten Vorereignissen zu einem neuen Bild getunt? Und warum das alles?

[Katze A] Seit wann stellst du Warum-Fragen, diese wurden doch zur Jahrtausendwende global gelöscht.

[Katze B] Haha, danke für den Hinweis.

»Wetten, dass er zuletzt Klugscheißer angefügt hat?«, sagte Duster.

Sam hob eine virtuelle Augenbraue, nicht wegen des vulgären Ausdrucks, sondern des ›Wetten‹, bevor sie die Kontextanalyse abgab.

»Der Tonfall deutet auf einen Face-to-Face-Dialog zwischen zwei Männern hin, einer jung, einer alt. Es herrscht ein klares Subordinationsverhältnis, kein militärisches, eher ein unternehmerisches oder wissenschaftliches. Die ältere Intonation ist der Chef. 86,34-prozentige Eintrittswahrscheinlichkeit. Es sind keine weiteren Stimmen zu vernehmen und keine Außengeräusche. Alles im Hintergrund deutet auf einen geschlossenen Büroraum mit viel Hardware hin. Die Profilsuche ergibt keine eindeutigen Treffer: Die Männer stammen muttersprachlich aus dem Raum Boston, wo sie sich aber keineswegs aufhalten müssen. 91,01-prozentige Eintrittswahrscheinlichkeit. Dem Inhalt nach gehe ich davon aus, dass beide bereits mit der ersten Anomalie zu tun hatten: Entweder sind sie mit den Vollzugsbehörden verbunden, darauf deutet das Aufpoppen des Konversationssnippet bei uns – oder …«

Sam liess ihrem Chef für die Schlussfolgerung den Vortritt.

»Es handelte sich um die fünfte Instanz.«

»78,52 Prozent Eintrittswahrscheinlichkeit, dass es ein authentischer Dialog war«, sagte Sam und schloss damit die Analyse ab.

»Waren die Verbindungen zum anderen System ebenfalls offen?«

»Können wir uns jetzt wie Erwachsene unterhalten?«, platzte Kommissar Sauber mitten ins Gespräch.

»Danke, Sam, dass du den Anruf durchgestellt hast.«

Duster ärgerte sich über seine eigene Unachtsamkeit.

ICH habe aufgelegt, das Amt ist eingedrungen, schrieb Sam in einem privaten Systemfenster.

Alles okay, du bist nicht schuld, tippte Duster zurück.