Schweizer Erinnerungen an die Zukunft - Cyrill Delvin - E-Book

Schweizer Erinnerungen an die Zukunft E-Book

Cyrill Delvin

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Beschreibung

Die Schweiz, die wir nach und nach kennen lernen, ist geprägt durch Zerfall, Misstrauen, Klimawandel, Ressourcenknappheit – Wasser als das "Blaue Gold" – und bürgerkriegsähnliche Fehden zwischen verschiedenen Clans. Alles gemahnt an Vorgänge und Zustände, wie wir sie heute in Ländern aus den weniger entwickelten Regionen kennen oder zu kennen vermeinen. Die äusseren Gründe dafür sind nachhaltige Klimaverschiebungen genauso wie global-ökonomische Verwerfungen, womit eine zunehmend kompromisslose Einflussnahme der Anrainerstaaten auf das (einstige) Wasserschloss Europas einhergeht. Was hält die Schweiz bislang zusammen? Es ist die Summe aller kultureller und sozialer Gegensätze auf engstem Raum. Ein Geflecht, das stärker verbindet als alle Bünde und Verfassungen, die je geschaffen worden sind. Dass sich diese Fäden dann eines Tages dennoch verhaspeln, wird zum Schicksal der Schweiz. Die Sezession beginnt damit, dass die in der Verfassung so klug eingeschriebenen Regeln zur Änderung derselben mehr und mehr ausgehebelt werden und dieses Gewebe, für kommende Zeitgenossen zum gordischen Knoten verbunden, nur noch mit dem Schwert durchtrennbar zu sein scheint. An diesem Scheidepunkt stehen sich zwei politische Fraktionen gegenüber, die Linden und die Harten. Auf der Seite der Linden handelt die eher weltoffene und zu Koalitionen neigende Familie Nansé aus dem Welschland, die sich in späterer Zeit der Religion verschreibt. Ihr gegenüber steht die sich lieber abschottende und egoistisch handelnde Familie Schwarz aus der Zentralschweiz. Die beiden Seiten sind derart verfeindet, dass es in der Schweiz schliesslich zum Bürgerkrieg kommt. cyrill-delvin.net

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Seitenzahl: 126

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Schweizer Erinnerungen an die Zukunft

Novelle

Cyrill Delvin

Dies ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Vorstellungskraft des Autors oder fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Orten ist rein zufällig.

»Schweizer Erinnerungen an die Zukunft«

Erste deutsche Ausgabe

Alle Rechte vorbehalten.

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright © 2019 Cyrill Delvin

ISBN 978-3-748541-19-6

Aufzug 5

Erster Akt: Idyll und Sezession

2064 Die letzte Schlacht 8

2038 – 2060 Die Harten gegen die Linden 14

1984 Vor dem Wandel 19

1849 Die Karte 23

1900 – 1914 Zwischengesang 26

Zweiter Akt: Revision und Restauration 

2067 Kindheiten 28

2069 Tendenz zunehmend – oder abnehmend 31

2070 Kalte Verdammung 33

2071 Die Gottesanbeterin 39

2072 Wachablösung 40

2074 Die Mauer 42

2075 Flüchtlinge 44

2076 Abstieg und Aufstieg 50

2077 Restzeit 54

2080 Fürst des Südens 57

2084 Gottesland 62

2094 Dazwischen: Nichts 67

2097 Die Wende 70

2098 Blutsauger (Der Durst) 74

2125 Doc. NO. 8234-2148 77

1989 – 2001 Zwischengesang 80

Dritter Akt: Destruktion und Bedeutungslosigkeit

2119 Raubzug (Die Pest) 82

2120 Angriff (Der Tod) 87

2121 Gegenangriff (Das Ende) 91

2126 Albert Schwarz 94

2182 Sophie Nansé 97

Abgang 102

Stammbaum 105

›Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.‹

Friedrich Schiller

Aufzug

1815 und 1847 veränderten die Schweiz. Danach galt sie als hoch industrialisiertes und freiheitlichstes Land im Herzen Europas. Sie hatte an den französischen und amerikanischen Revolutionen Anteil genommen, ohne mitzumachen. 1815 konsolidiert, entwickelte sich die Alpenrepublik zum wirtschaftlichen, technischen und politischen Zufluchtsort liberaler Kräfte aus ganz Europa. Sie repräsentierte das Beste aller Welten. Sie überstand alle Wirren, äußere wie innere, ohne den Kopf zu verlieren. Das ist das wahrhaftige Gründungswunder.

Die dem Land von den Großmächten Mitte des 19. Jahrhunderts verordneten Industrialisierung und Ökonomisierung riefen große, aber auch zwielichtige Figuren auf den Plan. Erschaffen wurden fantastische Bahnen genauso wie bizarre Finanzkomplexe. Unausweichlich damit verzahnt waren die in immer engeren Schlaufen wiederkehrenden, Gesellschaften und Länder verzehrenden Börsenkrisen. Eine Elite nach der anderen zerbrach. Dennoch entstand ein System, das, sich andauernd fortzeugend, ewigen Reichtum verhieß.

Der Glaube an den Fortschritt ersetzte den Glauben an die Herkunft. Die Progressiven besiegten die Konservativen. Zwar blutig, doch ohne eigentliche Verlierer. Ein Oberst Ochsenbein spielte eine verbindende Rolle. Ein Wilhelm Tell ebenso. Als Schweizer Freiheitskämpfer von einem deutschen Dichter inszeniert, um eine liberale, demokratische und auf naturalistischen Pfeilern gründende Revolution im Bedarfsfall auch durch Tyrannenmord zu bewahren: »… wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden … zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben. Der Güter höchstens dürfen wir verteid’gen gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land …«

1804 niedergeschrieben, als in Frankreich der nächste Kaiser sich selbst krönte und damit das vermeintlich Liberale und Demokratische der Revolution mit deren eigenen Waffe, der Guillotine, enthauptete.

So zog sich die Schweiz immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf, und es entstand 1848, in der Folge des Sonderbundskrieges von 1847, der moderne Bundesstaat. Gerne vergessen wir heute, wie fest dabei doch fremde Hände mitgezogen haben. In der Folge rankten Mythen um Selbstbehauptung, Freiheit, Neutralität, Frieden und fortwährende Prosperität. Diese wahrhaft geglaubten Gefühle waren Zutaten des Amalgams, das die Schweiz zum fortwährenden Sonderfall verschmolz.

Für immer? Wir werden sehen.

Erster AktIdyll und Sezession

2064Die letzte Schlacht

Ich war allein. Ich war abenteuerlustig. Da kam mir die diplomatische Mission gerade recht. Sie führte mich in die eigenen und in fremde Archive und dann zu den Orten des Geschehens. Das war damals nicht ungefährlich, das Land war vom Auswärtigen Amt als Krisengebiet eingestuft gewesen.

Ich war naiv. Bereits die Recherchen im Zentralarchiv der Nordmächte enthüllten Dinge, auf die ich nicht vorbereitet war. Ich hatte mich im Glauben aufgemacht, die Geschichte der alten Schweiz zu kennen. Das Studium unveröffentlichter Dokumente über die Zeit der Sezessionswirren belehrte mich eines Besseren. Zweifel an der offiziellen Geschichtsschreibung überkamen mich. Der militärische Sieg der Revisionisten über die Harten hatte keineswegs zu der Eintracht geführt, auf der unsere Republik gegründet worden war. Vielmehr war es ein Pyrrhussieg gewesen, der den eigentlichen Wendepunkt der Schweiz begründete.

Je mehr ich herausfand, desto verworrener wurde es. Lag der Zweck meiner Mission wirklich in der Aufarbeitung unserer gemeinsamen Vergangenheit? Ging es nicht vielmehr um die Zementierung der offiziellen Sichtweise? Weshalb sonst waren diese Tatsachen so lange unter Verschluss geblieben?

Doch in einem Punkt hatten sich die Herren zu Hause gründlich in mir getäuscht: Mit meiner Naivität war es vorbei. Zum ersten Mal in meinem Leben war mein Jagdinstinkt geweckt.

Viktor Schwarz trieb nur ein Gedanke um, als er dem Kurier das Couvert mit der Aufforderung übergab, dieses seinem Sohn in Schwyz persönlich auszuhändigen. Darin befand sich die alte Ansichtskarte, die über Generationen in der Familie Schwarz weitergegeben worden war. Am Tag hätte er das Hotel, wo sie geschrieben worden war, von hier aus mit blossem Auge erkennen können, wäre es nicht schon vor Ewigkeiten niedergerissen geworden. Die Karte war eine Erinnerung daran, wo die Familie Schwarz hergekommen war und was für ein Idyll die Einwanderer einst hier vorgefunden hatten. Gleichzeitig war es die Mahnung daran, wofür die Sezessionisten zu töten und zu sterben bereit gewesen sind. Das ist es, woran Viktor Schwarz im letzten Führungsstützpunkt der Harten dachte: Hier also wird es enden.

»General Schwarz, der Stollen ist frei«

»Danke, Leutnant, geben Sie mir Alpha.«

Die Verbindung zum Einsatztrupp hinter der Feindeslinie war miserabel.

»Wie nahe?«

»Der Führerstand ist direkt voraus, hundert Meter.«

»Zielpersonen?«

»Warten auf Bestätigung.«

»Okay, Feuererlaubnis nach freiem Willen – der Schuss muss sitzen. Ist das klar?« Die Bitterkeit in seiner Stimme konnte nur erahnen, der wusste, wen er damit treffen wollte.

»Jawohl, General, wir töten die Zielpersonen und ziehen uns dann zurück.«

»Verstanden und aus.«

Eine schneidend scharfe Bise wehte aus Nordost über die vorgelagerten Hügelketten. Die Schweizerflagge auf der nahen Kuppe flatterte waagrecht im steifen Wind. Die Ränder waren längst zerfranst wie die Gesellschaft, die sich einst darunter versammelt hatte. Niemals mehr würde sie je eingeholt, geschweige denn ersetzt und neu aufgezogen werden.

Der General bestrich mit dem Feldstecher das halbe Mittelland. Die schwere Artillerie der Revisionisten belegte die verbleibenden Stellungen der Sezessionisten mit Sperrfeuer. Kleine Feuerbälle funkelten aufblitzend in der Linse vor seinen Augen. Früher, so erzählte man, hätte man von hier aus in der Neujahrsnacht die in mannigfaltigen Farben aufsteigenden Feuerwerke gesehen, dass man vermeinte, ein Kriegsgebiet zu überschauen.

»Schwachsinn«, murmelte der General in den angegrauten Bart. Mit einer angedeuteten Handbewegung verjagte er die rührigen Fantastereien seiner Altvorderen in eisigen Winternächten.

Alfons Nansés Atem beschlug das Nachtsichtgerät bis zur Untauglichkeit. Der Sohn des Bundespräsidenten verschmierte den Nebel mit dem schweren Stoff des Offiziersrockes. Mit mäßigem Erfolg.

»Major, die Luftwaffe wartet auf Ihren Einsatzbefehl.«

Dieser senkte das Gerät und beugte sich wieder über die rötlich schimmernde Karte.

»Wir benötigen drei Jagdbomber, um die Batterie auszuschalten. Geben Sie die Koordinaten durch. Ich rechne mit maximal zehn Minuten. Sind die Bodentruppen in Stellung?«

»Sie haben den Stützpunkt von Norden und Westen umstellt und sind bereit zum Vorrücken.«

»Gut, lassen Sie starten.«

Die stramme Frau Leutnant quittierte den Befehl ohne das sonst übliche Lächeln um den Mund.

»Warten Sie …«, Alfons Nansé überlegte einen Augenblick, »… nichts, bereiten Sie die Befehle vor.«

»Verstanden.«

Warum bloß habe ich zugelassen, dass sie mit an der Front ist? Ich Idiot, dachte der Major.

Doch die Zeiten, fähige Kämpferinnen am Herd stationiert zu lassen, sind längst vergangen. Die Bevölkerung des Landes war allein in den vergangenen Jahrzehnten um ein Siebtel geschrumpft. Die Demografen versprachen weiter abnehmende Zahlen. Es gingen nicht nur die Fremden und Eliten der bürgerkriegsähnlichen Zustände wegen. Der wirtschaftliche Niedergang trug zum Exodus bei. Ebenso die zunehmend ungünstigen Witterungsverhältnisse.

»Wir müssen gehen, General.«

»Ich weiß.« In der Tat war dem Anführer der Sezessionisten-Armee klar, dass die Schlacht verloren war. Aber nicht der Krieg. Doch dies würden Taten anderer richten. Bleierne Müdigkeit erfasste ihn beim Gedanken daran. Bin ich vielleicht doch zu weit gegangen? Wenn ich einen Fehler begangen habe, dann den, dass ich die Durchsetzungskraft des Bundespräsidenten unterschätzt habe. Als er noch Ratsvorsitzender war, hätte ich ihn ohne Probleme beseitigen können. Hätte Viktor Schwarz damals schon geahnt, dass seine eigene Tochter …

»General?«

Stur blieb dieser am Fernglas hängen und blickte dorthin, wo die Vergangenheit jeden Augenblick ausgelöscht würde.

»Gener— «

»Ruhe!«, bellte er allzu laut und schnappte doch nur nach seinen eigenen Gedanken. Erwürgen, mit eigenen Händen, die eigene Brut und diesen, diesen … Nun stehe ich da, und mein einziger Nachkomme ist ein Feigling, hockt zu Hause. Und sie, die eigentlich mein Sohn sein sollte, sitzt drüben beim Feind. »Verflucht!«

»General!« Der Leutnant ließ sich von den Launen des Vorgesetzten schon lange nicht mehr beirren.

»Zwei Minuten bis zum Eintreffen.«

»Lassen Sie den Wagen kommen, wir fahren ins Hauptquartier zurück.«

»Jawohl, Major Nansé. Noch eine Minute«, berichtete der Verbindungsoffizier.

»Informieren Sie Frau Leutnant.«

Das ist also das Ende der Sezessionisten. Ich hoffe, es erwischt Schwarz, diesen Volksaufwiegler.

»Zielperson im Visier«, verlautete der Einsatzleiter von Alpha aus dem Funkgerät, während General Schwarz die Treppe in den Keller des höchst gelegenen Wohnhauses auf Walchwilerberg hinabstieg. »Warte auf den Schießbefehl.«

Verdammt noch mal, muss man denn alles zweimal kommandieren? »Feuer frei!«

Der Grenadier schloss hinter dem Vorgesetzten die schwere Betontüre zum Luftschutzkeller, während draußen die ersten Bomben fielen. Und er verschloss die zweite, die in den Stollen führte, als die letzten Bomben fielen. Der General, der Leutnant und die beiden Grenadiere nahmen den Weg durch die kilometerlangen Gänge in Angriff, die sie von der Nordfront tief in das Hinterland führen würden.

Alfons Nansé setzte das Nachtsichtgerät ab. Die Treffer auf dem Moränenzug waren mit bloßen Augen zu sehen. Kurz nach zwei Uhr früh stoppte der Beschuss. Zeitgleich das Schattentheater an der südlichen Mauer des provisorisch eingerichteten Führerstandes ›Mitte‹. Das altertümliche Bauernhaus hätte jetzt wohl eine Zeit der Ruhe und Beschaulichkeit verdient. Doch es kam anders.

Der Tumult beim gepanzerten Fahrzeug begann mit dem Aufschrei, gefolgt vom Zusammenbruch von Leutnant Barbara Nansé. Unverzüglich rannte Alfons Nansé, geduckt und von Gegenfeuer gedeckt, vor die Türe und auf das Geländefahrzeug zu. Neben dem Aufprallen der Projektile auf Metall, Mauerwerk, Holz, Menschenfleisch, Beton und Glas verstand er kaum seine sterbende Gemahlin.

»Hilf mir, Alfons, bitte – Simon …«

Kaum fünf Minuten unterwegs, und das Licht ging aus. »Und?«, fragte der General in das Funkgerät. Er erhielt keine Antwort vom Einsatztrupp Alpha. Sie werden es geschafft haben. Im Licht der Taschenlampe eilten sie weiter. Unbekümmert darum, was hinter ihnen geschah.

Die Explosion der Handgranate beendete den Angriff auf Major Alfons Nansé und Leutnant Barbara Nansé. Zerrissen lagen ihrer beiden Leiber da. Zerrissen war ihr Familiengewebe schon lange gewesen. Vater Viktor Schwarz und Tochter Barbara Nansé, geborene Schwarz, hatten sich seit ihrer Entscheidung, den Präsidentensohn zu ehelichen, nichts mehr zu sagen gehabt.

»Zielpersonen eliminiert«, meldete Alpha den Status der Mission dem General. Ohne auf eine Bestätigung zu warten, zogen sich die Kämpfer zurück.

Kurz vor dem ersten Notausstieg bei Kilometer vier lagen Viktor Schwarz und seine Soldaten tot auf dem Boden. Der Meldesoldat würde die Nachricht an das Hauptquartier der Revisionisten in wenigen Minuten absetzen können. Aufenthaltsort und Status von Major Alfons Nansé waren zu dieser Zeit in Bern noch unbestätigt.

Die restlichen Verfolger stürmten den Stollen weiter voran, jederzeit auf der Hut vor einem Überraschungsangriff. Am Ende stiegen sie unbehelligt auf die Mauer eines Ausgleichsbeckens der ehemaligen zentralen Wasserkraftwerke.

Die Morgendämmerung befand sich im astronomischen Stadium und ließ den einsetzenden Zerfall der Anlage umso gespenstiger erscheinen. Noch sammelte das Staubecken im Frühling die Wasser der Bergbäche. Diese verhielten sich hierzulande im Sommer erst seit Kurzem so, wie sich die Wadi in fernab gelegenen Klimazonen seit Jahrhunderten schon verhielten.

Die ersten Schüsse der Sezession waren vor Jahren unter dem Kommando des selbst ernannten Generals Viktor Schwarz gefallen. Die vorletzten Schüsse wurden auf Befehl des Oberbefehlshabers der Linden, Major Alfons Nansé, abgefeuert. Die Allerletzten wiederum auf Geheiß Viktor Schwarz’. Diese galten nicht der Sache, sondern seiner persönlichen Geschichte. Die liberalen Revisionisten haben gewonnen, verloren haben die Sezessionisten dennoch nicht.

2038 – 2060Die Harten gegen die Linden

Was ich auf meiner Mission gelernt habe, was die Schweiz die ganze Zeit über tatsächlich zusammengehalten hatte: Es war die Summe aller kultureller und sozialer Gegensätze auf engstem Raum. Klar ging es immer um den Kampf zwischen Harten und Linden, zwischen Traditionalisten und Fortschrittlichen, zwischen Nationalisten und Internationalen, zwischen Katholiken und Reformierten, zwischen Armen und Reichen, zwischen Städtern und Bauern und so weiter. Die Crux aber war, dass diese Gegensätze nicht entlang einer klaren geografischen Bruchlinie gruppiert waren. Vielmehr durchwirkten sie sich gegenseitig derart, dass daraus ein außerordentlich stabiles Gewebe entstehen konnte. Ein Geflecht, das stärker verband als alle Bünde, Verfassungen und Gesetze, die je geschaffen worden waren. Ich spürte, dass diese Einsicht für die Bewältigung unserer eigenen Krise von Bedeutung war.

Dass sich diese Fäden dann eines Tages dennoch verhaspelt hatten, war das Schicksal der Schweiz. Die Sezession begann dann, als die in der Verfassung so klug eingeschriebenen Regeln zur Änderung derselben mehr und mehr ausgehebelt wurden und dieses Gewebe, zum gordischen Knoten verbunden, für die Zeitgenossen nur noch mit dem Schwert durchtrennbar zu sein schien.

»Wir sind ein der Herkunft verpflichtetes und mit dem Boden verbundenes Volk. Ein sehr einfacher und lapidarer Satz, allein von gewaltigen Auswirkungen. Es ist notwendig, in diesem Lande die Erkenntnis dahin zu lenken, dass von allen Aufgaben, die uns gestellt sind, die erhabenste und damit für den Menschen heiligste die Erhaltung der von Gott gegebenen blutgebundenen Art und des ihm zustehenden Lebensraums ist. Uns steht mehr zu, als die liberalistischen und jüdischen Schmarotzer uns hier und in der anderen Welt weismachen wollen. Blut, Boden und Wasser waren, sind und werden unser Schicksal bleiben!«

An den Stammtischen im Bergland verfing die Rhetorik des jungen Viktor Schwarz wunderbar. Er glaubte an das, was er sagte. Es ging ihm nicht um Ruhm oder Bereicherung. Darin blieb er berechenbar. Zwar gaben die Sommer noch Wasser ab. Mehr als genug für die Flecken entlang der Berge. Doch war es bereits knapp für das Mittelland mit seinen großen Zentren und zu wenig für die Hügelzüge jenseits. Wie es weiter stromabwärts aussah, war nicht das Problem der Anhänger der Harten.

»Und vor allem mögen besonders Sie, meine Ratskollegen, eines nicht vergessen: dass die Schweiz ein souveräner Staat bleibt, dafür werden in aller Zukunft die Waffen sorgen, die wir schmieden, und nicht die Knebelverträge und Diktate der europäischen Technokraten. Deshalb rufe ich Ihnen zu: Schließen Sie sich uns an. Die inneren Stände sind bereit, sich gegen die Geldzähler und Grauhemden zu wehren. Wir sind bereit …«, seine Stimme versagte.

Man wähnte Schaum in des Redners Mundwinkeln, als der Ratsvorsitzende mit dem Hammer Ruhe gebot. Die Linden hatten längst aufgehört, gegen die radikalen Konservativen zu murren. Unflätiges und lautes Wettern, gar gelegentliche Handgreiflichkeiten standen inzwischen an der Tagesordnung.