Die Waage der Welt - Marie Weißdorn - E-Book

Die Waage der Welt E-Book

Marie Weißdorn

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Beschreibung

Ich fand das sanfte Licht und die brennende Dunkelheit, ließ das Licht zurück und befahl die Schwärze zu mir. Instinktiv streckte sie sich mir entgegen. Weil ich dafür geboren war wie mein Zwilling für das Licht. Asterin liegt in Trümmern. Während der Göttliche Orden noch der zahlreichen Opfer der Dunklen gedenkt, erschüttern immer mehr Angriffe die einst strahlende Stadt. In dem Chaos haben Kae und Rieka Zuflucht bei ihrer Straßenbande gefunden, doch trotz aller Trauer können sie nicht untätig bleiben. Mithilfe ihrer einzigartigen Fähigkeiten folgen sie der Spur der zerstörerischen Wesen hinaus aus der Stadt. Riekas Verbindung zu den schwarzen Iónas birgt den Schlüssel zum Geheimnis der Dunklen. Doch so viel Sicherheit Kae ihr auch gibt, ringt sie noch immer um die Kontrolle ihrer Kräfte. Ein uraltes Ritual der Wächter verspricht Hoffnung. Dazu müsste sie allerdings ein ewiges Band mit Kae eingehen – und kann all sein Licht wirklich genug sein, um ihre Dunkelheit aufzuwiegen?

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Die Autorin

GedankenReich Verlag

N. Reichow

Neumarkstraße 31

44359 Dortmund

www.gedankenreich-verlag.de

DIE WAAGE DER WELT (2)

Text © Marie Weißdorn, 2023

Cover & Umschlaggestaltung: Kristina Licht

Lektorat/Korrektorat: Klaudia Szabo

Satz & Layout: Phantasmal Image

Covergrafik © shutterstock

Innengrafiken © shutterstock

eBook: Grit Bomhauer

ISBN: 978-3-98792-094-3

© GedankenReich Verlag, 2023

Alle Rechte vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Jenny,

weil jede Geschichte

mit dir eine gute ist.

Schwarze Wolken thronten über den weißen Mauern des königlichen Palastes. Dichter Qualm, der die Sterne verdeckte. Sieben Tage schon hing er über dem Gipfel Asterins. Sieben Tage schon schwelte das helle Gestein, und zum siebten Mal brach der Anblick mir das Herz. Denn ich sollte dort oben stehen und eines der Letzten Lichter gen Himmel schicken.

Ich hatte sie nicht oft gesehen. Seit meinem Eintritt in den heiligen Orden der Yacantha hatte kaum ein Wächter diese Welt vor seiner Zeit verlassen, und so hatte ich diesem Ritual nie mehr als einen stillen Moment des Innehaltens geschenkt. Ein kurzes Gedenken an die friedlich Verstorbenen.

Doch an diesen unzähligen Toden war nichts Friedliches. Ich sah ihre Gesichter vor mir, wenn ich die Augen schloss – Etiams Gesicht. Ich hörte das Fauchen der Dunklen, das Dröhnen der Explosionen, berstendes Gestein, erstickte wie gellende Schreie. Bei jedem Blinzeln war ich wieder dort oben, auf der Galerie der Eingangshalle, rannte über knirschende Glasscherben, schaute über die Schulter zu meinem Lehrmeister. Zu den dunklen Wesen dicht hinter ihm, fixierte sein Lächeln und die Worte, denen er den letzten Augenblick seines Lebens geschenkt hatte.

»Immer weiter«, flüsterte ich in das Dunkel der Nacht.

Niemand hörte mich. Hier im fünften Ring, auf einem der festgetretenen Pfade zwischen den Feldern, verhieß das Ende des Tages nichts als Einsamkeit. Die Bauern schliefen, um beim ersten Sonnenstrahl die Arbeit wieder aufzunehmen. Alle anderen machten sich nicht die Mühe, nach unten zu sehen, um es mit Iphas’ Worten zu sagen.

Mir war das nur recht. Seit einer Woche fühlte ich mich so einsam wie nie zuvor; verlassen von allem, was ich je gekannt hatte. Es war seltsam tröstlich, mich dieser Einsamkeit in der dunklen Umarmung des Alleinseins hinzugeben, ohne mir Gedanken um andere zu machen. Ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich einen Teil meines inneren Lichtes verloren hatte.

»Kae? Pst, Kae!«

Ruckartig fuhr ich hoch und umfasste den Stab an meiner Hüfte. Erst als sich das Mondlicht in den goldenen Schwertern brach, die an filigranen Ringen in Iphas’ Ohren baumelten, wich die Spannung aus meinem Körper.

»Yacantha. Schleichen kannst du jedenfalls«, murmelte ich und rang mir ein hoffentlich überzeugendes Lächeln ab. Jodans rechte Hand zeigte grinsend ein paar schiefe Zähne, also konnte ich nicht allzu sehr versagt haben.

»Gehört zum Handwerk, solltest du inzwischen wissen. Ist da noch Platz zwischen unreifem Mais und deinen wirren Gedanken?«

»Ähm, ich …«

»Super, danke dir.«

Ohne auf meinen – zugegeben, nicht gut ausgedrückten – Protest einzugehen, ließ Iphas sich neben mir auf die Erde fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Dabei atmete er so zufrieden aus, als käme er nach einem harten Arbeitstag in das Tunnelsystem zurück.

Unsicher legte ich mich ebenfalls wieder hin.

Dann war es still.

Ich starrte hinauf zum herannahenden Sternbild der Zwillinge und presste die Lippen aufeinander. Allein diese Regung kam mir vor wie ein Kampf gegen mich selbst. Vor einer Woche noch hätte ich völlig ruhig neben Iphas ausgeharrt und darauf gewartet, dass er mir den Grund seines Kommens erläuterte, oder sofort ein unverfängliches Gespräch begonnen. Doch seitdem ich mit Rieka am Berghang des Kria hinabgeklettert war, im Morgengrauen nach dem vernichtenden Angriff auf den Palast der Wächter, schien meine Kehle trockener als die Thairener Wüste. Jedes Wort eine Qual. Jeder Gedanke weit über mir.

Ich hatte bloß genickt, als sie vorgeschlagen hatte, wir könnten gemeinsam zu ihrer Bande zurückkehren. Dort wären wir sicher, hatte sie gesagt, dort könnte auch ich eine Weile unterkommen. Wenn Jodan es ebenfalls wieder nach Hause geschafft hatte, würde niemand ein Problem mit mir haben.

Also waren wir hinabgeschlichen, Treppe um Treppe. Bis in die Gassen des sechsten Rings und weiter in den siebten. Es hatte mich nicht einmal berührt, zu entdecken, dass unter dem Lavagestein im Krater tatsächlich eine weitere Ebene lag. Der Gestaltung all der Gänge und Räume nach zu urteilen, war sie vor langer Zeit einmal bewohnt gewesen. Ich hatte es hingenommen. Ebenso wie die Tatsache, bei einer Diebesbande unterzukommen. Rieka hatte mit Jodan und Iphas gesprochen, während ich stumm danebengestanden hatte. Dunkel erinnerte ich mich noch daran, dass Riekas Freundin Meira, die ich schon bei Riekas Zusammenbruch im vierten Ring kennengelernt hatte, meine Wunde an der Brust versorgt hatte. Dann hatte ich schon darauf bestanden, dass mir jemand den Weg hinaus zeigte, und zum ersten Mal zu diesem Platz gefunden. Um den Letzten Lichtern zumindest aus der Entfernung beizuwohnen.

»Wenn wir schon so gemütlich zusammenliegen, willst du mir was Interessantes über die Sterne erzählen, die du laut Rieka so gern anstarrst? Vielleicht kann ich dir ja zuhören. Laut meinem Horoskop für diese Woche soll ich mich neuem Wissen öffnen, aber bei diesen ganzen eingebildeten Quacksalbern auf den Märkten bluten einem immer gleich die Ohren.«

Sofort wurde es eng um meine Brust. Ich hatte mit allen Mitgliedern der Bande ein paarmal gesprochen. Ehrlicherweise war ich aber viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, um mich wirklich auf diese Gespräche zu konzentrieren.

Auch das passte nicht zu mir. Ich war ein aufmerksamer Mensch. Ein optimistischer Mensch. Doch nun war ich auch einer der letzten Wächter Asterins.

»Heute starre ich nicht die Sterne an«, erwiderte ich leise. »Sondern die Letzten Lichter.«

»Die was?«

Iphas kniff die Augen zusammen und gab sich sichtlich Mühe, ein besonderes Phänomen in den funkelnden Punkten über uns auszumachen. Doch wer nicht darum wusste, würde es nicht erkennen.

»Wenn ein Wächter stirbt …« Meine Stimme brach, doch ich schluckte und zwang mich zum Weitersprechen. »… kehrt seine Seele zurück zur großen Waage der Göttin. Yacantha bietet ihm ewigen Frieden und seine Kernerinnerungen fließen in das Gleichgewicht der Welt ein. Mit den Letzten Lichtern erbringen wir den verstorbenen Wächtern die letzte Ehre. Während der Körper am Fuß des Kria beigesetzt wird, versammeln sich Freunde und Familie am Gipfel des Berges, auf den Balkonen des obersten Tempels. Dort lassen sie gemeinsam die strahlendsten Iónas in den Himmel steigen. Sie bilden damit das Sternbild der Waage nach. Um der Seele den Weg zu weisen.«

Iphas’ Ohrringe klimperten, als er sich auf die Ellbogen stützte und den Kopf neigte. »Das klingt überraschend schön und gefühlsduselig für skrupellose Fanatiker wie euch.«

Ich sah zur Seite und fühlte mich müde. Mein Kopf war so schwer. Meine Gedanken lähmten mich, ich sehnte mich nach Leichtigkeit und Stille. Nicht nach weiteren Tiefschlägen.

»Die Wächter bewahren die Ordnung in Asterin«, erwiderte ich matt. »Sowohl die auf den Straßen als auch die göttliche.«

»Ja, schon klar. Nichts geht über Ordnung und nur Ordnung bringt Sicherheit, das hat man dir jahrelang eingetrichtert.« Iphas seufzte schwer. »Weißt du, Kae, als du vor einer Woche mit Rieka bei uns aufgetaucht bist, hätte ich dich am liebsten gleich wieder vor die Tür gesetzt.« Er schüttelte grinsend den Kopf. »Zu deinem Glück hat Jodan ihr geglaubt, dass du ein netter Kerl bist. Warum auch immer. Aber recht hatte er ja. Du bist nicht wie die anderen Wächter. Und was immer da oben passiert ist, du musst mit der Bande nicht darüber sprechen. Rieka hat auch nur wenig erzählt, und das klang wirklich heftig. Du musst nicht reden und du musst dich auch nicht für irgendetwas rechtfertigen. Wenn du uns alle anschweigen und jede Nacht hier liegen und in den Himmel starren willst, nur zu. Uns bist du nichts schuldig. Aber Rieka schon.«

Ich wagte es nicht, ihn anzusehen. Er hatte recht. Natürlich hatte er recht. Es war nicht richtig, dass ich ihr aus dem Weg ging. Ich bemerkte ihre fragenden Blicke, die Sorge in ihren grünen Augen. Ich hörte ihr Flüstern jeden Abend. Wenn ich beim Essen in meinen dunklen Gedanken versank, fragte sie die anderen, ob ich mit ihnen gesprochen hätte. Sie entschuldigte sich für meine geistige Abwesenheit. Und sie hielt sie an, mich so trauern zu lassen, wie ich es wollte und brauchte.

Abwesend legte ich eine Hand auf meine Brust. Durch den dünnen Stoff des Hemdes spürte ich die rauen Fasern des Verbandes und darunter das vertraute Ziehen. Laut Meira verheilte die Wunde gut. Langsam bildete sich der erste Schorf, sodass sie mir heute eine Salbe gegeben hatte, um die Heilung zu beschleunigen. Die Verbrennung reichte allerdings so tief, dass diese dennoch einige Wochen, vielleicht Monate dauern und eine große Narbe zurückbleiben würde. Eine ewige Erinnerung an diese Nacht, die alles verändert hatte.

»Ich möchte Rieka nicht verletzen«, gestand ich leise. »Ich weiß, dass mein Schweigen falsch ist. Doch wie soll ich Worte für sie finden, wenn ich all das selbst nicht begreife? Ich will stark für sie sein. Wie sie es verdient. Aber meine Stärke war dort oben.«

Ich deutete mit der linken Hand zum zerstörten Palast und spreizte die Finger der anderen über meiner Brust. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass nur der Schmerz dort mich klar denken ließ. Meine Gedanken drifteten wieder zu all den Unsicherheiten ab, als ein unpassender Laut die Nacht durchschnitt. Es war ein Lachen. Iphas’ Lachen.

»Meine Güte, was redest du für einen Schwachsinn«, stellte er schnaubend fest. »So macht man das wohl bei euch oben im Palast, hm? Wenn es dir mies geht, verkriechst du dich, damit die anderen das bloß nicht mitbekommen? Damit sie nur das gute, fantastische Licht in dir sehen? Und da sagt man noch, hier im Krater leben die Unehrlichen. Es geht doch in einer Freundschaft nicht darum, dass immer nur einer für den anderen da ist. Man muss füreinander da sein und dazu gehört nun mal, den anderen an sich ranzulassen. So schwierig das auch ist. Wie kann es bitte sein, dass ein kleiner Dieb das besser weiß als du, Kae?«

Ich schluckte schwer. Ähnliches hatte Rieka mir erzählt. Vor einer schieren Ewigkeit, in Vanyas Besprechungsraum, als wir auf die unteren Ringe hinabgeblickt hatten. Dass es hier ehrlicher war. Dass die Menschen weniger Angst davor hatten, ihre innere Dunkelheit nach außen zu kehren.

Doch ich hatte diese Dunkelheit nie gekannt. Mich hatte sie erst vor wenigen Tagen überrollt, und nun lag ich am Boden eines tiefen Strudels. Immer wieder zog er mich zurück, drückte mich nieder, nahm mir die Luft. Allein würde ich den Weg ins Licht nicht finden, das wusste ich. Aber war mein Weg hinaus es wirklich wert, eine so zarte, zerbrechliche Seele wie Rieka diesem reißenden Strom auszusetzen?

»Es geht nicht darum, dass es schwierig ist«, erwiderte ich leise und ballte die Fäuste, als das Ziehen vom verbrannten Gewebe meiner Brust bis in mein Herz wanderte. »Der Palast der Wächter ist völlig zerstört, im zweiten, dritten und vierten Ring wurde so viel verwüstet. Nur ein Bruchteil der Wächter Asterins hat überlebt. Kaum ein Bürger verlässt das Haus. Jeden Tag explodieren noch einzelne versteckte Dunkle. Die Wächter suchen nach ihnen, bauen die Stadt wieder auf und versuchen zugleich, die Sicherheit zurückzubringen. Langsam kommen die Wächter der anderen Städte zur Unterstützung, aber es sind immer noch viel zu wenige. Nichts ist mehr so wie vorher, und das wird es auch nie wieder werden. Darum geht es, Iphas«, stellte ich bitter fest. »Ich bin ein Wächter, doch ich habe nicht die Macht, etwas gegen all das zu tun. Ich kann nicht zu meinem Orden zurück. Ich kann nicht helfen. Ich kann mich nur hier verstecken und hoffen, dass die Bedrohung und Zerstörung bald vorüber ist und dass meine Freunde und … meine Familie noch am Leben sind.«

Denn das war meine Realität der letzten Woche: Ich wusste rein gar nichts, abgesehen davon, dass diese Armee aus Dunklen jeden einzelnen Wächter hatte auslöschen wollen. Offiziell war verkündet worden, dass König Toram und Prinzessin Thalia den Angriff überlebt hatten, gesehen hatte sie seitdem allerdings niemand. Im derzeitigen Ausnahmezustand hatte Vanya die volle Befehlsgewalt und hielt die Ordnung so gut wie möglich aufrecht.

Ich hoffte aus tiefstem Herzen, dass Ace die Prinzessin rechtzeitig aus dem Palast gebracht hatte und sich seitdem mit ihr versteckte, wie ich es mit Rieka tat. Denn solange nicht aufgeklärt war, wer hinter diesem Angriff steckte, was verflucht noch eins diese dunklen Wesen überhaupt waren und warum sie so gezielt auf die Wächter losgegangen waren – immerhin hatten sie den Palast der Priester nicht angerührt –, könnte jeder noch so kurze Weg durch Asterins Straßen unseren Tod bedeuten. Und wie schlecht es mir auch gerade ging, ich würde es nicht riskieren, Rieka alleinzulassen. Das war ich ihr schuldig – und Etiam, der für unsere Sicherheit sein Leben gegeben hatte.

Wieder seufzte Iphas, lang und tief. Er schien sich einige Worte zu verkneifen, bevor er sagte: »Na, aber deinen Bruder willst du heute treffen, oder nicht?«

Überrascht runzelte ich die Stirn. »Woher weißt du davon?«

Er schnaubte. »Bitte, Kae. Du bist nicht der Einzige mit guten Ohren und murmelst ganz schön laut vor dich hin, wenn du denkst, dass dich in deiner Ecke niemand beachtet.«

Ich presste die Lippen aufeinander. Er hatte recht. Zwei Tage nach der Explosion hatte ich den Krater im Schutz der Nacht verlassen und meinen Vater besucht. Ein törichter Ausflug, aber zumindest ihm hatte ich Bescheid geben müssen, dass ich den Angriff überlebt hatte. Die pure Erleichterung in seinen Augen hatte mir recht gegeben, dass es das Risiko wert gewesen war. Für diese Nacht hatten wir uns erneut verabredet, in der Hoffnung, dass auch Ace bis heute zu unserem Vater Kontakt aufgenommen hätte. Dann würden wir uns alle wiedersehen.

Ace würde wissen, was zu tun war. Wie es weitergehen würde, wie ich Rieka schützen und gleichzeitig der Stadt helfen konnte.

Und er würde kommen. Es gab keine andere Möglichkeit. Ace war der beste Kämpfer, den die Wächter seit Nesryn hervorgebracht hatten, die Dunklen hätten ihn niemals erwischt. Solange ich daran festhielt, würde ich den Verstand nicht verlieren.

»Also, kommst du?«

Irritiert hob ich den Blick. Iphas war aufgestanden und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, während er einmal kurz und hoch pfiff.

»Was meinst du?«

»Na, wir müssen los. Beim letzten Mal haben wir dich allein gehen lassen, aber wie du schon sagtest: In der Stadt sind immer noch Dunkle unterwegs. Rieka reißt uns die Köpfe ab, wenn du uns verloren gehst.«

Vorsichtig kam ich in die Hocke und drückte langsam die Beine durch. Es sah sicher albern aus, schonte jedoch meinen Oberkörper.

»Das ist keine gute Idee, Iphas. Allein bin ich unauffälliger und …«

»Angreifbarer«, beendete jemand meinen Satz.

Iphas grinste, als Jodan hinter der nächsten Reihe Maispflanzen hervortrat. Der Anführer der kleinen Bande rollte das R ganz hinten in der Kehle, so hörte man ihn aus jeder Gruppe heraus. Vermutlich war seine Familie aus dem Westen des Landes nach Asterin gekommen.

»Deshalb werden wir dich begleiten. Du gehörst jetzt zu uns, Kae, zumindest für eine Weile, und ein Mitglied unserer Gruppe kann sich immer unserer vollen Unterstützung sicher sein.«

»Also diskutier lieber nicht«, warf Iphas ein und stieß mir grinsend den Ellbogen in die Seite, dass es schon wieder in meiner Brust zog. »Sonst schmeißt Sim dich einfach über die Schulter.«

Überrumpelt beobachtete ich, wie der Größte der Gruppe sich hinter Jodan stellte. Seine Erscheinung war beeindruckend, aber sein Herz mindestens ebenso groß wie seine Schultern breit. Gerade wenn es um Jodan und Rieka ging, schien er einen ausgeprägten Beschützerinstinkt entwickelt zu haben.

»Habt ihr euch die ganze Zeit hier versteckt?«, fragte ich unsicher.

Jodan winkte ab. Hell fiel das Mondlicht auf den Verband, mit dem er seit dem Angriff die schwarzen Spuren von Yacanthas Zeichen an seinen Fingern verbarg. »Wir haben Iphas einen kleinen Vorsprung gelassen. Er hat eine Vorliebe dafür, Menschen aufzuzeigen, wann sie sich dämlich verhalten. Ich kann da ein Lied von singen.« Er zwinkerte mir zu und nickte in Richtung der Treppen. »Na los, gehen wir. Bis zum dritten Ring ist es ein Stück und wir wollen ja, dass du schnell deinen Bruder triffst und dich wieder besser fühlst.«

»Ja, dann haben wir nur noch eine Baustelle«, ergänzte Iphas und schob mich vorwärts. »Rieka hat die Höhlen seit ihrer Rückkehr auch nicht verlassen.«

»Oh, doch, hat sie!« Sim lächelte breit. »Hab sie heute im vierten Ring gesehen, hat sich wohl rausgeschlichen! Das mit dem unauffälligen Bewegen und Verstecken muss sie noch üben, aber zumindest hat sie’s vorhin beim Essen glaubhaft abgestritten.«

»Das klingt toll!«

»Ja, die kriegen wir schon wieder auf die Beine.«

Ihre Stimmen rauschten über mich hinweg und überlagerten das Dröhnen des Strudels. Eine erlösende Ruhe drang in meine Gedanken und nahm ihnen einen Teil der Schwere, während Iphas, Sim und Jodan leise redeten und lachten, ohne mir das Gefühl zu geben, mich an dem Gespräch beteiligen zu müssen. Sie gingen einfach neben mir, ohne sich um meine Dunkelheit zu kümmern.

Vielleicht war es nur das, was mir gefehlt hatte, um ihr selbst entgegenzutreten.

Die schmale Sichel des Mondes malte blasse Schemen auf den Boden. Vorsichtig lehnte ich mich ein Stück vor und spähte in die nächste Gasse. Dort vorn war ein einzelnes Fenster erleuchtet, doch kein Laut drang aus den Häusern. Es versetzte mir einen Stich, den dritten Ring so zu sehen. So finster, wo vor einer Woche noch zu jeder Stunde flackernde Feuer und strahlende Iónas die Nacht erhellt hatten. So stumm, obwohl für gewöhnlich nirgends sonst in Asterin mehr Lachen die Luft erfüllte.

»Es ist gleich dort vorn«, flüsterte ich.

Bos leises Hecheln zeigte, dass er noch nicht verloren gegangen war, ansonsten verschwand sein grauer Hundekörper mühelos in den nächtlichen Schatten. Meine zweite Begleitung war wie ich in einen dunklen Umhang gehüllt, doch selbst dieses einfache Leinen vermochte ihre natürliche Eleganz nicht zu überdecken.

Solche Gedanken wolltest du dir verkneifen, Ace!

Ja, natürlich wollte ich das. Doch eine ganze Woche an ihrer Seite hatte meiner Selbstbeherrschung nicht gutgetan.

»Ist gut«, erwiderte Thalia, Prinzessin von Asterin, und strich beruhigend über Bos Kopf.

Ihre warme Stimme umspielte mein Herz wie ein Hauch von Sommer und wie dunkel die Nacht auch war, das Schimmern ihrer grünen Augen sah ich so klar vor mir wie nichts sonst.

Nicht hilfreich, Ace. Nicht hilfreich.

Mit aller Mühe verkniff ich mir ein Augenverdrehen und wandte mich wieder nach vorn. Das Kichernde Kamel lag nördlich des Marktplatzes mit dem Firennej-Tempel. Ich kannte den Weg wie meine Westentasche, immerhin hatten Kae und ich einen guten Teil unserer Kindheit in Najeshas Gasthaus verbracht. Wenn unser Vater abends die Gäste mit seinem Klavierspiel unterhalten hatte, hatten wir an einem Tisch in der Ecke Saft getrunken und gelernt oder im Hinterhof trainiert. Kurz glitt ein Lächeln auf meine Lippen, als ich an diese fröhlichen Tage zurückdachte.

Dann fand ich zurück ins Hier und Jetzt und konzentrierte mich.

Auch auf den letzten Metern durfte uns niemand bemerken. Es grenzte schon an ein Wunder, dass wir die letzte Woche unentdeckt überstanden hatten. Auch ohne die weiße Rüstung der Wächter war mein Gesicht allzu gut bekannt, sowohl in Asterin als auch bei einigen Wächtern, die zur Verstärkung aus den nahegelegenen Städten gekommen waren. Die städteübergreifenden Beziehungen innerhalb des Ordens beschränkten sich seit langer Zeit auf ein Minimum, aber als Anführer der Prinzessinnengarde hatte ich Wächter aus allen Ecken des Landes getroffen. Thalia hingegen hatte den Palast seit dem Mord an der Königin vor zehn Jahren nicht mehr verlassen. Widerwillig hatte ich anerkennen müssen, dass sie sich deshalb gerade weitaus besser in der Stadt bewegen konnte als ich.

Ein letztes Mal überblickte ich prüfend die umliegenden Gassen, dann lief ich geduckt über die Kreuzung und huschte in den Schatten des nächsten Hauses. Thalia folgte mir mit Bo und betonte mit jedem lautlosen Schritt, wie viel sie in den letzten Jahren vor mir verborgen gehalten hatte. Ich hatte gewusst, dass sie nicht bloß die wohlerzogene Prinzessin war. Dass sie berechnend und entschlossen ihren Weg zum Thron ebnete. Niemals hätte ich aber erwartet, dass sie katzengleich durch die Schatten schleichen konnte. Dass sie sich im Griff der Dunkelheit derart wohlfühlte.

Doch das spielte keine Rolle. Es war meine Aufgabe, Thay zu beschützen, ob sie nun Wächterblut in sich trug oder nicht. Ob sie sich den schwarzen Iónas verschrieben hatte oder nicht.

Ob sie mich wollte oder nicht.

Es blieben bloß zwei Querstraßen bis zu Najeshas Hof. Der Wind schaukelte das hölzerne Schild mit dem verblichenen Bild eines grinsenden Kamels darauf quietschend hin und her, Tür und Fenster waren verriegelt. Alle Geschäfte und Gaststuben waren geschlossen, solange die Gefahr durch die Dunklen nicht gebannt war.

Yacantha sei Dank war ich nicht auf den Haupteingang angewiesen. Das Tor zum kleinen Hinterhof war bloß angelehnt, und den Ersatzschlüssel zur Hintertür ertastete ich wie immer hinter dem losen Backstein neben dem Küchenfenster.

»Gehört dieser Gasthof deinem Vater?«

»Nein. Einer Freundin der Familie«, antwortete ich leise.

Im schwachen Mondlicht erkannte ich, wie Thay das Gebäude fasziniert betrachtete. Dieses Funkeln lag in ihren Augen, seitdem wir vor einer Woche aus dem geheimen Fluchttunnel getreten waren. Bisher hatte sie Asterin, ihre Stadt, immer nur von ihrem Balkon aus betrachten können. Es machte sie glücklich, selbst durch die Straßen zu streifen. Das wiederum machte mich glücklich. Auch wenn ich mir unsere ersten gemeinsamen Stunden außerhalb des Palastes immer anders vorgestellt hatte. Weniger von Trümmern umgeben. Und weniger … heimlich.

»Ich habe die Hälfte meiner Kindheit hier verbracht«, setzte ich leise hinzu. »Das Treffen ist hier sicherer. Viele wissen, dass mein Vater ein Wächter war. Auch wenn er nicht mehr im Palast wohnt, könnten die Angreifer auf der Suche nach ihm sein.«

Thalia nickte. Wie so oft hatte ich den Eindruck, als wolle sie noch etwas fragen. Doch sie tat es nicht.

Das Schweigen zwischen uns war nie unangenehm, sondern stets etwas Kostbares, etwas Leichtes gewesen. In dieser Woche aber hatte es an Schwere gewonnen. Zu viel Unausgesprochenes stand zwischen uns, zu viele drückende Fragen. Doch wenn ein jeder die Lügen des anderen erkannte, lag in einer Frage mehr Zerstörungskraft als in einer blitzenden Klinge. Und ich wusste nicht, ob ich für eine weitere brennende Wunde bereit war.

Ich drehte den Schlüssel im Schloss. Mit einem Fuß hielt ich die Hintertür auf, während ich mich zur Seite lehnte und den Schlüssel wieder hinter dem Stein platzierte. Dann trat ich in die dunkle Küche.

»Es wäre mir lieber, Ihr würdet hier warten, Prinzessin«, raunte ich und schloss die Tür hinter ihr und Bo. Unter der Tür zum Gastraum drang gedämpftes Licht hervor. »Ich weiß nicht, wie mein Vater bei Eurem Anblick reagiert.«

Das war natürlich keine optimale Lösung. Doch ich hatte sie auch nicht allein im vierten Ring lassen können, und mein Vater hatte in den letzten Tagen genug Sorge durchgestanden, da musste ich ihn nicht noch mit der baldigen Anführerin des Göttlichen Ordens konfrontieren.

Thay betrachtete mich, als suche sie in meinen Augen nach Antworten wie ich in ihren. »Wie du meinst. Wir warten hier.«

Sie wies auf den kleinen Tisch in der Ecke. Dort würde ein unaufmerksamer Eindringling sie auf dem Weg von der Hintertür zum Gastraum nicht bemerken. Wunderbar.

»Es wird nicht lang dauern.«

»Ich warte gern, solang du noch einmal über meine Bitte nachdenkst«, erwiderte Thay, schenkte mir ein Lächeln und drehte sich um.

Bisher hatte ich ihr keine Bitte abgeschlagen – doch diesmal musste ich stark bleiben. Denn es ging nicht um mich. Kopfschüttelnd atmete ich noch einmal tief durch, dann trat ich in den Gastraum und ließ die Tür bewusst offen stehen.

Dahinter empfing mich ungewohnte Leere. Stühle und Hocker standen auf den Tischplatten, das Klavier abgedeckt in der Ecke. Nur ein Tisch wurde von zwei Kerzen beleuchtet. Darauf thronte, wie könnte es anders sein, ein Schachbrett. Mein Vater griff gerade nach einem schwarzen Läufer, und allein dieser gewohnte Anblick beruhigte den Sturm in mir.

»Aceyo.« Die Figur noch in der Hand, hob mein Vater den Kopf. Er hatte die seltsame Begabung, selbst Kae und mich nur anhand unserer Schritte auseinanderzuhalten. Pure Erleichterung flutete seine dunklen Augen, während seine Schultern nach unten sackten und er zu lächeln begann. »Yacantha sei Dank, du bist hier.«

»Natürlich bin ich hier, Vater.« Bis ich bei ihm war, hatte er den Stuhl zurückgeschoben und die Arme ausgebreitet. Ich ließ mich von ihm an sich ziehen, hielt ihn fest und spürte, wie die Anspannung der letzten Tage von mir abfiel. »Ich habe vom Besten der Wächter gelernt, da braucht es mehr als ein paar dunkle Wesen, um mich niederzuringen.«

Mein Vater lachte leise, doch als er sich zurücklehnte, musterte er mich sorgenvoll. Er wusste genau, dass bei diesem Angriff alles möglich gewesen wäre. Als ich mich vor drei Tagen das erste Mal in den dritten Ring gewagt und ihn zu Hause nicht angetroffen hatte, war mir fast das Herz stehen geblieben. Dann aber hatte ich ihn hier gefunden. Er hatte Najesha gleich am Tag nach dem Angriff gebeten, bei ihr unterkommen zu dürfen, und das war mir nur recht. Immerhin machte jemand auf uns Wächter Jagd. Hier würden sie ihn schwieriger finden, und die alte Wirtin hatte im Gegenzug einen Krieger im Haus. Auf den ersten Blick sah man es meinem Vater nicht an, doch vor zwanzig Jahren hatte er in der Garde des Königs gedient. Auch wenn er die Iónas seit seinem Austritt nicht mehr nutzte – im Kampf würde vielleicht selbst ich mich gegen ihn schwertun.

»Dein Zug, Aceyo.« Er wies auf einen der freien Stühle und nahm selbst wieder Platz.

Als ich ihm gegenübersaß, stellte er den schwarzen Läufer neben seinen Springer, faltete die Hände und stützte das Kinn darauf. Im Kerzenschein wirkte der Kontrast zwischen dem oberen schwarzen und dem unteren weißen Teil seiner Augenbrauen noch intensiver.

Ich nahm mir kurz Zeit, das begonnene Spiel nachzuvollziehen, und zog meinen Turm drei Felder vor. »Erzähl mir von deinen letzten Tagen.«

Mein Vater tippte sich nachdenklich mit den Fingern an die Wangen. Das hatte Kae von ihm übernommen. Wenn die beiden gegeneinander spielten, könnte man von der Körpersprache her auch einen Spiegel zwischen sie stellen.

»Ich bin keinem Dunklen begegnet.« Er schob einen Bauern vor und lehnte sich zurück, um mich ernst anzusehen. »Der Wiederaufbau geht schleppend, aber stetig voran. Novaks Bäckerei steht fast wieder, aber backen kann er noch nicht. Ich halte mich von den Wächtern fern, damit sie keine Fragen nach euch beiden stellen. Najesha sorgt sich um die einbrechenden Umsätze und wir warten ab, aber ansonsten scheint sich nicht viel zu tun. Es geht das Gerücht um, dass weitere Dunkle einzelne Wächter getötet haben. Selbst mit dem Wissen, wie sie zu erledigen sind, fällt es wohl vielen Ordensmitgliedern schwer.«

Ich ballte die Fäuste. Davon hatte ich auch gehört. Die monströsen Wesen mit dem menschenähnlichen Körper, den lang verzerrten Gliedmaßen und der pechschwarzen Haut waren nicht leicht zu überwältigen, das hatte ich im Palast am eigenen Leib erfahren. Auf den wenig belebten Straßen tuschelte man, die Überlebenden hätten sich nach dem Angriff in dunklen Gassen versteckt und warteten nur auf eine Wächterpatrouille, die sie mit ihren Explosionen in den Tod reißen konnten.

»Ich gebe nicht viel auf diese Gerüchte«, stellte ich bitter fest. »Sie explodieren, sobald eine weitere schwarze Ióna in sie eindringt. Das werden sie kaum bewusst herbeiführen können. Sie wirkten nicht wirklich … intelligent. Vermutlich wurden sie während des Angriffs unter Trümmern eingeklemmt und explodieren, sobald eine schwarze Ióna den Weg zu ihnen findet.«

»Wollen wir es hoffen.« Mein Vater deutete auf das Spielbrett und schwieg, bis ich meinen Läufer vor meine Dame gezogen hatte. »Es belastet dich, den Wächtern in dieser Situation nicht helfen zu können.«

»Ja. Das tut es.«

Ich atmete tief aus. Niemals hatte ich meinen Vater angelogen. Auch bei ihm ergab das herzlich wenig Sinn, sähe er doch jede Lüge. Kae, er und ich waren stets ehrlich miteinander. Wenn man über etwas nicht sprechen wollte, musste man es nur zugeben und die anderen akzeptierten es. Doch meist rührte der Drang, etwas für sich zu behalten, nicht von der Angst her, es mit anderen zu teilen – sondern von der Angst, es vor sich selbst zuzugeben. In all den Jahren der Ausbildung und auch durch die Sicherheit meiner verbliebenen Familie hatte ich gelernt, ehrlich mit mir selbst zu sein und zumindest in dieser Vertrautheit über meine Ängste zu sprechen. Doch seit dem Angriff fiel es mir schwer. So unendlich schwer.

»Von überall her ist Verstärkung gekommen. Ich schätze, der Orden ist fast bei der Hälfte seiner ursprünglichen Stärke«, bemerkte mein Vater. »Außerdem hat Vanya sicher einen Plan. Den hatte sie schon während der Ausbildung immer. Wenn sie sonst den Orden so gut im Griff hatte, wird ihr das auch bei der Stadt nicht schwerfallen.«

Ich nickte gedankenverloren. »Ich habe dennoch das Gefühl, als müsste ich mehr tun. Einfach … mehr.«

»Was könntest du mehr tun, als die Prinzessin zu schützen? Ist das nicht die höchste Aufgabe eines Gardisten?«, fragte mein Vater, und nun trat in seinen Blick die mir wohlbekannte Melancholie. »Der Schützling steht an erster Stelle, komme, was wolle. Das hast du geschworen wie ich einst, Aceyo. Niemand sonst würde sich dieser Aufgabe mit derselben Hingabe widmen. Genau das ist vielleicht das Schwierigste an deiner Position: alles für das Leben und das Ansehen der Prinzessin zurückzustellen. Stark zu sein, um ihr den Weg zu ebnen, den sie gehen will oder muss. Ungeachtet aller Lasten, die du dafür tragen musst.«

Ich schluckte. Er sprach mir aus tiefster Seele. Vor Tagen hatte ich versucht, Thay zu überzeugen, in die sicheren Reihen der verbliebenen Wächter zurückzukehren, zu ihrem Vater, in einen gesicherten Unterschlupf. Doch das hatte sie abgelehnt. Sie war fest entschlossen, selbst herauszufinden, was es mit den Dunklen auf sich hatte. Ihrer Meinung nach steckte ein Verräter innerhalb des Ordens dahinter.

Das erschien mir abstrus. Aber wie mein Vater nun noch einmal betonte: Ich würde all meine Bedenken zurückstellen, um ihr den gewünschten Weg zu ebnen.

Abgesehen davon hätte ich es bis vor einer Woche auch noch als abstrus abgetan, dass die Prinzessin dunkle Iónas ihrem Willen unterwerfen konnte. Es kam mir vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. Bis vor einer Woche war ich jemand anderes gewesen. Jemand, der dem Tod noch nicht ins Auge gesehen hatte.

»Ich kann seine Augen nicht vergessen«, flüsterte ich. Dennoch klangen die Worte unverhohlen laut zwischen leeren Tischen und Dunkelheit. »In jedem meiner Träume wate ich durch Noams Blut. Ich gehe von ihm fort und bringe kein Wort hervor, während sein Leben verlischt. Ich … bringe einfach kein Wort hervor. Ich drehe mich um und lasse ihn zurück.«

»Um deine Pflicht zu erfüllen.«

Ich schüttelte den Kopf, ohne meinen Vater wirklich zu sehen. Da war nur Noams Gesicht. Seine glasigen Augen. »Was macht das für einen Unterschied?«

»Einen großen.« Mein Vater fuhr sich über die Stirn, bevor er nach meiner Hand griff. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie zitterte. »Du hättest Noam nicht retten können, Aceyo. Dafür war es zu spät. Doch die Prinzessin hat deinen Schutz gebraucht. Das ist die Aufgabe, die dir anvertraut worden ist und die zu erfüllen du geschworen hast. Noam hätte nichts anderes von dir erwartet.«

»Yacantha, das weiß ich.« Auch meine Stimme hatte an Sicherheit verloren. Noams Lachen in meinen Ohren übertönte sie. »Ihr Name kam zuletzt über seine Lippen. Aber …«

»… das macht es nicht leichter.« Ein trauriges Lächeln lag auf den Lippen meines Vaters. »Das ist der Fluch eines jeden Gardisten, Aceyo. Der Fluch eines jeden Wächters. Wir haben das Glück, in einer Zeit des Friedens geboren zu sein. Doch ein königlicher Gardist hat immer einen Kampf auszutragen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der nächste entbrennt. Und kein Kampf kommt ohne Verluste aus.« Abwesend setzte er seinen schwarzen Läufer in die Mitte des Brettes dicht neben meine Dame, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Ich habe während meiner Zeit im Göttlichen Orden viele Freunde und selbst meinen Hauptmann verloren, Aceyo. Fast alle gaben ihr Leben für Torams Ziele, ob als Prinz oder König. Ich würde dir gern sagen, dass ein Verlust wie dieser mit der Zeit weniger schmerzt, doch dem ist nicht so. Aber solang du selbst für das einstehen kannst, das deine Gefährten mit ihrem Tod verteidigt haben … musst du um ihretwillen deinen Frieden damit machen. Sie hätten nicht gewollt, dass du dich derart quälst. Sie hätten ebenso gehandelt wie du.«

Ich erwiderte seinen Blick und erkannte mich selbst darin. Denn natürlich hatte er recht. Natürlich hatte ich einen Eid geschworen, natürlich stand ich aus tiefstem Glauben und mit ehrlichster Loyalität für Thalia ein. Natürlich hätte Noam von mir erwartet, dass ich so handle. Dennoch …

»Dennoch ist die Trauer wichtig«, sprach mein Vater meinen Gedanken aus. Er drückte meine Hand und nickte mit einem sanften Lächeln. »Er wird seinen Frieden an der Wahren Yacantha finden, Aceyo. Und wenn du eines Tages selbst zur großen Waage aufsteigst, wirst du ihn wiedersehen. Genau wie ich Nesryn wiederbegegnen werde.«

Ich vergrub die freie Hand in den Haaren und stieß tief den Atem aus. Ja, daran wollte ich glauben. Noam war für seine Überzeugungen gestorben. Für Thalia.

»Du hast recht, Vater.« Entschlossen setzte ich mich auf, zog die Hand unter seiner hervor und setzte meinen Springer nach vorn.

Er betrachtete meinen Zug, und ein mildes Lächeln zog an seinen Lippen. »Der Springer für die Dame. Ein angemessener Tausch.«

Reglos betrachtete ich, wie er seinen Läufer vorzog und den Springer vom Spielfeld nahm. Im nächsten Zug schlug ich ihn mit meinem Turm und stellte die Figur an den Rand des Brettes.

»Schäme dich nicht dafür, um deinen Freund zu trauern, mein Sohn. Du magst ein Wächter sein, und doch bist du nur ein Mensch.«

Das mochte sein. Aber in manchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass das nicht reichte. Dass ich mehr sein musste als ein Mensch. Mehr als ein Wächter.

Genug, um Thalia zu schützen.

Ein Poltern hielt mich von einer Antwort ab. Sofort griff ich nach dem Dolch an meiner Hüfte, sprang auf und war drauf und dran, zurück zur Prinzessin zu stürmen – da erkannte ich die Stimme, die gedämpft aus der Küche zu uns drang. Ich verstand ein »Ups«.

Beruhigt senkte ich die Klinge, gerade als er die Tür zum Gastraum aufschob. Dabei schaute Kae über die Schulter, als fürchte er, verfolgt zu werden. Nach diesem Lärm wäre das nicht mal verwunderlich.

»Yacantha, Kae. Schleichen konntest du mal besser«, stellte ich fest, während er noch zurück zum Hintereingang spähte.

Als er sich umwandte und mich entdeckte, wich augenblicklich alle Anspannung aus seinen Zügen.

»Ace!«

Er ließ die Tür einfach offen stehen, stürmte auf mich zu und schloss die Arme um mich. Ich hätte ihn ja für diese Lautstärke gerügt, aber gerade war auch ich bloß erleichtert, meinen Bruder wiederzusehen. Sonst waren wir nur so lang getrennt, wenn er für seine Expeditionen die Stadt verließ. Aber dann wusste ich zumindest recht genau, wo er war und wann er zurückkam.

»Ich hoffe, du bist in der Stadt vorsichtiger«, stellte ich schmunzelnd fest und musterte ihn.

Wie immer trug er seinen Kampfstock, das Astrolabium und das Fernrohr am Gürtel, auch wenn ich die Kleidung nicht kannte. Er wirkte wohlauf, nur müde – und erkannte ich da Verbandsstreifen an seiner Brust?

»Ich versuche es.« Kae rang sich ein Lächeln ab und fuhr sich durch die hellblonden Haare, die den meinen so glichen. »Ich bin wirklich froh, dich zu sehen, Ace.«

Natürlich war es in den letzten Tagen sicherer gewesen, uns nicht zu treffen. Wir beide hatten unauffällig unseren Vater aufgesucht, sodass dieses Treffen zustande gekommen war, mehr hätte zu viel Risiko bedeutet. Doch auch mir fiel nun eine enorme Last von den Schultern.

»Kaelys, endlich bist du auch da.«

Ich trat zur Seite, damit unser Vater ihn ebenfalls in die Arme ziehen konnte. Bei Yacantha, für gewöhnlich waren wir nicht derart kuschlig veranlagt. Die Unsicherheit nahm uns alle mit.

»Entschuldigt. Bei den vielen Stufen haben wir etwas länger gebraucht.«

»Wir?«, wiederholte ich sofort und sah alarmiert Richtung Hintereingang. »Wer ist noch bei dir?«

»He, nur ruhig, Ace.« Beschwichtigend hob mein Zwillingsbruder die Hände, die Augen überrascht geweitet. »Drei … Freunde, bei denen ich in den letzten Tagen untergekommen bin, haben mich hochgebracht. Kein Grund zur Sorge, wirklich. Sie warten ein Stück die Straße runter.«

Ich gab die Anspannung auf und beschränkte mich darauf, ihn kritisch zu mustern. »Du hast nach diesen Angriffen also neue Freunde gefunden, die dich verstecken.«

»Jungs, setzen wir uns erst einmal«, sprach unser Vater dazwischen. »Erzählt in Ruhe, wie es euch die letzten Tage über ergangen ist.«

Wenig begeistert leistete ich der Bitte Folge und setzte mich. Bei unserem ersten Treffen hatte unser Vater darauf bestanden, nichts über meinen Aufenthaltsort oder weitere Pläne zu erfahren. So hätte er jedes Wissen bei einer Befragung vor anderen Wächtern ohne Lüge abstreiten können.

»Du darfst gern anfangen, Kae«, sagte ich mit einem freundlichen Lächeln.

Dabei brannte ich innerlich darauf, zu erfahren, welche Freunde dort draußen eine Gefahr für die Geheimhaltung von Thalias Aufenthaltsort darstellten.

»Ähm …« Er presste unsicher die Lippen aufeinander und sah zwischen mir und unserem Vater hin und her. Dieser nickte ihm aufmunternd zu, bis er tief durchatmete. »Gut, Ace. Aber hör erst zu, bevor du etwas sagst, ja? Ich habe das Mädchen gefunden. Das …«

»… von dem du mir erzählt hast.«

Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ace. Erst zuhören.«

Seufzend lehnte ich mich zurück. Unter seiner bemüht ernsten Miene erkannte ich das Grinsen, das auch meine Mundwinkel nach oben zog. Das hier fühlte sich herrlich normal an.

»Ja, genau. Rieka«, fuhr er fort. »Sie kam freiwillig mit in den Palast, um dort die Kontrolle der Iónas zu erlernen. Dann geschahen ein paar unschöne Dinge, unter anderem der Angriff der Dunklen und …« Kae schluckte schwer. Kurz meinte ich auch in seinen Augen jene Dunkelheit zu erkennen, die mein Inneres zerfraß. »… und all die Kämpfe. Wir entkamen im letzten Moment. Seitdem verstecken wir uns bei ihren Freunden.«

Unsicher sah ich zu meinem Vater, doch dieser erwiderte meinen Blick so neutral wie immer, wenn er erwartete, dass wir zwei miteinander sprachen.

»In Ordnung«, erwiderte ich.

Das erschien mir zwar wie eine sehr, sehr komprimierte Version der Geschehnisse, immerhin beherrschte dieses Mädchen die dunklen Iónas und war dementsprechend gefährlich. Doch Kae würde mit mir sprechen, wenn er bereit dazu war … und ich sollte nun wirklich nicht über seinen Umgang urteilen. Vielleicht tat auch mir noch ein wenig Zeit gut.

»Nun … ich habe während des Angriffs die Prinzessin aus dem Palast gebracht. Seitdem verstecken wir uns ebenfalls.«

Ich unterdrückte ein Augenverdrehen über meine eigenen Worte. Bei Kae wünschte ich mir Ausführlichkeit, doch selbst war ich nicht besser.

»Das habe ich mir schon gedacht. Aber … was machen wir jetzt, Ace? Hast du Kontakt zu den … den …« Kae stockte und ballte die Hände zu Fäusten. »Zu den verbliebenen Wächtern?«

Yacantha. Ein kurzer Blick zu unserem Vater genügte, und ich sah meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Ich war nicht der Einzige, der während des Angriffes jemanden verloren hatte. Doch war nun der richtige Moment, um darüber zu sprechen?

»Nein, habe ich nicht«, antwortete ich langsam, im tiefen Zwiespalt mit mir selbst.

Plötzlich fühlte ich wieder die Kraft und Stärke in mir, die mich vor jedem Einsatz erfüllte – immer dann, wenn andere mich brauchten. Für meinen Bruder würde ich meine eigene Trauer zurückstellen, um die seine zu begleiten. Wenn er so weit war. Allerdings tilgten meine Worte jedes Licht aus Kaes Blick. Er senkte die Schultern und rang die Hände.

»Also sind wir auf uns gestellt«, stellte er leise fest. »Was hast du dann vor? Ich dachte, du hättest einen Plan. Du hast immer einen Plan, Ace. Einen besseren, als nur abzuwarten, bis der Orden etwas tut.«

Gern hätte ich erwidert, dass der Orden mit Sicherheit bereits eine Menge tat. Ich kannte die Protokolle für derlei Notfälle: Boten in alle Ecken Yacanthas senden. Verletzte versorgen. Die Stadt sichern. Mit der Verstärkung den Gegenschlag vorbereiten und die Struktur des öffentlichen Lebens wiedererrichten. Den Toten die Letzten Lichter schenken.

Jeden Abend hatte ich zu ihnen aufgesehen.

»Warum bist du noch nicht zu den Wächtern zurückgekehrt?«, fragte ich leise.

Kae hielt einen Moment inne, bevor er mich fest ansah.

»Ich werde Rieka nicht allein lassen. Doch ich möchte auch nicht riskieren, dass ihr etwas geschieht. Vanya ist vor dem Angriff … nicht sehr tolerant mit ihr umgegangen«, antwortete er. Die Worte fielen ihm sichtlich schwer, entsprachen aber der Wahrheit. »Ganz abgesehen davon, dass ich mich während der Kämpfe ihrem Befehl widersetzt habe.«

Scharf zog ich die Luft ein. Das könnte weitreichende Folgen haben, Vanya tolerierte keinen Ungehorsam. Andererseits hatten wir momentan wichtigere Probleme.

»Nun, darum können wir uns … beizeiten kümmern«, erwiderte ich bemüht ruhig und räusperte mich. »Die Prinzessin plant ebenfalls, nicht zum Orden zurückzukehren.«

Ich zögerte, als ich an unser Gespräch an diesem Morgen zurückdachte. An jene Bitte, an die Thalia mich vorhin erinnert hatte: Sie wollte Kae in ihre Pläne mit einbeziehen. Ich hatte immer erwartet, dass es mir schwerfallen würde, ihr etwas abzuschlagen. Doch dem war nicht so gewesen. Denn wenn es eine Sache gab, die doch über meiner Loyalität zu ihr stand, dann war es meine Familie. Aber vielleicht konnte ich nun ja beides zusammenbringen?

»Was hat sie dann vor?«, fragte Kae.

Ich rang mit mir. Das war eine Chance, eine unglaubliche Chance. Aber auch eine Gefahr, in die ich meinen Bruder nie hatte bringen wollen.

»Thalia hat von deiner besonderen Fähigkeit erfahren«, antwortete ich langsam. Jedes Wort genau bedacht, jede Regung auf seinen Zügen im Blick. »Der Orden wird zunächst für Ordnung in der Stadt sorgen und Asterin mithilfe der Verstärkung sichern. Erst dann wird ein Gegenschlag vorbereitet. Prinzessin Thalia glaubt allerdings, dass es nun essenziell ist, mehr über die Hintergründe des Angriffes her-auszufinden.«

Kae runzelte die Stirn. »Das klingt logisch. Aber machen die Wächter das nicht schon?«

»Sicher. Doch die Prinzessin meint, dass deine Fähigkeiten viele wichtige Informationen erschließen können«, zitierte ich Thays Vermutung, auch wenn ich selbst nicht völlig überzeugt war.

»Ah«, machte Kae und begann – wie nicht anders zu erwarten –, mit den Fingern an seine Wangen zu tippen. »Du hast ja immer einen Grund, so kryptisch zu bleiben, also sage ich einfach mal, dass ich natürlich gern helfe, selbst wenn du nicht mit der Sprache herausrückst. Aber warum verlässt sich die Prinzessin nicht auf den Orden?«

Ich unterdrückte ein trockenes Lachen. Kae hatte keine Vorstellung davon, wie zerrüttet der Orden im Inneren war. »Sie nimmt die Dinge lieber selbst in die Hand. Und sie hat Einfluss, Kae. Wenn du ihr hilfst, wird sich dein Konflikt mit Vanya sicher bereinigen lassen.«

Eigentlich hätte ich mehr erwartet als den schmalen Hoffnungsschimmer, der nun in Kaes Augen trat.

»Ist gut«, murmelte er. »Das wäre ein Anfang. Ich werde helfen, wo ich kann. Nur … was ist mit Rieka?«

»Nun fordere nicht zu viel auf einmal, Kae«, wandte unser Vater ein und legte ihm lächelnd eine Hand auf die Schulter. »Eins nach dem anderen. Dein Bruder wird dir und deiner Freundin schon helfen, wie er kann.«

Ich nickte ernst. Währenddessen fragte ich mich, ob ich vor einer Woche noch eine andere Antwort gegeben hätte. Wahrscheinlich schon.

»Gut.« Kae fuhr sich durch die Haare und holte entschlossen Luft. »Ihr könnt euch gern erst mal bei uns verstecken, das ist auf jeden Fall sicherer als alles, was ihr so gefunden haben könnt. Also, ich habe Jodan nur deinetwegen gefragt, aber eine Person mehr wird schon keinen Unterschied machen. Wenn du die Prinzessin noch holen musst, kommt einfach bei Sonnenaufgang über die östlichen Treppen in den sechsten Ring, dann treffen wir euch da.«

Ich verkniff mir den Einwand, dass Thalia nicht bloß irgendeine Person, sondern die Prinzessin war, und wollte stattdessen gerade dankbar zusagen – da hallte eine weitere Stimme durch den Raum.

»Danke, aber das ist nicht nötig. Ich bin bereits hier, wir kommen gern sofort mit.«

Mein Vater und ich sahen zur Seite, Thay entgegen, die in der Tür zur Küche stand und gerade die Kapuze ihres Umhangs zurückschob. Das lange, schwarze Haar fiel über ihre Schultern und im schummrigen Licht der Kerzen funkelten ihre tiefgrünen Augen strahlender als alle Sterne.

Zumindest kam es mir so vor.

Oder auch nicht nur mir, denn als Kae sich auf seinem Stuhl umdrehte und sie entdeckte, blinzelte er ungläubig. Als sähe er einen Geist vor sich, rieb er sich die Augen und blinzelte erneut.

»Das …« Mit großen Augen sah er von Thalia zu mir. »Das ist die Prinzessin?«

Ich hob eine Augenbraue. »Ja, Kae. Prinzessin Thalia von Asterin, Tochter von Toram und Dina.«

Ein undefinierbarer Laut zwischen Lachen und Keuchen drang aus Kaes Kehle, während er die Tischplatte umklammerte, immer noch Thalia anstarrte und den Kopf schüttelte.

»Yacantha. Das ist unmöglich.«

Bleib ruhig, Rieka. Konzentrier dich auf dein zweites Herz. Lass die Energie deinen Körper füllen und überall sein. Für mehr ist kein Platz in dir.

Kae hatte gelächelt, als er diese Worte gesprochen hatte. Ich sah es vor mir, das Strahlen seiner hellen Augen. Die Zuversicht darin.

Ich lehnte den Kopf zurück gegen den rauen Fels des Ganges und atmete tief ein.

Für mehr ist kein Platz in mir, wiederholte ich stumm.

Dabei hätte mich niemand gehört. Niemand hätte die schwarze Ióna der Lüge gesehen, die diese bedeutungslose Unwahrheit laut ausgesprochen hervorgebracht hätte. Niemand hätte mit mir auf ihr verklingendes Echo gelauscht.

Fester krallte ich die rechte Hand in den Stoff meines Hemdes, dicht über meinen beiden Herzen. Das eine schickte das Blut durch meine Adern, immer wieder, an jedem verzehrenden Tag. Das zweite hatte keine Gestalt. Es sammelte jene dunkle Energie, die Furcht und Verderben in mein Leben gebracht hatte. Und in das so vieler anderer.

Das Dröhnen des bebenden Berges erfüllte die Luft. Ich taumelte unter der Wucht der Erschütterung. Staub in meiner Lunge. Kaes Schrei in meinen Ohren. Nichts als Trümmer.

Ich grub die Fingernägel in die Handflächen, klopfte unruhig mit dem Mittelfinger der rechten auf die Knöchel der linken Hand.

Du hast die Kontrolle, wiederholte ich in Gedanken. Jedes Klopfen ein Wort. Wie Lício es mir gezeigt hatte.

Auch dies war nichts als ein Wunsch, der in den letzten Tagen in immer weitere Ferne gerückt war. Doch ich war es ihnen schuldig, es weiter zu versuchen. Meira, weil sie immer für mich da war, und Kae … weil es vielleicht meine letzte Möglichkeit war, irgendetwas für ihn zu tun.

Ich schluckte gegen die Enge in meiner Kehle an, stieß die angehaltene Luft aus und senkte die Hände in meinen Schoß. Im Schneidersitz verharrte ich in dem kargen Gang, den Jodan und die anderen vor ein paar Tagen freigelegt hatten. Seitdem die Ausgangssperre in der Stadt verhängt worden war, verbrachten sie mehr Zeit damit, das Geröll aus den verschütteten Bereichen unseres unterirdischen Verstecks wegzuräumen und neue Teile des siebten Ringes zu erkunden, die vor langer Zeit einmal bewohnt gewesen sein mochten. Wann immer sie nach dem Abendessen noch in der Küche zusammensaßen, zog ich mich so weit wie möglich in die Tiefe zurück. Dorthin, wo ich niemanden verletzen konnte.

»Du kannst das«, sprach ich leise weitere leere Worte vor mir her, die aus Kaes Mund so bedeutungsvoll geklungen hatten. »Lass die Kraft der Iónas in dir kontinuierlich fließen.«

Die einzelne Kerze vor meinen Füßen warf mehr Schatten als Licht umher. Für mich machte das keinen Unterschied, denn was ich erschaffen wollte, stach auch aus der Nacht hervor.

Bedächtig legte ich beide Handflächen übereinander und drehte sie zur Decke. Ich wollte nicht viel. Nur eine kleine Kugel, eine winzige Ióna. Kaum der Rede wert. Wie im Verlies, als ich Jodan befreit hatte. Während dieses schrecklichen Angriffs der Dunklen, der so viele Leben gefordert und Kaes Zuhause zerstört …

Ich schüttelte den Kopf. Ich durfte nicht an all die schrecklichen Bilder denken, an das Donnern der Explosionen und berstenden Stein und schreiende Wächter. Ich musste an die Ióna denken, die in der kalten Zelle vor meiner Fingerspitze erschienen war. An die pulsierende Kraft, der ich die Türen in meinem Inneren öffnen und eine Form geben musste, an die flüssige Dunkelheit in meinem Arm. Aber sie war längst nicht mehr nur in meinem Arm. Sie war überall.

Zum sechsten Mal binnen der letzten Stunde begannen meine Hände zu zittern. Ich keuchte, als brennende Hitze meine Adern flutete und nicht einmal in die Nähe meiner Finger geriet. Die Schwärze in mir kannte nur ein Ziel: Sie wollte mein Herz. Mein wahres Herz.

Der Schmerz kam nicht langsam. Er entbrannte schlagartig in jeder Faser meines Körpers, entzog mir die Kraft und die Luft. Mir brach der Schweiß aus. All meine Muskeln verkrampften unter der Pein und ich biss mir auf die blutigen Lippen, doch ich hielt verbissen die Handflächen offen und starrte darauf. Bei Yacantha, wenn ich etwas gewohnt war, dann diesen elenden Schmerz. Er durfte mich nicht immer wieder zurückhalten. Ich musste es endlich schaffen, ich musste eine Ióna hervorbringen, der Glut widerstehen und …

Ich riss den Kopf in den Nacken und schrie, mehr aus Frustration denn aus Schmerz, riss die Hände über den Kopf und ballte die Fäuste vor der Stirn, als jede Verbindung zu der Kraft in mir abbrach.

Mein Atem ging stoßweise, Tränen brannten hinter meinen Lidern und meine Finger prickelten, als die Energie darin verflog. Ein Fluch lag mir auf den Lippen, doch brach nicht hervor. Ich hatte einfach nicht genug Zeit, um ein Gespür für die Kraft zu finden! Sie brandete zu schnell hoch, zu …

»Rieka! Rieka, sag doch etwas!«

Langsam atmete ich ein und aus. Ich hätte nicht schreien sollen. »Ich bin noch da, Meira«, raunte ich zu ihr hinauf.

»Yacantha sei Dank. Erzähl mir, wie es bei dir aussieht.«

Ich hätte lächeln mögen ob der Hoffnung in ihrer Stimme. Leider überwog meine Resignation.

»Es hat nicht funktioniert.«

»Oh.« Kurze Stille. »Du schaffst das schon, Rieka. Ich glaube fest an dich! Du kannst es noch einmal probieren.«

»Nein, heute nicht mehr«, antwortete ich leise auf ihre indirekte Frage, die sie niemals laut stellen würde. Weniger Fragen – weniger Möglichkeiten, eine Ióna der Lüge hervorzurufen. Ich griff steif nach der Halterung der Kerze und stand auf. »Ich komme«, rief ich lauter.

Treppen zu steigen, gehörte für jeden Einwohner Asterins zum Alltag. Die Passierscheine für die Gondeln kosteten ein Vermögen, also bezahlte jemand wie ich mit dem, was wir aufbringen konnten: viel Zeit und ein gewisses Maß an Konstitution. Dementsprechend leicht fiel mir das Erklimmen von einhundert Stufen für gewöhnlich, doch als ich an diesem Abend bei Meira ankam, hob meine Freundin besorgt ihre Kerze näher an mein Gesicht.

»Yacantha, Rieka. Es bringt doch nichts, wenn du dich völlig überanstrengst.«

Erschöpft lente ich mich an die Wand und nickte. »Entschuldige.«

Sie schüttelte unzufrieden den Kopf und pustete sich eine blonde Strähne aus der Stirn. »Du musst auch an dein Wohl denken, Rieka. Ich verstehe, dass du allein dort runter willst, aber … vergiss nicht, dass ich in Gedanken immer bei dir bin und mir genauso Sorgen mache, als würde ich neben dir stehen.«

Mein dummes Herz wurde warm vor Zuneigung, anstatt sie dafür zu verfluchen, dass sie mir in ihrem blinden Vertrauen selbst in meine tiefsten Abgründe folgen würde.

Ich bin gefährlich, Kae.

Ja, vielleicht bist du das. Aber vielleicht müsstest du das nicht sein. Vielleicht müssen wir nur verstehen, was du kannst und wie du damit umgehen musst. Aber dazu muss dir jemand helfen, und das hat niemand getan.

Angestrengt blinzelte ich die Erinnerung fort. Es schien Jahre her zu sein, dass Kae mich nach dem zweiten Angriff der Dunklen zum Rand des Kria getragen und mir seine Hilfe angeboten hatte. Dabei war es gerade eine Woche her.

»Ich würde dich nie vergessen, Meira«, erwiderte ich lächelnd.

Ein Teil von mir wollte sie an mich ziehen. Der größere Teil fürchtete jede Form der Berührung.

Nur seine nicht.

»Gut«, antwortete sie, und im nächsten Augenblick schloss sie die Arme um mich, wie sie es immer tat: ohne jeglichen Körperkontakt. Sie verschränkte die Hände hinter meinem Rücken und lächelte zufrieden, als würde sie mich wirklich umarmen.

Mein Herz stolperte. Meira wusste immer, was ich brauchte. Meist besser als ich selbst.

Sie verharrte nur ein paar Sekunden, dann rückte sie von mir ab und legte den Kopf schief. »Lass uns zurückgehen.«

Ich verbot es mir, einen Blick nach hinten in die Dunkelheit zu werfen. Meine Chance für heute war vertan. Nun sollte ich Meira nicht länger von den anderen fernhalten.

»Gut.«

Gemeinsam wandten wir uns nach links. Unsere beiden Kerzen boten das einzige Licht. Am Tag brauchten wir sie nicht, dann drang die Sonne durch schmale Schächte und ausgeklügelte Mechanismen, die bloß Iphas verstand, sogar bis in diese Tiefe. Jetzt enthüllten die glattgeschliffenen Wände nur einen Teil der prächtigen, in sie eingearbeiteten geometrischen Muster. Immer wieder fanden sich Waagen dazwischen. Das Zeichen der Göttin des Gleichgewichtes, deren Sternbild stets über Asterin stand, als wolle sie über uns wachen. Vielleicht sogar über mich. Ein tröstlicher Gedanke.

»Ich denke, Kae sollte dir genauer erklären, wie du die Iónas aus deinem zweiten Herzen freisetzen kannst«, sagte Meira. »Wenn er dir schon nicht hilft.«

»Nein. Er hat mir genug geholfen, Meira. Nun müssen wir ihm helfen. Er muss so trauern dürfen, wie er es will und braucht.«

»Aber so geht es nicht weiter, Rieka!« Sie seufzte. »Ihr seid eine Woche wieder da und seitdem übst du jeden Abend hier unten. Allein, während ich in sicherer Entfernung warte und hoffe, dass dir nichts passiert. Es ist schrecklich, dir nicht helfen zu können.«

Ich verstand Meiras indirekte Feststellung: Aber Kae könnte dir helfen.

»Es geht zu schnell«, erwiderte ich, ohne darauf einzugehen. Das stand mir nicht zu. »Es ist zu viel Dunkelheit in mir. Ich kann mich kaum auf ihren Fluss konzentrieren, da drohe ich schon die Kontrolle zu verlieren.«

»Das ist doch auch logisch, Rieka. Bei deiner letzten Explosion während eurer Flucht hast du alles wieder zu dir gezogen und dann auf dem Weg vom Gipfel des Kria bis hierher …«

Sie brach ab. Es war auch nicht nötig weiterzusprechen.

Ich stand am Abgrund, und er war tiefer als je zuvor. Denn der Abstieg mit Kae hatte lang gedauert. Die Tunnel, in die wir uns während des Angriffs der Dunklen gerettet hatten, hatten uns bis zu einem Plateau an der Rückseite des Kria-Berges geführt. Ich war das Klettern gewohnt, aber er …

Ich schluckte, als ich mich an seinen leeren Blick erinnerte. Bis heute hatte er ihn nicht verloren. Ich hatte ihm geholfen, ihn gestützt, und als wir nach Stunden endlich die Treppen erreicht hatten, hatte uns in der allgemeinen Panik niemand mehr beachtet.

Leider brachte allgemeine Panik offensichtlich auch eine Masse an schwarzen Iónas. Und da ich schon einzelne schwarze Kugeln anzog wie ein Magnet …

»Du musst zu Lício«, flüsterte Meira.

Ich nickte. Bei jedem Schritt spürte ich die Erschütterung in allen Muskeln. Sie floss durch die Fülle der Schwärze in mir und trug den immer präsenten Schmerz weiter.

»Aber es geht nicht.«

Meira schwieg. Sie wusste, dass ich recht hatte. Die Panik hatte in den letzten Tagen nicht abgenommen. Mithilfe der Wächter bauten die Bürger die wichtigsten Teile der Stadt wieder auf, aber sonst verließ aus Angst vor weiteren Dunklen kaum jemand das Haus. Ich selbst hatte seit einer Woche keinen Fuß aus den Höhlen gesetzt. Auch wenn Sim mich vorhin beim Essen darauf angesprochen hatte, mich angeblich im vierten Ring gesehen zu haben – das konnte ich nicht riskieren. Jede weitere Ióna könnte eine zu viel sein.

»Dann lass uns alles, was Kae im Palast der Wächter gesagt hat, noch einmal genau durchgehen. Vielleicht haben wir etwas übersehen, das du noch nicht ausprobiert oder beachtet hast.«

Ich bemühte mich um eine ungerührte Miene und ging weiter. Denn ja, da gab es etwas.

Deine Kernerinnerung verankert die Kraft in dir. Sie sollte das Erste sein, was dir beim Stichwort starke Erinnerung in den Kopf kommt.

Von diesen Worten hatte ich Meira nichts erzählt. Sie ängstigten mich mehr als alles andere, denn …

Dein Kern ist schwarz.

Denn wenn ich mich darauf einließ, diesen schwarzen Kern zu erkunden, diese einzige Erinnerung an meine Kindheit vor Asterin … dann stünde meine nächste Explosion unmittelbar bevor. Da war ich völlig sicher.

Andererseits: Kae hatte gesagt, dass die Kontrolle über die Iónas die Grundfertigkeit aller Wächter war. Wenn ich sie erst aus mir hervorrufen, sie festhalten und bewegen konnte, hatte ich eine Chance auf wahre Kontrolle. Auf ein wahres Leben. Fern von all der Angst und all dem Schmerz.

Bleib ruhig, meine Kleine. Ich bin hier. Schau nur mich an, Rieka. Konzentrier dich. Wir müssen …

Ich ballte die Fäuste und konzentrierte mich, wie meine Mutter es damals gefordert hatte, um die Erinnerung zu verbannen. Diese eine starke Erinnerung, die mich mein Leben lang begleitete. Durch jede Nacht. Durch alle Schuld.

»Ich werde es einfach weiter versuchen, Meira.«

»Ich weiß.« Meine Freundin lächelte mich an, in ihrem Blick jene unvergleichliche Zuversicht, die auch Kae eigen gewesen war. Bevor er alles verloren hatte. »Und ich werde weiter auf dich aufpassen.«

Alles in mir sehnte sich danach, sie zu umarmen, sie einfach an mich zu ziehen und einen Moment der Ruhe mit ihr zu genießen. Im Palast hatte es doch auch geklappt, als Kae mich aus dem Verlies geholt hatte!

Aber da war es anders gewesen. Da hatte ich keine Angst haben müssen, erfüllt von der trügerischen Sicherheit, dass Kae sich als Erster vor mir schützen konnte. Auf dem Marktplatz hatte er Meiras Leben gerettet, indem er sie mit einem Schild aus Licht umgeben und so von meiner Dunkelheit abgeschirmt hatte.

Doch schlussendlich hatte ich auch ihn verbrannt. Er würde eine Narbe zurückbehalten, mitten auf der Brust. Für immer würde diese ihn daran erinnern, wie in einer Nacht der Orden der Wächter Asterins untergegangen war, wie unzählige tapfere Männer und Frauen gestorben waren, die er gekannt und seine Freunde genannt hatte – und wie meine Dunkelheit auch ihn beinahe in den Tod gerissen hätte.

»Rieka, Meira, da seid ihr ja!«

Ein Stück vor uns flackerte eine weitere Kerze, und nach wenigen Schritten erkannte ich Sim in ihrem Schein. Das Flämmchen wirkte winzig in seinen großen Händen.

»Gut, dass ich euch so schnell gefunden hab.« Er blieb stehen und winkte ungeduldig. »Kommt mit, kommt mit! Ihr werdet es nicht glauben, Kae ist gerade wiedergekommen und er hat … Nein, ihr glaubt’s mir eh nicht. Kommt schon!«

Ich sah irritiert zu Meira, die nicht minder verwundert die Schultern hob. Sim neigte selten zu vielen Worten oder gar Aufregung. Gerade wippte er sogar unruhig auf den Fußballen vor und zurück. Außerdem war es so spät, dass der Großteil der anderen sicher schon schlief.

»Es ist doch nichts Schlimmes passiert?«, fragte Meira besorgt.

»Nein … nein, ich denke nicht.« Sim musterte mich einen Moment länger als nötig, räusperte sich dann und riss den Blick von mir fort. »Keine Ahnung. Ihr werdet schon sehen, aber jetzt los! Das ist so unglaublich …«