Die Vollzeit-Abenteurerin - Tamar Valkenier - E-Book

Die Vollzeit-Abenteurerin E-Book

Tamar Valkenier

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tamar Valkenier führte ein scheinbar perfektes Leben: Sie hat es als Köchin bis in die Sterne-Gastronomie geschafft, studierte erfolgreich Psychologie und Kriminologie und arbeitete kurzerhand bei der Niederländischen Nationalpolizei. Doch nach einem Unfall kommt sie ins Grübeln: War das wirklich schon alles? Schnell ist der Entschluss gefasst: Sie will raus. Zunächst zwei Jahre mit einem selbstgebauten Fahrrad um die Welt, erst durch Europa, dann in immer fernere Regionen. Dabei bleibt es aber nicht. Sie tauscht Fahrrad gegen Pferd, Kamel und Hund und reist mehrere Monate durch die Mongolei. Sie durchquert die hohen Gebirgszüge Neuseelands und lebt als Jägerin und Sammlerin, bevor sie 600 Kilometer durch Jordanien wandert. Tamar Valkenier berichtet davon, wie es ist, als Frau allein in der Welt unterwegs zu sein. Hunger zu haben, keine Arbeit und keinen festen Wohnsitz. Dieses Buch ist der eindrückliche Bericht einer Umherziehenden, die sich nach einem freieren Leben sehnte und den Mut hatte, diesem Wunsch ganz und gar nachzugehen, und die dafür immer wieder aufs Neue über sich hinauswächst.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 430

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

TEIL 1.     LOSLASSEN

TEIL 2.     WILDNIS

TEIL 3.     RUHE

DAS ENDE?

EPILOG

DANKSAGUNG

Für meinen Vater, der mich lehrte,

was bedingungslose Liebe ist,

der der Wind unter meinen Flügeln ist,

auch wenn mich diese oft weit von ihm forttragen.

Alle guten Dinge sind wild und frei.

— HENRY DAVID THOREAU

In der Patsche

Plötzlich spüre ich einen heftigen Ruck an dem Seil, an dem ich mein Pferd Izgi führe. Die Pferde gehen wortwörtlich mit ihm durch, und er galoppiert davon. Mein anderes Pferd Tor erschrickt und rennt in die entgegengesetzte Richtung. Das Seil, das ich zwischen den Pferden gespannt hatte, knallt gegen meinen Hinterkopf, und ich falle vornüber zu Boden. Blut strömt mir übers Gesicht: Ich habe einen scharkantigen Stein erwischt.

Ich rappele mich auf, greife mir an den Kopf und sehe, dass beide Pferde bereits in weiter Ferne sind und mit aller Macht versuchen, ihr Gepäck abzuschütteln. Mein Hund Tetti rennt ihnen hinterher, und schon bald verschwinden sie am Horizont.

Das Blut läuft mir über die Hand und über die Stirn in meine Wimpern, sodass ich kaum noch etwas sehe. Was war das eben? Vier Monate lang ist alles gut gegangen. 1.600 Kilometer habe ich mit den Tieren zurückgelegt. Ich habe gut für sie gesorgt, und sie für mich. Wir haben Orte besucht, die ich ohne sie nie erreicht hätte. Vier Monate lang waren wir tief in der Wildnis des Altaigebirges unterwegs. Wir sind eingetaucht in eine jahrhundertealte Kultur, die hier noch quicklebendig ist, haben unter und als Nomaden gelebt. Wir hatten es fast zurück zu Herrn Dalaikhan geschafft. Dort haben wir unsere Reise begonnen, und wie eine stolze Mutter wollte ich meine Tiere wieder sicher zu Hause abliefern. Aber kurz vor Ende unserer Tour ist es schiefgegangen. Und zwar gewaltig.

Da stehe ich nun, ganz allein, ohne Tiere, ohne Gepäck, irgendwo in der mongolischen Steppe und spüre meinen Herzschlag im Schädel pochen. Das Blut strömt noch immer, und mir wird etwas schwindelig. Ich drücke meine Hände auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen, als ich ein Motorrad bremsen höre. Das Männer-Duo hält an und beginnt, aufgeregt auf mich einzureden. Mein Kasachisch ist zu bruchstückhaft, um alles zu verstehen, aber ich schnappe die Worte »Doktor?« und »Krankenhaus?« auf.

Ich versuche, ihnen zu bedeuten, dass ich zwei Pferde und einen Hund habe, die sie finden müssen, und schicke sie los. »In die Richtung. Bitte findet sie!« Die Männer nicken und düsen davon. Kurze Zeit später hält ein zweites Motorrad. »Doktor? Krankenhaus?« Diesmal steige ich auf.

Wir fahren in dieselbe Richtung, in die auch das vorherige Motorrad und meine Tiere verschwunden sind, bis der Mann bei einem kleinen Gebäude hält, an dem er an alle Türen klopft. »Krankenhaus«, sagt er, aber davon ist wenig zu sehen. Die Farbe blättert von der Wand ab, die Fenster sind eingeschlagen, und nirgends hängt ein Schild, das besagen würde, dass ich hier einen Arzt finde. Der Mann zuckt mit den Schultern, spricht ein paar Leute auf der Straße an, und nachdem rasch herumtelefoniert wurde, macht endlich jemand auf. Es ist die Krankenschwester.

Sobald ich drin bin, deutet sie auf ein staubiges Sofa in der Ecke. »Sitzen«, sagt sie und verschwendet ansonsten wenige Worte an mich. Während ich mich umschaue auf der Suche nach einem Spiegel, in dem ich meine Wunde betrachten kann, höre ich, dass mein Chauffeur draußen den Motor startet und wieder davonfährt. Ich seufze in dem Wissen, dass ich nun dieser Frau ausgeliefert bin, die ein Paar Latexhandschuhe aus dem Waschbecken nimmt und darauf befindliche Blutspritzer eines vorigen Patienten abwischt. Sie bedeutet mir noch mal, dass ich mich hinsetzen solle, und nimmt aus dem Schrank eine Flasche mit der Aufschrift »Desinfektion«. Die ist bereits zwei Jahre über das Verfallsdatum hinaus, wie ich sehe, als ich das Etikett inspiziere. Sie gibt etwas davon auf ein schmuddeliges Stück Papier, und perplex lasse ich zu, dass sie damit ein paarmal meinen Kopf abtupft. Es kommt mir vor, als wäre ich im falschen Film gelandet, ich kann nicht glauben, was gerade geschieht. Ich wünschte, ich könnte einfach aus diesem Albtraum aufwachen und wieder bei meinem Vater zu Hause am Küchentisch sitzen.

Mutterseelenallein, verwundet und tief in der Patsche könnte ich Hilfe jetzt gut gebrauchen. Während ich mich frage, was ich in Gottes Namen machen soll, kommt ein Mann mit Reitstiefeln und einem langen, traditionellen Mantel herein. Mit schmutzigen Fingern schüttelt er mir die Hand und stellt sich als der Arzt vor. Immerhin zieht er sich ein Paar saubere Handschuhe über, ehe er sich meine Kopfwunde ansieht. Ohne lange zu fackeln, hat er die Diagnose und die Behandlungsmethode bestimmt und bedeutet mir, dass die Wunde genäht wird.

Ich blicke ihn mit großen Augen an. Nähen? Ganz bestimmt nicht. Ich muss zusehen, dass ich hier wegkomme, und ich muss meine Tiere finden. Meine Erste-Hilfe-Kenntnisse reichen aus, um zu wissen, dass sich eine schmutzige Wunde, die genäht wird, entzünden kann. So nah an meiner Schädeldecke und so weit von einem internationalen Krankenhaus entfernt, scheint mir das eine ganz schlechte Idee. Es gelingt mir, ihm deutlich zu machen, dass ich damit nicht einverstanden bin, und mithilfe von Google Translate frage ich, wie viel Verbandszeug der Arzt hat. Er murrt zunächst, doch dann gibt er mir letztlich alles, was in seinem Schrank liegt. Glücklicherweise habe ich mein Portemonnaie in der Hosentasche, um den guten Mann bezahlen zu können.

Nachdem der Deal beschlossen ist, wasche ich mir über dem Waschbecken das Blut vom Gesicht, und die Schwester hilft mir, einen Kopfverband anzulegen. »Rachmet«, danke, sage ich, und eine Dreiviertelstunde, nachdem ich das Krankenhaus betreten habe, stehe ich wieder auf der Straße.

Benommen und verdutzt setze ich mich auf die Bordsteinkante. Kurz weiß ich nicht, was ich tun soll. Mein Kopf explodiert, und mein Hals ist inzwischen so steif, dass ich ihn kaum bewegen kann. Ob ich eine Gehirnerschütterung habe? Muss ich jemanden anrufen? Aber wen? Und was hat das für einen Sinn? Wie sehr ich mir in diesem Moment wünsche, wir wären noch zusammen …

TEIL 1

LOSLASSEN

Ohne neue Erfahrungen schläft etwas in uns. Diesen Schläfer gilt es zu wecken.

— FRANK HERBERT

Soll es das gewesen sein?

Es ist November 2014, und ich blicke regungslos vor mich hin. Draußen geht ein heftiger Wind, aber hier drinnen ist davon nichts zu spüren. Schon seit Stunden sitze ich in derselben Haltung mit meinem eingegipsten Bein auf dem Wohnzimmertisch vor mir und lausche auf das … Nichts. Ich gehe regelmäßig am Wochenende Fallschirm springen, aber das letzte Mal habe ich mir dabei den Fuß gebrochen, und seither bin ich dazu verdonnert, auf dem Sofa meines Vaters auszuharren. Dort sitze ich nun allein und starre Löcher in die Luft.

Mein Vater kommt die Treppe runter. »Was starrst du denn da so an?«, fragt er, als er meinen Blick sieht, der ins Unendliche geht.

»Die Zeit, die mir davonläuft, Papa.« Mein Vater ist 65, ich bin 27. Ich frage ihn, ob er die Zeit auch so wahrnimmt wie ich.

»Nein, natürlich nicht«, erwidert er, als hätte ich etwas völlig Abwegiges gesagt. »Du hast doch das ganze Leben noch vor dir. Du kannst die Weichen stellen, an einem Bahnhof deiner Wahl aussteigen. Ich hingegen habe meine Endstation fast erreicht.«

Das ganze Leben noch vor mir? Ich lasse seine Worte sacken. Endstation fast erreicht? Bei dem Gedanken bekomme ich Beklemmungsgefühle. Das Ticken der Uhr ist mit einem Mal ohrenbetäubend laut. Wie eine Zeitbombe, tick, tick, tick, immer schneller. Ich habe mir ein gutes Leben aufgebaut, aber in letzter Zeit frage ich mich immer öfter, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen habe.

Woher diese Zweifel kommen, weiß ich nicht, denn ich kann mich eigentlich nicht beklagen. Seit meinem 15. Lebensjahr habe ich mit viel Freude als Köchin in verschiedenen Toprestaurants in und um Haarlem gearbeitet. Genau wie mein damaliger Freund Frank, mit dem ich mit 19 ein Haus kaufte. Sechs Jahre haben wir zusammengewohnt, bis wir (freundschaftlich) getrennte Wege gingen und ich mich wieder in mein Studium stürzte. Neben dem Kochen absolvierte ich nämlich zwei Vollzeitstudiengänge, und nachdem ich jahrelang gebüffelt hatte, wurde ich mit 24 mit einem Master in Jura und einem in Psychologie belohnt. Anschließend ergatterte ich direkt den Posten, von dem ich jahrelang gedacht hatte: »Wenn ich mal groß bin, möchte ich diesen Beruf ausüben!« Als Kriminalpsychologin bei der Bundespolizei beschäftigte ich mich seither begeistert mit Mord- und Sexualstraftaten, mit Betrug und Stalking. Wer ist der Täter? Wie verhört man einen psychotischen Verdächtigen oder ein Kind? Wie erkennt man, ob eine Anzeige falsch ist? Nicht jeder hat dafür Verständnis, dass mir so etwas Freude bereitet, aber für mich ist es der absolute Traumberuf. Alles, was merkwürdig ist in dieser Welt, finde ich interessant.

Nun, da ich meinen Fuß gebrochen habe und gezwungen bin, buchstäblich innezuhalten, denke ich zum ersten Mal ausgiebiger über mein Leben nach. Will ich eigentlich so weitermachen? Was könnte ich verbessern? Oder in jedem Fall verändern? Welche Optionen habe ich? In den vergangenen Tagen habe ich mir das Hirn zermartert, und so langsam wächst das Bedürfnis, mein Leben kräftig auf den Kopf zu stellen und von innen nach außen zu kehren.

Vor einem halben Jahr bin ich wieder bei meinem Vater eingezogen mit der Idee, so in kurzer Zeit auf eine Eigentumswohnung in der Gegend zu sparen. Aber nun, da ich hier so auf dem Sofa sitze, frage ich mich immer mehr, ob der Kauf einer Immobilie wirklich so eine gute Idee ist. Lege ich mich damit nicht viel zu sehr fest? Kann ich danach noch die Weichen neu stellen und an einem Bahnhof meiner Wahl aussteigen? »Papa, soll das alles gewesen sein?«, frage ich ihn verzweifelt. »Tagein, tagaus arbeiten, Häuschen kaufen und ab und zu Urlaub machen?«

Ich liebe es, Urlaub zu machen. Zu reisen. Neue Orte zu sehen, neue Menschen kennenzulernen, neue Dinge zu tun. Bisher habe ich jedes Jahr am 1. Januar all meine Urlaubstage auf einmal genommen, um so lang und so weit weg wie möglich reisen zu können: nach China, Südafrika, Kolumbien … Nie habe ich unter Heimweh gelitten, nie wollte ich wieder zurück nach Hause. Im Gegenteil, ich wollte mehr, wollte es abenteuerlicher, weiter weg und länger. Jedes Mal fiel es mir schwer, im Februar zurückzukehren und wieder ein ganzes Jahr arbeiten zu müssen, ehe ich eine neue Fernreise unternehmen konnte. Nun frage ich mich, ob das nicht auch anders geht.

Mein Vater nickt verständnisvoll, als ich ihm meine Zweifel erläutere, und fügt neckend hinzu: »Da fällt wohl jemand in das berühmte schwarze Loch, was?« Ich liebe seinen Zynismus. Er stichelt sehr gern, ist dabei aber immer liebevoll. »Jahrelang hat man auf etwas hingearbeitet und hat man es dann erreicht, fühlt man eine innere Leere. Das große Nichts. Das ist ganz normal. Aber mach dir keine Sorgen, das geht von allein wieder vorbei.« Bestimmt hat er recht, aber ich will nicht darauf warten, dass es von allein wieder vorbeigeht. Vielleicht muss ich etwas dagegen unternehmen?

Vier Wochen dauert es, bis mein Fuß geheilt ist. Vier Wochen lang grübele ich vor mich hin. Wie kann ich dafür sorgen, dass ich alles aus dem Leben heraushole, ohne dass es alles aus mir herausholt? Auf der Suche nach Inspiration stöbere ich im Internet. Ich schaue mir Videos an und lese Berichte. Aus irgendeinem Grund ziehen mich die Blogs von Weltreisenden magisch an, die ihre Tage füllen, ohne einem festen Plan zu folgen. Die von einem Abenteuer ins nächste stolpern und einfach schauen, wohin das Schicksal sie führt. Ohne Zeitdruck, ohne Erwartungen. Das regt bei mir einen Denkprozess an. Warum werfe ich nicht auch einfach alles über den Haufen? Was, wenn ich all meine Sicherheiten aufgebe? Mich aus allem rausziehe und ohne Netz und doppelten Boden in die Welt begebe? Dorthin, wo nichts muss und Nichtstun erlaubt ist. Ohne Besitz und ohne Plan. Was, wenn ich all das loslasse, was ich laut der Gesellschaft, laut meinem Vater und laut mir selbst alles tun müsste?

»Das Leben neu kalibrieren, Papa, das fehlt mir«, sage ich zu meinem Vater, der sich das alles verzagt anhört. Wahrscheinlich hofft er, dass das nur eine vorübergehende Laune ist, aber das Gefühl geht nicht mehr weg. Die Welt ruft immer lauter: Tamar, kommst du raus, spielen?

Nachdem ich mich wochenlang mit traumhaften Reportagen auf den Geschmack gebracht habe, weiß ich es sicher: Ich will eine Reise unternehmen. Eine lange Reise. Etwas tun, das ich noch nie gemacht habe. Schauen, wohin es mich verschlägt und was das mit mir macht. Ich will nicht mehr so leben, wie es von mir erwartet wird, ich will alle Möglichkeiten ausschöpfen. Das bestmögliche Leben führen, das ich führen kann.

Herz oder Verstand?

Mein Herz und mein Verstand widersprechen sich ständig. Tamar, tu es, lass alles los. Zieh in die weite Welt hinaus! Das wolltest du doch so gern. Außerdem, was ist schon ein Jahr in einem ganzen Menschenleben?, sagt die eine Stimme. Hey, warte mal kurz, erwidert die andere, ist das wirklich so eine gute Idee? Du hast doch so hart für diesen Job gearbeitet, für diesen Traum. Womöglich kannst du nicht mehr in deine alte Stelle zurück. Bist du denn nicht zufrieden?

Eine gute Frage. Warum kann ich nicht einfach zufrieden sein mit dem, was ich habe? Ich habe doch alles, was man sich wünschen kann. Bin ich vielleicht die Raupe Nimmersatt?

»Papa, hilf mir, wie gelangt man zur richtigen Entscheidung?« Aus meinem Psychologiestudium weiß ich nur zu gut, dass unser Denken fehlbar ist und unser Gefühlsleben trügerisch. Sollte ich besser auf meinen Verstand hören oder auf mein Gefühl? Wie auch immer, ich muss etwas tun. Dieses Bedürfnis ist so stark, dass ich es nicht unterdrücken kann.

Mein Vater versucht, mir eine Lösung anzubieten. Eine, die näher ist an unserem Zuhause. »Wenn du mehr rauswillst, kannst du doch öfter hier in die Dünen gehen? Unfreiheit existiert allein im Kopf.«

Ich ärgere mich, wenn er so redet. »Ach komm, Papa«, widerspreche ich ihm. »Unsere Dünen stehen unter Schutz, da darf ich nach Sonnenuntergang gar nicht hin. Ich darf dort nicht zelten, ich darf kein Feuer machen, nichts pflücken. Das ist ein abgestecktes Stück Natur, das strengen menschengemachten Regeln unterworfen ist. Nein, ich will weg, weit weg, und für längere Zeit. Auf der Suche nach echter Freiheit. Vielleicht fahre ich mit dem Fahrrad.«

»Mit dem Fahrrad?« Er sieht mich fragend an. »Nicht mit dem Motorrad?«

Eine verständliche Frage, denn zehn Jahre lang bin ich täglich Motorrad gefahren. Ich fuhr regelmäßig auf der Rennstrecke in Zandvoort und cruiste durch die Alpen und die Pyrenäen, durch die Eifel und einmal nach Budapest und zurück, aber nun will ich etwas anderes. Ich schüttele den Kopf. »Schildkröten können mehr von der Straße erzählen als Hasen«, zitiere ich Khalil Gibran. »Auf dem Motorrad rast man an allem vorbei. Auf dem Fahrrad hat man viel mehr Zeit, alles in sich aufzunehmen, einen Plausch zu halten, an einer Blume zu riechen.« Ich verteidige etwas, das ich nur aus Geschichten kenne. Ich habe nie was mit Fahrrädern am Hut gehabt. Ich fahre nur Rad, um einkaufen zu gehen, aber der im Internet beschriebene Mix aus Freiheit, Bewegung, Herausforderung und Draußensein klingt enorm attraktiv. »Außerdem ist es viel günstiger, und ich bin nicht an Tankstellen oder Asphalt gebunden. Und man kommt sehr viel weiter. Vielleicht radele ich bis nach Singapur!«

Es herrscht Stille im Hause Valkenier. Wir werden noch viele Male darüber sprechen, und noch viele Male wird es still werden. Bis ich schließlich mit meinem Gipsverband in das Büro meines Teamleiters hineinhinke.

»Ich möchte für ein Jahr verreisen, geht das?«, sage ich zu dem Mann, der mich in den vergangenen Jahren wahnsinnig unterstützt hat, mich zu Kongressen schickte und sich sogar dafür einsetzte, dass ich einen Sommer lang bei den ersten FBI-Profilern in den USA studieren durfte.

Er sieht mich verdattert an. »Es läuft doch gerade so gut? Und es ist doch alles so, wie du es dir wünschst?« Ich nicke, er hat recht, aber er begreift auch meinen rastlosen Drang nach Abenteuer, wovon ich ihm mit viel Schmerz und Mühe ausführlich erzähle. »Gut, ich schau mal, was ich für dich tun kann«, sagt er zum Schluss.

Eine Woche später kommt er wieder auf mich zu. »Gute Neuigkeiten, Tamar«, sagt er triumphierend. »Ich habe nachgedacht, und du kannst sechs Monate unbezahlten Urlaub nehmen.«

Er scheint zu denken, dass mich seine Antwort zufrieden stimmt, doch für mich fühlt es sich an, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen. »Oh«, sage ich nur und spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen. »Danke.«

Langsam hinke ich zurück in mein Büro und ziehe die Tür hinter mir zu. Sechs Monate? Seine Worte hallen in meinem Kopf nach, und ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Sechs Monate scheinen mir nicht ausreichend zu sein. Wie weit kann ich in der Zeit radeln? Komme ich dann überhaupt über Europa hinaus? Wie frei bin ich, um irgendwo hängen zu bleiben, einer Einladung zu folgen, mich auch abseits der Wege treiben zu lassen?

Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird es mir. Sechs Monate sind nicht genug. Es geht nicht anders. Nur wenn ich kündige, kann ich erreichen, was ich erreichen will: echte Freiheit.

»Tamar, ich versteh es nicht«, sagt mein Vater, als ich ihn über meinen Entschluss in Kenntnis setze. »Du hast so hart dafür gearbeitet. Wovor läufst du weg?«

Sein Tonfall verrät seine Verzweiflung, doch ich finde die Frage unsinnig. Ich laufe nicht weg. »Vielleicht laufe ich vielmehr hin? Hin zu Abenteuer, Inspiration, Freiheit, einem frischen Blick auf die Möglichkeiten, die das Leben bietet?«

Ich merke, wie ich meinen Entschluss verteidige, obwohl er ehrlich gesagt nur meine eigenen Zweifel ausspricht. Was, wenn ich nie mehr in meinen alten Job zurückkehren kann? Außerdem, was weiß ich schon übers Radfahren? Oder vom Alleinsein über längere Zeit? Ich bin noch nie länger als fünf Wochen am Stück von zu Hause weg gewesen. Was, wenn ich alles hinter mir lasse und es bereue?

»Papa, ich werde das Gefühl nicht los, dass das Leben noch so viel mehr zu bieten hat. Diesem Gefühl muss ich nachgehen, auch wenn ich vielleicht enttäuscht zurück nach Hause komme. Ich will nicht auf meinem Sterbebett an all die Dinge denken, die ich eigentlich gern gemacht hätte, sondern ich will ausgepowert sein von dem Leben, das ich geführt habe.«

Mit 28 in Rente

Alle großen Abenteuer nehmen irgendwo ihren Anfang. Meins beginnt hier. Es ist Januar 2015, und ich bin 28, als ich bekannt gebe, dass ich quasi in Frührente gehe. Ich kündige.

Höllisch nervös überbringe ich die Neuigkeit und versuche unter Tränen, die simpelsten Fragen meiner Kollegen zu beantworten: Warum? Wann kommst du wieder zurück? Ich weiß es nicht und stolpere über meine eigenen Worte bei dem Versuch, es zu erklären. Es fühlt sich fürchterlich an, mein Team im Stich zu lassen, aber ich bin auch erleichtert, dass ich endlich eine Entscheidung getroffen habe und das große Wort ausgesprochen ist. Gemeinsam beschließen wir, dass der 26. März 2015 mein letzter Arbeitstag sein wird, und von diesem Moment an laufen die Vorbereitungen.

Glücklicherweise muss ich keine eigene Wohnung aufgeben. Es trifft sich auch gut, dass vor Kurzem mein Motorrad gestohlen wurde und es das erste Motorrad war, das ich je hatte versichern lassen, sodass mir nun eine stattliche Summe zusteht. »Es ist, als ob das Universum bereits wusste, dass ich auf Reisen gehen würde, nur ich selbst noch nicht«, sage ich mit einem Lachen zu meinem Vater, während ich mit dem großen Ausmisten beginne. Ich mache zwei Stapel. Einen mit all dem, das ich auf die Reise mitnehmen will, und einen mit all dem, das hierbleiben muss. Erschrocken betrachte ich die beiden Haufen. »Papa, ich dachte immer, ich wäre kein sonderlich materialistischer Mensch, aber schau nur, wie viel Zeug ich habe!« Auch davon will ich mich frei machen. Ich gebe viel weg, verkaufe das eine oder andere und befülle anderthalb Umzugskartons mit Dingen, die ich aufbewahren will. »Kann ich die vorübergehend bei dir in den Keller stellen?«

Bastelkönigin

Einer begeisterten Kollegin kann ich einen Mountainbike-Rahmen für 150 Euro abkaufen. Das Angebot nehme ich dankbar an. Ein günstiges Fahrrad finde ich eine gute Idee, weil ich mich dann unterwegs immer noch umentscheiden und auf ein anderes Fortbewegungsmittel umsteigen kann. Außerdem halte ich es für eine schöne und sinnvolle Idee, selbst an meinem Fahrrad herumzubasteln. So lerne ich meinen Drahtesel gut kennen. Ich habe noch zwei Monate Zeit, um das Ungetüm reisetüchtig zu machen, aber das Problem ist, dass ich quasi nichts von Fahrrädern verstehe. Also suche ich mir Hilfe.

Bei Bikeplanet Haarlem steht der gut gelaunte John mir mit Rat und Tat zur Seite. »Was hast du vor?«, fragt er amüsiert. »Nach Singapur radeln? Bist du irre? Damit?!« Er deutet auf mein Fahrrad.

»Ja, na ja«, stammele ich beschämt, »deshalb brauche ich ja eure Hilfe. Mein Budget ist nicht so groß. Habt ihr vielleicht ein paar günstige Ersatzteile herumliegen?«

Er mustert mich von oben bis unten und sagt dann: »Ich schau mal, was ich habe.« Eine Hälfte von John verschwindet in einem großen Behälter mit losen Ersatzteilen. Ich sehe nur noch seine nackten Beine hervorragen, während er ein Teil nach dem anderen herausfischt. Letztlich kommt er mit zwei Felgen und einem Bündel Speichen zurück. »Hier, das kann ich dir für einen Zehner geben. Damit kannst du loslegen.«

Das tue ich. Mit Laptop und Werkzeugkasten sitze ich in der Garage meines Vaters. Nun gilt es, das Fahrrad zusammenzubauen – aber wo fange ich an? Ich weiß, wie man einen Reifen flickt, aber da hört es auch schon auf. Glücklicherweise gibt es auf YouTube umfassende Tutorials, mit denen ich alles lernen kann.

Mein Vater schaut kopfschüttelnd zu, wie seine Tochter mit ölverschmierten Händen in seiner Garage steht und sich abrackert. »Selber machen«, sagt er neckend, »das hast du schon als kleines Mädchen immer gesagt.«

Eine Woche später bin ich wieder bei John. Ich habe Croissants und einen Kaffee mitgebracht und zeige den Männern in der Werkstatt meine Kreation. John fängt an zu lachen. »Du hast alles verkehrt herum eingesetzt.« Ich darf noch mal von vorn beginnen.

So gehen die Wochen dahin. Ich lerne, die Gänge einzustellen, Bremsen zu entlüften und meine Tretkurbel auszutauschen. Als Nächstes kommt ein stabiler Gepäckträger an mein Fahrrad, ein Damensattel und eine große, rote Klingel. Aus Croissants und Kaffee werden Freitagsfeierabendbierchen. Schon bald sind John und seine Kollegen meine Freunde, und allmählich baue ich eine Bindung zu dem Fahrrad auf, mit dem ich noch keine zehn Kilometer gefahren bin.

Probefahrt

Die Zeit vergeht wie im Flug. Es ist März 2015, und schon in zwei Wochen soll es losgehen. Vielleicht ist es keine schlechte Idee, mal eine Probefahrt zu unternehmen? Von Haarlem nach Amsterdam finde ich eine gute Entfernung: 21 Kilometer. Bei der Gelegenheit kann ich auch gleich mal bei Vakantiefietser vorbeischauen. Der Laden ist auf Fernreisen mit dem Fahrrad spezialisiert und scheint mir deshalb ein gutes Endziel.

Frohen Mutes steige ich auf. Während ich eine herrliche grüne Route entlangfahre, bei der die Kaninchen vor meinen Rädern davonspringen, frage ich mich, wieso ich nicht schon eher auf die Idee gekommen bin, nach Amsterdam zu radeln. Bis mir schmerzhaft klar wird, warum. Es ist schwer, sauschwer. Erschöpft und klitschnass komme ich anderthalb Stunden später bei Vakantiefietser an. Ich kann nicht mehr. Ich bin so abgekämpft, dass ich für den Rückweg den Zug nehme. Noch mal 21 Kilometer schaff ich echt nicht.

Beschämt starre ich kurze Zeit später aus dem Fenster. Was mache ich hier eigentlich? Bei Vakantiefietser haben sie mich überhaupt nicht ernst genommen. Sie haben mich mit lauter Informationen überhäuft und allerlei Dinge genannt, von denen ich noch nie gehört hatte, aber ohne die ich offenbar nicht auskomme. Ein KOGA-Fahrrad, unplattbare Reifen, eine Rohloff-Nabe: unentbehrlich. Handschuhe, Fahrradhose, Klickpedale mit Spezialschuhen: absolut notwendig. Ebenso wie Fahrradcomputer, GPS-Geräte und teure Programme, um Routen herauszusuchen. Ob ich mir überlegt habe, ein Satellitentelefon mitzunehmen?

Ich bin völlig durcheinander. Offenbar kann ich nicht Rad fahren, habe auch nicht die richtige Ausrüstung und meine Vorbereitungen waren völlig ungenügend. Und dann habe ich noch einen Rat bekommen, von dem ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll: »Achte darauf, nicht länger als ein Jahr wegzubleiben, sonst kannst du nicht mehr zurück.«

Nimm das Leben nicht zu ernst

Ich bin noch nie sonderlich sportlich oder stark gewesen. Ich bin zwar öfter als Frau allein gereist und habe auch wild kampiert, aber Rad fahren mit einem Zelt ist dann noch mal eine ganz andere Nummer. Habe ich meinen Traumberuf für etwas aufgegeben, das ich gar nicht kann?

»Was für ein Unsinn«, sagt meine Freundin Janneke, als ich ihr meine Zweifel anvertraue. »Du kannst alles lernen. Weißt du noch, was Pippi Langstrumpf immer sagt? Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.«

Darüber muss ich ziemlich lachen und sage: »Und Kermit der Frosch sagt: Nimm das Leben nicht zu ernst, du kommst ja doch nicht lebend raus.« Wir lachen über die Tiefgründigkeit, die sich hinter diesen albernen Sprüchen verbirgt. »Du hast recht«, sage ich. »Ein Mangel an Fähigkeiten oder an Talent hat mich bisher noch nie aufgehalten.« Die Angst davor zu sterben, ohne je richtig gelebt zu haben, überwiegt. Ich muss es einfach tun. Außerdem habe ich überall herumposaunt, ich würde eine Fahrradreise unternehmen, und wenig wirkt so motivierend wie die Aussicht auf einen Gesichtsverlust. Ich kann es ja zumindest mal probieren, nicht wahr? Und wenn es nix ist, drehe ich wieder um. Zumindest ist es das, was ich jedem erzähle. Für mich fühlt es sich an nach: jetzt oder nie. Ich will so schnell wie möglich los. Vielleicht auch, um keine Zeit dafür zu haben, es mir doch noch mal anders zu überlegen?

Noch ein Weilchen zusammen

Ich schleppe die letzten Dinge, die ich aufbewahren will, runter in den Keller. Um dort hinzukommen, muss ich den Wohnbereich von Janneke betreten. Sie ist meine beste Freundin und mietet die unterste Etage bei meinem Vater im Haus.

»Tamar, was hältst du davon, wenn ich dich auf dem Fahrrad bis zur belgischen Grenze begleite?«, fragt sie, als ich meinen Umzugskarton bei ihr die Treppe hinuntertrage.

»Das wäre super!«, rufe ich sofort. »Aber wie? Mit deinem alten Omafahrrad? Du hast ja nicht mal Gänge!«

»Na und?«, reagiert sie nonchalant. »Hauptsache, du und ich sind noch ein paar Tage zusammen.«

Ich schaue sie kurz ungläubig an und stelle dann den Umzugskarton ab, um sie zu umarmen. Noch ein paar Tage zusammen mit Janneke, bevor ich allein weiterradeln muss? Das finde ich eine ganz fabelhafte Idee.

An den darauffolgenden Tagen macht sich Janneke bereit. Sie hat ebenfalls kein KOGA-Fahrrad, keine Rohloff-Nabe oder Klickpedale, aber das kümmert sie nicht. Sie stopft ein paar warme Klamotten in eine Plastiktüte, während ich all meine Dinge noch mal durchgehe. Sie liegen ausgebreitet vor mir auf dem Boden. Eine Tasche für die Campingausrüstung, eine Tasche mit Kleidung, eine Tasche für die Kochausrüstung und Essen. Solang es in meine Taschen passt, darf es mit. Den Rest verkaufe ich, gebe ich weg, und wenn es wirklich niemand haben will, landet es im Müllcontainer meines Vaters. Bevor ich aufbreche, will ich Tabula rasa machen.

Aufbruch

»Prachtvoll und mitreißend will ich leben!«, sind die Worte, mit denen Hendrik Marsman sein Gedicht De grijsaard en de jongeling (Der Greis und der Jüngling) beginnt. Mein Vater, der Greis, und ich, der Jüngling, haben das Gedicht oft gemeinsam gelesen, und der folgende Satz ist dabei immer bei mir hängen geblieben: »Nur ein Herz, das gegen die eigenen Rippen schlägt, ist ein anständiges Herz von anständigem Maß.« Ich habe nie ganz begriffen, was Marsman damit genau meinte, aber ich habe es immer aufgefasst als Ansporn, meinen eigenen Träumen nachzujagen. Daran denke ich an dem Tag, an dem Janneke und ich aufbrechen.

Es ist der 28. März 2015, und wir stehen draußen im Regen bei meinem Vater vor der Tür. Janneke hat ihr Gepäck in schwarzen Mülltüten hinten auf ihr Omafahrrad gebunden und wird mit mir bis zur belgischen Grenze mitfahren. Danach muss ich allein weiterradeln. Wie lange? Wohin? Warum? Ich weiß nur, dass ich einmal erleben will, was es heißt, wirklich frei zu sein. Frei von Terminen und Deadlines, von Verpflichtungen und Besitz. Herausfinden, was das Leben noch zu bieten hat.

Mein Vater kann mit alledem nichts anfangen. Er sieht uns an, liebevoll und tieftraurig zugleich. Es ist, als ob er noch etwas sagen will, es aber herunterschluckt. Es wurde auch alles schon gesagt. »Seid vorsichtig, ja? Nicht mit fremden Männern mitgehen!«

Es ist kalt und schüttet wie aus Kübeln. Mein Vater zieht seine warme Weste dichter um den Körper, als ob er sich selbst festhalten wolle, nun, da er mich loslassen muss. Er schaut mich betrübt an, und Regentropfen mischen sich in seine Tränen. Ich werde ihn schrecklich vermissen. Doch davon kann ich mich nicht abhalten lassen. Ich muss es tun. Ich kann einfach nicht anders. Ich hoffe, dass er das versteht.

Ich möchte sagen »bis bald«, aber das wäre gelogen. Keine Ahnung, wie lange ich wegbleibe. Ein paar Wochen? Monate? Vielleicht sogar Jahre? Also sage ich noch einmal, wie sehr ich ihn liebe, und halte ihn fest, ehe er mich wegschiebt. »Geh du mal.«

Ich will nicht mehr. Ich bekomme Panik und würde viel lieber mit ihm zurück ins Haus gehen. Mein ganzer Körper bebt vom heftigen Weinen, und ich sehe fast nichts mehr durch meinen Tränenschleier. »Komm, Tamar«, sagt Janneke sanft und stellt ihre Füße auf die Pedale. Ich blicke noch einmal zu meinem Vater, dann tue ich es ihr nach, und wir fahren in Schlangenlinien davon. Weg von allem, was ich weiß und kenne, und hinein ins Unbekannte.

Die Probe aufs Exempel

Den ganzen Tag sind die Wetterbedingungen suboptimal. Es regnet ununterbrochen, und der Wind ist beißend und kalt. Ich fühle mich schuldig, weil ich Janneke das antue, und finde es selbst auch nicht wirklich toll. »Solang wir weiterfahren, bleiben wir schön warm«, ermutigt mich Janneke. »Wir lassen uns doch nicht von ein paar Regentropfen verrückt machen? Wir sind schließlich aus Holland!« Ich lächele. Ich liebe ihre Abenteuerlust und ihren stets positiven Blick auf die Dinge.

Wir lassen Haarlem hinter uns und sind unterwegs nach Belgien. In südliche Richtung. Zumindest ungefähr. Wo wir schlafen, werden wir sehen. Erst mal ein Stück radeln.

Als ob es nicht schon schwer genug wäre, beginnt der Wind am Nachmittag, noch heftiger zu wehen. So sehr, dass wir vom Weg geblasen werden. Dem entgegenkommenden Verkehr können wir gerade noch so ausweichen. Lastwagen schlingern bereits hupend um uns herum. Nach dem zigsten Windstoß lande ich auf der anderen Straßenseite im Gras. Janneke kommt zu mir. »Tamar! Du wärst fast im Graben gelandet!«, ruft sie erschrocken. Als ich mich umdrehe, stelle ich fest, sie hat recht.

»Das ist lebensgefährlich!«, rufe ich laut, um den Wind zu übertönen. »Lass uns irgendwo eine Pause einlegen und einen Plan schmieden.« Ich deute auf den Wasserturm ein Stück vor uns. Sie nickt und hilft mir, mein schweres Fahrrad wieder aufzurichten, und schiebt ihr Rad hinter meinem Richtung Turm.

»Das ist völliger Wahnsinn, Jans«, sage ich, als wir dort angekommen sind. »Wir sind schon fünf Stunden unterwegs und kaum vorwärtsgekommen. Das schaffen wir nie! Ist deine Unterhose noch trocken?« Wir sind beide bis auf die Knochen nass, und alles ist durchgeweicht. Unsere Regenjacken haben den Kampf verloren und sind auch von innen klatschnass. Ich seufze und lehne den Kopf gegen den Turm. Ich zittere. Mir ist eiskalt, ich bin todmüde und weiß kurz nicht mehr, was ich tun soll. Aufzugeben ist ein verführerischer Gedanke, aber in Anwesenheit von Janneke spreche ich ihn nicht aus.

»Vielleicht müssen wir was essen?«, schlägt Janneke vor, die Essen stets als Lösung betrachtet.

Wir essen ein paar Müsliriegel, und tatsächlich: Allmählich kehrt unsere Energie zurück, und wir schmieden, nun etwas gestärkter, einen Plan. »Was, wenn wir unsere Fahrräder im Windschatten an der Deichseite durchs Gras schieben? Das könnte gehen …« Es ist unfassbar anstrengend, aber die einzige Möglichkeit vorwärtszukommen.

An diesem Abend finden wir einen Campingplatz, der sogar geöffnet ist. Wir haben eben erst Zoetermeer passiert und das Büro, in dem ich die vergangenen Jahre bei der Bundespolizei gearbeitet habe. Es ist seltsam, dieses Kapitel nun sowohl metaphorisch als auch buchstäblich hinter mir zu lassen. Die Mord- und Sexualstraftaten, die Spezialeinheiten, die interessanten Schulungen und spannenden Verhöre – das alles habe ich auf einen Schlag aufgegeben. Nun gehört es der Vergangenheit an. Ob ich gut daran getan habe? Darüber will ich vorläufig nicht nachdenken.

Wir haben fünfzig Kilometer zurückgelegt und sind müde und durchgefroren. Froh, dass wir nicht mehr Rad fahren müssen, hängen wir unsere nassen Klamotten im Toilettengebäude des Campingplatzes zum Trocknen auf. »Schau nur, wie verwildert wir schon aussehen!«, rufe ich erschrocken angesichts meines Spiegelbildes. Ich sehe aus wie eine triefnasse Katze mit struppigen Haaren, aber eine, die überglücklich ist, als sie ein Paar trockene Socken aus ihrer Tasche fischt.

Wir machen Eintopf aus den entlang des Weges gesammelten Kartoffeln und wilden Brennnesseln und öffnen eine Flasche Wein, um unseren ersten Tag zu feiern. »So, Jans, du hast dir echt schönes Wetter ausgesucht, um mit mir zu radeln, aber den ersten Tag haben wir schon mal überlebt!«

»Allerdings!«, sagt Janneke. »Prost! Auf uns!«

»Weißt du was?«, sage ich, »wir betrachten dieses Sauwetter einfach als Test. Das Universum will testen, ob wir aus dem richtigen Holz geschnitzt sind. Und das sind wir doch, nicht wahr?«

»Wir werden’s dir schon zeigen!«, ruft sie einem imaginären Wettergott im Himmel zu.

Das ist natürlich großspuriges Gerede und leicht gesagt, nun, da wir im Trockenen und Warmen sitzen, aber ich werde mich an diesen Satz noch oftmals erinnern, wenn ich völlig am Ende bin: »Das ist nur ein Test, Tamar, halte durch, du wirst gewinnen!«

Es kostet uns drei Tage, um die Grenze zu Belgien zu erreichen, wo Janneke von unserem gemeinsamen Freund Erwin abgeholt wird. Zusammen essen wir noch ein Stück Kuchen, und nach einer letzten Umarmung fahren sie weg. Janneke winkt so lang, bis ich sie nicht mehr sehen kann, und dann kann ich nicht länger die Starke spielen. Mit einem Mal fange ich an zu hyperventilieren, und Tränen strömen mir nur so über die Wangen. Mein gesamter Körper bebt. Schlagartig begreife ich, was ich tue, wie viel ich aufgebe, aber ich weiß eigentlich nicht so genau, wofür. Was mache ich hier? Warum fahre ich nicht einfach mit ihr zurück nach Hause? Warum war ich so versessen darauf, allein herumzuziehen?

In einem Schaufenster betrachte ich mein Spiegelbild. Ich erkenne mich kaum wieder. Eine Herumtreiberin, eine verirrte Träumerin. Ein Mädchen mit einem viel zu schwer bepackten Fahrrad und offenkundig null Ahnung, was sie da eigentlich tut. Auf einmal bin ich allein, fühlt es sich plötzlich real an, muss ich alles »selber machen«. Das, was ich so sehr wollte, fühlt sich nun wie ein regelrechter Albtraum an.

Doch es gibt kein Zurück mehr. Also stelle ich meine Füße fest auf die Pedale und radele weiter. Das Abenteuer fängt an.

Ist das ein Zeichen?

Ich habe keine Route und keinen richtigen Plan, außer dass ich versuchen will, zu Ostern in La Besace in Frankreich zu sein. Mein Saxofonlehrer organisiert dort jährlich ein Musikwochenende, und ich hoffe, dabei sein zu können. Ich tippe den Zielort in der Fahrradrouten-App OsmAnd ein und sehe, dass ich mich ranhalten muss, wenn ich es rechtzeitig schaffen will.

Im Sturm schlingernd fahre ich weiter. Die Minuten werden zu Stunden, und mit den Gedanken noch bei meinem Abschied schrecke ich auf, als ich ein lautes, knackendes Geräusch höre. Ich drehe mich um und sehe einen großen Baum in meine Richtung fallen. SCHEIIIIISSE!, denke ich. Ich fluche nie, aber die Gefahr kommt so schnell auf mich zu, dass es das Einzige ist, was mir in den Sinn kommt. Ich trete so fest in die Pedale, wie ich kann, und der riesige Baum kracht einen Meter hinter mir mit einem dumpfen Knall auf den Weg. Ich spüre, wie der Boden erzittert. Äste und Holzsplitter fliegen umher, aber wie durch ein Wunder werde ich nicht getroffen.

Hinter mir geht ein Auto voll in die Bremsen. Ich schaue mich erschrocken um. »Alles okay mit dir?«, ruft die Fahrerin mir zu. »Ja, alles okay«, rufe ich stotternd, »ich setze, ähm, nur, äh, kurz … meinen … Helm auf.« Ich versuche mit zitternden Händen, den Helm von meinem Gepäck loszumachen. Ich weiß zwar, dass der mich nicht gerettet hätte, aber das ist die einzige Reaktion, zu der ich im Augenblick imstande bin.

Die Frau dreht um, und ich fahre weiter, während ich mich frage, warum ausgerechnet mir das passiert. Ich habe kaum meine Reise begonnen und wäre um ein Haar gestorben. Ist das ein Zeichen? Haben die Götter mir in den vergangenen Tagen deutlich machen wollen, dass ich eine falsche Entscheidung getroffen habe? Dass ich besser umkehren sollte? Ist es gar kein Test, sondern eine Warnung? Warum bin ich immer so eigensinnig? Ich radele langsam, unsicher, ob ich weiterwill, aber zwinge mich, in die Pedale zu treten.

Schlafen bei Fremden

Heute radele ich lange Zeit, in der Hoffnung, einen schönen Schlafplatz zu finden. Ein Fleckchen für mich allein, in einem Wald oder einem Park an einem dahinplätschernden Bächlein. Nur habe ich auch nach stundenlangem Fahren noch immer nichts gefunden. Öffentlicher Grund ist rar. Aber es gibt jede Menge Äcker. Ich sollte bei einem der Bauernhöfe nachfragen, aber das traue ich mich nicht.

Noch ein kleines Stückchen, denke ich, beim nächsten Bauernhof probiere ich es, oder beim übernächsten. Ich schäme mich, fühle mich, als würde ich andere Leute anbetteln. So bin ich nicht, und so will ich mich nicht fühlen. Aber ich bin auch erschöpft und durchgefroren und humpele mit letzter Kraft zur Tür, um zu klingeln.

Als ob der hünenhafte Bauer bereits auf mich gewartet hätte, reißt er die Tür sofort sperrangelweit auf. »Hallo, junge Dame. Was kann ich für dich tun?«, fragt er mit polternder Stimme, wodurch ich mich noch kleiner fühle als ohnehin schon.

Ich hole tief Luft und richte mich auf, in dem Versuch, nicht allzu erbärmlich auszusehen. »Na ja, es ist so«, sage ich zögerlich, »ich unternehme eine Fahrradreise und suche einen Schlafplatz. Kann ich eventuell, vielleicht, sofern es nicht zu viel verlangt ist, möglicherweise eine Nacht bei Ihnen auf der Wiese zelten?«

Er sieht mich an, mein Fahrrad, sein Land, und nickt. »Klar, such dir ruhig ein Plätzchen«, und schließt die Tür.

Ich seufze tief. Ich habe es getan. Ich habe geklingelt und tatsächlich einen Schlafplatz. Es fühlt sich an wie ein Sieg. Erleichtert fange ich an, mein Zelt aufzubauen, während der Regen mir in Strömen in den Nacken läuft. Das kann mir egal sein, schon bald werde ich im Trockenen in meinem Zelt sitzen und kann mich endlich etwas ausruhen.

Zumindest male ich mir das aus, als ich den Bauern wieder auf mich zukommen sehe. »Meine Frau fragt, ob du mit uns essen willst. Und wir haben drinnen noch ein Bett. Vielleicht möchtest du auch erst mal duschen?« Ich traue meinen Ohren kaum und nehme das Angebot begierig an. »Sehr gern!« Eine warme Dusche ist in diesem Moment mein allergrößter Wunsch.

Als ich rosig aus der Dusche komme, stellt der Bauer große, dampfende Pfannen auf den Tisch: Fritten mit Mayo, Bohnen und Stoofvlees, ein flämischer Eintopf. Ich stelle eine mitgebrachte Flasche Weißwein dazu und eine Packung Stroopwafels. Letzteres kennt der Bauer nicht, deshalb bleiben die Sirupwaffeln unangerührt. Ich hebe das Glas, um auf unsere Begegnung anzustoßen. »Ich bin froh, dass ich geklingelt habe. Das habe ich noch nie gemacht, so einfach bei Fremden zu übernachten«, sage ich.

»Und wir sind froh, dass du hier bist. Bis nach Singapur radelst du? Das muss ich unseren Kindern erzählen!«, sagt der Bauer. Der Abend schreitet voran, und eine um die andere Frage stürmt auf mich ein.

Die Bäuerin interessiert sich vor allem für meine Familie und fragt, ob die auch so abenteuerlustig ist.

Ich fange an zu lachen. »Nein, nicht wirklich. Mein Vater ist mal per Anhalter mit einem Fischimbisswagen von IJmuiden bis nach Paris gefahren. Das war damals schon allerhand, aber heute setzt er mehr auf Sicherheit. Wenn ich mal wieder auf verrückte Ideen komme, sagt er immer: ›Bist du sicher, dass das eine so gute Idee ist?‹«

»Und deine Mutter?«

»Die findet ziemlich toll, was ich alles so mache, aber eigentlich sprechen wir nicht so oft miteinander.« Ich erzähle, dass meine Eltern sich haben scheiden lassen, als ich 15 war. »Ich habe eine Halbschwester, die fünf Jahre älter ist und zu dem Zeitpunkt schon zu Hause ausgezogen war. Mein Zwillingsbruder Jasper und ich sind bei meinem Vater wohnen geblieben. Seither habe ich meinen Vater erst so richtig gut kennengelernt, und dafür bin ich enorm dankbar. Er ist großartig. Er hat mir beigebracht, was bedingungslose Liebe ist.«

»Und deine Mutter, wo ist die?« Sie löchern mich mit Fragen, wollen alles wissen.

Ich zögere kurz, dann beschließe ich, offen zu sein. Die Tatsache, dass ich sie nicht kenne und ich morgen früh wieder abreise, gibt mir Sicherheit. »Nach der Scheidung ist der Kontakt zu meiner Mutter komplett abgebrochen. Fast zehn Jahre lang haben wir nichts von ihr gehört. Vergangenes Jahr rief sie plötzlich an. Sie wohnt inzwischen in Südfrankreich, und wir bauen allmählich wieder einen Draht zueinander auf. Wir haben jede Menge, über das wir uns aussprechen müssen, aber ich bin froh, dass sie wieder Teil meines Lebens ist.«

Keine Ahnung, warum ich ihnen das alles erzähle. Es rutscht mir raus, noch ehe ich an ihren Gesichtern ablesen kann, dass sie nicht wissen, was sie darauf sagen sollen. »Aber das ist nicht so schlimm!«, versuche ich, sie zu beruhigen, »das hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin, und damit bin ich sehr zufrieden.«

Sie schauen mich prüfend an. Ich weiß nicht, ob sie Mitleid mit mir haben, mich seltsam finden, meine Reisepläne gutheißen oder vielleicht von allem ein bisschen. Wie auch immer, es ist nett hier in dem Bauernhaus, und mit einem zufriedenen Gefühl beschließe ich, ins Bett zu gehen.

Vor dem Schlafengehen jedoch rufe ich meinen Vater an und erzähle ihm, dass alles bestens läuft; den Vorfall mit dem Baum lasse ich unter den Tisch fallen.

Eine neue Welt

Ich bin müde, mein Hintern tut mir weh, meine Beine zittern. Ich bin in den vergangenen Tagen mehr Fahrrad gefahren als in meinem ganzen Leben, und mein Körper kämpft sichtlich. Jeden Tag kostet es mich größte Mühe, mich zu motivieren und weiterzufahren, nicht einfach zusammenzusacken und ein paar Tage auszuruhen. Es ist erst einen Monat her, dass ich nach zwanzig Kilometern auf dem Rad erschöpft den Zug nach Hause genommen habe, aber nun zwinge ich mich dazu, innerhalb von drei Tagen noch mal zweihundert Kilometer zurückzulegen. Am kommenden Wochenende ist Ostern, und dann will ich in La Besace sein für das Musikfestival, bei dem auch meine gute Freundin Floor sein wird.

»Komm schon, Tamar, jeder Meter zählt«, sporne ich mich selbst jedes Mal an, so lange, bis ich fix und fertig an meinem Ziel ankomme.

»Wie schön, dass du da bist!«, ruft Floor, als sie mir die Tür aufhält. »Komm rein, wie geht’s dir? War es schwer?«

»Na ja«, sage ich und spiele meine Herkulesaufgabe herunter, »es war schon anstrengend, aber das macht jetzt nichts mehr. Ich bin da, lasset das Fest beginnen!«

Was ich ihr nicht erzähle, ist, dass ich sowohl physisch als auch mental ausgelaugt bin. Dass ich mir tagelang Sorgen gemacht habe, ob ich meinem Körper nicht zu viel abverlange. Ob ich mir unterwegs einen Platten hole oder einen Unfall baue. Ob ich es schaffe, abends die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben, und ob ich einen Schlafplatz finde. Ob ich irgendwo vorbeikomme, wo ich meine Wasserflaschen auffüllen kann. Ob ich mich traue, allein draußen zu schlafen. Was ich tun soll bei unerwünschtem Besuch. Ich erzähle nicht, dass ich gemerkt habe, wie neurotisch ich eigentlich bin, überhaupt nicht so tough, wie ich mich gebe, und dadurch enttäuscht von mir selbst bin.

Floor hat von alledem keinen Schimmer, als sie an diesem Abend konstatiert, ich hätte vor nichts Angst. Wir stehen zusammen in der Küche und machen den Abwasch, als sie sagt: »Viele Menschen träumen von so was, was du machst, wagen aber den Schritt nicht. Und du tust es einfach. Das finde ich so toll an dir!«

Kurz bin ich stolz, weil sie so über mich denkt, doch dann muss ich ihr gestehen, dass mehr dahintersteckt. »Ich wünschte, das wäre wahr«, sage ich. »Ich fürchte mich total oft und habe in der Vergangenheit unter Angststörungen gelitten.«

»Angststörungen?«, sagt Floor erstaunt. »Was meinst du damit? Das hast du nie erzählt.«

Zuerst erzähle ich ihr, womit ich schon von klein auf kämpfe. »Als Kind hatte ich fast jede Nacht Albträume, später entwickelte ich Klaustrophobie. Ich traute mich nicht in den Fahrstuhl, hatte Todesangst in Bussen und bekam Beklemmungsgefühle in Menschenmassen. Ständig hatte ich vor irgendetwas anderem Angst, bis ich schließlich gar keinen Auslöser mehr brauchte, um Angst zu empfinden. Einfach so aus dem Nichts bekam ich Panikanfälle.« Floor sieht mich fragend an. »Diese Tamar hast du nie gesehen. Inzwischen geht es mir gut.«

Es ist verrückt, dass ich so offen darüber spreche, aber jetzt traue ich mich auf einmal. Als ob es mir nichts mehr ausmacht. Als ob ich mich wegen nichts mehr schäme.

»Und wie läuft das ab, so eine Panikattacke?«, fragt Floor.

Ich versuche, es zu erklären. »Wenn ich das habe, fange ich an zu schwitzen, zu hyperventilieren, dann klopft mein Herz schneller. Ich fühle Stiche im Körper, vor allem rund ums Herz, als würde jemand mit Messern auf mich einstechen. Ich zieh mich dann komplett in mich selbst zurück, hab kaum noch auf dem Schirm, was um mich herum geschieht. Mein Hals schnürt sich immer mehr zu, das Atmen fällt mir schwer, und ich bin überzeugt, dass ich gleich sterbe. Manchmal falle ich dann in Ohnmacht, und wenn ich aufwache, fängt es wieder von vorn an. Echt grauenvoll.«

»Gott, wie furchtbar. Hast du das oft gehabt?« Floor hat in der Zwischenzeit ein Küchentuch genommen, kommt aber kaum zum Abtrocknen.

»Das hat irgendwann in der Pubertät angefangen und kam in Schüben«, erzähle ich weiter. »In manchen Monaten war es ruhig, manchmal hatte ich zehn Panikattacken pro Tag. Das war nicht nur Furcht einflößend, sondern auch enorm ermüdend. Manchmal lag ich tagelang groggy auf der Couch. Völlig ausgeknockt.«

Floor schaut so besorgt, dass ich darüber lachen muss. Inzwischen finde ich es eine lustige Geschichte, aber Floor sieht mich mitleidig an. Genau die Reaktion, die ich vermeiden wollte, und der Grund, aus dem ich das nie jemandem erzählt habe. Erzähle ich es jetzt vielleicht deshalb, damit ich das alles ein für alle Mal loslassen kann?

»Und die Ärzte? Konnten die nichts tun?«, fährt Floor fort. Ich zucke mit den Schultern.

»Ich habe alle durch: Allgemeinärzte, Neurologinnen, Kardiologen, Psychologinnen, Psychiaterinnen. Sie wussten sich keinen Rat, was mich betrifft. Körperlich kerngesund und geistig topfit. Ich wusste haargenau, dass es irrationale Ängste waren, aber gegen die Ohnmacht halfen keine Gedanken, gegen das Herzrasen kam ich nicht mit dem Verstand an. Mein Vater leidet auch darunter. Er sieht es als physisches Gebrechen. Er denkt, dass irgendein Botenstoff im Gehirn fehlt, dass es eine körperliche Einschränkung ist wie blind sein oder taub. Aber sich deshalb davon abhalten lassen? Niemals.«

Ich erzähle Floor, dass mein Vater mir beibrachte, dass man trotz Angst auch jede Menge erreichen kann. Sich nicht trauen und es trotzdem tun ist die Lebensweisheit, die er mir mitgegeben hat. »Damit habe ich herumexperimentiert, und es funktioniert!«

Also erst recht in den Fahrstuhl steigen, oder in den Bus. Meinen Ängsten entgegentreten, um sie unter meinen Füßen zu zermalmen. »Seine Ängste zu überwinden, kann süchtig machen.« Offenbar gehen Ängste mitunter Hand in Hand mit einer kräftigen Portion Mut, können ihn womöglich sogar wecken und anregen. Ich begann, Gefahren nicht nur nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sie erst recht zu suchen, als ob ich all die Jahre voller Angst kompensieren müsste, als ob ich mich selbst davon überzeugen müsste, wie stark ich bin.

»Hast du das noch immer?«, fragt Floor, »denn ich finde überhaupt nicht, dass du so rüberkommst. Du bist einfach tough. Motorradfahren, Fallschirmspringen, weite Reisen und jetzt das.«

Ich bin sprachlos. Offenbar kennt sie eine ganz andere Tamar als ich. Irgendwie finde ich es auch schön, dass sie nun erfährt, wer ich wirklich bin.

»Nein, inzwischen muss ich niemandem mehr etwas beweisen«, sage ich und zucke mit den Schultern. Es entsteht eine unangenehme Stille. Ich schäme mich fürchterlich, aber es erleichtert mich auch ungemein, ihr das endlich alles zu erzählen. »Manchmal habe ich Angst, dass es wieder zurückkommt, vor allem jetzt auf Reisen wäre das ziemlich blöd. Aber ich fühle mich gut und gehe einfach davon aus, dass ich geheilt bin.«

Floor holt eine Flasche Wein und bedeutet mir, ob ich auch ein Glas will. »Ja, gern«, sage ich mit einem tiefen Seufzer und rücke dicht an Floor heran auf der Stufe vor der Küche, wo wir zu zweit noch plaudern und lachen.

Frühlingsgefühle

Nach drei schönen Tagen nehme ich Abschied, und Floor verspricht mir, mich später auf meiner Reise zu besuchen. Ich kann ihr nur nicht sagen, wann ich ungefähr wo sein werde. Als sie mich fragt, wohin ich radele, sage ich »Singapur«, aber eigentlich fahre ich einfach drauflos, nach überall und nirgendwo. Ohne Route, ohne Plan. Ich werde schon sehen, wohin der Wind mich weht.

Mit jedem Tag fällt mir diese Form des Reisens leichter. Ich schlafe im Wald oder frage jemanden, ob ich auf seinem Land übernachten darf. Die Distanzen, die ich täglich zurücklege, nehmen in rasantem Tempo zu, und ich merke, dass ich immer fitter werde. Die paar Tage ausruhen in La Besace haben mir gutgetan.

Es hilft natürlich, dass das Wetter endlich besser geworden ist. Die Sonne scheint, um mich herum strecken tapfere kleine Krokusse ihre Köpfchen aus der Erde, alle Zeichen stehen auf Frühling. Die Jahreszeit der hoffnungsvollen Erwartungen, der Geburt und des Erwachens von neuem Leben. Meinem neuen Leben!

Unbemerkt gewöhne ich mich an den Rhythmus meines neuen Daseins. Radeln, essen, an einer Blume riechen, mit einem Fohlen einen Schwatz halten, noch mehr radeln, schlafen und am nächsten Tag alles von vorn. Fähigkeiten wie ein Zelt aufbauen, navigieren und ein Feuer machen, die ich bei den Pfadfindern gelernt und bei verschiedenen Urlauben ausgebaut habe, kommen mir nun zugute. Nur die mentale Anpassung lässt am längsten auf sich warten. Mich der Freiheit hingeben glückt mir noch nicht recht. Ich wünschte, mein Gehirn wäre so frei wie ein Vogel, doch es tastet noch immer ängstlich um sich, auf der Suche nach Halt. Nach einer Route, einem Ziel, einem Plan. Wo soll ich schlafen? Wo kann ich Essen kaufen? Wie viele Kilometer sind es noch? Was, wenn ich es nicht schaffe? Was ist Plan B? Und Plan C? Und D? Ich werde mir schmerzhaft bewusst, dass ich keineswegs so unbeschwert bin, wie ich gehofft hatte.

Um nicht die zigste Nacht allein im Wald schlafen zu müssen, melde ich mich bei Couchsurfing an – einer Internetplattform, auf der Menschen Fremden aus aller Welt einen kostenlosen Schlafplatz in ihrem Zuhause anbieten. Dabei geht es nicht ums Geld, sondern um Begegnungen, das Kennenlernen neuer Leute, um den Austausch von Erfahrungen zwischen verschiedenen Kulturen. Einer der Musiker vom Musikwochenende in Frankreich hat mich darauf hingewiesen und erzählte, dass es auch speziell etwas für Radreisende gibt: Warm Showers. Ich melde mich für beides an und schaue mir die Profile von Menschen an, die mir interessant erscheinen, und schicke ihnen Anfragen: »Darf ich heute Abend bei dir schlafen?«

Pierre reagiert prompt: »Ich habe eine Schlafcouch für dich. Was meinst du, um wie viel Uhr du hier bist? Ich würde etwas zu essen machen. Isst du Fleisch?«