Die wahrhaft unglaublichen Abenteuer des jüdischen Meisterdetektivs Shylock Holmes & seines Assistenten Dr. Wa'Tsun - Christian von Aster - E-Book

Die wahrhaft unglaublichen Abenteuer des jüdischen Meisterdetektivs Shylock Holmes & seines Assistenten Dr. Wa'Tsun E-Book

Christian von Aster

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Beschreibung

Dies ist eine aberwitzig hintersinnige Geschichte aus dem viktorianischen London, in der sich nicht nur die Wahrheit über den größten Detektiv aller Zeiten, die Hintergründe der niederträchtigen Moriarty-Verschwörung und eine britische Revolution offenbaren, sondern die darüber hinaus in angemessen langen Sätzen und unter Zuhilfenahme passender Adjektive ebenso spektakulär wie wahrheitsgetreu von einflussreichen Geheimbünden, Krankenringkämpfen, der vermutlich einflussreichsten Verbrecherorganisation der Welt sowie dem heimlichen Hobby Queen Victorias berichtet. Was, insofern man sich für derlei zu interessieren wagt, Grund genug sein sollte, sie zu lesen … "Eine tiefe Verbeugung vor dem Meisterdetektiv." (Auszug aus der Laudatio anlässlich der Vergabe des Blauen Karfunkels 2020 der Deutschen Sherlock-Holmes-Gesellschaft in der Kategorie Pastiche)

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Christian von Aster

Die wahrhaft unglaublichen Abenteuer des jüdischen MeisterdetektivsShylock Holmesund seines AssistentenDr Wa’Tsun

Zweitausendeins

Die Erstausgabe wurde 2021mithilfe von www.patreon.com/vonasterdurch Crowdfundings in einer limitierten Auflage von 500 Exemplaren realisiert.Buchhandelsausgabe:1. Auflage 2022.Alle Rechte vorbehalten.Digitale Ausgabe:1. Auflage 2022.Alle Rechte vorbehalten.Copyright © 2022 Christian von Aster.Titelschriftzug: Pit Hammann; Text: Christian von Aster;Lektorat: Hanka Leo und David Blum; Korrektorat: Franziska Burghardt;Satz: Sandra Pfeiffer.Alle Rechte für die deutsche AusgabeCopyright © Zweitausendeins GmbH & Co. KG,Karl-Tauchnitz-Str. 6, 04107 Leipzig.ISBN 978-3-96318-142-9

All jenen, die dieses Abenteuer möglich machten

Inhalt

GELEITWORTDer Mann, der Sherlock Holmes war

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

DER AUTOR

GELEITWORTDer Mann, der Sherlock Holmes war

von Peter Deisinger

»Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass, wenn man alles Unmögliche ausgeschlossen hat, das, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es auch sein mag, die Wahrheit sein muss?«

(Sherlock Holmes in Das Zeichen der Vier)

Als Arthur Ignatius Conan Doyle im Jahre 1887 seinen ersten Detektivroman veröffentlichte, erschuf er eine der ganz großen Gestalten (nicht nur) der Literatur. Dabei entwickelte der Mythos Holmes sehr bald ein faszinierendes Eigenleben, das sich zusehends von den Romanen und Short Storys seines Erschaffers abzulösen begann.

Die literarische Figur des Consulting Detective, der sich kraft seines rationalen, wissenschaftlichen Denkens und der darauf fußenden logischen Meisterschaft dem Verbrechen entgegenstellt, wurde gedankliches Kollektivgut, Inspiration und Idol zugleich. Bis heute schreiben sich die Abenteuer des viktorianischen Ermittlers in allen denkbaren Adaptionsformen fort – von Kurzgeschichten und neu verfassten Romanen über Konzepte, die sein Wirken als Gesellschaftsspiel oder auf der Bühne nachempfinden lassen, bis hin zu filmischen Umsetzungen, die sich alle paar Jahre verjüngen und wieder neu erfinden. Die Holmes’sche Faszination will schlicht nicht abebben – und jede Zeit hat ihren eigenen Holmes.

Dass Doyle diese geistige, fast übermenschliche Größe seines Detektivs mit einer ganzen Reihe skurriler Eigenschaften und Angewohnheiten kontrastierte – vom passionierten Geigenspiel über die Gleichgültigkeit gegenüber Frauen bis hin zur Rauschgiftsucht –, erwies sich dabei als ebenso fruchtbar für die Mythenbildung wie der über ihn berichtende Erzähler Doktor John Watson. Dieses Alter Ego des Mediziners Arthur Conan Doyle gibt der Gestalt des gefühlskalten Exzentrikers Holmes mit seinen autistischen Zügen die notwendige Glaubwürdigkeit und begegnet ihr zugleich mit einem ehrfürchtigen Staunen, das sich stets auf die Lesenden überträgt. Watson selbst bleibt dabei ein sympathischer und etwas tapsiger, hochgradig loyaler und zugleich äußerst bodenständiger Zeitgenosse, was ihn als Zeuge von perfiden Verbrechen und waghalsigen Ermittlungen authentisch und verlässlich macht. Zudem stellt er die Identifikationsfigur für den nicht ganz so rational-gefühlsarmen Leser dar, der darüber die maximal mögliche Nähe zu dem faszinierenden und zugleich unnahbaren Helden erfährt.

Diese beiden Hauptpersonen und ihre Abenteuer sind eingebettet ins viktorianische Zeitalter mit der Metropole London als Zentrum, das zugleich ein Moloch mit mehreren Millionen Einwohnern und das Epizentrum der modernen Entwicklung jener Tage darstellt. Ein idealer Ort also, um Verbrechen zu begehen. Und um Verbündete jeder Couleur zu finden – seien es die Baker Street Irregulars oder Scotland Yard, wo (aus Sicht von Holmes) auch einige wenige fähige Inspektoren ihre Brötchen verdienen. Dazu die Times als journalistischer Gradmesser der bürgerlichen Öffentlichkeit, erste U-Bahnen neben Droschken, belebte Plätze neben schmutzigen Gassen, Nebel über der Themse und nächtliche Gaslaternen. Kombiniere: ein überaus atmosphärischer Hintergrund, der das Ganze überzeugend abzurunden weiß.

Betrachtet man das Holmes’sche Konzept mit all seinen Bausteinen, kann man nicht umhin, begeistert den Hut vor Arthur Conan Doyle und seiner Schöpfung zu ziehen. Doyle selbst entwickelte spätestens während seines Studiums an der Universität Edinburgh literarische Ambitionen. Doch zunächst beendete er seine medizinische Ausbildung und fuhr unter anderem auf einem Walfänger als Schiffsarzt zur See. Als sein Versuch, hiernach eine eigene Praxis zu etablieren, mehr schlecht als recht funktionierte, wendete er sich verstärkt dem Schreiben zu und war froh, als er mit Eine Studie in Scharlachrot einen ersten längeren Text veröffentlichen konnte. Dieser wurde ein Achtungserfolg und erlaubte bald die Veröffentlichung des zweiten Holmes-Romans Das Zeichen der Vier. Spätestens mit Beginn seiner Kurzgeschichtenreihe im Strand Magazine kurze Zeit darauf war der Erfolg von Doyles Meisterdetektiv schließlich nicht mehr aufzuhalten.

Dabei hatte der Autor stets ein zwiegespaltenes Verhältnis zu seinem Ermittler aus der Baker Street 221B: Arthur Conan Doyle konnte nie wirklich verwinden, dass seine Detektivgeschichten so viel erfolgreicher waren als seine ambitionierten historischen Romane, die ihm viel mehr am Herzen lagen. Tatsächlich setzte er immer wieder an, Holmes sterben zu lassen, doch die Figur erwies sich als stärker (unsterblich eben) und die begeisterte Leserschaft als zwingender als sein eigenes Streben. Insgesamt verfasste Doyle bis zum Ende seines Lebens vier Romane und 56 Short Storys über Sherlock Holmes. Und damit war die Geschichte des exzentrischen Ermittlers noch lange nicht zu Ende.

Christian von Aster arbeitet in diesem Buch einen ganz anderen, viel zu lange übersehenen Aspekt heraus; nämlich, dass vor der Geschichte des großen Detektivs die Geschichte der Vorbildgestalt von Sherlock Holmes stehen muss. Diese Person, die sich bis dato erfolgreich jeder literaturhistorischen Betrachtung entziehen konnte, muss den an sich detektivisch unbeleckten Arzt Arthur Ignatius Conan Doyle aktiv zum Erschaffen seines Meisterwerks inspiriert haben. Wahrscheinlich hat sie dabei nicht nur nichts dem Zufall überlassen, sondern alles mit Holmes’schem Kalkül genau geplant und wohl organisiert. Dabei dürfte es dieser Person nicht allzu schwergefallen sein, Doktor Doyle für sich einzunehmen. Schon gar nicht, wenn ihm dafür weltliterarischer Ruhm winkte.

Nachdem wir alles Unmögliche ausgeschlossen haben, ist dies, wie unwahrscheinlich es auch sein mag, die Geschichte, die der Wahrheit entsprechen muss.

LONDON1886
KAPITEL 1

Inmitten der beinahe reglos im Raum hängenden und behäbig am dunklen Holz der Wandverkleidung entlangwabernden Schwaden muteten die Gäste des heruntergekommenen Pubs wie Gespenster an. Unwirkliche Schemen, dem Tabak wie dem Ale huldigend, in selbstvergessenem Gottesdienst versunken.

Den schweren Tabakdunst durchglomm trotzig die Glut einiger Pfeifen. Doch auch die änderte nichts an der Spärlichkeit des von den schmierigen Gaslampen ausgehenden Lichtes, das schlussendlich so kläglich war, dass der Mann, der am Tresen gerade die aktuelle Ausgabe der Times aufblätterte, sein Vorhaben vermutlich recht schnell aufgeben würde. Dies war kein Ort zum Zeitunglesen. Mehr als die aktuelle Schlagzeile würde er kaum erkennen. Und dafür brauchte es längst keine Zeitung mehr. Denn jeder hier wusste, wie sie lautete.

An der Zwielichtigkeit des Fighting Cock Inn hätten auch weniger Rauch und besseres Licht nichts zu ändern vermocht. Manch eingetrockneter Blutfleck war gnädig mit dem dunklen Holz der Täfelung verschmolzen, seit der gegenwärtige Besitzer des Gasthauses, ein Chinese mit Namen Shāngrén Dú, den Pub mithilfe eines gefälschten Testamentes vom seligen Reuben Hayes geerbt hatte. Das Gasthaus verfügte über eine Reihe der außerehelichen Erfüllung ehelicher Pflichten vorbehaltener Hinterzimmer, und das Innere der falschen Weinfässer im Keller war zu gleichen Teilen mit Waffen wie Diebesgut gefüllt. Im Fundament ruhten überdies zwei Angehörige des Unterhauses, von denen es hieß, dass sie sich auf ihre Landsitze im Norden zurückgezogen hätten, und schlussendlich wurde unter dem Tresen das vermutlich reinste Opium verkauft, das diesseits des Jangtse zu bekommen war.

In puncto Zweifelhaftigkeit standen seine Gäste dem Haus in nichts nach. Mit deren Steckbriefen hätte man das Etablissement vermutlich lückenlos vom Keller bis zum Dachboden tapezieren können. Zu dem Zeitpunkt, da die hier beschriebenen Dinge in Bewegung gerieten, befanden sich innerhalb des Gebäudes lediglich zwei Personen, die gegenwärtig nicht von der Polizei gesucht wurden: Der Erste war ein buckliger alter Mann offensichtlich mosaischen Glaubens, mit üppigen Schläfenlocken und einem mächtigen grauen Bart, der, einen breitrandigen schwarzen Hut in den Händen, inmitten einer Gruppe älterer Herren stand, mit denen man sich vierzig Jahre zuvor nicht hätte anlegen wollen. Deren einstmals martialische Tätowierungen hatten auf der grauen, im Tabakdunst leblos wirkenden Haut längst Schrecken und Form verloren. Auch die Muskeln, die sich früher über die nunmehr arthritischen Knochen gespannt haben mochten, waren bloß noch zu erahnen. Doch wer genau hinschaute, erkannte in den Augen dieser Männer, hinter dicken Brillengläsern, noch eine Ahnung jenes Funkelns, das die meisten von ihnen mehr als einmal beinahe an den Galgen gebracht hatte. Und zwischen jenen grimmen Greisen stand, einem nach dem anderen milde lächelnd ein paar Silbermünzen in die faltige Hand drückend, der alte Jude.

Der zweite unbescholtene Mann im Inneren des Fighting Cock war wesentlich jünger und befand sich zu besagtem Zeitpunkt in einem jener Zimmer, in welchen Frauen, denen das Schicksal nicht vergönnt hatte, Damen zu werden, das taten, was jene, die Damen hatten werden dürfen, in der Regel eben nicht taten. Wobei besagter Mann nicht zum Spaß, sondern vielmehr in seiner Funktion als Arzt dort weilte. Ein Freund, der darauf bestanden hatte, nicht näher erwähnt zu werden, hatte den eigentlich in Portsmouth ansässigen jungen Doktor gebeten, sich einer gewissen Kitty Winter anzunehmen, die vermutlich niemals auch nur die Chance gehabt hatte, eine Dame zu werden. So stand er also nun im Begriff, besagte junge Frau zu verarzten und die Spuren eines Vortrags zu tilgen, den ihr ein väterlicher Beschützer, dem rüden Brauchtum dieser Gegend entsprechend unter Zuhilfenahme eines Schlagringes, wenige Stunden zuvor gehalten hatte.

Zwei Phiolen Morphin auf ihrem verzogenen Nachtschränkchen platzierend, versicherte der Doktor der geschwächten Ms Winter, dass sie für ihre Behandlung nicht selbst würde aufkommen müssen. Ihren Schmerzen zum Trotz lächelte sie und reichte dem guten Doktor zum Abschied ihre geschiente Hand.

Im Schankraum hatte sich der alte Jude derweil aus dem Kreis greiser Verbrecher gelöst und sich zwischen allerlei anderen Schurken, Halunken und nachlässig gekleideten Frauenzimmern hindurch an den Tresen bewegt, wo er den Wirt herbeiwinkte und einen beiläufigen Blick auf eine Gruppe finster dreinblickender Chinesen warf, die an einem kleinen Tisch über ihre Mah-Jongg-Steine gebeugt saßen. Schnaufend setzte Herr Shāngrén, der für den reibungslosen Betrieb dieses Gasthauses mehr Polizisten als irgendjemand sonst in Leyton schmierte, seinen massigen Körper in Bewegung.

Bevor sich seine wuchtige Gestalt jedoch im Tabakdunst vor dem Alten manifestieren konnte, wurde es im hinteren Teil des Ladens laut.

Dort hatte der Doktor das Hinterzimmer verlassen und fand sich nun, den Mantel über dem Arm und den Hut in der Hand, im Flur mit Red Ned, dem väterlichen Freund Kitty Winters, konfrontiert, der ihm gegenüber ohne Umschweife sein Anliegen formulierte:

»Ham ’nen guten Geschmack. Is’ eine meiner Besten. Zwei Stunden mit Ms Winter. Das macht dann einen Shilling, Mister.«

Mit einem schiefen Grinsen öffnete Ned seine schmutzige Rechte und streckte sie seinem Gegenüber fordernd entgegen. Der hob eine Braue und musterte den Zuhälter verwundert: Ned war nicht allzu groß, trug einen zu kleinen, rot gesäumten Gehrock, einen ebenso roten halbhohen Zylinder, der seine besten Tage deutlich hinter sich hatte, und ein paar Stiefel, die im Gegensatz zum Rest derart neu und gut verarbeitet wirkten, dass sie vermutlich frisch gestohlen waren.

Die ausgestreckte Hand betrachtend hob der Doktor an: »Guter Mann, ob auch zwei Stunden mit Ms Winter gewiss mehr als bloß ein Silberstück wert sind, fürchte ich, dass ich Ihre Forderung nicht zu begleichen bereit bin.«

Sein Gegenüber ließ sich nicht beirren. »Zwei Stunden sind zwei Stunden, Mister.«

»Zwei Stunden. Gewiss. Die ich damit verbrachte, eine ›ihrer Besten‹ so weit wiederherzurichten, dass sie zum einen nicht stirbt und zum anderen auch künftig in der Lage ist, sich mithilfe dieser unseligen Tätigkeit zumindest vor dem Armenhaus zu bewahren. Eine Leistung, die, stellte ich sie Ihnen in Rechnung, Ihren Shilling geradezu jämmerlich wirken lassen würde!«

Mit diesen Worten, denen beileibe nicht die Selbstsicherheit innewohnte, die der Redner hineinzulegen gehofft hatte, warf der Doktor seinen Mantel über und versuchte, sich an dem Zuhälter vorbeizudrücken.

Dieser aber verstellte ihm den Weg. »Sie schulden mir zwei Stunden, Mister. Meine Taschenuhr ist da verlässlich. Aber wenn’s nottut, prügle ich den Shilling freilich auch gern aus Ihnen raus.« Mit diesen Worten streifte Ned sich lächelnd einen Schlagring über die Knöchel seiner Rechten.

Woraufhin der Doktor den Mann, der offenbar willens war, ihm eines Shillings wegen den Schädel einzuschlagen, anherrschte: »Ich rate Ihnen eines, guter Mann: Lassen Sie mich umgehend vorbei! Oder ich werde dafür Sorge tragen, dass man Sie verhaftet!«

Der Angesprochene lachte und schlug ihm ins Gesicht.

Mit einem dumpfen Aufschrei ging dieser zu Boden und rappelte sich, während Blut aus seiner Nase schoss, benommen wieder auf.

Einige Anwesende schauten zu den beiden Männern herüber, jedoch nur, um sich im nächsten Augenblick, als Red Ned sich bereits im Besitz eines neuen Hutes glaubte, wieder um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Niemand scherte sich um das, was im Flur vor den Hinterzimmern geschah. Niemand, bis auf jenen buckligen Alten, der nun mit wehenden Schläfenlocken vom Tresen herbeigeeilt kam und dem Zuhälter, der bereits zum nächsten Schlag ausgeholt hatte, zaghaft auf die Schulter tippte.

»Was willst du? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?«, knurrte Ned, der, die Hand um den Hals des angeschlagenen Doktors gelegt, diesen inzwischen offenbar um mehr als bloß einen Shilling und einen Hut zu erleichtern gedachte.

»Gewiss, Mr Ned. Und für gewöhnlich würde ich mir auch nicht anmaßen, Sie in der Ausübung Ihrer Tätigkeit zu stören. Zumal ich weiß, dass Sie die fünfzig Prozent der Beute, wie der ehrwürdige Herr Shāngrén sie bei Ausraubung eines Gentlemans im Inneren seiner Räumlichkeiten veranschlagt, in der Regel umgehend abzuführen pflegen. Und während ich Ihnen unter anderen Umständen gewiss nicht im Wege stünde, würde ich Sie in diesem Fall dringend ersuchen, von diesem Gentleman abzulassen.«

Verwirrt, aber ohne den Griff um den Hals seines Opfers zu lockern, drehte der Zuhälter den Kopf. »Warum? Ist wahrscheinlich der Beste, den ich heut abbekomm’!«, blaffte er den Alten an.

»Ich weiß, Mr Ned. Aber seien Sie versichert, dass hier gegenwärtig mehr auf dem Spiel steht als Ihre Tageseinnahmen. Wenn Sie mir gestatten, Ihre Aufmerksamkeit auf den chinesischen Gentleman dort drüben zu lenken? Den großen dort hinten am Tisch, der so finster dreinblickend inmitten seiner Landsleute sitzt?«

»Was soll mit dem sein?«

Als Antwort fingerte der Alte einen Zettel hervor, den er auseinanderfaltete und Ned mit bedeutsamem Blick vors Gesicht hielt.

Der aber schob das Papier mit dem Schlagring beiseite und zischte wütend: »Zeig das wem, der lesen kann. Und dann verpfeif dich, Alter!«

Seufzend faltete der Angesprochene den Zettel wieder zusammen, blickte den Zuhälter eindringlich an und wies erneut auf den hünenhaften Chinesen. »Dieser Mann, Mr Ned, ist, wie der Steckbrief besagt, kein Geringerer als der fürchterliche Bao Lhu, der blutige Schatten, der Schlächter von Chengdu, der dritte Finger der Roten Hand.«

»Ja, und? Was hab ich mit diesem Fingermann zu schaffen?«

»Mr Bao, Sir, ist ein Verbrecher und, mit Verlaub, um einiges gesuchter als Sie. Er hat unter anderem ein Mitglied des britischen Königshauses auf dem Gewissen, wurde hierzulande wie auch im Rest der Welt bereits mehrfach zum Tode verurteilt und vermag sich seiner Verhaftung lediglich aufgrund seiner Kontakte zu einigen mächtigen, in London ansässigen Mitgliedern der chinesischen Triade zu entziehen.«

»Gut. Prima. Meinetwegen. Soll der Chinese seine Leute ausrauben. Ich raub derweil meine aus. Und jetzt lass mich gefälligst meine Arbeit machen!«, schimpfte der Zuhälter und holte aus, um seinem Opfer endlich den zweiten Schlag zu verpassen.

Der Alte schüttelte den Kopf und deutete noch einmal in Richtung des chinesischen Hünen. »So einfach ist das leider nicht, Mr Ned. Sehen Sie die Ausbuchtung in seinem traditionellen dunkelblauen Changshan? Dort, über der Hüfte?«

»Ein Revolver vermutlich.«

»Ganz genau. Ein Revolver. Und wenn Sie Ihren Blick jetzt auf den älteren Gentleman inmitten der ehemaligen Halsabschneider in der gegenüberliegenden Ecke richten würden?«

»Seh ich.«

»Wie Sie gewiss schon bemerkt haben, trägt auch dieser Mann eine verborgene Waffe. Das ist Birdy Edwards, ein hochdekorierter Pinkerton-Detektiv aus Übersee, der Mr Bao bereits seit einiger Zeit beobachtet. Was natürlich weniger problematisch wäre, wenn es sich bei der Frau dort drüben am Tresen nicht um Ms van Deesz handeln würde …«

»Was redest du für einen Quatsch, Alter? Das is’ Hetty. Hetty Cromwell. Die arbeitet seit gut einem Jahr für den dicken Shāngrén und ich habe ihr inzwischen so oft auf den Hintern gehauen, dass ich’s gar nicht mehr zählen kann!«

»Sie aber kann es, Mr Ned. Weil sie Buch darüber führt. Ms van Deesz führt über alles Buch. Wofür sie in ihrer Eigenschaft als Undercoveragentin des Yard ebenso bekannt ist wie für ihre Nahkampftalente oder ihre ausgeklügelten Tarnidentitäten. Am Anfang hab ich ihr die Hetty tatsächlich auch abgenommen.«

»Ich sehe noch immer das Problem nicht.«

»Das, Mr Ned, besteht darin, dass die erwähnten Herrschaften nur auf einen Vorwand warten, ihre Waffen zu zücken und diesen fast sieben Fuß großen Chinesen über den Haufen zu schießen. Und Ihre Interaktion, Mr Ned, mit diesem bedauernswerten Gentleman in Ihrem Griff, könnte sich ohne Weiteres zu einem solchen Vorwand entwickeln. Dort drüben nämlich, ja, genau dort. Der Boxertyp mit der Verbrechervisage, der so verstört auf seine Taschenuhr schaut. Das ist ein guter Freund Ihres Opfers, der sich gerade fragt, warum dieser Mann noch immer nicht wieder zurück am Tisch ist. Sobald dieser bullige Kerl hierherkommt, besteht eine überproportionale Wahrscheinlichkeit für den Ausbruch einer Kneipenschlägerei, in deren Rahmen keiner dieser Leute zögern wird, seine Waffe zu ziehen, um die ganze Angelegenheit zu einem Abschluss zu bringen.«

»Hm, verstehe.«

»Das hoffe ich. Wobei im Rahmen der erwähnten hypothetischen Eskalation abgesehen von dem Boxer und möglichen Querschlägern freilich auch von einer Reihe heimlich mitgeführter Messer ausgegangen werden kann, die Ihnen wenig wohlgesonnene Personen hinterrücks zum Einsatz bringen könnten.«

»Is’ ja gut. Ich hab’s verstanden! Aber wer, bitte schön, ersetzt mir meine Verluste?«

»Das wären, wenn ich es recht verstehe, dann wohl ein Shilling und ein neuer Hut?«

»Na ja, ich würd’ da jetzt schon gern noch ’n bisschen was drauflegen wollen.«

»Gut. Ich denke, das bekommen wir hin, Mr Ned. Einen Moment!«

An seiner Weste herumfingernd, zog der alte Mann erst eine, dann noch eine und schließlich eine dritte Taschenuhr, dann einen Bleistift und einen Zettel hervor und begann dann, hastig etwas niederzuschreiben. Das beschriebene Stück Papier reichte er Red Ned und nickte diesem aufmunternd zu.

»Hier, Mr Ned. Bringen Sie diese Nachricht so schnell es geht zu Inspector Gregson vom Yard. Ich habe alle relevanten Einzelheiten hinsichtlich einer gesicherten Festnahme Mr Baos niedergeschrieben. Gregson wird zwei Dutzend Bobbys schicken, die etwaige Probleme hier im Keim ersticken, sodass der blutige Schatten ohne weitere Umschweife arretiert werden kann. Was dann natürlich Ihr Verdienst sein wird. Egal was Ms van Deesz oder Mr Edwards sagen. Weshalb am Ende auch Ihnen allein, Mr Ned, das Kopfgeld zustehen dürfte.«

Diese Aussicht brachte den Zuhälter dazu, seinen Griff um den Hals des Arztes zumindest ein wenig zu lockern. »Kopfgeld also. Nun gut. Und wie viel wär’ das genau?«

»Meines Wissens dürfte es gegenwärtig bei zehn Pfund Sterling liegen. Was Ihre Verluste mehr als kompensieren dürfte. Ich bitte Sie, Mr Ned, tun Sie mir diesen Gefallen. Damit es hier drin nicht zu einem Blutbad kommt – und damit der Schlächter von Chengdu seine gerechte Strafe erhält!«

Mit eindringlichem Blick hielt der Mann mit den grauen Locken Red Ned den Zettel unter die Nase. Der Zuhälter schien noch unschlüssig. Bis er im Rücken des Alten den Boxer sah, der sich langsam im hinteren Teil des Schank­raums erhob.

Hastig riss Ned seinem Gegenüber das Papier aus der Hand. »Na gut. Aber wenn irgendetwas schiefgeht, Alterchen, dann find ich dich, brech dir alle deine Knochen und zünd dir deine Locken an, ist das klar?«

»Natürlich, Mr Ned. Was Ihr gutes Recht wäre. Aber denken Sie ernsthaft, dass ich es wagen würde, einen Mann Ihres Rufes über den Tisch ziehen zu wollen?«

»Wohl nicht«, murmelte der Zuhälter, ließ von seinem Opfer ab, stieg hastig darüber hinweg und verließ den Fighting Cock mit wehenden Rockschößen durch die Hintertür.

Der Doktor atmete tief durch und nickte dem alten Mann dankbar zu. »Ich … ich darf Sie meiner außerordentlichen Verbundenheit versichern, Sir. Und meinen größten Res­pekt für diese List mit dem Boxer. Ihnen war vermutlich klar, dass ich diesen Mann nicht kenne.«

»Natürlich. Wobei es freilich ein Glücksfall war, dass er derart unruhig auf seine Uhr sah.«

»Ein kühner Schachzug, mit Verlaub. Ich weiß ehrlich nicht, wo das ohne Ihr Einschreiten hingeführt hätte.«

»Nun, für gewöhnlich versenkt Shāngrén etwaige Opfer in den Tottenham-Sümpfen.«

»Dann ist das hier vermutlich die angenehmere Variante.«

»Vermutlich. Hier, nehmen Sie meine Hand.« Der Alte half dem Doktor auf und reichte ihm ein Taschentuch. Es hastig unter seine blutende Nase drückend, sagte der Doktor: »Und obwohl ein Scotch mir gerade vermutlich guttun würde, denke ich, dass es angesichts der von Ihnen so eindrücklich dargelegten Gesamtsituation womöglich besser wäre, wenn wir dieses Etablissement so zügig wie möglich verlassen. Bevor die Bobbys auftauchen und es ungemütlich wird.«

»Oh, ich möchte Ihnen da keinesfalls widersprechen.«

»Gut, dann lassen Sie uns also diesen Hort der Gottlosigkeit gemeinsam verlassen!« Entschlossen nickte der Doktor dem Alten zu, setzte seinen Hut auf und wies zum Ausgang.

Der Alte wackelte noch einmal zu dem Greisengrüppchen hinüber, warf dabei seufzend einen Blick auf den Titel der Times und zog seinen schweren Wollmantel von einer Stuhllehne, den er sich, bevor er Richtung Tür humpelte, über die Schultern legte.

Ihm auf dem Fuße folgte der junge Arzt, der sich im Beisein dieser gesetzlosen Meute sichtlich unwohl fühlte, sodass ihm, während er sich bei jedem Schritt vorsichtig umblickte, ein dünner Schweißfilm auf der Stirn glänzte. Und eben dieses Misstrauens wegen entging ihm auch nicht, dass der chinesische Hüne sich, kaum dass sie ihn passierten, erhob und sich ihnen anschloss.

Sie waren noch ein ganzes Stück von der Tür entfernt, als der Doktor dem vor ihm Gehenden mit zitternder Stimme zuraunte: »Sir, der … der blutige Schatten, der Schlächter von Chengdu, der dritte Finger der Roten Hand. Ich fürchte … er folgt uns.«

»Das will ich hoffen«, entgegnete der Alte knapp und rückte dabei seinen Hut zurecht.

Als der Doktor aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie der Chinese beiläufig in sein Gewand griff, zuckte er zusammen. Einzig der harte Griff des alten Mannes verhinderte, dass er auf der Suche nach Deckung hinter einen Tisch sprang.

Dann zwinkerte der Jude dem Arzt zu. »Er ist schließlich mein Diener.«

Da zog ihr Verfolger aus den Falten seines langen Gewandes einen Gehstock und reichte ihn unter den verwirrten Blicken ihres Begleiters dem Alten.

»Ihr … Ihr Diener? Der fürchterliche Bao Lhu?«

»Das eine ja. Das andere nein«, sagte der Jude und bewegte sich Richtung Tür. »Ach ja, der alte Mann dort hinten heißt weder Birdy Edwards noch ist er für Pinkerton tätig. Und bei der Ausbuchtung unter seinem Hemd handelt es sich um sein Hörrohr.« Er tippte sich, während er den Tresen passierte und der Schankmagd zulächelte, an den Hut und fügte lächelnd hinzu: »Was allerdings Hetty Cromwell angeht, bin ich mir gar nicht so sicher, ob sie in Wirklichkeit nicht doch eine Geheimagentin ist.« Mit diesen Worten erreichte er den Ausgang, wendete sich noch einmal dem Doktor zu und zuckte mit den Schultern. »Aber sei’s drum. Lassen Sie uns gehen, Mister … Mister …?«

»Doyle. Arthur Ignatius Conan Doyle.«

Energisch die ihm dargebotene Hand ergreifend, entgegnete der Alte: »Sehr erfreut, Mr Doyle. Mein Name ist Holmes. Shylock Holmes. Ach ja, und das ist mein Diener, Dr Wa’Tsun.«

KAPITEL 2

Es war etwa sechs Uhr morgens, als Jill Murray das unscheinbare weiße Blechschild passierte, auf dem in dünnen, schwarzen Buchstaben A. C. DOYLE M. D. geschrieben stand.

Als sie wenig später die kleine Hausarztpraxis im hinteren Teil des Elm Grove aufschloss, war sie ebenso müde wie übellaunig. Besagte Müdigkeit war auf eine Flasche Gin zurückzuführen, deren Leerung die Assistentin des Doktors bis in die frühen Morgenstunden beschäftigt hatte. Was für sie jedoch keineswegs ungewöhnlich und nicht zuletzt sogar der Grund für ihre Anstellung in der Praxis von Dr Doyle war, nachdem sie zuvor im St. James’ und davor auch im St. Mary’s ihre Stellung aus dem gleichen Grund verloren hatte. In beiden Krankenhäusern hatte man es – obwohl Ms Murray mit beinahe dreißig Jahren Trunkenheitserfahrung und der entsprechenden Gewöhnung vermutlich eine der zuverlässigsten Krankenschwestern mit Alkoholpro­blem war – vorgezogen, an ihrer statt jemand anderen einzustellen. Im Gegensatz zu Dr Doyle, für den das besagte Problem insoweit keines war, als dass Ms Murray ihm, um überhaupt eine Anstellung zu finden, bezüglich ihrer Gehaltsvorstellungen so weit entgegengekommen war, dass er sich eine Angestellte und diese sich ihren Gin leisten konnte.

Ihre Übellaunigkeit an diesem Morgen war nun darauf zurückzuführen, dass erwähnte Flasche die letzte ihrer Art gewesen war und die Zahlungsmoral des Doktors sich in Grenzen hielt. Seine Praxis lief nicht allzu gut. Genau genommen sogar so schlecht, dass Ms Murray ihrem Arbeitgeber unlängst den Vorschlag unterbreitet hatte, des Nachts vor den Gasthäusern der näheren Umgebung Stolperdrähte zu spannen oder rostige Nägel auszustreuen. Konstruktive Ansätze, die der Doktor jedoch nicht unterstützt hatte. Und obwohl Dr Doyle, als vermutlich einziger Arzt in Portsmouth, der sie zu beschäftigen bereit war, ihre aufrichtige Hochachtung genoss, hatte Ms Murray sich vorgenommen, bezüglich ihrer ausstehenden Bezahlung heute ein ernstes Wort mit ihm zu wechseln. Nachdem sie, wie jeden Morgen, das Gaslicht entzündet, dem Doktor seinen Tee gekocht und die Praxis vorbereitet hatte.

Dazu jedoch sollte es nicht kommen. Verlor Ms Murray doch an diesem Morgen, bevor sie überhaupt das Gas aufdrehen konnte, die Besinnung. Und zwar aufgrund eines äthergetränkten Tuches, welches ihr, kaum dass sie die Tür aufgesperrt und inmitten des Raumes auf der Behandlungsliege gleichsam verwundert wie entsetzt die reglosen Körper zweier Polizisten entdeckt hatte, auf Mund und Nase gepresst wurde.

Als schließlich Dr Doyle selbst seine Praxis wie üblich eine knappe Stunde später betrat, fragte er sich als Erstes, weshalb das Licht noch nicht brannte. Dann, weshalb sein Tee noch nicht auf dem Schreibtisch stand. Und zuletzt wunderte er sich über drei reglose, über Fußboden und Behandlungsliege verteilte Personen, von denen er zumindest eine kannte.

Im Gegensatz zu seiner Angestellten bekam Doyle jedoch die Gelegenheit, angesichts dreier potenziell Verstorbener im Inneren seiner Praxisräume von einem angemessenen Maß an Verzweiflung ergriffen zu werden. Dann aber meinte er, vage einen scharfen, unangenehmen Geruch wahrzunehmen. Er schloss die Augen und sog die Luft durch die Nase tief ein.

Im gleichen Moment ertönte aus dem Dunkel eine Stimme. »Ganz richtig. Was Sie da riechen, ist Äther, Dr Doyle. Die Herrschaften sind am Leben. Alle drei. Ms Murray ebenso wie Constable Hardwicke und Sergeant Brett. Wobei letztere sich, wenn sie aufwachen, vermutlich etwas wundern werden …«

Der Angesprochene stutzte. Die Stimme kam ihm eigentümlich bekannt vor. Doyle drehte den Kopf, suchte nach ihrem Ursprung und konnte schließlich einen im Halbdunkel sitzenden Schatten ausmachen, hinter dem sich ein zweiter, ungleich größerer erhob. »Ah, Mr Holmes. Sie sind es.« Er versuchte zu lächeln. Das Ergebnis war nicht überzeugend.

»Wundervoll, Dr Doyle. Sie erinnern sich. Das macht die Sache um einiges einfacher.«

»Wie könnte ich diese Nacht je vergessen? Sie haben mir schließlich das Leben gerettet.«

»Famos! Wenn wir das nicht diskutieren müssen, ist schon einiges getan.« Begeistert klatschte der Alte in die Hände.

Betont beiläufig drehte Doyle die Gashähne auf und entzündete bedächtig die Lampen. Als er sich wieder Holmes und seinem Diener zuwandte, erschrak er. Aus dem Gesicht des Alten, der in der Ecke des Raumes in einem Sessel saß, ragte ein halbes Dutzend metallener Nadeln, auf deren Köpfen kleine Totenschädel prangten. Holmes’ hagerer Diener stand mit stoischer Miene hinter ihm.

Das Entsetzen in den Augen seines Gegenübers bemerkend, winkte Holmes hastig ab. »Keine Sorge. Das hat alles seine Richtigkeit. Akupunktur. Stimulation tieferliegender Nerven. Ich für meinen Teil habe ein wenig darüber gelesen, aber mein Diener kennt sich damit ernsthaft aus. Mithilfe dieser Nadeln vermochte ich beispielsweise die vergangenen beiden Nächte komplett durchzuarbeiten. Genau genommen habe ich selbst in der Droschke, in der wir heute Nacht aus London kamen, gearbeitet.« Holmes nickte seinem Diener knapp zu, woraufhin dieser begann, die Nadeln, eine nach der anderen, aus seinem Gesicht zu ziehen.

Doyle schauderte, als er bemerkte, wie tief sie steckten. »Ah. Alternative Medizin, also. Gut. Sehr gut.« Er machte einen Schritt nach vorn, nahm seinen ganzen Mut zusammen und versuchte im nächsten Moment höflich und energisch zugleich zu klingen. »Aber seien Sie doch bitte so freundlich und verraten mir, was Sie und Ihren Diener in meine Praxis bringt, Mr Holmes. Darüber hinaus wäre ich Ihnen freilich auch sehr verbunden, wenn Sie mir erklären könnten, welche Rolle diese beiden bewusstlosen Polizisten und meine Krankenschwester dabei spielen.« Die angestrebte Mischung aus Höflichkeit und Nachdrücklichkeit misslang Doyle dermaßen, dass Holmes’ Diener sich, kaum dass er die letzte Nadel unter der Braue seines Herrn herausgezogen hatte, mit grimmen Blick zu seiner vollen Größe aufrichtete. Doyle fuhr zusammen. Holmes aber bedeutete seinem Diener, Ruhe zu bewahren.

»Natürlich«, sagte er in versöhnlichem Ton. »Aber alles zu seiner Zeit, Dr Doyle. Zunächst einmal müssen wir uns über einen Preis unterhalten. Den Preis für Ihre Rettung.«

»Oh. Ich … ich ahnte nicht, dass Sie dafür etwas aufrufen würden. Was mir aber im Nachhinein natürlich durchaus legitim erscheint.«

»Es geht nicht um etwas, dass ich aufrufe, Dr Doyle. Aber ich musste schlussendlich den Wirt des Gasthauses, in dem man Sie vor wenigen Tagen beinahe ums Leben brachte, entschädigen. Weil Red Ned, der inzwischen im Tower einsitzt, bei ihm nun wohl ein gutes Jahr nicht mehr verkehren wird. Was für Herrn Shāngrén einen Verlust von vier Drinks und drei Zimmermieten pro Abend bedeutet. Er hat mir das Ganze sehr genau aufgerechnet und ist da bedauerlicherweise sehr kleinlich. Besagte Schuld habe ich mir übrigens in bar zu begleichen erlaubt.«

»Ein Jahr, jeden … Abend?«

»Abzüglich der Sonntage. Ein Rest Anstand, den Ned sich bewahrt hat.«

»Aber das … das muss …«

»Durchaus, Dr Doyle. Es handelt sich dabei um eine Summe, die Sie im Rahmen der gegenwärtigen Auslastung Ihrer Praxis nicht aufzubringen vermöchten. Selbst Ihre Ersparnisse würden, mit Verlaub, dafür nicht ausreichen.«

»Wie? Woher wissen Sie …«

»Ich habe mir erlaubt, bezüglich Ihrer Person ein wenig zu recherchieren. Weil derlei von Vorteil ist, wenn man im Begriff steht, Geschäfte miteinander zu machen.«

»Geschäfte? Ich wüsste nicht, was Sie von mir –«

»Ihre Dienste, Doktor. Außerhalb Ihrer Sprechzeiten. Nur ab und an. Von Zeit zu Zeit.«

»Hören Sie, Mr Holmes, wenn das irgendetwas Illegales ist, dann –«

»Nicht illegal. Allerdings auch nicht ganz legal. Wissen Sie, ich verfüge über ein kleines Netzwerk. Informanten, die mich über alles auf dem Laufenden halten, was in London Wichtiges vonstattengeht. Leute, auf die niemand achtet, die in den Straßen kaum auffallen.«

»Ach?«

»Mehr müssen Sie nicht wissen. Vielleicht nur so viel: Es handelt sich durchgehend um ältere Herrschaften mit entsprechenden Gebrechen, die oftmals nicht über die erforderlichen Mittel für etwaige medizinische Behandlungen verfügen. Überwiegend Brillenträger gesetzteren Alters. Wir nennen sie die Bakerstreet Binoculars.«

»Oh.«

»Ja. Bei Ihrer künftigen Tätigkeit wird es in der Regel eher um geriatrische Medizin als um Schussverletzungen gehen.«

»In der … Regel?«

»Nun, ich möchte nichts ausschließen.«

»Und wie lange, denken Sie –«

»Ich würde sagen, bis Red Ned draußen ist und sein Geld wieder im Fighting Cock lässt. Das schiene mir fair.«

»Gibt es da … Verhandlungsspielraum?«

»Ich fürchte, nein, Dr Doyle. Ich bin gegenwärtig bedauerlicherweise ein wenig unter Druck und würde einige Dinge gern schnellstmöglich geregelt wissen. Ich nehme an, Sie haben die gestrige Times gelesen?« Holmes deutete auf die Zeitung, die unweit von ihm auf dem Schreibtisch lag.

Der Angesprochene nickte und errötete leicht. »Natürlich. Darum hatte ich auch nicht mit Ihnen gerechnet. Ich hätte eher vermutet, dass Sie und Ihr Diener untergetaucht sind.«

Der Alte lächelte. »Konfuzius sagt: Er, der die Traube flieht, wird den Wein nicht schmecken.«

Sein Diener verdrehte die Augen.

Doyle runzelte die Stirn. »Ich … ich verstehe nicht recht, was die aktuelle Schlagzeile der Times mit Trauben oder Wein …?«

»Lassen Sie das meine Sorge sein.« Umständlich fingerte Holmes eine seiner drei Taschenuhren hervor und warf einen flüchtigen Blick darauf. »Wir haben für so etwas keine Zeit. Zumal ich noch ein zweites Anliegen habe, das wir klären sollten, bevor ich zurück nach London muss.«

Doyle deutete kopfschüttelnd auf die Titelseite der Times. »Zurück? Nach London? Jetzt? Sind Sie verrückt?«