Die Wahrhaftigen - Helena Wagenschütz - E-Book

Die Wahrhaftigen E-Book

Helena Wagenschütz

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Beschreibung

Was tun, wenn man feststellt, dass der eigene Mann einer verfeindeten Organisation angehört? Mit dieser Frage sieht sich die Wissenschaftlerin Rabea Winterfeldt plötzlich konfrontiert. In der postpandemischen Gesellschaft im Jahre 2041, in der nur ein kleiner Teil der Menschheit die tödliche Mutation des Coronavirus überlebt hat, wacht ein Geheimbund von Wissenschaftler:innen, dem Rabea angehört, repressiv über die Sicherheit der Bürger:innen. Diese Organisation befindet sich im Untergrundkrieg mit einem Künstler:innenkollektiv, das sich für uneingeschränkte Freiheit des Individuums einsetzt. Rabeas Mann Leonidas, ein langjähriges Mitglied dieses Kollektivs, hat sie offenbar nur geheiratet, um den Geheimbund auszuspähen. Rabea muss in kürzester Zeit eine Entscheidung über Leben und Tod treffen.

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Helena Wagenschütz

Die Wahrhaftigen

Urban Fantasy

Wagenschütz, Helena: Die Wahrhaftigen. Hamburg, Lindwurm ­Verlag 2022

Originalausgabe

EPUB-ISBN: 978-3-948695-78-1

PDF-ISBN: 978-3-948695-79-8

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-948695-66-8

Lektorat: Andreas Barth, Oldenburg

Korrektorat: Sabrina Hirsch, Ober-Ramstadt

Satz: Katharina Breu, Lindwurm Verlag

Umschlaggestaltung: © Julia Röck, Guter Punkt München

Umschlagmotive: Menschen: AdobeStock_224489718, © melita / AdobeStock; Struktur: GettyImages-978795804, © Peddalanka Ramesh Babu / iStock / Getty Images Plus

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Lindwurm Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

_______________________________

© Lindwurm Verlag, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.lindwurm-verlag.de

Für …

alle, die weiterhin miteinander reden.

alle, die sich vorbehaltlos für andere einsetzen.

die Wissenschaftler:innen & Künstler:innen der Jetztzeit.

… und natürlich für dich. Du hast dich hier und heute für dieses Buch als Lesestoff entschieden, und ich hoffe sehr, du und die Wahrhaftigen, ihr habt eine gute Zeit miteinander!

Vielleicht ist die Versöhnung der Gegensätze noch nicht möglich, aber man kann jeden Tag versuchen, den Respekt voreinander (neu)zu entdecken.

P.S.: Menschen aller geschlechtlichen Identitäten sind hier willkommen und gemeint.

Inhalt

„1“

„2“

„3“

„4“

„5“

„6“

„7“

„8“

„9“

„10“

„11“

„12“

„Epilog“

„Glossar“

„Danksagung“

„Die Autorin“

1

Rabea

Ich sitze in meinem Zimmer. Mein Atem geht schnell, die Gedanken rasen, und Angst hat meinen Körper fast vollständig geflutet. Schließlich ist es die Herzchentasse auf dem Fensterbrett, die meinen Blick auf sich zieht und mich kurz auf einen Punkt fokussiert. Sie erzählt mir von einer anderen Zeit, einer, die längst vergangen ist.

Diese Zeit liegt genau dreißig Minuten zurück.

Die Tasse ist geschmückt mit großen und kleinen Herzchen, die, um extra-kreativ zu wirken, unregelmäßig geformt sind.

Alles ist jetzt anders.

Meine Gedanken wandern, bleiben nirgendwo hängen. Die Kerze auf meinem Schreibtisch knistert. Ich kann das Ausmaß der Veränderung noch nicht erfassen. Seit ich weiß, dass mein Mann, dass er … ich kann es nicht zu Ende denken. Noch nicht. Ich werde die Ratio anwenden, um sicherzugehen, um den letzten Rest eines Irrtums auszuschließen.

Aber eines steht fest – ich muss schnell handeln. Es ist schwer, so schwer, alleine hier sitzen zu bleiben und nicht jemanden anzufunken, mir Hilfe von außen zu holen. Am liebsten möchte ich mir die Ohren zuhalten, weglaufen oder einfach Radio hören. Aber ich muss es hinter mich bringen. Ich muss diese grauenvolle Erkenntnis noch einmal ganz ruhig, ganz sachlich überprüfen. Und dann werde ich mich das erste Mal nach neunzehn Jahren fragen müssen, wer ich eigentlich bin und was ich bereit sein werde, zu tun. Ich darf vor nichts zurückschrecken. Muss handeln.

Er ist einer von ihnen.

Die Erkenntnis hat mich getroffen wie eine riesige Welle, wie ein kalter Schlag. Immer noch fühle ich das Entsetzen, das mich vor einunddreißig Minuten ergriffen hat, in voller Intensität.

Er weiß nicht, dass ich ihn enttarnt habe. Er weiß nicht, dass ich handeln werde.

Trotzdem, ich werde es zuvor noch ein letztes Mal überprüfen. Ich öffne eine der Dateien, die niemand außer mir öffnen kann, deren besondere Schutzvorkehrungen noch nicht einmal ein Mitglied der Scientia Vera kennt. Eine brandneue Entwicklung von mir. Ich habe das Wissen um diese Erfindung mit niemandem geteilt. Denn auch ich habe Geheimnisse. Selten war ich über meinen immer wieder aufflackernden Ungehorsam so froh wie jetzt.

Vielleicht habe ich ja das, was mir gerade passiert, verdient. Eine Strafe für meinen Ungehorsam.

Schluss jetzt.

Ich nutze jetzt bewusst die induktive Methode, mit der ich selten und sehr ungern arbeite, und ich wähle die Widerlegung als den Weg der Beweisführung. Ich definiere H1 und H0. So kann ich sicherstellen, dass ich nicht aufgrund meiner Routine etwas übersehe, unsauber arbeite, unbewusst etwas vorwegnehme. Solange mein Geist zu tun hat, muss ich nicht fühlen.

Ich habe mich in dieser veränderten Welt doch so gut eingerichtet, konnte mich bis jetzt anpassen. Seit vor neunzehn Jahren alles, was bis dahin galt, endete.

Damals war ich zweiundzwanzig, hatte mein Studium begonnen.

So viel ist seitdem geschehen.

Ich habe überlebt. Das zuallererst. Dann haben sie mich gefunden, und ich bin seitdem ein loyales Mitglied. Ich habe vielen Menschen den Weg der Cogitatio Vera weisen können. Ich habe auch zwei Liquidierungen vornehmen müssen, was ironischerweise für meine Beförderung in die oberste Entscheidungsebene gesorgt hat. Keine meiner noch so guten wissenschaftlichen Arbeiten hat das vermocht.

Außerdem habe ich Leonidas kennengelernt. Wir sind seit fünf Jahren verheiratet, und ich habe es nicht gemerkt.

Seit fünf Jahren.

Er hat bei der letzten Liquidierung geholfen. Das war eine Künstlerin. Er hat eine von seiner eigenen Truppe …

Ich will nicht denken. Möglicherweise irre ich mich ja doch, und es gelingt mir, den Gegenbeweis zu erbringen. Vielleicht ist mir ja nur ein logischer Fehler unterlaufen. Es kann nicht anders sein. Ich wähle das geeignete statistische Prüfverfahren. Dann mache ich die Übungen und entscheide mich zusätzlich für die physiologische Überwachung. Erstaunlicherweise sind alle Parameter im Toleranzbereich. Ich kann also beginnen.

Leonidas

Verdammt! Sie weiß es! Wie immer um diese Uhrzeit habe ich sie durch den Spiegeltunnel observiert. Gut verborgen in unserem Hochzeitsbild hat er mir schon so viele wichtige Informationen geliefert. Lautsensibel und mit der Lupen-Technik ausgestattet, habe ich nahezu jeden Winkel ihres Zimmers im Blick, doch jetzt hätte er mir nichts genützt. Verraten hat sie ihr Füller, den ich mit dem Speculator Stilographii verwanzt habe.

Ja, ich bin tatsächlich richtig gut. Immerhin habe ich ihn geschaffen, er ist das einzige Instrument seiner Art. Wäre ich wirklich ein Wissenschaftler, ich könnte jetzt bald ganz oben mitspielen. Aber ich bin der Feind. Es spricht für sie, dass sie sich noch mal an eine Prüfung macht. Das war schon immer ihre Stärke. Sich nicht von Gefühlen lenken zu lassen, sondern immer konsequent der Methode der Ratio zu folgen.

Ich werde sie töten. Jetzt. Es ist das Richtige. Ich kann denken wie ein Wissenschaftler, ich kann fühlen wie ein Wissenschaftler, und jetzt werde ich auch handeln wie einer.

Ich nehme das Kuscheltier, das Rabea mir an unserem ersten Hochzeitstag geschenkt hat. Es ist ein kleiner, flauschiger Hase. Mit dem scharfen Obstmesser schlitze ich dem Hasen den Bauch auf. Die Wolle quillt heraus, und ich pelle den Sprengsatz aus der Füllung. Dieser kleine Todbringer wartet seit jenem Tag auf seinen Einsatz.

Jetzt den Sender auf Aktivierung schalten.

Ihr Tod wird die Organisation empfindlich treffen, und vielleicht können wir danach endlich mit Phase zwei beginnen. Ich habe fast alle Informationen, die wir brauchen. Wenn ich das hinkriege, werde ich vielleicht Kommandant.

Er wird stolz auf mich sein.

Ich schaue nochmals in den Spiegel. Da sitzt sie. Ich sehe in ihr schmales, hoch konzentriertes Gesicht … und plötzlich finde ich es schön. Das ist es zwar nach den üblichen Maßstäben definitiv nicht, aber … ich kann nicht gehen. Ich bleibe einfach sitzen, mit der Zündung in der Hand. Schaue ihr ins Gesicht, während sie, ganz Wissenschaftlerin, alle Indizien gewissenhaft prüft. Sie hat sich sogar zur eigenen Überwachung an die Machina Custodis angeschlossen. Als wenn das irgendetwas helfen würde. Sie atmet ruhig und gleichmäßig. Über eine Stunde sitze ich schon da und schaue, ignoriere die Todesgefahr.

Plötzlich beginnt die Machina zu vibrieren, um dann einen Alarmton auszusenden. Die physiologischen Parameter für Stress sind dramatisch angestiegen. Hätte die Machina es nicht schon angekündigt, so hätten es ihre Augen verraten – die Überprüfung ist abgeschlossen. Das Ergebnis hat sich logischerweise nicht verändert.

Wenn ich jetzt schnell mache, kann ich noch den Sprengsatz schleudern und dann durch eines der Portale fliehen. Es gibt mehrere solcher Notausgänge in dieser Stadt, und einer ist ganz nah.

Da höre ich sie flüstern. »Nein, nein, nein!«, und dann sehe ich etwas, das ich in den fünf Jahren noch nie gesehen habe – ich sehe, wie eine Träne ihre Wange herabrollt. Sie bleibt wie eine Unanständigkeit auf dem schimmernden Grau der Tastatur des Laptops liegen. Ich sitze da und atme.

Dann gibt Rabea die Tastenkombination für »alles restlos löschen« ein.

Die Anspannung, unter der ich gestanden habe, bricht sich Bahn. Ich flenne, heule Rotz und Wasser. Ich will zu ihr, nur zu ihr, ich werde sie küssen und ihr alles sagen.

Schnell noch den Sender deaktivieren.

Ich öffne die Tür, laufe über den dunklen Flur und klopfe ungeduldig an ihre Zimmertür. »Rabea, Liebes, lass mich rein!«

Sie öffnet. Ich öffne den Mund, um ihr alles zu sagen, aber dann sehe ich diesen Blick. Und ich weiß sofort, dass es keine Sache ist, die ich mit einem Gespräch aus der Welt schaffen kann. Wie sollte das überhaupt aussehen? »Rabea, meine Süße, wie du ja eben festgestellt hast, bin ich ein Spion von Pallas Athene. Ach ja, und ich beobachte dich seit dem Tag, an dem wir geheiratet haben, per Spiegeltunnel. Ja, der befindet sich in unserem Hochzeitsfoto, aber das macht doch nichts. Jetzt weiß ich ja, dass du auf meiner Seite bist, und immerhin, das spricht für mich, habe ich dich eben nicht liquidiert …«

Selten war ich so froh über meine Ausbildung wie jetzt. Schließlich bin ich von Natur aus alles, was diese neue Gesellschaft so verabscheut: gefühlvoll, impulsiv – und manchmal etwas verrückt. Meine Ausbildung aber hilft mir, diese Eigenschaften nach Bedarf effizient zu unterdrücken.

Voller Trauer blicke ich sie an, meine Frau, die ich nach fünf Jahren das erste Mal wirklich sehe.

Sie starrt mich ausdruckslos an. Hoffentlich habe ich meine Mimik im Griff. Jetzt muss ich schnell improvisieren.

»Wollen wir heute essen gehen? Das würde dir guttun, glaube ich, du arbeitest in letzter Zeit so viel.« Ich komme nicht umhin, eine gewisse Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht zu bemerken.

Wir gehen nie essen. Wir machen nie etwas miteinander. Mist. Meine Fähigkeit zu einer guten Impro scheint eingerostet zu sein. Was für ein saudummer Gedanke in meiner jetzigen Position. Ich bin schließlich ein Verräter, ein Spion, ein Gefährder, und da frage ich sie gemütlich, ob wir essen gehen wollen! Ich weiß nicht, was ich tun soll, und die Angst kriecht in mir hoch.

»Warum nicht?«, sagt sie plötzlich, und ich schrecke zusammen. Ich meide ihren Blick und beginne zu faseln, über die Vorzüge dieses oder jenes Restaurants.

»Wir gehen ins Velvet«, bestimmt sie knapp.

Ist das ihr Ernst? Das Lokal steht immer kurz vor der Schließung, da es als potenzieller Treffpunkt von Regierungsgegnern gilt. Denn jenseits der gesellschaftlichen Säuberung gibt es natürlich andere Themen, gegen die auch die normalen Menschen protestieren wollen. Diese Menschen, die von unserem Untergrundkrieg nichts wissen. Das Populus Inscius. Wie gerne wäre ich jetzt einer von ihnen. Außerdem, und das ist viel schlimmer, ist das Velvet der geheime Sitz unserer Abteilung zur Anwerbung neuer Mitglieder, doch das kann sie nicht wissen.

Warum will Rabea ausgerechnet dorthin? Ist das ein Test? Aber wenn ja, was für einer? Vielleicht lauert dort jemand aus der Einsatztruppe, und sie kann mich schnell und bequem aus der Welt schaffen, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Aber warum sollte sie dann alles gelöscht haben, denn ohne Beweis darf man niemanden vor das Iudicium bringen. Ich fürchte, ich habe keine Wahl – ich muss mitspielen.

»Warum willst du gerade in diesen heruntergekommenen Laden?«, frage ich betont beiläufig.

»Dort können wir Arbeit und Vergnügen verbinden.« Sie lächelt, scheinbar neutral, doch in ihren Augen blitzt es.

Oh nein. Sie will mich dazu bringen, vor ihren Augen Leute umzudrehen, will vermutlich wissen, wie weit ich gehe. Verdammt, die Situation ist völlig unmöglich und saugefährlich. Aber es hilft nichts. Ich muss ruhig bleiben. Daher sage ich: »Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee.«

Rabea

Ich sehe ihn an. Er hat seine Mimik wirklich perfekt im Griff. Wie kann ein verdammter Künstler sich nur dermaßen im Griff haben? Er ist definitiv besser als viele von unseren Leuten. Ich muss mich vorsehen. Als er an meiner Tür geklopft hat, dachte ich, jetzt ist es aus mit mir. Jetzt kommt er, um mich endgültig zu beseitigen. Dennoch habe ich aufgemacht. Seit ich den zweiten Versuch durchgeführt habe, ist etwas mit mir geschehen, etwas, das mein Urteils- und Handlungsvermögen vollkommen durcheinandergebracht hat. Aber damit ist nun Schluss. Ich will wissen, was sich noch alles hinter seinem süßen Gesicht verbirgt. Was ist ihm wirklich wichtig?

Wird er, um nicht enttarnt zu werden, bis zum Äußersten gehen? Ich weiß, das muss man als Agent der Gegenseite, aber ich will es sehen. Ich will dabei sein und ihm in die Augen sehen, wissen, was oder wen er opfern wird.

Ich bin völlig verrückt.

Warum mache ich das hier? Warum habe ich die Dateien gelöscht? Warum bringe ich mich in Lebensgefahr?

Ein völlig unprofessionelles Vorgehen mit ungewissem Ausgang. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht diesen Mann, mit dem ich so lange und auf diese besondere Weise zusammen bin, ausliefern. Obwohl er mich belogen und benutzt hat. Ich glaube, ich will verstehen. Vielleicht will ich auch nur die Bestrafung in die eigenen Hände nehmen, ihn sich winden lassen, sein Gewissen mit schrecklichen Taten beflecken, um ihn dann genussvoll auszuliefern. In dem Moment, in dem er sich am sichersten fühlt. Wenn er mir aber zuvorkommt … doch das ist mir gerade egal.

Alles erscheint mir plötzlich so bedeutungslos. Ich bin wie betäubt, fühle mich fremd in meinem Körper. Er geht stumm neben mir, nachdem wir uns beide herausgeputzt haben, als ginge es zu einem Kongress-Essen. Auch wenn er sich im Griff hat, ich fühle seine Angst. Seine Angst vor mir, vor dem, was ich vorhabe. Es tut seltsam gut, sie zu spüren. Ich bin nicht mehr berechenbar. Seine Angst erlöst mich aus dem Gefühl der Schande. Der Schande, ein leichtes Opfer gewesen zu sein, eine Betrogene, eine übertölpelte dumme Gans. Dass ich es nicht gemerkt habe. Sie werden über mich lachen. Viele warten schon lange darauf, dass ich einen Fehler mache.

Ich würde ihm gerne körperlich wehtun.

Seine Schönheit, in die ich mich verguckt habe, der Anblick seiner schwarzen Locken und funkelnden Augen schneidet in mich hinein.

Er bedeutet mir etwas, und das nicht nur bezogen auf mein Amt. Das weiß ich erst jetzt, als ich spüre, wie es mich zerreißt. Wie konnte das geschehen, in dieser so sicheren Form unseres Zusammenlebens? Ich möchte ihn auf offener Straße anschreien, ihn ohrfeigen und vor allem nach dem Warum fragen. Warum ich?

Leonidas

Ich gehe neben ihr und fürchte mich, wie ich mich noch nie gefürchtet habe. Dabei habe ich sowohl meine Todessichel als auch die Betäubungsspritze in der Tasche, sodass ich jederzeit entweder einen harten oder einen sanften Exit wählen kann. Nur – was hat sie dabei? Sie wird kaum ohne was losgegangen sein. Ich bedaure, die Observationsmechanik nur auf ihr Arbeitszimmer beschränkt zu haben, aber es war damals sicherer so. Verdammt! Mir erscheint plötzlich alles so sinnlos. Denn ich verstehe sie ja, die Wissenschaftler. Ich habe schließlich zwangsweise lange genug als einer von ihnen gelebt, und die meisten von ihnen glauben wirklich, ohne sie wäre die Gesellschaft komplett aufgeschmissen. Sie wollen die Menschheit davor bewahren, dass es wieder Zustände wie in den 2020er-Jahren geben könnte. Das verstehe ich. Die beschissenen Zwanziger, in denen aufgrund von Menschen, die sich nur noch von Gefühlen und Verschwörungsangst leiten ließen, die ganze Zivilisation zusammenbrach. Denn ohne die Fähigkeit, langfristig und kontrolliert zu denken, wird eben nur der Augenblick gelebt, und dann …

Am Ende war alles nur noch Geschrei und Einfordern von irgendwelchen Rechten, die sie glaubten zu haben. Wie unfrei waren sie darin, ihre vermeintliche Freiheit zu leben. Die erzwungenen Lockerungen, der Aufruhr, die Zusammenkünfte, das Feiern, als gäbe es kein Morgen mehr. Der Irrglaube, es beträfe nur die Alten und Kranken, und eben ein paar, die zufällig Pech hatten.

Dann kam die letzte Mutation. Die zunächst niemand ernst nahm, denn das Virus war ja zuvor auch schon mutiert, und es war scheinbar nicht wirklich etwas passiert (abgesehen davon, was so in den Krankenhäusern abging, aber das interessierte ja niemanden von den Schreihälsen).

Ab dem Zeitpunkt haben sich mit tödlicher Präzision alle Vorhersagen der Wissenschaftler erfüllt, die verzweifelt versucht hatten, gegen den Ausbruch der kompletten Unvernunft anzuschreiben, zu reden, zu publizieren.

So hat das Virus kostbare, wertvolle Eigenschaften wie Spontanität, den Wunsch nach dem eigenen, freien Willen, nach Rebellion und sich-ausdrücken-wollen in den Dreck gezogen. Denn diese Eigenschaften haben die tödliche Wende herbeigeführt. Ja, Herrgott, ich weiß.

Ich weiß auch, dass unsere Unfähigkeit, langfristig denken und handeln zu können, uns außerdem beinahe in die Klimakatastrophe gestürzt hätte. Immerhin, das Thema hat sich erst mal auf lange Zeit erledigt. Kann man natürlich auch so sehen – die eine Katastrophe hat uns vor der anderen bewahrt. Prima.

Aber deswegen diese an sich wertvollen Eigenschaften komplett auslöschen? Oder im Zweifelsfall auch gleich ihre Träger?

Spontanität, Impulsivität und Irrationalität. Sie haben in der Geschichte der Menschheit so viel Wichtiges und Schönes in Gang gesetzt. Allerdings, ich gebe zu, dass ich einen derjenigen, der diese Eigenschaften damals bis zum Erbrechen vorführte, auch gerne ausgelöscht hätte. Er hat mit seiner Politik dem Virus eine prima Party bereitet. Nach seiner Wahlniederlage hat er alles mit sich in den Abgrund gerissen, denn der Sturm auf das Kapitol war das Ereignis, das die neue Mutation erst richtig angefacht hat. Aber ich will nicht mehr daran denken.

Die Wissenschaftler sehen einfach nicht, was es bedeutet, den Menschen diese heiklen, gefährlichen und doch so kostbaren Eigenschaften für immer zu nehmen. Sie führen alles Übel nur auf diese Eigenschaften zurück. Das ist viel zu kurz gedacht! Ja, verdammt. Keiner hier ist in der Lage, wirklich differenziert zu denken!

Rabea? Vielleicht. Gleichzeitig treibt sie im Namen der Wissenschaft Dinge, die mir das Blut gefrieren lassen. Ich bin echt bescheuert, sie nicht umgelegt zu haben. Irrational halt. Wie von einem Künstler nicht anders zu erwarten.

Sie geht neben mir, das Licht der Straßenlaternen lässt ihr Haar hell aufschimmern und umgibt sie mit einem kalten Glanz.

Wäre sie ohne die Katastrophe je mit mir zusammengekommen? Es gibt nur noch so wenig Menschen, als dass man da allzu wählerisch sein könnte. Ich hätte sie mir niemals selbst ausgesucht, glaube ich. Aber ich kann es wirklich nicht wissen, denn die Gelegenheit, um mich auszuprobieren, jemanden kennenzulernen, war viel zu schnell vorbei, hat nie richtig angefangen. Spätestens nach der Mutation des Virus war damit endgültig Schluss. Da war ich gerade einmal dreizehn Jahre. Dazu noch ein Spätentwickler. Bis heute habe ich mit keiner Frau geschlafen. Ob sie …?

Doch ich lasse mich ablenken. Jetzt geht es schließlich erst einmal nur darum, zu überleben, und da müssen die aktuellen Beziehungsfragen wohl etwas zurückstehen. Ich muss wachsam bleiben.

Rabea

Er sieht mich von der Seite an. Glaubt, ich merkte es nicht. Ob er überlegt, wie er angreifen soll? Wir gehen nah nebeneinander. Ich spüre seine Wärme.

Da leuchten schon die Lichter des Velvet auf. Ich kenne den Laden nicht besonders gut, auch wenn ich natürlich einen Schlüssel für dasCubiculum dort habe. Ich halte aber nichts davon, Menschen kurzerhand zu verschleppen wie ein hungriger Vampir. Ich empfinde dieses Zimmer, dieses ganze Vorgehen als eine äußerst fragwürdige Sache. Sicher, man hat eine exzellente Erfolgsquote, wenn man sich jemanden greift, der betrunken ist oder unter Drogen steht. Aber ist das fair?

Wer kontrolliert die Kontrolleure? Es ist, als wiederhole sich die Menschheitsgeschichte in nie enden wollenden Mustern aus Bosheit, Machthunger und Unterdrückung.

Ich werde anregen, dass wir in nächster Zeit die Probatio Conscientiae wiederholen. Oder lieber nicht – ich würde sie derzeit voraussichtlich nicht bestehen. Denn von was für einer Gesinnung zeugt es wohl, hier mit einem Hochverräter durch die Stadt zu spazieren und merkwürdige Spielchen zu spielen?

Endlich sind wir da. Leonidas öffnet die Tür, und eine Wolke aus Wärme, Feuchtigkeit und Lärm empfängt uns. Noch immer zucke ich zurück vor so viel gemeinsam geatmeter Luft. Es fühlt sich unrein an. Auch wenn das Virus für immer besiegt ist. Manchmal, wenn ich alleine bin, setze ich mir eine Maske auf. Das beruhigt mich. Die alten Atemschutzmasken geben mir Halt und Sicherheit. Erinnerung.

Da tritt uns ein Kellner entgegen, stellt sich uns regelrecht in den Weg. Abstand halten, verdammt noch mal.

»Haben Sie reserviert?«

Was denn sonst? »Ja, Tisch 17.«

»Ah, die Suite. Sehr wohl.«

Der junge Mann in der albernen viktorianischen Verkleidung mit seinem merkwürdigen, aus der Zeit gefallenen Möchtegern-Butler-Tonfall führt uns durch die Menschenmenge, zu einem Platz in der hintersten Ecke. »Wenn Sie sich bitte umkleiden würden …«

Ich merke, dass es etwas völlig anderes ist, einen Spezialraum in einem leeren Club gezeigt zu bekommen, als im Club selbst zu sein, wenn Hochbetrieb herrscht. Umkleiden? Aber zum Glück geht Leonidas vor. Er scheint sich im Gegensatz zu mir auszukennen. Hätte ich mir denken können. Nicht umsonst haben wir hier das Cubiculum Transformationis. Nur an wenigen Orten finden sich so viele Hostis auf einem Haufen, und da er ein Künstler ist, wird er sich vermutlich häufiger hier mit seinen Leuten treffen.

Meine Verwirrung legt sich schnell, denn es geht tatsächlich darum, sich in ein viktorianisches Kostüm zu zwängen. Ich weiß zu wenig über die Gepflogenheiten dieses Ladens, sonst würde ich mich gerne weigern. Eine Frau, im Zofenstil gekleidet, hilft mir, mich in dieses unfassbar unbequeme Untergewand zu schnüren, und ich bin mir sicher, dass sie das Mieder mit Absicht fester zurrt als notwendig. Mir rauscht das Blut in den Ohren. Ich mache heute einen Fehler nach dem anderen. Warum wurde ich damals nicht ordentlich eingewiesen? – Weil ich so etwas natürlich sonst nicht mache, und das wissen die anderen schließlich. Meine Arbeit ist am Schreibtisch, und wenn ich eine Transformatio durchführe, tue ich das nicht im Hinterzimmer einer Spelunke, sondern im Labor unter kontrollierten Bedingungen. Als ich endlich angekleidet bin, kann ich kaum atmen. Meine Schultern sind nackt, der Ausschnitt ist skandalös, und der Rock ein Ungetüm. Habe ich nicht irgendwo gelesen, dass ein so festes Schnüren zu der Zeit gar nicht üblich war? Leonidas hat es natürlich besser. Zylinder und Frack stehen ihm außerdem viel zu gut.

Endlich können wir an unseren Tisch gehen.

Leonidas

Ich merke sofort, dass sie ihre kalte Überlegenheit mit dem Klamottenwechsel eingebüßt hat. Was ich verstehen kann, denn ich vermute, dass es eine überwältigende Erfahrung sein muss, sich das erste Mal seit Jahrzehnten zu verkleiden, und dann auch noch gleich so. Dieses Kostüm ist das Gegenteil von Rabeas Kleidungsstil … und sie sieht wunderschön darin aus.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie noch nie hier war, zumindest nicht bei Nacht. Sie hat definitiv keine Ahnung. Ich glaube, die Erkenntnis, dass ich ein Künstler bin, hat sie konfuser gemacht, als ihr klar war. Sie hat sich mit dieser Aktion übernommen. Gott sei Dank. Ich werde gleich beim Bestellen meinen Vorteil nutzen. Der Absinth, der hier ausgeschenkt wird, ist, was seine Wirkung angeht, nah an seinem historischen Original. Vielleicht ist er ebenso gepanscht. Um also Repressalien zu umgehen, wird er unter einem Tarnnamen geführt und ist außerdem geschmacklich neutralisiert. Du denkst also, du trinkst einen feinen Fruchtsaft, und bämm!, haut es dich aus den Socken. Langsam fängt es an, Spaß zu machen. Fast tut sie mir ein bisschen leid.

»Ich habe einen dieser wunderbaren Fruchtsäfte bestellt«, erkläre ich ihr, als das Teufelszeug an unseren Tisch gebracht wird. Ich schiele vorsichtig zur Bedienung, ob von ihrer Seite aus die Enttarnung droht. Doch nein, sie scheint eher ihren Spaß daran zu haben. Was wahrscheinlich daran liegt, dass man Rabea die Wissenschaftlerin wirklich an der Nasenspitze ansieht. Dann spüre ich, wie sie, während sie den Absinth geschickt auf unserem winzigen Tischchen platziert, ihr Bein an meines drückt. Oh Mann. Ich habe keine Ahnung von diesen Dingen, und es bringt mich extrem aus dem Konzept. Der freche Übergriff hat dafür gesorgt, dass ich meinen Moment der Überlegenheit eingebüßt habe. Patt, würde ich sagen. Mist.

Rabea starrt mich undurchdringlich an. Ich merke, wie ich anfange zu schwitzen, die Kleidung hilft dabei auch nicht wirklich. Aus Reflex greife ich zum Absinth und trinke einen großen Schluck, was auch nicht gerade förderlich für Taktik und Coolness sein dürfte.

»Du scheinst häufiger hier zu sein. Erzähle doch mal ein bisschen von den Gepflogenheiten hier.«

Gut. Eine Aufgabe. Das hilft. »Was genau möchtest du wissen?«

»Wie funktioniert der Laden hier genau?«

Ich unterlasse es, sie darauf hinzuweisen, dass dieses Etablissement ihre Wahl war, und es daher ziemlich seltsam ist, dass sie sich offenbar so gar nicht auskennt.

Stattdessen antworte ich brav: »Da wären zunächst einmal die Veranstaltungen, die das Velvet selbst anbietet. Die Nacht der Geschichten zum Beispiel. Da gibt es den Vorleser, der sich auf einen Thron setzt und dort eine Geschichte zum Besten gibt. Es sind fast immer Märchen. Die Zuschauer haben die Gelegenheit, auf die Bühne zu kommen und die Figuren der Geschichte zu spielen. Meist gibt es dazu Musik, und man kann die Geschichte auch tanzen. Im Allgemeinen endet das Ganze mit furchtbar viel Alkohol und damit, dass sich Pärchen finden, die dann die Separees nutzen.«

Ich versuche, abschätzig zu klingen, und wäre doch so gerne dabei gewesen. Rabea starrt mich ausdruckslos an. Man kann nicht erkennen, was sie denkt.

»Und weiter?«

»Drogentauschringe. Die organisieren ihre Mottoveranstaltungen nach Wochentagen – der blaue Montag, der fliegende Dienstag, der manische Mittwoch …«

»Schon kapiert. Uninteressant. Weiter.«

»Dann gibt es noch die Versammlungen der ewig Unzufriedenen. Die versuchen, die Regierung zu stürzen.«

Rabea lächelt abschätzig. »Die interessieren ja nun wirklich niemanden! Was ist mit den Künstlern?«

Langsam werde ich wütend. Was soll das Ganze bloß? Wenn sie mich ausliefern will, soll sie es doch einfach tun. Am liebsten würde ich sie zur Rede stellen, einfach losschreien. Aber ich wäre nicht so weit gekommen, wenn ich nicht wüsste, wie ich mich zügeln kann. Ich atme tief durch und versuche herauszufinden, was die richtige Antwort sein könnte. Warum trinkt sie nichts, verdammt noch mal?

»Hattest du den Laden nicht vorgeschlagen? Ich dachte, du kennst dich aus, was die Künstler hier angeht?«

»Ich möchte dein offenkundiges Insiderwissen doch nicht ungenutzt lassen.«

Sie lächelt, während sie das sagt. Jeder, der sie nicht kennt, würde jetzt denken, sie sei ganz gelassen. Doch ich sehe ihre Anspannung, sie lässt ihr Gesicht zu glatt erscheinen. Wie aus Stein gehauen sieht sie in solchen Momenten aus.

»Rabea, ich erzähle dir gleich mehr. Aber können wir nicht erst mal unsere Getränke genießen?«

Rabea nippt an ihrem Getränk. Ein Schluck von der Größe, wie ihn etwa eine Spitzmaus zu sich nehmen würde. Sie nimmt meine Hand und schaut mir in die Augen. Ich erschauere; ich weiß, dass sie zum nächsten Schlag ausholt, dennoch genieße ich absurderweise die Berührung.

»Es wird Zeit für den nächsten Karriereschritt. Ich will, dass du heute eigenständig eine Transformatio durchführst. Vollversion. Du bist jetzt alt genug, und ich habe die Befugnis, dich anzuleiten. Ich habe vorgestern den Bescheid erhalten.«

Nicht umsonst habe ich meinen Geburtstag gefürchtet. Zweiunddreißig, das ist das Alter, ab dem man in der Organisation wirklich aufsteigen kann. Ich wusste natürlich davon. Aber bisher hat mir das keine Bauchschmerzen verursacht, denn schließlich wusste ich ja dank des Speculator Stilographii, was sie davon hält. Das aber scheint nun nicht mehr zu gelten.

Die Vollversion. Das bedeutet, dass ich eigenständig und voll verantwortlich mit einem bedauernswerten Gegenüber alles tun muss, was nötig ist, um ihn oder sie auf den Weg der Cogitatio Vera zu zwingen. Sollte sich die Zielperson als resistent erweisen, muss ich sie töten. Vor laufender Kamera, damit alles rechtens bleibt. Zuvor muss ich noch den Eid auf die Organisation schwören. Was eigentlich so was von absurd ist, aber auch die Verwendung dieses archaischen Rituals ist das Produkt wissenschaftlicher Überlegungen.

Warum haben diese gottverdammten Idioten von Pallas Athene mich nicht rechtzeitig abgezogen? Tja, ich fürchte, da fehlte dann wohl das wissenschaftliche Denken. Eine kühle, sachliche Vorausschau ist nun mal nicht deren Stärke.

Rabea hat mich nicht umsonst nach den Künstlern hier gefragt. Einen echten Künstler kann man nicht umdrehen, das weiß sie. Was hat sie vor, gottverdammt noch mal?

Rabea

Ha! Jetzt habe ich ihn. Ihm sind gerade eben, wenn auch nur kurz, sämtliche Gesichtszüge entgleist. So gut ist seine Ausbildung dann wohl doch nicht. Es nützt dir gar nichts, mein Lieber, dass du mich jetzt wieder anstrahlst. Ich habe die Angst in deinen Augen gesehen, und das tut einfach nur gut. Ich werde dich an den Rand der Verzweiflung bringen … du wirst lernen mich zu fürchten …

Was für ein unwürdiges Spiel treibe ich da eigentlich? Ich muss mich beruhigen. Atemzüge rückwärts zählen. Hilft.

Ich erinnere mich an etwas, das Professorin Ibori in ihrer Psychologievorlesung gesagt hat: dass echte Vergebung nur durch Sühne möglich sei. Nur mit einer angemessenen Vergeltung sei es möglich, weiterhin eine gute Beziehung zu jemandem zu pflegen, der einem ein Unrecht angetan hat.

Will ich weiter eine gute Beziehung zu Leonidas pflegen?

Auf jeden Fall werde ich diesen netten Test weiter fortführen. Sein Entsetzen vorhin hat mir eines gezeigt: Er ist offenbar doch nicht völlig abgebrüht, kalt und gewissenlos. Oder hat er nur Angst vor seiner eigenen Organisation? Was ist bei ihnen vorgesehen für solche Fälle? Alles durchziehen, um die Tarnung aufrecht zu halten? Selbstmord? Natürlich gibt es noch eine, viel naheliegendere Option. Daher kann ich es leider nicht bis zum Schluss durchziehen, es sei denn, ich liebäugele mit dem Tod. Trotz allem, was gewesen ist, stellt das für mich keine Option dar.

Oder doch? Soll ich es nicht einfach riskieren?

Ich will wissen, mit wem ich da eigentlich seit fünf Jahren zusammenlebe. Nach dem Gesetz bin ich schließlich nicht nur seine Frau, sondern, und das vor allem, seine Mentorin. Ich bin für ihn verantwortlich, für alles, was er tut. Für alles, was er denkt. Diese Verantwortung kann ich nur lösen, wenn er den Eid schwört.

Plötzlich merke ich, dass ich seine Hand immer noch halte. Schnell lasse ich sie los und mangels besserer Alternativen greife ich das Glas und stürze meinen Fruchtsaft herunter. Das tut gut.

»Wir reden später über die Details, erst einmal feiern wir deine baldige Beförderung! Kannst du noch so einen Saft bestellen?«

Leonidas winkt mit weltmännischer Nonchalance nach der Nervensäge von Kellnerin. Er scherzt mit ihr, doch er ist totenblass. Letzteres ist gut, Ersteres nicht. Ich will nicht, dass er mit ihr scherzt.

Als sie endlich weg ist, frage ich ihn: »Freust du dich? Wenn du deine Sache gut machst, kannst du einen eigenen Forschungsbereich bekommen. Das wolltest du doch immer.«

»Es ist eine unerwartete Ehre«, sagt er förmlich. Ich sehe, wie viel Kraft ihn jedes Wort kostet.

»Ja, nicht wahr? Ich habe mich extra für dich eingesetzt.« Ich strahle ihn an.

»Der erste Gang, Monsieur, Madame«, bohrt sich die Stimme der Kellnerin in mein Ohr. Eigentlich wäre sie die ideale Kandidatin. Sie stellt eine Platte mit Couscous, Nussbraten und Zuckerschoten auf den Tisch. Das Essen habe ich bei der Reservierung gleich mit bestellt.

Leonidas’ Augen weiten sich. Ich habe nie gewusst, was es für eine Lust sein kann, aktive Rache zu üben. Er muss Todesängste ausstehen. Gut so. Ich könnte mich daran gewöhnen.

Leonidas

Das muss ein Vermögen gekostet haben!

»Können wir uns das leisten?«, frage ich, und mir kommt plötzlich der beklemmende Gedanke, dass dies meine Henkersmahlzeit sein könnte.

»Zur Feier dieses Tages natürlich, mein Lieber! Sosehr ich deinen Forschungsbeitrag zur Ernährung der Bevölkerung schätze, heute darf es ein bisschen Luxus sein.«

Mein Beitrag zur Ernährung der Bevölkerung. Sie spielt auf mein Forschungsprojekt an, jenes, das mir überhaupt die Tür zum Orden der Scientia Vera geöffnet hat. In den chaotischen Jahren, als es um das nackte Überleben ging, als sich unsere Organisationen gerade erst formierten, gab es kein Konzept, wie der klägliche Rest der Menschheit, den das Virus übriggelassen hatte, sicher ernährt werden sollte. Jedenfalls keins, was schnell genug hätte umgesetzt werden können. Alle Überlebenden drängten sich viel zu eng in den Städten zusammen, sodass schon sehr früh die europäischen Stadtstaaten von heute entstanden, die von Spaßvögeln gern als »Polis 2.0« bezeichnet werden.

Als ich damals eines Tages hungrig und frierend mit den anderen von Pallas Athene um ein winziges Feuer hockte, träumte ich mich, wie schon so oft, in meine Kinderzeit zurück. Ich dachte ans Angeln, an meinen Onkel, und an den Köder für den Fisch; und diese sehnsüchtige Erinnerung hat dann das Nahrungsmittel hervorgebracht, mit dem unser aller Überleben gesichert wurde.

Es wird von allen nur Krott genannt, und es ist einfach widerlich. Daher denkt auch niemand daran, mich öffentlich auszuzeichnen, was sonst eigentlich üblich wäre bei Erfindungen solcher Tragweite. Ich kann es niemandem verdenken. Die Paste, die aus der von mir entwickelten Super-Madenrasse gewonnen wird, ist zwar ein toller Eiweißlieferant und hat, wie gesagt, unser Überleben gesichert, aber sie bleibt eben genau das: eine Paste, die aus wimmelnden, ekelhaften, grauen Maden hergestellt wird, von denen man genau weiß, dass sie alles fressen. Es ist nicht nötig, extra Futter für sie anzubauen, denn sie nehmen, was gerade da ist. Wir bräuchten eigentlich gar keine Friedhöfe mehr. Doch diese Möglichkeit der Futtergewinnung hat sich nicht durchgesetzt, denn auf meinen sehr vernünftigen Vorschlag, einfach die Toten zu verfüttern (von denen es zu der Zeit nun wirklich reichlich gab) reagierten alle plötzlich unerwartet zimperlich. Ich persönlich finde die Alternative, die stattdessen gewählt wurde, auch nicht wirklich besser. Doch daran denke ich jetzt lieber nicht, sonst wird mir schlecht. Das Gute an den Viechern ist, dass sie keine Schadstoffe in sich anreichern, was sie auch fressen. Das hinzubekommen, hat mich einiges an Gehirnschmalz gekostet.

Als ich an jenem bewussten Tag den anderen von Pallas Athene diese Idee erzählte, war mein Schicksal besiegelt. Schon lange hatten sie nach einer Möglichkeit gesucht, einen Spion beim Orden der Scientia Vera einzuschleusen. Es gab Gerüchte über unheimliche Vorkommnisse, die anders waren als die üblichen zu jenen Zeiten. Menschen verschwanden, und wenn sie wieder auftauchten, waren sie nicht mehr sie selbst. Es war, als hätte man ihnen einen Teil ihrer Seele gestohlen.

Ich wurde nicht gefragt, ob ich ein Leben als Spion beim Feind führen möchte. Unsere Organisation ist trotz ihres altgriechischen Namens nicht gerade für ihren demokratischen Führungsstil bekannt. Ich bekam die Grundausbildung und wurde, wann immer ich zweifelte, so lange mit Historien bestraft, bis ich gefügig wurde. Diese Erzählungen über die Gräueltaten der Wissenschaftler sorgten für furchtbare Albträume und halfen definitiv, die Motivation hochzuhalten.

Am 3. Februar 2034 wurde ich von einem Schleuser in den Orden eingeführt. Da war ich gerade einmal fünfundzwanzig.

Diese Erinnerung ist unerwartet schmerzhaft, denn mir wird klar, wie verdammt einsam ich seitdem bin. Ich habe mich jetzt kaum noch im Griff und bin kurz davor, loszuheulen. Vielleicht sollte ich einfach Schluss machen. Sonst muss ja jemand anders dran glauben. Wer bin ich denn, dass ich mehr Recht hätte zu leben als irgendein anderer? Ich bereue so sehr die Gründe, aus denen ich mit Rabea zusammengekommen bin. Gut, der Orden der Scientia ist auch nicht gerade für einen Hang zur Romantik bekannt, und unsere Ehe ist de facto so etwas wie ein Geschäftsvertrag. Muss ich mir also Vorwürfe machen?

Rabea ist meine Mentorin und damit auch meine Vorgesetzte, aber: Sie hat mich nie belogen …

Doch! Gerade eben! Rabea hasst die Vollversion. Sie wendet sie nie an, es sei denn, sie steht unter Beobachtung. So wie damals, als wir beide zusammen die Schwarze Witwe liquidieren mussten. Wie hat sie darunter gelitten! Gern hätte ich ihr erzählt, dass es in dem Fall nichts zu bedauern gab. Die elende Kreatur war zwar eine von uns, aber durch ihren Hang zu unnötigen Morden war sie untragbar geworden. Ich glaube, irgendwann hatte sie einfach jede Frau, die hübscher war als sie selbst, auf ihre Abschussliste gesetzt. Unsere Leute haben mir damals den Tipp gegeben. Ohne mich hätte Rabea sie niemals aufspüren können, doch das weiß sie nicht. Ziemlich ideal für Pallas – ein Problemfall weniger, und außerdem eine vertrauensbildende Maßnahme von meiner Seite aus, um den Feind in Sicherheit zu wiegen. Denn ich habe mich während der Prozedur wacker geschlagen. Nicht wenige verlieren die Nerven, wenn sie das erste Mal dabei sind.

Wie auch immer – das hier ist offenbar ein Test und kein echtes Vorhaben. Nur – wann habe ich ihn bestanden? Wenn ich mitmache, oder wenn ich nicht mitmache? Dieses verdammte Pokerface.

Jetzt mal ganz ruhig bleiben. Schließlich müsste der Absinth bald wirken. Ich brauche doch bloß zu warten.

Sie lässt es sich schmecken, und ich sehe, wie sich ihre sonst so blassen Wangen zartrosa färben. Ich picke pflichtschuldig in dem Essen herum. Dann zwinge ich mich, ordentliche Bissen zu nehmen und herunterzuschlucken. So merke ich, wie dermaßen gut dieses Essen ist, und langsam gelingt es mir, doch noch etwas Freude an der außergewöhnlichen Mahlzeit zu bekommen. Wir essen also und reden eine Weile nicht. Ich entspanne mich. Um uns das Stimmengewirr der Gäste, das uns einhüllt wie ein Kokon und einen zerbrechlichen Moment des Friedens und Behagens erschafft.

Ich zucke zusammen, als Rabea plötzlich wieder das Wort an mich richtet.

»Vorzüglich, das Essen hier! Wird übrigens alles vom Rat bezahlt. Nachdem wir hier aufgegessen haben, kommst du mit mir, ich zeige dir den Raum. Ich habe alles dabei, was nötig ist. Du wirst den Eid schwören. Dann suchst du dir einen Künstler aus. Solltest du trotz deiner Expertise mit dem Laden hier keinen finden, habe ich eine Liste der üblichen Stammgäste mit entsprechendem Hintergrund.«

Ihre Augen sind schmal und glitzern jetzt gefährlich, und ich bin mir auf einmal gar nicht mehr sicher, ob sie nur blufft. Vielleicht wirkt der Absinth auch komplett kontraproduktiv auf sie. Die Angst kehrt zurück.

»Hast du die Lektionen parat?«

»Ja. Aber hier? Warum muss es hier sein?«

»Im Labor kann das jeder halbwegs begabte kleine Adept. Doch du sollst mir zeigen, wozu du fähig bist.«

Der Satz ist schon kaum mehr doppeldeutig. Menschen direkt aus dem Leben zu reißen, erfordert ungleich mehr Härte und Konsequenz, als einen armen, betäubten Tropf im Labor in klinischer Atmosphäre seines Spirits zu berauben. Im Labor ist es eher wie ein medizinischer Eingriff. In einem Cubiculum ist es wie ein langsamer Mord.

»Aber das ist doch für einen Anfänger gar nicht zulässig …«

»Schweig. Ich entscheide.«

Es ist immer wieder seltsam, wenn sie die Ebene wechselt. Wenn sie in der Rolle der Mentorin ist, muss ich ihr gehorchen. Ich beuge meinen Kopf, nehme ihre Hand und küsse sie, als Zeichen meines Gehorsams – und ich fühle mich, wie immer in diesen Momenten, sicher und beschützt. Längst habe ich es aufgegeben, der Ironie dieses Vorgangs auf den Grund zu gehen. Ich habe vermutlich einfach zu früh meine Eltern verloren, vielleicht ist das ein Grund. Oder die Psychologen des Ordensverstehen ihr perfides Handwerk einfach viel zu gut.

»Du warst immer ein guter Schüler«, sagt sie, und ich sehe eine Träne in ihrem Augenwinkel. Dies ist ein Abschied, so oder so, denn wenn ich den Eid schwöre, gehöre ich nicht mehr ihr, sondern dem Rat. Und wenn ich es nicht tue …

»Ja«, sage ich, »und du eine gute Mentorin. Die beste, die ich mir nur denken kann.«

Rabea

Es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Keiner von unseren noch so schlauen Führern hat dies vorausgesehen, vermutlich weil keiner einem Künstler zugetraut hat, jemals so weit zu kommen. Es ist alles ein Fehler, das ganze System ist ein Fehler. Sind es denn wirklich diese Eigenschaften, die so eine große Gefahr darstellen? Die wir ausrotten müssen?

Wo bleibt meine Konzentration? Was denke ich da für ein Zeug? Irgendetwas stimmt nicht. Es ist doch klar, was zu tun ist. Er würde doch auch nicht zögern, mich zu töten, wenn es sein müsste. Ich muss unser Mentoren-Schülerverhältnis auflösen, sofort, denn solange er mein Schüler ist, kann ich ihm nicht auf die richtige Art begegnen. Nämlich mit glasklarer Härte. Solange ich für ihn Sorge trage, will ich ihn beschützen. Das Bedürfnis steckt tief in mir. Ich hasse unsere Psychologen, die mit ihrer eiskalten Analyse menschlicher Verhaltensweisen verantwortlich dafür sind, dass ich in diesem grauenvollen Schlamassel stecke.

Wer Mentor sein will, darf keine Kinder haben. Wie leichtfertig ich mich damals, mit allen Konsequenzen, dafür entschieden habe. Der Eingriff zur Unterbindung der Fruchtbarkeit, den jeder Mentor und jede Mentorin zu Beginn der Tätigkeit machen lassen muss, war damals für mich wie eine Auszeichnung. Dass er dazu dient, uns an unsere Schüler zu binden, wusste ich. Theoretisch. Praktisch wird mir erst jetzt klar, wie allumfassend die Konsequenzen sind und wie brutal dieses Vorgehen ist.

Wird es mir überhaupt helfen, mich von ihm zu lösen, wenn er den Eid schwört? Egal. Ich muss es darauf ankommen lassen. Zumindest heute ist mir das lausige Künstlerleben, das dafür aufs Spiel gesetzt wird, vollkommen egal. Diese Organisation Pallas Athene hält es für richtig, Jugendliche, ja halbe Kinder für ihre Zwecke zu missbrauchen. Mein Gott, er war gerade mal fünfundzwanzig, als er zu uns kam! Wie früh müssen sie ihn ausgebildet haben! Sie werden heute von uns bekommen, was sie verdienen.

Ich schüttele alle Gefühle ab und konzentriere mich auf meine Rolle. Warum nur schwankt alles so seltsam? Irgendwas stimmt nicht, ich muss rasch machen.

»Mach dich bereit. Wer ist ein Kandidat?«

»Rabea, bitte, ich möchte dir zuvor etwas sagen«, sagt er heiser, und seine Augen sind schwarz in seinem wachsbleichen Gesicht. Aber ich will es nicht mehr hören, denn jetzt will ich, dass er einer von uns wird, dass er nicht mehr zurückkann, nie mehr. Dann werde ich ganz in Ruhe sehen, was ich mit ihm machen werde.

»Oh nein. Geredet wird hinterher. Sag mir einen geeigneten Kandidaten oder eine Kandidatin!«

Leonidas

Oh nein. Sie ist völlig außer Kontrolle. Scheiß Idee, das mit dem Absinth! Was soll ich nur machen? Ihre Frage steht wie der Ton einer falsch angeschlagenen Glocke in der Luft.

Da erscheint plötzlich die freche Kellnerin an unserem Tisch und unterbricht damit das Kreuzverhör. Kein Engel könnte schöner sein als sie in diesem Moment. Als wüsste sie, in welcher Zwangslage ich mich befinde, macht sie deutlich mehr Aufhebens um das Abdecken des Geschirrs als nötig.

»Für unsere neuen Gäste gibt es eine Nachspeise auf Kosten des Hauses«, sagt sie jetzt und stellt einen kleinen Teller mit winzigen Keksen vor Rabea. Sie steht genau hinter ihr, und starrt mir über Rabeas Schulter direkt in die Augen. Zweimal schließen. Einmal weit öffnen. Oh nein.

Was ist das heute für ein verdammter Tag? Jetzt bin ich völlig am Arsch, und nicht nur ich.

Dann bricht auch schon die Hölle los. Sie scheinen aus allen Richtungen zu kommen, und die Schockwellen-Emanatoren detonieren. Es reißt unseren Tisch um, und mir klingeln die Ohren, aber wie in der Grundausbildung gelernt, mache ich den Druckausgleich, bevor die nächste Welle losbricht. Die Laserpointer der Gesichtsscanner schneiden sich durch den Rauch, erfassen ihre Ziele. Ich sehe die Sicheln aufblitzen, höre die Schreie der Verwundeten und derer, die jetzt sterben müssen.

Ich habe keine Angst. Ich bin wach und konzentriert. Es ist genauso, wie es in unseren Freitags-Trainings simuliert wurde, und es ist wie das Eintauchen in ein geliebtes, fast vergessenes Hobby. Ich ziehe meine eigene Sichel hervor und stimme in den Schlachtruf »Chaos-Cosmos!« ein. Ich sehe zu, möglichst viel Lärm zu machen, damit alle wissen, dass ich zu ihnen gehöre, und heimlich schiebe ich mit dem Fuß Rabeas reglosen Körper hinter den umgestürzten Tisch.

Die Kellnerin hat sich ihr Kleid heruntergerissen und steht da, in der Faust den abgeschlagenen Kopf eines glücklosen Wissenschaftlers, der sich heute definitiv für das falsche Abendprogramm entschieden hat. In der anderen Hand hält sie die blutgetränkte Sichel. Sie sieht aus, als wollte sie eine Szene für Kalis letzte Schlacht proben, nur leider ist das hier keine Bühne. Aber sie hat sich definitiv von dem Stück inspirieren lassen. Sie trägt das Skelettkostüm der Sektierer, ich vermute, sie ist in einer Führungsposition. Ich hasse sie alle. Diese Leute lieben das Töten, nichts weiter, aber Pallas Athene kann sie nicht offen verbannen. Doch es bleibt keine Zeit, weiter gemütlich darüber nachzusinnen, denn Rabea ist in Todesgefahr. Wenn sie aufwacht oder ein Gesichtsscanner sie erfasst, ist es aus mit ihr.

Das wäre ja jetzt die ideale Gelegenheit. Ich wäre alle Sorgen los, müsste es nicht einmal selber tun, denn unsere Möchtegern-Kali würde es mehr als genießen. Das wäre für sie vermutlich so was wie das optimale Vorspiel, und ich, ich könnte zurück, nach so vielen Jahren.

Das Dumme ist nur, dass man in solchen Momenten natürlich nicht in Ruhe nachdenken und abwägen kann. Man tut einfach das, was einem als Erstes in den Sinn kommt. Heißt in meinem Fall: Ich stürze mich auf Rabea, die sich gerade wieder zu regen beginnt, und schlage ihr mehrfach und gezielt ins Gesicht, so lange, bis ich sicher sein kann, dass sie wieder ohnmächtig ist und genug Blut fließt. Ich packe ihren Pferdeschwanz und schneide ihn nah am Haaransatz ab. Ich versuche, ihr das Kleid herunterzureißen, was sich als äußerst schwierig erweist. Schließlich muss ich sie aus dem Kostüm schneiden. Den Stoff stopfe ich unter eine Leiche, die praktischerweise in Reichweite liegt. Ich füge dem Blut und den blauen Flecken auf Rabeas Gesicht noch mehrere lange Kratzer hinzu. Ich bin währenddessen kühl und überlegt. Es ist so wie damals beim Angeln mit meinem Onkel, wenn es darum ging, die gefangenen Fische waidgerecht zu töten. Man muss etwas Schlimmes tun, um noch Schlimmeres zu verhindern.

Nun sollte kein Scanner mehr in der Lage sein, ihr Gesicht abzulesen. Keine Sekunde zu früh. Kali 2.0, die eben noch ihren Blutdurst an einer weiteren Person gestillt hat, entdeckt mich und kommt auf mich zu.

»Wo ist sie?«, zischt sie, und ihre attraktiven Züge sind zu einer hässlichen Fratze verzerrt.

»Abgehauen.«

»Scheiße! Warum hast du sie nicht aufgehalten?«

»Ich hatte doch keine Ahnung, dass sie vom Orden ist! Ich dachte, ich habe ein schönes Date mit einer reichen Gönnerin! Habe es eben gerade so geschafft, nicht von ihr gekillt zu werden.«

»Wenn du sie noch aufstöberst, bring sie zu mir. Ich würde ihr sehr gern eine Sonderbehandlung zukommen lassen. Für die brauche ich keinen Scanner, diese Fresse habe ich mir gleich beim ersten Mal eingeprägt. Diese Wichser bringen hier systematisch Künstler um! Die hat dich fast so weit gehabt, dass du mit ihr mitgegangen wärst, ich habe euch beobachtet. Das wäre es für dich gewesen! Warst du verknallt in die?«

Ich schüttle den Kopf. »Wie gesagt, war eine Kundin.«

»Mensch, du musst vorsichtiger sein! Bist du neu in dem Geschäft?«

Ich nicke.

»Eine Schande ist das! Die zwingen uns dermaßen in den Abgrund. Ich habe übrigens keine Vorurteile«, sagt sie, lächelt, greift mir ins Haar und küsst mich. Ich sagte es ja, das Töten macht diese Leute an. Es ist mein erster Kuss seit Jahrzehnten, und es liegt nicht nur an meiner Ausbildung und dem Aufrechterhalten meiner Tarnung, dass ich ihn erwidere.

»Ey, Merida, Abflug!«, rettet mich ein kleiner, gedrungener Typ vor einer grenzwertigen Erfahrung. Widerwillig lässt sie mich los. Ich muss mich beherrschen, ich zittere am ganzen Körper und tänzele auf dem Grat zwischen Abscheu und Verlangen.

»Tut mir leid, Kleiner«, sagt er und grinst mich an.

»Wer ist denn das Dornröschen da unten?«, fragt meine Kurzzeitgespielin und tritt mit dem Schuh gegen Rabea.

»Eine Unwissende. Kam zwischen die Fronten.«

»Na, dann viel Spaß damit!«

Sie grinst, und die beiden verschwinden im aufgewühlten Staub. Ich schultere Rabea und komme tatsächlich durch. Ich muss noch zwei Scanner passieren, habe aber offenkundig gute Arbeit geleistet. Die meisten der Chaos-Cosmos-Bewegung sind schon auf dem Abflug, sie lächeln mir zu und zwinkern anzüglich.

Es gilt als durchaus legitim, wenn man sich nach solchen Einsätzen Unwissende mit nach Hause nimmt. Eine Rettung ist den ein oder anderen Dienst wert, so sind die Regeln. Und jeder, der so einen Anschlag überlebt, tut, was er oder sie tun muss, um sich erkenntlich zu zeigen.

Ich verlasse das Velvet durch den zweiten der geheimen Ausgänge, denn die irren Chaos-Cosmos-Anhänger sind durch den ersten geflohen, und ich habe kein Bedürfnis nach einer weiteren Begegnung. Der Weg, der hinter diesem Ausgang liegt, ist verwinkelt, selten begangen und außerdem ein fürchterlicher Umweg. Die Feuchtigkeit tropft von den Wänden des Tunnels, die Beleuchtung funktioniert wie in guten alten Zeiten per Gaslicht, und ist dementsprechend kaum der Rede wert. Die Gleise sind schartig und die Holzbohlen verfault.

Ich bin zwar gut trainiert, aber jemanden Bewusstloses vier Kilometer durch die dunklen Tunnel der Stadt zu schleppen, ist eine ganz eigene Nummer. Nach ungefähr zweihundert Metern wird mir klar, dass ich das nicht schaffen werde. Ich habe bei dem Sturz mit dem Tisch mehr abbekommen, als ich dachte. Mein Atem geht stoßweise, meine Muskeln brennen und mein Knie sagt mir, dass es nicht mehr lange gedenkt, hier mitzumachen.

Ich sehe, dass etwa zehn Meter voraus eine Rufstation ist. Mir ist es jetzt auch egal, mich mit den Kriminellen einzulassen, und ich schleppe mich und Rabea mühsam bis zu dem grauen Kasten. Ich gebe die dreizehnstellige Kombination im vorgeschriebenen Rhythmus ein und rufe eines der Taxis, von denen man weiß, dass die Fahrer keine Fragen stellen. Sie werden auch die Graue Flotte genannt, weil sie auf keiner anderen Seite stehen als auf der des Geldes.

Kurze Zeit später erscheint der Wagen, eine kleine, marode Draisine, die zum Glück einen Aufbau hat, in diesem Fall das Oberteil eines uralten Londoner Taxis. Die Fahrer definieren ihren Status über ihre Aufbauten.

Ein kleiner, schmieriger Typ steigt aus, er ist vermummt, wie alle Fahrer. Er starrt mich durch die Augenschlitze seiner Larva an. Seine gelblichen Augen deuten darauf hin, dass er von der Kuka-Pflanze abhängig ist. Ich nenne die Adresse, das Codewort und drücke schließlich das Geld in seine seltsam verfärbte Hand. Wir tauschen als gegenseitige Versicherung den Bruderkuss, und ich wuchte die immer noch ohnmächtige, schwer zugerichtete Rabea auf den ledernen Rücksitz des Taxis.

Ich hoffe, sie kommt erst zu Hause wieder zu sich, doch schon sehe ich ihre Augen flattern, und so muss ich die Spritze setzen. Das ist mir unendlich peinlich, was soll unser Fahrer von mir denken? Dabei weiß ich, dass die Portitores sich für rein gar nichts interessieren, was bei ihnen auf dem Rücksitz geschieht. Selbst ein Mord ist für sie kein Grund, auch nur mit der Wimper zu zucken, sofern für den Abtransport der Leiche und die Sauberkeit der Rückbank gesorgt ist, und, natürlich, der Verschwiegenheitszuschlag gezahlt wird. Ich klemme mir die Spritze zwischen die Zähne und versuche, beim Schlingern des Fahrzeugs mit den Knien ihren Arm zu fixieren, damit ich die Nadel gut setzen kann. Doch sie beginnt plötzlich, sich zu wehren, schlägt mir mit der freien Hand hart ins Gesicht, fast schafft sie es, mich abzuwerfen. Ich klemme mich mit dem Rücken gegen das Dach des Taxis, drücke ihr meine Knie mit aller Kraft auf die Armbeugen, und haue ihr das Ding ohne Vorbereitung oder guten Winkel einfach in den Arm. Sie bäumt sich auf, doch ich lasse nicht locker. Sie ist eine echte Kämpferin; sie windet sich und versucht mich zu beißen, doch zu meinem Glück fehlt ihr das Training. Dann fühle ich, wie ihr Körper endlich wieder schlaff wird und atme erleichtert aus.

Meine Augen treffen im Rückspiegel kurz auf die des Portitors, und ich meine darin so etwas wie Anerkennung zu lesen. Ich fühle mich von dem Blick besudelt. Ich bin unendlich froh, als wir angekommen sind.

2

Leonidas

Wie ich es in unsere Wohnung geschafft habe, weiß ich nicht. Ich liege schwer atmend neben Rabea auf ihrem Bett. In ihrem Schlafzimmer, einem Raum, der gewissermaßen tabu für mich ist. Wir haben eine unberührte Ehe geschlossen, was heißt, dass die Sexualität kein Bestandteil unseres Ehevertrages ist. Es ist nicht direkt verboten, miteinander zu schlafen, aber wenn man schon so einen Vertrag schließt, sucht man logischerweise nicht gerade das sexuelle Abenteuer. Zumindest nicht mit seiner Partnerin. In einem Verhältnis wie dem unseren gelten allerdings nochmals verschärfte Regeln. Heiratet ein Mentor seinen Schüler, ist es während des ersten Jahres tatsächlich streng verboten, auch nur gemeinsam in einem Zimmer zu übernachten, und für die Zeit danach gibt es wohl so etwas wie eine Art Meldepflicht. Man kann sich vorstellen, dass sich dergleichen nicht förderlich auf ein potenzielles Liebesleben auswirkt. Viele, die in so einer Partnerschaft leben, lagern ihre Sexualität einfach aus. Ich hatte dazu nie eine Gelegenheit. Zu viel Arbeit, zu viel Druck und eine merkwürdige Angst davor. Ich bin also zweiunddreißig und immer noch unberührt. Das ist allerdings ein noch größeres Geheimnis als die Tatsache, dass ich ein Spion bin.

Während ich jetzt hier so liege, den Duft von Rabeas Zimmer in der Nase, und ihren flachen, seufzenden Atemzügen lausche, spüre ich, wie sich die Anspannung löst. Die Gefühle strömen zurück, und ich spüre meinen Körper wieder.

Plötzlich erwacht ein unbändiger Wunsch in mir, sie zu berühren. Ich gebe diesem Wunsch nach, ohne weiter zu überlegen. Ich streichele ihr Haar, betaste mit meinen Fingern die wenigen Stellen in ihrem Gesicht, die nicht verletzt sind. Es ist aufregend, verboten und völlig verrückt, das zu tun. Doch meine Hände scheinen ein Eigenleben zu entwickeln, und so berühre ich, das erste Mal seit fünf Jahren, Zentimeter um Zentimeter ihr Gesicht. Ich fahre der Linie ihres Nackens nach und folge dem edlen Schwung ihrer Wirbelsäule, die sich unter dem dünnen Hemd abzeichnet. Das Hemd ist teilweise zerrissen, und so treffe ich unerwartet auf nackte Haut. Heiße Energie schießt durch meinen Körper. Noch könnte ich umkehren. Ich tue es nicht. Ich erforsche die Struktur ihres Rückens, lerne ihn nach so vielen Jahren wirklich kennen. Es ist ein unbeschreibliches, wunderschönes Gefühl. Ich verstärke unmerklich den Druck meiner Hände, werde schneller, unbedachter. Meine Hand hält kurz inne, als ich vom Rücken nach vorne streifend in die Nähe ihrer Brust komme. Ich zittere jetzt am ganzen Körper. Ich möchte mir einfach nehmen, was ich so lange entbehrt habe. Dieser furchtbare Kuss im Velvet hat ein Feuer entfacht, das nicht mehr zu löschen ist. Meine Hand streift über eine Brust. Ich lasse sie für ein paar süße Sekunden dort liegen. Dann, mit schier übermenschlicher Anstrengung ziehe ich sie zurück, will mich abwenden, bevor ich Dinge tue, nicht wieder gutzumachende Dinge. Da packt eine schmale Hand mein Handgelenk, zieht mich zurück, und drückt meine Hand zurück auf ihre Position. Mir stockt der Atem.

Rabea

Lass verdammt noch mal deine Hand da, wo du sie hingetan hast.

Ich drehe mich zu ihm und halte dabei seine Hand weiter fest. Seine Augen schimmern schwarz in der Nachtbeleuchtung. Der Schmerz, den ich bei jeder Bewegung fühle und diese eigenartige Benommenheit stacheln mich an, lassen Emotionen hochkochen. Ich bin wie in einem eigenen Raum, jenseits der Realität.

»Signifikante Bewusstseinsveränderungen können auch durch ungewohnte haptische, taktile oder kinästhetische Reize hervorgerufen werden«.Klappe, Professor Ibori!

Ich richte mich auf und drücke ihn mit Schwung auf den Rücken. Ich setze mich auf ihn und starre ihm in die Augen. Obwohl mein Gesicht schmerzt, meine Lippen geschwollen und aufgeplatzt sind (was verdammt noch mal ist da eigentlich passiert?), senke ich den Kopf und küsse ihn. Der Schmerz, den die Verletzungen verursachen, geht eine seltsame Union mit einem aufzüngelnden Verlangen ein, das mich kurzfristig völlig okkupiert. Ich folge das erste Mal seit Jahren, vielleicht auch in meinem Leben, meinem Instinkt.

Zumindest für etwa zwanzig Sekunden.

Dann, während ich ihn weiter küsse, taste ich nach der Stelle an seinem Hals; jener, die es einem bei Anwendung der richtigen Technik erlaubt, auch den stärksten Mann in wenigen Sekunden auszuschalten. Ich finde sie, drücke zu, und er ist so überrascht, dass seine Gegenwehr viel zu spät einsetzt.

Ich habe jetzt etwa eine halbe Minute. Ich ziehe den Kabelbinder aus der Schublade, und in einem Schwung habe ich erst die eine, dann die andere Hand an das Bettgestell gefesselt. Die Füße folgen, und er ist gesichert. Für was, wird sich zeigen.

Langsam kommt er wieder zu sich.

Ich stehe auf und lasse ihn zurück, gehe unter die Dusche. Das Wasser rinnt an mir herunter und lässt die Schmerzen erneut aufbrüllen. Ich steige aus der Dusche, ohne mich anzuziehen oder abzutrocknen. Ich meide den Blick in den Spiegel. Im Flur liegt sein Mantel auf dem Fußboden. Er ist dreckig und blutig, teilweise zerrissen.

Was genau ist passiert?

Ich durchsuche den Mantel und finde Sichel.

Ein hübsches Werkzeug.

Ich nehme sie und kehre langsam in das Schlafzimmer zurück, äußerlich bin ich ganz ruhig. Ich trete an das Bett und hebe die Sichel. Er wehrt sich nicht, liegt nur da und zittert, und schaut mich an. Es wäre so leicht, und es würde alles vereinfachen. Ich könnte danach vermutlich in den innersten Zirkel unseres Bundes aufsteigen. Ich zögere.

Dann ist sie plötzlich da, die Gewissheit. Eine Klarheit durchströmt mich, wie ich sie mir schon oft gewünscht habe. Ich setze die Sichel an seinem Hals an.

»Ich weiß, was du bist«, flüstere ich. Dann setze ich die Spitze der Sichel an und schneide in einem großen Bogen, von oben bis ganz nach unten, durch.

Ich atme aus und betrachte mein Werk. Ein sauberer Schnitt, präzise ausgeführt. Leonidas rührt sich nicht mehr.

Ich kann jetzt seine Kleidung einfach zu beiden Seiten öffnen, nur die Ärmel und Hosenbeine muss ich noch extra aufschneiden. Nun liegt er gefesselt und völlig nackt vor mir. Sein Atem geht schnell, seine Augen sind schwarz vor Angst. Aber er hält sich gut, wie für einen Spion seines Kalibers nicht anders zu erwarten. Ich setzte mich neben ihn. Streife über seine Haut, so wie er es getan hat, ganz einfach als Revanche.

Dann packe ich die Sichel erneut und setze die Spitze auf seine Brust. Auch jetzt achte ich auf so viel Präzision, wie mein lädierter Körper zulässt. Ich fühle mich völlig im Recht, als ich ihm mein Zeichen in die Haut schneide, zwei in sich verschlungene Lilien. Das ist das Signum, meine ganz persönliche Unterschrift, mit dem ich die Geheimverträge abzeichne. Nur wenige kennen sie, aber alles, was ich damit abzeichne, ist auf Lebenszeit bindend.

Leonidas wimmert auf, sagt aber nichts. Als ich fertig bin, gehe ich in die Küche und hole Desinfektionsmittel und den Sprühverband. Ich versorge die Wunde fachgerecht.

»Du wirst nirgendwo mehr hingehen. Du gehörst mir«, sage ich zu ihm. Doch während ich mich das sagen höre, merke ich plötzlich, dass ich offenbar in den letzten paar Minuten einen sehr unguten Abzweig genommen haben muss. Es durchfährt mich heiß. Was habe ich da gesagt? Was habe ich da getan?

Er schaut mich nur an, mit großen, dunklen Augen.

Mit zitternden Fingern schneide ich die Fesseln auf.

»Es tut mir so leid, so leid, so leid«, murmele ich vor mich hin und komme mir dabei noch psychopathischer vor. Jetzt bricht eine Woge von Übelkeit, Selbsthass und Verwirrung über mich herein, unter der ich mich krümme wie unter einem Schlag. Ich drücke ihm die Sichel in die Hand.

»Ich habe Unrecht getan«, wimmere ich. »Ich bin unwürdig, deine Mentorin zu sein. Ich bin unwürdig, eine Adeptin der Scientia Vera zu sein. Tu endlich, wozu du gesandt wurdest.« Ich knie mich vor ihn hin und warte auf die Erlösung. Ich weiß, dass ein gut ausgeführter Sichelschnitt ein schneller und gnädiger Tod ist. Nichts passiert.

»Nun mach schon!«, schreie ich. Ich spüre eine Berührung an der Schulter und schaue hoch. Leonidas steht da und streckt seine Hand nach meiner aus. Ich schaue zunächst stumpfsinnig auf seine Hand, dann ergreife ich sie. Er zieht mich vom Boden hoch, nimmt mich an der Hand, zieht mich in sein Zimmer und bugsiert mich dort aufs Bett. Dort nimmt er mich in den Arm. Wartet, bis mein Zittern und Schluchzen abebbt. Seit Jahrzehnten hat mich niemand in den Arm genommen. Dann schiebt er mich ein Stückchen von sich weg, um mir in die Augen zu schauen.

»Meine liebe Rabea, wann willst du bei uns anfangen? Du hast bewiesen, dass du alle Voraussetzungen für die Aufnahme als Künstlerin hohen Ranges hast! So viel Theatralik ist sehr gern gesehen bei uns.« Er lächelt schief und wischt mir mit einem Zipfel seiner zerschnittenen Kleidung die Tränen von der Wange. Unter dem Schreibtisch holt er eine Flasche Wein hervor. Es ist nicht direkt verboten, Alkohol zu trinken, aber erwünscht ist es auch nicht wirklich.

»Das also kommt dabei heraus, wenn man die Zimmerkontrollen einstellt«, versuche ich mich in einem schwachen Witz.

In den ersten zwei Jahren haben wir das Recht und die Pflicht, alles zu kontrollieren, was unser Schützling tut, auch seine privatesten Sachen. Wieso habe ich nichts gemerkt? Ist er so gut, oder bin ich so schlecht?

»Nicht denken. Das hat jetzt einmal Pause«, sagt Leonidas. Er ist wirklich sehr intuitiv.

»Setz dich.«

Ich gehorche.