Die Vermessung der Berge - Blandine Pluchet - E-Book

Die Vermessung der Berge E-Book

Blandine Pluchet

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Beschreibung

Berge, Täler und die Geschichte der Erde – eine geologische Spurensuche Wenn Blandine Pluchet zu einer Wanderung aufbricht, begleitet sie dabei nicht nur der Wunsch, den Gipfel zu erreichen. Die französische Physikerin und Autorin betrachtet Gesteinsformationen und landschaftliche Besonderheiten immer auch von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus. Was verraten die atemberaubenden Aussichten in luftiger Höhe über die Erdgeschichte? Wie wirkt sich der Klimawandel in den Alpen aus? Diesen und zahlreichen weiteren Fragen geht die leidenschaftliche Gipfelstürmerin auf ihren Ausflügen in die Welt der Berge nach. - Auf Erkundungstour zu den Geheimnissen der Welt: Faszination Berg - Wie Gesteinsmassive entstehen und vergehen: Welche Naturkräfte stecken hinter der Gebirgsbildung? - Wettermacher: wie die Alpen das Klima beeinflussen - Verborgene Bergwelten: welche Gipfel sich vom Ozeanboden erheben - Blick ins All: wie Observatorien von luftigen Höhen profitieren - Naturwissenschaft trifft Philosophie: ein tolles Geschenk für Naturliebhaber und Wanderfreunde Nur Fels und Gestein? Was Berge über unsere Vergangenheit und Zukunft verraten Schneebedeckte Gipfel, einzigartige Fauna und Flora – für viele sind die Berge der Sehnsuchtsort schlechthin. Doch Gebirge haben weit mehr zu bieten als Entspannung und großartige Fernsicht. Ihre Beschaffenheit liefert wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse, die uns helfen, unsere Umwelt besser zu verstehen. Blandine Pluchet verbindet in diesem Buch ihre beiden Leidenschaften: Physik und Bergwelten. Ob auf Wanderungen im Hochgebirge oder beim Blick in die Ebene: Überall begegnet sie Hinweisen auf die Naturkräfte, die diese eindrucksvollen Landschaften erschufen und wieder vergehen ließen. Geologie erleben: Forschung und Wissen reisen hier im Rucksack mit bis zum Gipfelkreuz!

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Seitenzahl: 222

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Blandine Pluchet

DIE VERMESSUNG DER BERGE

Eine Wanderungzur Entdeckungder Weltgesetze

Aus dem Französischen von Reiner Pfleiderer

Illustrationen von Laëtitia Locteau

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.

Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2023

Copyright © Flammarion, Paris, 2022

Copyright der deutschen Ausgabe © 2023 Bergwelten Verlag bei Benevento

Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Umschlaggestaltung, Design und Satz:

www.b3K-design.de, Andrea Schneider & diceindustries

Gesetzt aus Palatino, GTStar Pro & Elan

Illustration Umschlag: Thomas Rouzière © Flammarion, Paris

Illustrationen Innenteil: Laëtitia Locteau © Flammarion, Paris

Übersichtskarte: Clara Delboé © Flammarion, Paris

Karte Buchmitte (S. 114 – 115): Heinrich C. Berann, Bruce C. Heezen, Marie Tharp,

Manuscript painting of Heezen-Tharp »World ocean floor« map by Berann.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Fiona Schiano-Yacopino,

Marie Tharp Maps, LLC © 1977 Marie Tharp and Bruce Heezen

Autorenillustration: © Claudia Meitert / carolineseidler.com

ISBN: 978-3-7112-0044-0

eISBN: 978-3-7112-5028-5

Für meine Mutter, die die Berge liebt.

Die Bergespiegeln sich im Augeeiner Libelle.Kobayashi Issa

Fréjus-Tunnel

Strand von Émosson

Garmisch-Partenkirchen

Aletschgletscher

Laacher See

Eiger

Mer de Glace

Glacier d’Argentière

Tour Saint-Jacques

Eiffelturm

Höhle von Postojna

Plateau de Bure

Chamonix

Gâtine Poitevine

Hochgebirge

Mittelgebirge

INHALT

PROLOGREFUGIEN EINER VERSCHWUNDENEN WELT

TEIL I - HÖHENFORSCHUNG

1 / Das Schneefernerhaus

2 / Das Gebirge als Wettermacher

3 / Das Klimaobservatorium

4 / Eisregionen

5 / Die Gipfelforscher

TEIL II - DIE UNSICHTBAREN BERGE

6 / Die kleine Blume

7 / Im Garten der Riesen

8 / Schwindelerregender Ozeanboden

9 / Die Geschichte der Gesteine

TEIL III - AN DEN TOREN ZUM KOSMOS

10 / Der ferne Himmel

11 / Die Augen der Gipfel

12 / In der Nacht

13 / Jagd auf Meteore

14 / Die Reise zum Mittelpunkt der Erde

EPILOGDAS HERZ DER WELT

Dank

Illustrationsverzeichnis

Bibliografie

PROLOG

REFUGIEN EINER VERSCHWUNDENEN WELT

Nach dem Abschluss meines Physikstudiums war ich von den Möglichkeiten, die sich mir boten, wenig überzeugt. Ich wusste nicht, ob ich wirklich in der Forschung arbeiten wollte. Aber einer Sache war ich mir sicher: Mich interessierte eine Wissenschaft, die auf die Welt blickt, die den Wind, die Erde oder den Himmel betrachtet, eine Physik, die das Draußen erforscht.

Als ich mir verschiedene Universitäten und andere Institute in Deutschland – wo ich lebte und bleiben wollte – ansah, entdeckte ich den Ort, der meine Erwartungen zu erfüllen schien: das Institut für Meteorologie und Klimaforschung in Garmisch-Partenkirchen in den bayerischen Alpen. Ich war begeistert: Wenn ich die nächsten Jahre meines Lebens der wissenschaftlichen Forschung widmen sollte, dann dort, wo ich in der Nähe der Gipfel die Atmosphäre erkunden, mit den Wolken spielen, Höhenluft untersuchen und atmen konnte. Eine Physik, die grundlegend ist für das Verständnis des Planeten, seines Wetters und Klimas, Wissenschaft auf Tuchfühlung mit atemberaubender Schönheit, zwischen Bergwäldern und Seen, Felsen und Schnee.

Ich bewarb mich um eine Doktorandenstelle, sowohl wegen dieser Physik als auch wegen der Wildbäche und Steinböcke, der Greifvögel und der Blumen auf den Almwiesen. Monate vergingen, schließlich erhielt ich eine Absage. Eine Zeit lang war ich enttäuscht, dann fand ich mich damit ab. Wie es schien, sollte ich nicht nach den Wolken greifen und im Kontakt mit den Alpengipfeln leben. Da ich nur eine Bewerbung verschickt hatte, kein anderer Ort mich wirklich reizte und die Aussicht auf eine Promotion mich letztlich wohl gar nicht so begeisterte, ließ ich es dabei bewenden. Ich kehrte nach Frankreich zurück, wo ich, fernab von den Bergen, andere Träume verfolgte, die ich ernst nehmen wollte: Ich wollte Bücher schreiben.

Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen. Am Ende bin ich nicht Wissenschaftlerin, sondern Schriftstellerin geworden. Die Physik blieb, sie lieferte den Stoff für meine Bücher. Ich schrieb über sie, wobei ich den Blick, den sie auf die Dinge wirft, auf meine Art wiedergab. Die Welt aus der Sicht der Wissenschaft betrachten, die Kräfte beschreiben, die seit der Entstehung des Universums am Werk sind, die ehernen Gesetze vorstellen, die sie regieren: Das war die Leidenschaft, die mich antrieb. Horizonte erweitern, Blicke weiten, in den Augen anderer Funken entzünden, indem ich die Wunderwerke der Natur schilderte, das machte mir Freude.

Die Berge waren meinem Leben inzwischen sehr fern. Wenn ich dort, wo ich lebte, im Westen Frankreichs, zum Horizont blickte, konnte ich noch so sehr die Augen zusammenkneifen, die hohen Bergketten blieben unsichtbar. Doch unterschwellig übten sie weiter eine Faszination auf mich aus, und von Zeit zu Zeit kehrte ich zu ihnen zurück, um zu wandern und eine Verschnaufpause von meinem Erwachsenenleben einzulegen. So ging es jahrelang. Bis zu jenem Herbst, als bei einer Klettertour mit einer befreundeten Bergsteigerin in den bayerischen Alpen mit Übernachtung in der Höhe das Feuer erneut aufflammte und diesmal richtig.

Es war später Nachmittag, und wir stapften durch dichten Nebel. Wir wussten, dass die Hütte jeden Augenblick aus der Suppe auftauchen musste, und so beschleunigten wir unsere Schritte auf dem Pfad, der einem steinernen Sturzbach glich, einer Geröllhalde aus den Überbleibseln erodierter Gipfel.

Ich hatte die Berge nicht im Blut wie meine Freundin Sunnhild, die mit ihnen groß geworden war. Sie standen nur für ein paar Zwischenspiele in meinem Leben. Gleichwohl hatte mich jeder meiner Besuche im Hochgebirge begeistert.

Ich hob den Kopf. Gipfel erschienen wie spitze Inseln unter der bereits tief stehenden Sonne, die durch den Nebel brach. Letzterer schien zu zergehen, und nach ein paar weiteren Minuten glitt er unter unsere Füße: Wir wandelten über den Wolken, über einem schwebenden Meer, das friedlich um die benachbarten Gipfel wogte. Das Tal, aus dem wir kamen, war verschwunden. So beendeten wir den langen Aufstieg, als kämen wir aus dem Innern der Erde.

Beim Anblick der plötzlich aus dem Nebel auftauchenden Gipfel stürmten Bilder auf mich ein: Ich sah mich die Falten unseres Planeten erkunden. Ich stellte mir im Zeitraffer die Bewegungen der tektonischen Platten vor, wie sie gegeneinanderstießen, sich aneinander rieben, die Risse und Spalten und die unaufhaltsame Orogenese, die diese natürlichen Pyramiden errichtet hatte. Ich spürte die gewaltigen Kräfte, die das Gebirge erschaffen hatten. Ich sah auch die Erosion von Jahrmillionen, die Schluchten, Felsnadeln oder Steinwälder geformt hatte. Ich spürte bei jedem Schritt die Geschichte unseres Planeten, die sich in den unterschiedlichen Gesteinen verbarg, aus denen die Wege bestanden, ich bewunderte das Leben, das auf seine Art diesen Ort besiedelt hatte, indem es spielend die Hänge überwand, sich den mineralischen Verhältnissen anpasste, die obere Troposphäre grüßte und dem geringen Luftdruck trotzte. Es war, als ob die Stimmen dieser Gipfel mir ihre Geschichten erzählten.

Als die Sonne hinter den Bergen versank, tauchte, auf einem schmalen Felsplateau thronend, die Schutzhütte auf. Endlich am Ziel, stellten wir unsere Stiefel unter die dafür vorgesehenen Bänke am Eingang, legten unsere Schlafsäcke in die Schlafkammer und setzten uns dann im Aufenthaltsraum an den Tisch in der Nähe des Ofens. Die Kacheln waren noch warm. Von Zeit zu Zeit hörten wir den Wind pfeifen. Der Himmel hinter den kleinen Fensterscheiben war pechschwarz und verhieß eine herrliche Sternennacht.

Das Knistern des Feuers weckte Erinnerungen, und bald sprachen wir beim Essen über alte Zeiten. Es war sehr lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten.

»Erinnerst du dich an die Doktorandenstelle in Garmisch?«, fragte Sunnhild mit einem Mal und hob ihre klaren Augen, die ihre slawische Herkunft verrieten. »Wenn sie dich genommen hätten, würdest du vielleicht noch hier in der Gegend leben, und wir würden öfter zusammen wandern gehen.«

Ich sah sie nachdenklich an. Die Erwähnung dieser Geschichte stieß bei mir auf eine seltsame Resonanz. Dort in der Berghütte, weit weg von meiner Familie, allein mit meiner Freundin aus längst verflossenen Zeiten, erwachte meine alte Forscherseele, und die zwanzig Jahre Leben, die seit damals vergangen waren, erschienen mir wie ein bloßes Intermezzo, beinahe unwirklich. Ich nahm wieder Kontakt zu der auf, die ich damals gewesen war, die so begierig darauf war, zu forschen und zu entdecken und die Welt, in der ich lebte, zu verstehen.

Die Bilder von der Entstehung der Gebirge, die am Nachmittag auf mich eingestürmt waren, und die Erinnerungen, die Sunnhild in mir wachgerufen hatte, ließen mir den restlichen Abend keine Ruhe mehr. In mir keimte wieder derselbe Wunsch von damals, als ich mich bei diesem Institut beworben hatte: Ich wollte viel mehr über die Berge erfahren. Und so fasste ich einen Entschluss: Ich musste diese Berge, die mir ihre Geschichte ins Ohr raunten, näher kennenlernen. Nicht mehr als Wanderin, sondern als Physikerin. Ich bereitete mich darauf vor, den wachen Blick, den zu verfeinern ich gelernt hatte, auf sie zu richten, zu einem ganz einfachen Zweck: um die Welt zu erkunden und ihre Gesetze zu entdecken.

Schließlich wurden die Berge und die Wissenschaftler, die täglich dort arbeiten, ein Jahr lang meine Führer. Nur: Was konnte ich lernen, was nicht schon in den Lehrbüchern stand? Tatsächlich hat sich eine ganze Welt vor mir aufgetan, von der ich nichts wusste, und ich habe inmitten der Berge ein Geheimnis entdeckt: Sie sind ein Refugium, in dem bis heute Überbleibsel einer untergegangenen Welt gedeihen.

Tatsächlich sind die Berge, wenn ich es mir recht überlege, die letzten unberührten Inseln in unseren modernen Gesellschaften. Und diese Unberührtheit geht über die Biosphäre hinaus: Sie schließt die Mineralwelt und den Kosmos mit ein. Die Berge bieten unermesslich viele Geschichten, denn sie sind das Refugium der Welt in ihrer ursprünglichen Gestalt, von all den verschiedenen Lebensformen bis zu den fernen Sternen. Unbewohnbare Räume für den gewöhnlichen Sterblichen, sind sie teilweise noch von den vielfältigen, vom Menschen verursachten Verschmutzungen verschont geblieben. Die Täler und das Flachland sind längst denaturiert und von den menschlichen Gesellschaften geprägt. Nur die Berge haben bislang überdauert und sich ihre Naturschätze bewahrt. Durch ihre Geschichte verraten sie uns die Geheimnisse der Welt, in der wir leben, und dienen uns als Leitfaden dafür, wie wir sie schützen können.

Bei meinen Nachforschungen habe ich zudem gelernt, ihre Existenz im Zusammenhang mit einer Geschichte zu sehen, die viel länger ist als die wenigen Jahrzehnte, die ich auf der Erde zubringe, und geografisch einen viel größeren Raum einnimmt, als die Kammlinien erahnen lassen. Ich habe nämlich festgestellt, dass Berge auch dort sind, wo man sie am wenigsten erwartet: Sie verbergen sich in den scheinbar gewöhnlichen Landschaften unseres Alltags, in denen sich häufig Spuren verschwundener Gipfel entdecken lassen. Die Berge erheben sich, erodieren und verschwinden, um woanders von Neuem zu entstehen, und verändern so unablässig das Antlitz der Erde. Sie sind an den meisten Horizonten, früheren und heutigen, gegenwärtig, in den Gesteinen, der Vegetation und den menschlichen Kulturen.

Schließlich sind die Berge auch ein Fenster zum Kosmos: Von den Gipfeln aus erforschen Physiker Tag und Nacht den Himmel, beobachten die Phänomene der Atmosphäre, aber auch Botenteilchen aus den Tiefen des Weltalls – kosmische Strahlung, Licht oder Meteore –, von denen sie sich Antworten auf die großen Geheimnisse des Universums erhoffen.

Die wilde Flora und Fauna des Gebirges erzählen von der Welt der Lebewesen und die Gesteine in ihrem Innern von der Geschichte des Planeten, während die Gipfel mit der Atmosphäre und dem Weltall Zwiesprache halten: Noch ist die ursprüngliche Ordnung zu sehen. Doch ist diese Insel einer ersten Welt bedroht: Die Zivilisation hat sie eingeholt, und der Mensch, der sie einst fürchtete, bezwingt und erobert sie Stück für Stück.

Die unberührte Natur des Hochgebirges mit ihrer unvergleichlichen Vielfalt und Schönheit ist zugleich auch die fragilste, denn im Unterschied zu den Tälern und Ebenen hat sie nicht gelernt, sich den heutigen Gegebenheiten anzupassen. Sie verkümmert schneller als irgendwo sonst. Wenn sie sich anpasst, wird sie einen großen Teil von sich selbst verlieren und damit auch viele Geheimnisse der Welt. Mit ihrem Verlust wird eine unserer letzten Verbindungen zu den Ursprüngen gekappt.

Die Berge sind nicht nur ein Hort vieler Geheimnisse und Schauplatz zahlreicher Forschungen und Erkundungen, sie sind ebenso ein Feld der Wissenschaft wie der Spiritualität. Vielleicht sind sie bei den Physikern deshalb so beliebt, weil es dort so viele Phänomene zu beobachten gibt. Hervorgegangen aus dem Innern der Erde und dem Himmel so nahe, sind sie aufgrund ihrer Gestalt und ihrer Geschichte für die Gelehrten aller Zeiten eine unerschöpfliche Fundgrube des Wissens und der Erkenntnis. Die Berge haben eine turbulente Physik zu bieten, einen klaren Himmel und sogar Träume für den, der ihnen zuzuhören versteht. Ein wenig poetische Wissenschaft oder eine Poesie der Gipfel. Diese faszinierende Welt der Wissenschaft ist es, die ich einzufangen versucht habe.

TEIL 1

HÖHENFORSCHUNG

1/

DAS SCHNEEFERNERHAUS

Charles Keeling, ein junger amerikanischer Wissenschaftler, baute während seiner Promotion das erste Gerät, mit dem sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre effektiv messen ließ. 1958 installierte er es in einem Observatorium nahe dem Gipfel des Mauna Loa auf Hawaii in 3400 Meter Höhe.

In der sauberen Luft fernab der städtischen Zentren wurde eine wissenschaftliche Debatte entschieden: Reichert sich der untere Teil der Atmosphäre infolge der anthropogenen Emissionen mit Kohlendioxid an, oder besitzt der Planet die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren und den Anteil des Treibhausgases konstant zu halten? Was folgte, wissen wir nur zu gut: Wie sich herausstellte, nahm der CO2-Gehalt am Mauna Loa Jahr für Jahr etwas zu. Dieser unaufhaltsame Anstieg lieferte uns den ersten Hinweis auf die Klimaerwärmung. Somit resultiert eine der größten Umweltsorgen des 20. Jahrhunderts aus den Messungen in dieser Höhe.

Fernab von der Zivilisation fungieren die Berge oft als Frühwarnsystem für Umweltverschmutzung oder Klimaveränderungen. Sie locken Forscher an, die ihr Fachwissen in den Dienst der Umweltwissenschaften stellen. Der Deutsche Hannes Vogelmann ist einer von ihnen.

Als ich beschloss, mich als Physikerin näher mit den Bergen zu beschäftigen, erfuhr ich durch einen glücklichen Zufall – wie sie das Leben manchmal für uns bereithält – in meinem Bekanntenkreis von Hannes. Und was noch besser war: Dieser Wissenschaftler arbeitete in ebenjenem Institut, bei dem ich mich damals nach dem Studium um eine Doktorandenstelle beworben hatte. Als ich ihn anschrieb, antwortete er umgehend: »Ich bin ebenfalls Physiker und untersuche die Physik der Atmosphäre auf einem Berggipfel mit Hilfe eines Laserstrahls weit oben in der Stratosphäre. Dieser Berg und Berge im Allgemeinen sind für mich viel mehr als nur ein Arbeitsplatz. Sie haben für mein Verständnis eine besondere Mystik. Durch ihre Größe, die extremen Bedingungen, die auf ihnen herrschen, und ihre lange Entstehungszeit bringen sie uns die Vergänglichkeit und Verletzlichkeit des Lebens zu Bewusstsein.«

Ich hatte sofort das Gefühl, dass dieser Mann von einer ähnlichen Aufgabe beseelt war wie ich, und so fuhr ich bei der nächstbesten Gelegenheit zu ihm.

Das erste Mal treffe ich ihn vor seinem hohen und imposanten Holzhaus in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen. Mit seiner frisch renovierten, nach Bergwald riechenden Fassade ist es ein Abbild der Landschaft, die es umgibt. Hannes wohnt in einem Dorf am Fuß von Felsriesen in einem tiefen, breiten Tal. Beim Anblick der steilen Hänge, die die Häuser überragen, wird mir leicht schwindelig. Kein Vergleich zu den Hügeln meiner Heimat!

Der Mann ist um die fünfzig und von einer Aura aus Sonne, Schnee und frischer Luft umgeben. Er hat helles Haar, einen wettergebräunten Teint und steht aufrecht wie ein Fels. Er empfängt mich mit einem breiten Lächeln, und wir setzen uns auf die Terrasse in die Sonne. Auf dem Berghang gegenüber legt die Schneeschmelze die vertikalen Sedimentschichten frei, dieselben, die sich einst schuppenartig erhoben und den Berg geformt haben. Während ich mich in den Anblick versenke, erzählt mir Hannes von seinem beruflichen Werdegang und seiner Arbeit.

Er ist am Fuß der Alpen aufgewachsen. Seine Kindheit war von den Aufenthalten in einer Berghütte geprägt, in der die Familie die Wochenenden und die Ferien verbrachte. Es waren in erster Linie der Sternenhimmel und eine Faszination für das Verhalten von Wasser in seinen verschiedenen Aggregatzuständen, aber auch eine Begeisterung für Technik und Experimentierfreudigkeit, die ihn dazu bewogen, Physik zu studieren. Dann entdeckte er die unglaubliche Vielfalt des Lebens im Gebirge – wie auch seine Fragilität, insbesondere seine hohe Empfindlichkeit gegenüber dem Klimawandel.

Zur Atmosphärenforschung kam er eher zufällig, als er die Chance erhielt, am Institut für Meteorologie und Klimaforschung in Garmisch-Partenkirchen eine Doktorarbeit zu schreiben. Man schlug ihm vor, einen Laser zu entwickeln, der auf der Zugspitze – mit 2962 Metern Deutschlands höchster Berg – in Betrieb genommen werden sollte. Zu welchem Zweck? Um die Troposphäre, die durchschnittlich bis in zwölf Kilometer Höhe reicht, und die darüber liegende Stratosphäre zu erforschen. Dieses Projekt ermöglichte ihm, sich einen Traum zu erfüllen und seine Leidenschaft für die Berge mit seiner Arbeit zu verbinden und durch Klimaforschung zum Schutz der Ökosysteme beizutragen.

Mittlerweile arbeitet Hannes Vogelmann seit bald zwanzig Jahren in dem Institut. »Wir hätten Kollegen werden können«, bemerkt er, als ich ihm von meiner abgelehnten Bewerbung erzähle.

Sein Leben ist gegenwärtig geteilt zwischen Berg und Tal: Er pendelt zwischen dem Forschungsinstitut unten und der Forschungsstation in der Höhe. Jeden Tag und fast in seiner gesamten Freizeit unternimmt er Ausflüge in die Berge. Nicht selten nutzt er Mittagspausen und Abende im Winter zum Skifahren und im Sommer zum Wandern. Die Gipfel, auf die seine Fenster blicken, sind für ihn eine ständige Herausforderung.

Am Tag nach meiner Ankunft treffe ich mich mit Hannes an der Seilbahnstation. Vom Berg ist nichts zu sehen, dichter Morgennebel hüllt ihn ein. Zusammen mit uns warten mehrere andere Personen, größtenteils Angehörige des oben beschäftigten Stammpersonals der Umweltforschungsstation. Der Arbeitsplatz des Physikers befindet sich im sogenannten Schneefernerhaus in über 2600 Meter Höhe. Die Seilbahn kommt, und wir steigen in die große Kabine, die bis zu 120 Personen fasst.

Nur der Name, der in großen Lettern an den Wänden der Station prangt, gibt Auskunft über unser Ziel: Zugspitze. Dann schließen sich die Türen, die Gondel setzt sich in Bewegung und taucht in den Nebel ein. Jetzt sind weder das Tal noch der Gipfel zu sehen, und wir schweben, an einem Drahtseil ohne Anfang und Ende hängend, in einer unfassbar grauen Wolke. Nach gut zehn Minuten, in denen sich das Höhengefühl unter uns breit macht, tauchen Felswände auf, mit Raureifstacheln an den vertikalen Abschnitten und Schnee auf den ebenen Flächen.

Dann sind wir auf dem höchsten Gipfel der deutschen Alpen. Lässt man die schneidende Kälte und die frische Luft außer Acht, gibt es jedoch nichts zu sehen, was das bestätigen könnte. Der Weg zur Forschungsstation ist eine wahre Expedition. Wir steigen in eine zweite Gondel um, mit der wir wieder ein Stück nach unten fahren, und ein paar Minuten später in eine dritte, die kleiner ist als ihre Vorgängerinnen und uns wieder nach oben befördert. Auf dieser letzten Etappe taucht das erwähnte Schneefernerhaus auf.

Der Nebel ist undurchdringlich, und als wir in dem Gebäude aussteigen, habe ich es überhaupt nicht von außen gesehen, nicht mal auf einem Foto. Der Zugang erfolgt über eine große, leere Halle mit einer Rezeption in der Ecke, und ich muss unwillkürlich an das Grand Budapest Hotel des Filmemachers Wes Anderson denken, jenes abgelegene alte Hotel in den Bergen, in dem praktisch niemand mehr absteigt, dessen bewegte Geschichte aber über die offenkundige Leere hinwegtäuscht.

Die Leute vom Stammpersonal streben zu ihren Arbeitsplätzen, und der Rest von uns, der zum ersten Mal hier ist, wird von einer Mitarbeiterin in Empfang genommen, die uns mit den Sicherheitsvorkehrungen vertraut macht: Leuchtanzeigen, die auf Lawinengefahr hinweisen, eine Anwesenheitsliste, in die man sich jeden Tag eintragen muss, Zufluchtsorte im Brandfall, eine unterirdische Evakuierungsschleuse usw. Ohne das Gebäude überhaupt gesehen zu haben, bekomme ich eine Vorstellung von seiner abgeschiedenen Lage. Wir hocken hier auf einem uneinnehmbaren Felsen, den Launen von Schnee und Wetter ausgesetzt.

»Auf der Zugspitze herrschen ähnliche klimatische Verhältnisse wie in der Arktis«, erklärt mir Hannes. »Hier ist das ganze Jahr über Winter, mit jährlichen Durchschnittstemperaturen weit unter 0 °C.«

Ich folge dem Physiker durch ein Labyrinth von Gängen, Stollen, die in den Fels gehauen wurden, Aufzügen und breiten Treppen. Wir gelangen in einen Turm, der das Gebäude überragt. An der Tür, durch die wir oben müssen, wird diesmal nicht vor Lawinen gewarnt, sondern vor einem mächtigen Laser.

In dem Labor, das in einem großen runden Raum eingerichtet ist, reihen sich wissenschaftliche Poster zu den Experimenten hinter Arbeitstischen, die mit optischen Geräten vollgestellt sind. Die Fülle an wissenschaftlichem Equipment verrät das ausgeprägte Faible des Physikers für Technik, zeugt aber auch von den vielen Ideen und Tricks, die er seit zwei Jahrzehnten ausgeknobelt hat, um die Atmosphäre und ihr Klima zu erforschen.

Die Laser hier sind extrem leistungsstark und auch sehr empfindlich: Das Signal kann allein aufgrund der Schwingungen des Gebäudes oder der Wärme, die anwesende Personen ausstrahlen, instabil werden. »Aus diesem Grund liegt mein Labor abgesondert im höchsten Turm des Gebäudes«, erklärt Hannes. »Hier ist es am stabilsten.«

Mit Hilfe des Lasers kann der Wissenschaftler die Moleküle in der Atmosphäre erforschen. Sein Strahl nimmt einen labyrinthartigen Weg durch eine Röhre, die durch den Raum nach oben führt und die Decke durchstößt. Von dort dringt der Laserstrahl nach draußen und erreicht eine Höhe von mehreren Dutzend Kilometern. Wenn er auf atmosphärische Partikel wie Wassermoleküle oder Aerosole trifft, wird sein Licht gestreut. Ein Teil des gestreuten Lichts wird zum Boden zurückgeworfen, wo es von dem Teleskop, das sich am Fuß der Röhre befindet, aufgefangen und elektronisch erfasst wird, um später analysiert zu werden.

»Hier, auf der Zugspitze, sind wir schon weit oben in der Atmosphäre und deshalb ziemlich nah an dem dran, was wir messen wollen. Wir haben übrigens eines der größten Teleskope der Welt, das mit einem Laser kombiniert ist.«

Ich frage ihn, wie der Laser durch das Dach dringt, und um es mir zu zeigen, schlägt er einen Abstecher auf die Terrasse vor. Er ergreift eine Schaufel, und wir erklimmen eine weitere Treppe. Zu meiner Überraschung führt die Tür am oberen Ende mitten ins Gebirge: Die Luft ist schneidend kalt und jetzt auch klar, die Sonne dringt durch den Nebel und spiegelt sich in zwei Kuppeln. Wir blicken direkt auf die verschneiten Gipfel, und es sind so viele, dass ich das Gefühl habe, auf dem Dach der Welt zu stehen.

Draußen liegt der Schnee gut einen Meter hoch, und Hannes schippt uns einen Weg frei.

»Wenn es Nacht wird, öffne ich eine der Kuppeln und nehme den Laser in Betrieb. Freilich nur, wenn das Wetter es zulässt.«

»Es sieht doch ganz gut aus«, sage ich optimistisch, während sich immer mehr Gipfel zwischen den Nebelschwaden zeigen.

Ich brenne darauf, heute Nacht hier zu bleiben. Es gibt Wesen aus Stein, die einen schnell für sich einnehmen und bei denen man unbedingt die Nacht verbringen möchte. Dem nächtlichen Erleben offenbaren sich Geheimnisse, die am Tag verborgen bleiben. Während ich meinen Gedanken nachhänge, donnert plötzlich Schnee einen benachbarten Hang herunter. Es ist eine Lawine, bloß um mich daran zu erinnern, wo ich bin.

Till stößt auf der Terrasse zu uns. Er gehört zum Stammpersonal und schlägt mir, fasziniert von der Geschichte des Orts, einen Rundgang durchs Haus vor.

»Der Turm ist sehr stabil«, erklärt er mir. »Von hier aus ist die alte Seilbahn gestartet, die das Schneefernerhaus mit dem Zugspitzgipfel verbunden hat, als das Gebäude noch ein Hotel war.«

Ein Hotel! Hannes hat mir davon erzählt, aber manche Informationen nehmen wir erst richtig auf, wenn wir die Sache selbst erleben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 150 Jahre nach den Anfängen des Alpinismus, der den Kühnsten den Weg ins Hochgebirge geebnet hat, macht der Bau der ersten Seil- und Zahnradbahnen die Gipfel auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich. Es entsteht ein regelrechter Hype um die Berge: Man erfindet den Wintersport, schafft Skigebiete und baut Hotels in höheren Lagen.

Das Schneefernerhaus wird 1930 fertiggestellt, und eine Zahnradbahn führt mitten durch den Berg zu dem Ferienquartier, das aus dem Tal mit Wasser und Strom versorgt wird. 1990 wird das Hotel geschlossen, und zwei Jahre später, als der Gipfel von Rio vor der Klimaerwärmung warnt, beschließt das Umweltministerium des Freistaats Bayern, in dem Gebäude eine Klimaforschungsstation einzurichten.

»Heute ist das Schneefernerhaus eine Art Forschungsschiff hoch oben im Gebirge«, schwärmt Till und sieht mich durch seine runden Brillengläser an. »Das Gebäude wurde all denen zur Verfügung gestellt, die Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Klima durchführen möchten. Am besten, wir sehen es uns an.«

Ich folge ihm durch das Gebirgsschiff. Es ist riesig. Wieder geht es durch ein Labyrinth aus Gängen und Treppen, bis wir in einen großen Raum gelangen, dessen Fenster auf eine Terrasse hinausgehen, die mit Messinstrumenten übersät ist. Keines gleicht dem anderen.

»Hier werden alle möglichen Forschungen durchgeführt, von verschiedenen Instituten und Unternehmen«, erklärt mir Till. »Die einen haben ganze Labors gemietet, andere nur ein paar Quadratmeter Bürooder Terrassenfläche, um dort ein Messinstrument aufzustellen. Manche kommen zweimal in der Woche und übernachten hier, andere tauchen nur einmal im Jahr auf.«

Man erkundet hier ebenso das Innere der Berge wie die Atmosphäre und das Universum. Die Instrumente auf der Terrasse untersuchen Aerosole, Wolken, kosmische Strahlung, Wasserdampf, die Luft und ihre Bestandteile, aber auch die im Regenwasser enthaltenen Schadstoffe und vieles mehr.

»Was war in diesem Raum zu Hotelzeiten?«

»Hier war der Speiseraum. Auf der Terrasse standen Tische, die einen Rundblick auf die Alpen boten.«

Eine Vielzahl von Instrumenten hat die Touristen ersetzt. Wenn die Geräte da draußen auch nicht frühstücken, so schlucken sie doch jede Menge Sauerstoff. Jeder Quadratzentimeter des Platzes, der früher gut betuchten Gästen vorbehalten war, dient heute der Erforschung unseres Planeten.

Als Mitglied des Stammpersonals ist Till für die Wartung des Gebäudes und das Monitoring der Experimente zuständig. Genauer gesagt, koordiniert er die Durchführung der wissenschaftlichen Projekte und überwacht sie. Insbesondere prüft er, ob sie miteinander kompatibel sind, wie zum Beispiel, ob eines der Instrumente ein Gas absondert, das die Messungen der anderen verfälschen würde. Im Schneefernerhaus verwendet man übrigens kleine elektrische Schneefräsen, um die Terrassen zu räumen, und Kühlschränke, die mit reinem Propan betrieben werden. Diese Geräte produzieren keine Emissionen, die Messungen beeinträchtigen könnten.

Wie für Hannes war auch für Till die Umgebung ein entscheidender Faktor bei der Wahl seines Arbeitsplatzes.

»Die Leute, die hier hochkommen, lieben die Natur. Sie wollen sie experimentell erforschen und nicht nur rein theoretisch vom Schreibtisch aus. Das Schneefernerhaus bietet ihnen einen Rahmen, der ihren Anliegen entgegenkommt: Hier forscht man unmittelbar an der Natur.«