Vom Glück zu dritt - Helena Wagenschütz - E-Book
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Vom Glück zu dritt E-Book

Helena Wagenschütz

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Beschreibung

Das bis dahin ruhige Leben von Steuerberater Orlando wird gründlich durcheinandergewirbelt: Er verliebt sich an nur einem Tag in zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die sensible, verträumte Limona seine kreative Seite zum Klingen bringt, spricht Sabina, die clevere und witzige Maklerin, alles in ihm an, was er im beruflichen und gesellschaftlichen Leben schätzt. Orlando steht vor einer folgenschweren Entscheidung, die sein Leben von Grund auf verändern wird.

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Kurzbeschreibung: Das bis dahin ruhige Leben von Steuerberater Orlando wird gründlich durcheinandergewirbelt: Er verliebt sich an nur einem Tag in zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während die sensible, verträumte Limona seine kreative Seite zum Klingen bringt, spricht Sabina, die clevere und witzige Maklerin, alles in ihm an, was er im beruflichen und gesellschaftlichen Leben schätzt. Orlando steht vor einer folgenschweren Entscheidung, die sein Leben von Grund auf verändern wird.

Helena Wagenschütz

Vom Glück zu dritt

Roman

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2022 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2022 by Helena Wagenschütz

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.

Covergestaltung: Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-412-7

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Prolog

Pflanzen. Das Grün, das mich umhüllt. Die Sonne träufelt ihre Strahlen auf die zarte Kontur der Blätter … und da ist er. Mein Baum. Mein Liebling, wie sich deine Äste winden, wie du rauschst, wie du mir gelassen und freundlich entgegensiehst.

Er ist der schönste Baum, der je das Licht der Welt erblickt hat. Er ist nur für mich da, und ich nur für ihn. Die goldenen Schatten, die durch seine Blätter rieseln. Seine Krone, sein Raunen; immerwährende Schönheit. Baum, Pflanze, Blume – hier kann ich existieren. Ich werde an euch denken, wenn ich in die Außenwelt gehen muss. Ihr werdet auf mich warten.

Orlando setzt seine Brille ab, die plötzlich beschlagen ist.

Limona.

Er meint, ihre Stimme zu hören, ihr feines, klingendes Lachen. Er schaut hinaus in den trüben Morgen; ein vergessener, grell-gelber Sonnenschirm auf dem Nachbargrundstück als einzige Farbe gegen den dunklen Grund und das überwältigende Grau einer immernassen Welt. Die Winterreise von Schubert malt sanft ihre melancholischen Klänge in den Januar. Orlando greift zum Kaffee, doch der ist längst erkaltet. Es tut weh. Bevor ihn das ewige „Warum?“ weiterquälen kann, dreht er die Musik laut auf. Der über Jahrhunderte geronnene Schmerz der Komposition tröstet ihn auf eine ganz eigene Weise, auch wenn er nicht, wie der Erzähler in der Winterreise, der Verlassene ist.

Sondern der, der verlassen hat.

Es ist, als wären die Worte, die jetzt erklingen, nur für ihn geschrieben worden:

 

Am Brunnen vor dem Tore da steht ein LindenbaumIch träumt in seinem Schatten so manchen süßen TraumIch schnitt in seine Rinde so manches liebe WortEs zog in Freud und Leide zu ihm mich immer fortZu ihm mich immer fort

 

Ich musst auch heute wandern vorbei in tiefer NachtDa hab ich noch im Dunkeln die Augen zugemachtUnd seine Zweige rauschten, als riefen sie mir zuKomm her zu mir, Geselle, hier findst du deine RuhHier findst du deine Ruh

 

Die kalten Winde bliesen mir grad ins AngesichtDer Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nichtNun bin ich manche Stunde entfernt von diesem OrtUnd immer hör ich‘s rauschen: du fändest Ruhe dortDu fändest Ruhe dort

Der Lindenbaum. Limona. Was hat er nur getan.

Plötzlich geht die Tür geht auf.

„Kannst du bitte mal das Gedudel leiser stellen? Man versteht sogar oben sein eigenes Wort nicht!“

Ihre Worte schneiden grell in sein Bewusstsein. Stumm schaut er sie an. Er spürt die Wucht des Verrates, den er an sich begangen hat. Und an Limona. Er schaltet die Musik aus, geht ohne ein Wort an seiner Frau vorbei, nimmt mechanisch die Hundeleine vom Haken und flüchtet sich, nachdem er Jacke, Schuhe und Hund beisammenhat, nach draußen.

Trine, die struppige Rauhaarmischung, ist wenig begeistert, denn jetzt setzt der im Wetterbericht lang angekündigte Regen ein. Ein dichter Regen, der keine Schlupflöcher lässt. Orlando schlägt wie auf Autopilot den Weg in den Wald ein, ohne darüber nachzudenken, dass die Runde viel zu lang werden wird, um pünktlich zu der Verabredung mit den Nachbarn wieder da zu sein.

Frühling

1. Kapitel

Orlando fährt an diesem Tag mit seinem alten Smart zu seinem Auftrag, den Firmenwagen hat er stehen gelassen. Das ist weder besonders wirtschaftlich noch besonders schlau, aber die Sehnsucht nach dem alten Fahrzeug hat ihn alle Bedenken über Bord werfen lassen.

‚Im Wendland werden schon keine allzu statusbesessenen Kunden wohnen‘, spricht er sich selbst Mut für seine Entscheidung zu. Immerhin punktet der Smart mit einem Cabrio-Dach. Dafür funktioniert die Klimaanlage nicht, die kleine Kiste rumpelt und rattert, nimmt ihm jede Unebenheit übel und schafft maximal zuckelige hundertzwanzig Kilometer pro Stunde. Aber sie gibt ihm ein Gefühl von Freiheit. Ein Gefühl, das ihm keines der teuren Luxus-Autos bescheren kann, die sich seine Kanzlei leistet.

Der alte Smart erinnert ihn an die Zeit vor seinem Studium, dieses eine Jahr, in dem alles möglich schien.

Heute liegt in der frühlingshaften Luft ein unverkennbarer Anflug von Abenteuer. Orlando pfeift fröhlich über das Geratter des Dieselmotors die Arie Habanera aus der Oper ‚Carmen‘ mit, und schließlich lässt er sich sogar dazu hinreißen, den Text lauthals mitzusingen:

 

L’amour est un oiseau rebelleQue nul ne peut apprivoiser,Et c‘est bien en vain qu’on l’appelle,S’il lui convient de refuser.

Rien n’y fait, menace ou prièreL’un parle bien, l’autre se taitEt c’est l’autre que je préfèreIl n’a rien dit, mais il me plaîtL’amour, l’amour, l’amour, l’amour

Ja, die Liebe hat bunte Flügel … die rebellische Liebe, die wie ein wilder Vogel nicht einfach zu fangen ist …

Orlando gerät ins Träumen, wird aber plötzlich und sehr unsanft in die Realität zurückgeholt.

Was ist heute los mit mir?, schießt es ihm durch den Kopf, als es ihm gerade noch so gelingt, die Kontrolle über das Lenkrad zurückzugewinnen.

Nach dem letzten frenetischen „l’amour!“ hat sein Wagen einen bedenklichen Schlenker in Richtung Gegenverkehr gemacht, und Orlando ist äußerst dankbar für das wütende Hupen, mit dem seine Aktion quittiert wurde. Normalerweise hasst er es, wenn jedermann sofort auf der Hupe steht. Aber jetzt war es seine Rettung, fast nur Zentimeter zwischen ihm und dem anderen Fahrzeug. Ohne die Fanfare des riesigen SUV, die ihm wie des jüngsten Tages Posaune in die Glieder gefahren ist, hätte es vorbei sein können mit dem Frühling, Abenteuern, dem kleinen Smart und vielleicht auch ihm.

Mit klopfendem Herzen sucht er sich eine Haltemöglichkeit am Straßenrand. Er atmet ein paarmal durch, bis sich sein Puls etwas beruhigt hat.

So kenne ich mich überhaupt nicht. Entschieden versucht er, sich zur Ordnung zu rufen, aber trotz oder wegen der Gefahr, der er gerade erst entronnen ist, prickelt diese leichtsinnige Stimmung in ihm weiter. Er schaut auf die Uhr. Wie immer hat er einen übertrieben großen Zeitpuffer eingebaut. Heute wird er ihn einmal für sich nutzen, statt wie sonst vor der Tür der Kunden zu parken und brav eine halbe Stunde vor dem Termin Mails zu beantworten.

Er lässt sich von seinem Smartphone das nächste Café anzeigen und bestellt dort, nun völlig übermütig geworden, einen großen Himbeereisbecher. Mit Schoko-Sahne. Die Wälder und Felder, der knallblaue Himmel und die strahlende Sonne ziehen nochmals an seinem inneren Auge vorbei, während er verzückt sein Eis löffelt.

Da sitzt er, ohne zu merken, dass sein Mund mit Schoko-Sahne verschmiert ist. Ein kleiner, rundlicher Mann Mitte dreißig, in gutem Anzug; auf den ersten Blick angepasst und unscheinbar. Doch die frechen Löckchen, die jedem Haargel trotzen und die lebhaft funkelnden Augen lassen ahnen, dass da noch mehr ist. Dass er eigentlich nicht ganz in dieses Steuerberater-Leben passt, dass er mangels Mutes und Selbstvertrauen gewählt hat.

Orlando konnte schon immer gut mit Zahlen umgehen, und äußerst diszipliniert ist er auch. So gesehen passt sein Beruf wunderbar. Aber eigentlich hätte er lieber ein Studium gewählt, das seiner Liebe zur Mathematik wirklich gerecht geworden wäre. Wo er mit Zahlen etwas hätte bewegen können, wie zum Beispiel in der Astrophysik. Gerne hätte er auch einmal erfahren, wo eigentlich seine persönliche Grenze in diesem Fachbereich liegt, denn er konnte schon als Kind fast immer alles sofort umsetzen.

Oder – in diesem einen Jahr schien ihm tatsächlich alles möglich – er hätte seinen Traum verwirklichen und Musikwissenschaft studieren können. Diese Leidenschaft schlummert tief in ihm, wie ein anstößiges Geheimnis. Sie äußert sich in einem ganz und gar ungewöhnlichen Musikgeschmack, für den er immer wieder den gutmütigen Spott seiner Kollegen und Freunde erntet. Doch etwas umgibt ihn, dass ihn keiner wirklich kränken mag, obwohl er schon als Kind die ideale Zielscheibe abgegeben hätte – pummelig, verträumt und etwas verschroben. Aber er strahlt eine Freundlichkeit und Güte aus, die dafür sorgte, dass ihn auch damals schon die ganz harten Jungs respektierten.

Diese Eigenschaft hat aber auch zur Folge, dass sich seine Beziehungen an einer Hand abzählen lassen, seine Teenager-Zeit mit eingerechnet, denn er wird dadurch von den Frauen als guter Freund und nicht als potenzieller Partner wahrgenommen.

Die blonde Bedienung lächelt belustigt, als Orlando sie zum Zahlen an seinen Tisch bittet. Sie will ihn gerade auf die Sahneverzierung um seinen Mund hinweisen, da ruft ein anderer Kunde ungehalten nach ihr. So nickt sie ihm nur zu, während sie das Geld in ihr Portemonnaie steckt und ihm die Quittung reicht.

Und Orlando fährt mit seinem Sahne-Bart zu der unbekannten Mandantin.

Limona ist furchtbar nervös. Sie hasst es, wenn unbekannte Menschen zu ihr kommen, aber leider lässt das sich manchmal nicht vermeiden. Sie läuft im Flur auf und ab, der große verzierte Spiegel an der Wand wirft ihr ein missgelauntes, verhuschtes Bild zurück.

Die Schönste weder hier noch anderswo! Wie ein Geist schaue ich aus. Ein Geist zu sein wäre allerdings nicht schlecht, denn dann könnte sie sich jederzeit unsichtbar machen und durch Wände gehen. Das wäre schön. Der melodische Gong der Türglocke, so sanft er auch schwingen mag, fährt ihr wie ein Blitz in den Körper.

Sie atmet durch, dann geht sie todesmutig zur Tür. Sie hat die Klinke schon in der Hand, doch ihr Puls rast und ihr Atem geht hektisch, so wie damals bei den Bundesjugendspielen, die sie noch immer in schlimmster Erinnerung hat.

Dann denkt sie an ihn. Er würde vor nichts zurückweichen. Die Erinnerung an seine Güte und Ruhe helfen ihr, sich wieder zu fassen. Er ist doch ganz nahe und passt auf sie auf. Ihr kann nichts geschehen. Sie schließt also die Augen, atmet noch einmal tief durch und reißt die Tür auf.

Zwei überraschte, dunkelbraune Augen. Dieser Blick trifft sie unerwartet, nimmt sie völlig gefangen, und auch ihr Gegenüber steht stumm da, guckt nur und wendet seine Augen nicht ab. Es fühlt sich an, als würden Minuten, ja Stunden vergehen.

Katze Elinor bricht schließlich den Bann, denn sie ist der Meinung, dass sie lange genug auf frisches Futter gewartet hat. Das vorwurfsvolle Maunzen ist das Ticket zurück in die Realität.

„Ähm, guten Tag, ich bin Herr Müller. Wir haben einen Termin“, stottert der Mann vor ihrer Tür. Limona schaut ihn jetzt mit sehenden Augen an, und bevor sie auch nur einen Moment nachdenken kann, hat sie den Zipfel ihres weitausgestellten Ärmels genommen und ihm zärtlich wie eine Mutter den entzückenden Sahnebart abgewischt.

Nach dieser entsetzlichen Tat wird sie, ebenso wie ihr Gegenüber, dunkelrot, und sie kann sich nur durch einen ungebremsten Redeschwall davon abhalten, einfach wegzulaufen.

„Das ist sehr schön, Herr Müller, bitte kommen Sie herein, möchten Sie Tee oder Kaffee? Kuchen ist auch noch da, Pflaumenkuchen; brauchen wir viel Platz? Ich habe hoffentlich alle Unterlagen beisammen; hatten Sie eine gute Fahrt? Ich hoffe, es war nicht zu schwer zu finden. Der Weg ist ja ziemlich weit. Sie sind doch nicht allergisch gegen Katzen?“ Schwer atmend bricht sie ab.

„Kaffee. Ich hätte gern einen Kaffee“, ist alles, was Orlando fähig ist zu antworten. Doch es ist genau das Richtige, denn es hilft Limona, sich wieder zu fangen. Sie führt ihn in ihre wunderschöne Küche, die ganz in hellem Birkenholz gehalten ist. In der Ecke steht ein Kohleherd, der gemütliche Wärme ausstrahlt, denn trotz der Frühlingssonne ist es noch ziemlich frisch, besonders in einem so großen, alten Haus wie diesem. Die Katze hat wieder ihr Maunzen aufgenommen. Sie ist ein großes, rötliches Tier mit klugen Augen. Limona schüttet ihr schnell Futter in die Schale, viel zu viel in der Aufregung. Elinor nutzt die Gunst der Stunde und frisst unkatzenhaft schnell und laut schnurrend.

Limona richtet ihr schönstes Kaffeegeschirr an, es ist ganz in Blau und Gold gehalten. Orlando, der normalerweise einen Blick für schönes Geschirr hat, nimmt es nicht wahr, denn er spürt auf seinen Lippen immer noch den seidenweichen Übergriff nachhallen. Der Kaffee ist unerwartet stark und bringt ihn schließlich wieder zur Vernunft.

„Frau Siebenschön, erzählen Sie mir bitte schon einmal, was wir heute schaffen wollen“, beginnt er mit der offiziellen Einleitung, die ihm immer Sicherheit gibt und auf Professionalität einstimmt. Wobei der Name „Siebenschön“ ihm schon wieder die Röte ins Gesicht treibt. Jetzt reicht es aber!, ruft er sich zur Ordnung und lauscht nun konzentriert Limonas Ausführungen. Er erfährt, dass sie durch eine verwickelte Erbschaftsgeschichte völlig unerwartet zu mehreren Grundstücken gekommen ist, wohlgemerkt in bester Lage in Hamburg.

Bisher hat sie ihr Geld mit einem Online-Shop für selbstentworfene Schmuck- und Kleidungsstücke verdient. Damit konnte sie sich finanziell gerade so über Wasser halten. Jetzt ist sie plötzlich reich und fürchterlich überfordert damit.

Während Limona redet, hat Orlando endlich Zeit, sie in Ruhe zu betrachten. Blass ist sie, fast durchscheinend, und alles an ihr wirkt zerbrechlich. Trotz ihres intensiven Augenkontaktes vorhin an der Tür ist sie nun sehr blickscheu. Während sie mit ihm spricht, wandert ihr Blick unstet im Raum herum, und wenn sie ihn anschaut, ist es nur kurz und verstohlen. Sie hat auffällig lange Finger und ist viel zu dünn.

Die Katze schleicht sich unbemerkt an und springt plötzlich auf seinen Schoß, wo sie zunächst laut schnurrend und mit halb ausgefahrenen Krallen auf der Stelle tritt, bevor sie sich in königlicher Haltung niederlässt. Orlando, der ein absoluter Hundemensch ist und mit Katzen gar nichts anfangen kann, wagt es kaum, sich zu bewegen. Sie maunzt auffordernd, und er sieht sich gezwungen, das weiche Fell zu streicheln.

Limona starrt ihn überrascht an. Sie hat noch nie erlebt, dass sich Elinor zu irgendjemandem auf den Schoß gesetzt hat. Selbst bei ihr tut sie das nur selten. Sie betrachtet den kleinen Mann, wie er da in ihrem Sessel sitzt, die rote Katze auf dem Schoß, und es sieht aus, als würde er schon immer da gesessen haben und wäre Teil ihrer geliebten Einrichtung.

Aber sie schüttelt den Gedanken ab. Was würde er dazu sagen? Wäre er nicht fürchterlich gekränkt, über das, was sie da denkt? Sie muss nachher dringend mit ihm reden. Sie muss ihm alles erzählen, denn er würde es ohnehin merken. So wie er alles spürt, was in ihr vorgeht. Das ist einerseits ein wunderschönes Gefühl, macht ihr aber auch manchmal Angst. Und jetzt hat sie den letzten Satz verpasst.

„Herr Müller, entschuldigen Sie bitte, ich war in Gedanken. Was haben Sie eben gesagt?“

„Ich habe über die Optionen bezüglich ihrer Grundstücke gesprochen. Verkaufen oder vermieten; beides hat Vor- und Nachteile. Ich habe dazu einige Unterlagen, die ich Ihnen zukommen lassen kann.“

„Gibt es eine Möglichkeit, dass sich jemand anderes komplett darum kümmert?“, fragt sie schnell. „Ich möchte am liebsten gar nichts damit zu tun haben.“

Orlando hebt erstaunt die Augenbrauen. Selbst bei seiner betagten Kundschaft hat er selten erlebt, dass jemand die Zügel sofort und vollumfänglich aus der Hand geben wollte. Er ist froh, dass er hier sitzt und nicht einer seiner Kollegen. Er räuspert sich. „Ich werde mich umhören. Wir sind ja eine Steuerkanzlei, aber wir haben gute Kontakte zu den Maklern in Hamburg. Allerdings müssten Sie sich wenigstens einmal mit dem Makler treffen, bzw. mit ihm telefonieren.“

„Kennen Sie eine Frau, die dafür infrage käme? Ich finde Männer immer so schwierig“, platzt es aus ihr heraus, und sie wird feuerrot, als sie merkt, was sie da eben gesagt hat.

In dem Versuch, es wieder gut zu machen, stottert sie: „Das gilt natürlich nicht für Sie, denn Sie sind ja nett, Sie …“

Limona bricht ab, weil ihr klar wird, dass sie alles noch schlimmer macht, und beinahe hätte sie etwas wirklich Peinliches gesagt. Sie hat einfach schon zu lange wenig Kontakt zu Menschen, und das betrifft insbesondere Männer.

Orlando hilft ihr. „Das kann ich gut verstehen. Manchmal spricht man einfach nicht dieselbe Sprache.“ Er lächelt freundlich, und Limona entspannt sich ein bisschen.

Um wieder etwas mehr Normalität einkehren zu lassen, bittet er trotz seines Sahne-Eisbechers und des Vorsatzes, in diesem Sommer ein weniger prachtvolles Bäuchlein im Schwimmbad zu präsentieren, um ein Stück des angekündigten Pflaumenkuchens. Wie schon vorhin fällt bei der Beschäftigung mit einer praktischen Tätigkeit alles Unbeholfene von ihr ab, sie bewegt sich zielgerichtet und anmutig. Orlando stellt fest, dass sich sein „Opfer“ wirklich gelohnt hat, denn der Kuchen ist so gut, dass er verzückt aufseufzt.

Mit vollem Mund quetscht er hervor: „Das ist der beste Kuchen, den ich je gegessen habe.“

Sie muss darüber lachen, und dann plaudern sie noch ein Weilchen entspannt; über Kuchenrezepte, den Frühling und Haustiere. Irgendwann ist Elinor, welche die ganze Zeit wie eine besonders luxuriöse Decke auf Orlandos Beinen geruht hat, auch bereit, den Gast zu entlassen.

Bei der Verabschiedung an der Haustür treffen sich ihre Blicke noch einmal. Limona wendet sich schnell ab und schließt die Haustür.

Orlando fährt wie auf Wolken zurück nach Hamburg. Er ist den ganzen Rest des Tages in Hochstimmung, und es gelingt ihm, das Gefühl bis zum frühen Abend zu genießen, ohne etwas zu planen oder zu hinterfragen.

Am Abend fährt er zum Treffen mit der Maklerin Sabina Kluge, die ihm sein Kollege Jörg auf seine Nachfrage hin empfohlen hat. Orlando war es wichtig gewesen, diesen Termin so schnell wie möglich zu vereinbaren, und vor allem, ihn auch persönlich wahrzunehmen.

Frau Kluge hat sich auf den kurzfristigen Termin mit ihm nur eingelassen, weil er bereit war, sich mit ihr in der Bar des Hotel Vintage zu treffen. Sie hatte ihm am Telefon erklärt, ihre Freizeit sei so knapp bemessen, dass es undenkbar wäre, heute noch ins Auto zu steigen. Orlando vermutet dementsprechend, dass sie in der Nähe des Hotels wohnen muss.

Im Vintage angekommen, wird er auf die Frage nach Frau Kluge in den kleinen Tagungsraum „The old Library“ geführt. Also doch kein Treffen an der Theke, wie er schon befürchtet hatte. Als er den kleinen, schummrigen Raum betritt, sieht er sie auf dem gemütlichen, altehrwürdigen Ledersofa sitzen.

„Guten Abend, Frau Kluge“, grüßt er sie schon von weitem und lässt sich ihr gegenüber in den Clubsessel fallen, der nach britischem Vorbild gestaltet ist; vielleicht handelt es sich sogar um ein Original. Er hebt den Blick und schaut in zwei Augen, grün mit goldenen Sprenkeln diesmal, die ihn wie ein Blitz durchfahren. Da ist er wieder, dieser Moment der atemlosen Stille, der gefühlt Minuten oder Stunden andauert. Da hier keine Katze dazwischenfunkt, dauert der Blickkontakt erheblich länger. Vielleicht säßen sie immer noch dort, wenn nicht irgendwann der Kellner erschienen wäre.

„Was darf ich Ihnen bringen?“

Orlando ist, als tauche er aus einer unergründlichen Tiefe wieder an die Oberfläche, er muss regelrecht nach Luft schnappen. Was ist das für ein verrückter Tag? Aber auch Sabina Kluge sieht aus, als käme sie von irgendwo weit weg wieder hierher. Sie antworten gleichzeitig auf die Frage des Kellners: „Einen doppelten Whiskey!“

Beide schauen sich erneut an und lachen laut. Der Bann ist gebrochen, und nun können sie sich endlich einander vorstellen.

„Ich bin Orlando Müller von der Kanzlei Störtebeker, mein Kollege Oberleitner hat Sie mir empfohlen“, stellt sich Orlando überkorrekt vor, denn schließlich weiß sie ja, wer er ist. Wie immer ist es eine Herausforderung, den Namen der Kanzlei wie selbstverständlich auszusprechen. Aber was soll man machen, wenn der Gründer wie ein berüchtigter Pirat heißt und nicht bereit ist, sich einen seriöseren Geschäftsnamen auszudenken?

„Ich bin Sabina Kluge, selbstständige Maklerin.“ Sie zwinkert ihm zu, und feiner Spott blitzt in ihren Augen. „Und, nun, Herr Müller von der Piraten-Kanzlei, wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie mit einer Stimme, die ihn an das Schnurren von Katze Elinor erinnert.

Orlando erzählt. In seine Ausführungen hinein erscheint der Kellner mit den Whiskeys. Sie stoßen etwas beklommen miteinander an, denn dieses Getränk ist nicht gerade das, was der Etikette für ein seriöses Geschäftsgespräch entspricht. Nachdem sie beide an dem wirklich guten Whiskey genippt haben, nimmt Orlando den Faden des Gespräches wieder auf.

„… und deshalb ist es enorm wichtig, dass ich mich darauf verlassen kann, dass Sie die Interessen meiner Mandantin gewissenhaft vertreten“, schließt er seinen ausführlichen Bericht ab.

Sabina nickt nachdenklich. „Ja, hier wäre es tatsächlich ein Leichtes, deutlich mehr als das Übliche zu verdienen. Das ist ja schon fast ein Blankoscheck! Aber ich persönlich schlafe gerne ruhig.“ Sie lächelt ihn gewinnend an. „Wie sieht es mit Ihnen aus? Sind Sie öfter mal als Robin Hood unterwegs?“ Sie zwinkert sie ihm zu.

Orlando errötet.

„Das ist einfach Teil unserer Geschäftsphilosophie“, redet er sich schnell heraus. Hoffentlich kommt jetzt nicht wieder ein Piratenwitz. Doch auch, wenn ihn seine Gesprächspartnerin skeptisch anschaut, hat er offenbar mit dieser kühnen Behauptung die Klippe zunächst erfolgreich umschifft.

„Wie kommt es eigentlich, dass wir hier sitzen können?“, lenkt er schnell das Gespräch auf andere Bahnen. „Das ist doch eigentlich ein Tagungsraum?“

„Ach, George schuldet mir noch den einen oder anderen Gefallen.“ Sie lächelt betont bescheiden.

Orlando braucht ein bisschen, bis er versteht, dass sie wohl George Lemon, den Geschäftsführer des Hotel Vintage, meinen muss. Er hebt eine Augenbraue, sagt aber nichts dazu.

„Deshalb habe ich beschlossen, meine Woche Auszeit hier zu verbringen.“ Sie zwinkert ihm erneut zu.

„Oh nein, ich störe Sie mit meinem Anliegen in Ihrem wohlverdienten Urlaub?“

„Nun ja, sagen wir es so, ich schulde Ihrem Kollegen Jörg auch noch den einen oder anderen Gefallen.“

„Sind Sie etwa alle bei der Mafia?“

Sabina wirft den Kopf in den Nacken und lacht schallend. „Fast. Jörg hat sich für diese Woche meiner Rauhaardackelin Trine erbarmt. Und wer Trine kennt, der weiß, was das bedeutet.“

Doch bevor sich Orlando über seinen Kollegen wundern kann, sind sie schon mitten im Gesprächsthema „Hunde und ihre Macken“ gelandet, und die Zeit fliegt nur so dahin. Nachdem sie noch schnell das Geschäftliche wie nebenbei abgeschlossen haben, beschließen sie, nebenan in die Bar zu gehen. Sie sitzen auch noch Stunden später dort, jetzt tatsächlich an der Theke, lachen und reden. Auf Empfehlung des Kellners haben sie noch zwei weitere Whiskey-Sorten probiert.

Orlando ist es, als geschehe das alles nicht ihm. So etwas passiert doch immer nur anderen. Morgen wird er aufwachen und sich über diesen merkwürdigen Traum wundern. Er schließt die Augen und genießt das schwebende, prickelnde Gefühl. Plötzlich spürt er, wie ein Finger zart über seinen Mund streift. Er öffnet die Augen und sieht Sabinas Gesicht ganz nah vor sich. Orlando rührt sich nicht. Er lässt geschehen, dass sie noch näherkommt und ihn schließlich sanft küsst. Er küsst zurück. Erst vorsichtig, dann fordernder. Es ist so aufregend, so verrückt, so schön; schöner als sein erster Kuss auf dem Abiball.

Nun sitzen sie also an der Bar und knutschen wie Teenager. Gerade als er das Gefühl hat, nun endgültig die Fassung zu verlieren, schiebt sie ihn sanft von sich, und schaut ihm lange und tief in die Augen.

„Nur für eine Nacht“, sagt sie, fast streng. Orlando nickt. Kurz blitzt Limonas Gesicht vor ihm auf. Er schüttelt das Bild energisch ab und folgt Sabina, die trotz seiner Gegenwehr die Rechnung übernommen hat, auf ihr Zimmer.

2. Kapitel

Der nächste Tag ist seltsam, denn er vergeht wie im Flug, und doch erlebt Orlando gefühlt jede einzelne Minute. Er ist übermüdet, aber auf diese angenehme Art, die dafür sorgt, dass er sich dadurch als etwas ganz Besonderes fühlt.

In der Kanzlei hat er auf Jörgs dumme Sprüche nur mit einem tiefgründigen Lächeln reagiert. Es macht ihm Spaß, endlich auch mal ein echtes Geheimnis zu haben.

Orlando spürt der Nacht, der Begegnung mit Sabina nach. Das war sein erster One-Night-Stand. Wie einfach, wie schön es gewesen war! Nie hätte er das für möglich gehalten. Er dachte immer, dass man sich danach zwangsläufig hundeelend fühlen müsse.

Er bedauert nicht, dass Sabina ihm heute Morgen noch einmal klargemacht hat, dass es bei dieser einen Begegnung bleiben und sich ihr weiterer Kontakt auf die rein geschäftliche Ebene beschränken wird. Sonst hätte er eine aktive Entscheidung treffen müssen, und das ist etwas, das Orlando nicht besonders gut kann. Denn ihm geht diese Begegnung im Wendland nicht aus dem Kopf.

So konnten sie nach einem luxuriösen Frühstück auf dem Zimmer mit einem guten Gefühl auseinander gehen. Beide mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen und einer schönen Erinnerung an einen außergewöhnlichen Geschäftstermin.

Orlando weiß jetzt also, dass er sich ohne schlechtes Gewissen um die faszinierende Limona bemühen kann.

Am Mittag ist er so aufgekratzt, dass er beschließt, einen Außentermin wahrzunehmen, den er schon eine Weile vor sich herschiebt. Er braucht dringend einen Tapetenwechsel, denn er hat das Gefühl, dass er gleich platzt, weil das Erlebte so lebendig vor seinen Augen steht. Am Ende verplappert er sich doch noch, und das will er Sabina nun wirklich nicht antun. Er möchte schließlich auch nicht, dass sie ihn zum Bürogespräch macht, indem sie mit ihrer Eroberung prahlt.

Der Kunde, zu dem er fährt, wohnt in Hohenhorn, einem winzigen Dorf, das südöstlich von Hamburg liegt.

Nachdem der April so eisig und regnerisch war wie seit Jahren nicht mehr, bringt der Mai nun den Frühling und ist wieder wie früher der Monat, in dem die Bäume ihre Blätter austreiben. Orlando fährt einen kleinen Umweg, der unterhalb des Geestrückens entlangführt, jenem Höhenzug nördlich der Elbe, der einen vergessen lassen kann, dass man sich im flachen Norddeutschland befindet. Er präsentiert sich an diesem Tag als eine Sinfonie aus zarten Grüntönen, die die dunklen Baumstämme überzuckern, und Orlando muss aufpassen, sich bei so viel überbordender Farbe auf den Verkehr zu konzentrieren. Eigentlich möchte er nur in die Natur schauen und nicht auf die Straße.

Daher beschließt er, einfach den letzten Teil seiner Strecke mit dem Fahrrad zurückzulegen. Die Statusbesessenheit seines Kanzleichefs, die ihn sonst ziemlich nervt, hat in dieser Hinsicht einen echten Vorteil, denn der große Firmen-Mercedes bietet ausreichend Platz für sein Fahrrad.

Orlando hat es immer dabei, und das ist das Geheimnis seiner unschlagbaren Pünktlichkeit bei den Innenstadt-Terminen. Wie oft hat er schon bei hoffnungslosen Verkehrssituationen das Auto einfach irgendwo abgestellt und ist per Rad in glatt dreifacher Geschwindigkeit am Ziel gewesen. Da sein Chef aber auf das Statussymbol Firmenwagen besteht, fährt Orlando den Mercedes artig vom Hof, parkt ihn dann nach Bedarf außer Sichtweite, und so sind alle zufrieden.

Heute jedenfalls wird er sein mondhohes Überstunden-Aufkommen nutzen, um eine echte Radtour zu machen. Ihm steht der Sinn nach körperlicher Bewegung und mentaler Ruhe. Er ruft seinen Chef an und teilt ihm mit, dass er nach seinem Termin nicht mehr in die Kanzlei kommen wird. Da Dr. Störtebeker genau weiß, was Orlando in letzter Zeit für die Kanzlei geleistet hat, gibt es von seiner Seite keine Einwände.

Er parkt sein Auto in einer Seitenstraße des Dorfes mit dem seltsamen Namen „Börnsen“, holt sein Fahrrad aus dem Kofferraum und zieht die Schmutzabwehrkleidung über seinen Anzug. Es ist gerade kühl genug, dass das noch funktioniert. Wenn die Temperaturen steigen, wird er sich etwas Neues einfallen lassen müssen.

Eine Frau mit einem schwarzen, hässlichen Hund mustert ihn misstrauisch, und auf seinen freundlichen Gruß wendet sie sich mürrisch ab. Orlando zuckt mit den Schultern und schwingt sich auf sein Rad.

Während er in die Pedale tritt, rauscht eine Farb-und Pflanzenfülle an ihm vorbei, die er bis gestern gar nicht wahrgenommen hat. Zartgrüne Buchen, zögerlich knospende Eichen, lockige Weiden und Stiefmütterchen in allen Farben. Je näher er Hohenhorn kommt, desto mehr mischen sich zum Hellgrün der Bäume dunkelgrüne Felder, schwerduftender, hellgelber Raps und rosa-weiß schwellende Obstbäume. Dazu kommen Gärten, die mit so einer zuckrig-süßen Blütenpracht aufwarten, dass Orlando fast schwindelig davon wird. Nachdem er sich mit dem Rad den Geesthang hochgearbeitet hat, macht er an einer Holzbank mit Tisch eine Pause, direkt neben einem kleinen Teich, auf dem sich kleine Wellen kräuseln. Ein Vogelkonzert hüllt ihn ein, angeführt von frech tschilpenden Spatzen. Eine braune Wildgans zieht durch das Wasser, ein frischer Wind weht, und zarte weiße Wolken betupfen den Himmel.

Orlando hält sein Gesicht lächelnd in die Sonne und wünscht, er könne diesen Moment ewig genießen. Er genehmigt sich zur Feier der Schönheit des Augenblicks noch eine Rippe der sündhaft teuren, handgeschöpften Schokolade, die er in der Aktentasche gelassen hat.

Orlando denkt an Limona Siebenschön. Was für ein Name! Er sieht ihre blauen Augen vor sich und hört ihr feines Lachen. Dann, ohne seinem Verstand die Chance zu geben, sich dazwischenzuschalten, greift seine Hand wie von selbst in die Tasche, holt das Handy heraus und sucht den Kontakt Siebenschön aus dem Adressbuch. Er drückt auf „Anrufen“ und lauscht mit angehaltenem Atem dem Tuten im Handy. Er beschließt, es bis zum zwölften Klingeln auszuhalten, denn er weiß von ihrer ersten Kontaktaufnahme, dass Frau Siebenschön immer sehr, sehr lange braucht, um an ihr Telefon zu gehen. Er fühlt sein Herz klopfen und seinen Atem schneller werden. Gerade als er gleichzeitig entspannt und enttäuscht auflegen will, hört er plötzlich ihre atemlose Stimme im Hörer.

„Hallo?“

„Hallo.“

„Wer spricht da bitte?“

„Herr Müller.“

„Welcher Herr Müller?“

Orlando geht nervös auf und ab. Hat sie ihn vergessen oder kennt sie so viele Müllers?

„Orlando Müller von der Kanzlei Störtebeker.“

Stille auf der anderen Seite.

Er hört im Hintergrund Vögel zwitschern, sie ist also auch draußen. Vielleicht sollte er das Handy einfach an die Spatzen im Strauch neben ihm weitergeben, und dann könnten sich die Hohenhorner Vögel mit den Wendlandamseln austauschen. Vermutlich würden die einen viel besseren Job machen als sie beide gerade.

„Ich wollte Ihnen sagen, dass ich einen Kontakt zu einer Maklerin herstellen konnte, die sich verantwortungsvoll um Ihre Grundstücke kümmern würde“, rettet Orlando sich ins Geschäftliche. Dann wird er feuerrot, denn er muss in dem Moment an Sabina in ihrem schwarzen Seidennachthemd denken.

„Ach so. Vielen Dank, Herr Müller.“

Irrt er sich oder hat er da eine gewisse Enttäuschung in ihrer Stimme gehört?

Todesmutig fragt er: „Wollen wir mal einen Kaffee zusammen trinken gehen? Als Revanche für den leckeren Kuchen gestern?“

„Das ist unmöglich!“, kommt sofort eine Ansage in einem unerwartet scharfen Tonfall.

„Oh, entschuldigen Sie bitte, das war nur ein Vorschlag, weil Sie mich so fürstlich bewirtet haben.“

Orlando fühlt sich wie der letzte Idiot. Gleich wird sie ihm die berechtigte Frage stellen, ob er das mit all seinen Klienten so macht. Am liebsten würde er sofort auflegen, aber das geht aus beruflichen Gründen nun mal nicht.

„Ich würde ja gern, aber ich kann nicht.“ Jetzt flüstert sie.

Was ist da los?

„Also, Herr Müller, ich bin zurzeit beruflich einfach sehr eingespannt. Vielen Dank für Ihr nettes Angebot. Vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt?“

Das sagt sie jetzt so laut und geschäftsmäßig, dass er sich auf einmal sicher ist, dass jemand bei ihr sein muss. Denn dass sie beruflich so eingespannt ist, dass sie keinen Kaffee trinken kann, hält er aufgrund seiner Kenntnis ihrer Situation für eher unwahrscheinlich. So verabschiedet er sich höflich und drückt sein Handy aus.

Der schöne Tag hat seinen Glanz verloren, und all das Frühlingslocken ist nun an Orlando gänzlich verschwendet. Er packt stumm seine Sachen zusammen, schwingt sich auf sein Fahrrad und fährt mit gesenktem Kopf zu seinem Termin.

Limona steht in ihrem Garten, das Handy in ihrer Hand, die jetzt kraftlos herabgesunken ist.

Mist, Mist, Mist!, flucht sie innerlich, ein ums andere Mal. Wie kann man nur so ein wirres Zeug von sich geben? Der nette Mann von der Kanzlei muss sie für verrückt halten. Damit läge er auch gar nicht falsch. Traurig lehnt sie sich an Friedhelms Seite, der ihr wie immer unerschütterlich zur Seite steht. Sie starrt auf die Lichtsprenkel auf dem Boden, als könnte sie daraus eine Antwort lesen. Dann löst sie sich, richtet sich auf und sagt: „Friedhelm, wir müssen reden.“

Er steht da, aufmerksam und freundlich wie immer. Sie schafft es nicht. Sie kann es nicht übers Herz bringen, es ihm zu sagen, ihm zu sagen, dass es da jemanden gibt, nach so vielen Jahren, den sie gerne näher kennenlernen würde.

So sagt sie: „Kannst du dich vielleicht doch mit den purpurfarbenen Rosen anfreunden?“

Als sie später wieder ins Haus geht, das nach dem Licht und der Wärme draußen etwas Friedhofsgruft-artiges ausstrahlt, ärgert sie sich immer noch über sich selbst. Warum muss sie auch immer, wenn das Telefon klingelt, gleich zu ihm laufen, warum schafft sie es so selten, ohne seine unterstützende Gegenwart ein Gespräch anzunehmen?

Immerhin hat sie jetzt unerwartet das Thema mit den Rosen geklärt. Wochenlang gab es in der Diskussion keine Bewegung.

Limona seufzt. Vielleicht ist es besser so. Was soll da auch bei herauskommen, wenn sie den netten, den süßen Herrn Müller noch mal trifft? Ganz abgesehen davon, dass es absolut undenkbar wäre, Kaffee trinken zu gehen.

Ihr Blick fällt auf den Sessel, auf dem jetzt Katze Elinor ruht. Gestern hat er hier noch gesessen …

„Jetzt reicht es aber!“, schimpft Limona vor sich hin. Sie sollte froh sein, wenn alles so bleibt, wie es ist, sagt sie sich. Sicher. Überschaubar. Diese Erbschaft hat schließlich genug Aufregung in ihr Leben gebracht.

Und sie könnte es Friedhelm auch nicht antun, das wäre Verrat. Sie denkt an seine Zuverlässigkeit, seine Güte, und wie hübsch er eben in seiner Frühlingsbekleidung ausgesehen hat. So geht sie wieder in den Garten, schmiegt sich an ihn und versucht, den kleinen lockigen Steuerberater mit den funkelnden Augen zu vergessen.

Der andere Teil von Limona, der sich immer zu den unpassendsten Augenblicken meldet, steht neben ihr und schüttelt mitleidig den Kopf. Er will etwas sagen. Doch sie wird dieser Stimme nicht zuhören, denn sie hat auch keine Lösung für sie.

„Lass uns in Ruhe“, zischt sie ihr anderes Ich an, und mit einem letzten bedauernden Blick verschwindet es wieder in ihrem Unterbewusstsein. Limona lauscht dem beruhigenden Murmeln von Friedhelm, dann sinkt sie zu Boden und schläft, eng an ihn gekuschelt, tief und fest ein.

Sabina sitzt auf dem Balkon ihres Hotelzimmers und raucht. Dabei hatte sie dieses Laster eigentlich schon für lange besiegt gehalten. Aber seit mehreren Wochen ist es zurückgekehrt wie ein lästiger, schnorrender Verwandter.

Sie bläst kunstvolle Rauchringe in den blauen Maihimmel und hängt ihren Gedanken nach. Heute Morgen hatte sie noch das Gefühl, ungeheuer vernünftig und erwachsen zu sein. Dabei wäre es vor allem vernünftig und erwachsen gewesen, sich gar nicht erst einen Mann auf ihr Zimmer zu holen, wie sie sich jetzt eingestehen muss. Sie wollte doch Abstand gewinnen, ihre Scheidung gewissenhaft verarbeiten, wenigstens einmal allein ihre Probleme lösen. Hat ja super geklappt. Sie schnippt ihre Zigarette ungezogen am Balkongeländer aus. Die Asche rieselt nach unten, direkt auf den Glatzkopf eines der wohlhabenden Gäste. Sabina duckt sich weg und wartet, ob sie vielleicht ein empörtes Schimpfen hört. Sie linst vorsichtig durch das Geländer des Balkons. Sie will gerade erleichtert ausatmen, da bemerkt sie, dass sie vom Nachbarbalkon aus beobachtet wird. Sie grinst pseudo-unschuldig in das indignierte Gesicht eines gediegenen Geschäftsmannes und flüchtet in ihr Zimmer.

Oh Mann.

Apropos Mann. Sie hatte sich wirklich sicher gefühlt bei diesem Mann, eben weil er so gar nicht ihr Typ ist. Wären sie nicht zu der Besprechung verabredet gewesen, sie hätte ihn gar nicht bewusst wahrgenommen. Zumindest ganz bestimmt nicht als Kandidaten für eine proaktive Ablenkung vom Herzschmerz.

Und nun?

Nun vermisst sie diesen in so vielen Dingen absolut ungewöhnlichen kleinen Steuerberater. Ein One-Night-Stand mit einem Steuerberater, allein wie das klingt!

„Zum Glück bin ich kein Snob“, sagt Sabina ironisch zu ihrem Spiegelbild. Aber das kann ihr jetzt auch egal sein. Und was das andere angeht – sie hat die Regeln schließlich selbst gemacht. Nun muss sie auch mit den Konsequenzen klarkommen.

Sie schielt zum Handy.

Nein, dieses eine Mal wird sie nicht gleich wieder ihren Freund Jan anrufen. Sie weiß sowieso, was er sagen wird. Sie hat die Position der Vernunft in letzter Zeit schon viel zu oft an ihn delegiert.

Wer nur die Maklerin Sabina kennt, ahnt nicht, dass sich hinter ihrem professionellen Berufs-Ich eine flatterhafte Chaotin in Sachen Liebe verbirgt. Auch vor den meisten Freunden verbirgt sie diese Seite von sich, denn sie macht sie ungeheuer verletzlich, und damit hat sie leider schlechte Erfahrungen machen müssen.

Aber Jan, ihr schwuler Kumpel, hat noch nie ihr Vertrauen missbraucht. Sie kennen sich seit der Schule, und haben nie den Kontakt verloren.

Aber diesmal möchte sie nicht schon wieder eine weitere Verrücktheit beichten.

Wie eindringlich hat er sie damals vor der Ehe mit Frederic gewarnt, und was war sie wütend auf ihn gewesen. Aber es ist eben kein gutes Zeichen, wenn ein so loyaler Freund sich weigert, den Trauzeugen zu machen. Sie war also zuerst enttäuscht von ihm, später dann von Frederic, und zuletzt von sich selbst. Was für eine oberflächliche Ziege sie gewesen war, allein schon diese Main-Stream-Hochzeit nach amerikanischer Schablone! Warum?

Zuviel schlechte Liebesromane gelesen.Geschieht mir ganz recht.

Aber ab sofort wird sie sich ändern. Sie wird den süßen Steuerberater jetzt in Gedanken weit weg auf Kaperfahrt mit Dr. Störtebeker schicken und stattdessen den Yoga-Kurs des Hotels mitmachen, um sich auf diese Weise zu läutern. Das mit dem regelmäßigen Yoga ist auch so eine Sache. Wie kann man nur im Beruflichen so gut organisiert sein und privat so dermaßen mangelhaft?

Sabina steckt ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und macht sich in Windeseile daran, ihre Yogasachen zusammen zu suchen.

Orlando ist froh, noch etwas Strecke vor sich zu haben, und seine schlechten Gefühle in die Pedale hauen zu können. Was hat er sich nur gedacht? Er selbst macht sich eine schöne Nacht und erwartet, dass Frau Siebenschön freudestrahlend nur auf ihn gewartet hat!

Auch wenn er eigentlich weiß, dass keinerlei Zusammenhang besteht, fühlt es sich an, als hätte er etwas Falsches getan. Als sei dies die gerechte Strafe dafür, dass er sich auf Sabinas Aufforderung eingelassen hat. Orlando ist normalerweise nicht der Typ für Selbstvorwürfe der wenig konstruktiven Art. Er beschließt, das Tempo zu erhöhen, um die Gedanken zurückzudrängen.

Als er an dem ehemaligen Bauernhof ankommt, ist er aus der Puste und zerzaust. Während er das Rad sichert, versucht er seinen Atem zu beruhigen. Gerne würde er noch ein wenig warten, bevor er klingelt, aber er weiß aus Erfahrung, dass ältere Leute, besonders auf dem Land, gerne auf der Lauer liegen und alles ganz genau beobachten, was sich vor der Haustüre abspielt.

So muss er sich mit dem Zehnfingersystem für die Haare begnügen und darauf vertrauen, mit schlichtem Rückwärtszählen zu einer akzeptablen Atemfrequenz zu kommen.

Wie befürchtet öffnet sich die Tür, kaum dass seine Finger den altmodischen Klingelknopf aus Messing berührt haben. Ein hochgewachsener, weißhaariger Mann mit überraschend blauen Augen strahlt ihn an.

„Moin, junger Mann! Sind Sie der Herr von der Kanzlei Störtebeker?“

„Ja, guten Tag, Herr Witt, Orlando Müller mein Name. Wie schön, dass wir uns heute persönlich kennenlernen.“

„Kommen Sie erst mal rein, sie sind ja noch ganz außer Puste. Hat die Kanzlei Ihnen denn kein Auto spendiert?“

So viel zum Thema effiziente Atemberuhigung durch Zählen. Orlando wird rot und muss nun also gleich zu Beginn sein kleines Geheimnis mit seinem neuen Klienten teilen. Er beichtet seine Vorliebe für das Radfahren, und wie ihn der schöne Frühlingstag zu einer Extratour verführt hat.

„Ich finde, das ist ’ne prima Sache, min Jung, wenn man nicht alles immer nur mit dem Auto macht. Würden das alle tun gäb, es keinen Klimawandel. Komm mal mit, ich hab uns prima Kuchen von Sandra und Corinna geholt. Zwei tolle Mädels. Mit dem Selberbacken hab ich’s nicht so, das hat immer meine Dolores gemacht.“

Orlando folgt seinem Klienten, der ihn jetzt schon duzt. Das kann manchmal ein Vorteil sein, und manchmal ein veritabler Nachteil. Ändern kann er es jedenfalls jetzt nicht mehr.

Sie gehen durch einen dunklen Flur in eine helle, in weißem Holz gehaltene Küche, die mit Akzenten in Friesisch-Blau besticht. Blaue Vorhänge, blaues Geschirr, blaue Regale. Kleine Porzellanfiguren mit maritimen Motiven sorgen für eine altmodische Gemütlichkeit, und ein Strauß bunter Wildblumen auf einem großen Holztisch bringt zusätzlich Farbe in den Raum.

„Die Küche hat um diese Tageszeit das beste Licht, darum machen wir es uns hier gemütlich. Hat alles Dolores dekoriert und eingerichtet. Hab ihr versprechen müssen, immer Blumen im Haus zu haben.“

Herr Witt lächelt liebevoll und gleichzeitig traurig bei seiner Erinnerung.

„Aber zum Glück bin ich richtig gut im Kaffeekochen!“, sagt er dann, grinst schelmisch und bricht damit die Schwermut, die kurz im Raum lag. Er schenkt ihnen ein; trotz seines hohen Alters wirkt er drahtig und bewegt sich zielgerichtet. Mit seiner dunkelblauen Leinenhose und dem weißen Hemd könnte man ihn vom Fleck weg für eine Modenschau mit dem Titel „Cooler Look auch im Alter“ buchen.

Orlando denkt, dass er selbst derzeit eine wesentlich weniger gute Figur macht, und das wird sicher nicht besser, wenn es so weitergeht mit dem dauernden Kuchenessen auf den Auswärts-Terminen. Doch Ablehnen wäre undenkbar, denn bei diesem Kunden hat sein Chef ihm persönlich eingeschärft, dass er alles tun muss, um ihn bei der Stange zu halten, da eine Menge Geld im Hintergrund vorhanden ist. Dementsprechend ist seine Gegenwehr auch nur schwach, als Herr Witt ihn zu einem kolossalen Tortenstück und einem zusätzlichen Schuss Rum für den Kaffee mit Sahne obendrauf nötigt.

Sie sitzen am Tisch und plaudern, wobei Orlando vor allem zuhört, während Herr Witt aus seinem bewegten Leben und mehr als vierzig Jahren Seefahrt erzählt. Er hat seine Karriere als einfacher Schiffsjunge begonnen, und sich in langen Jahren Stück für Stück dem höchsten und edelsten Rang genähert, den die zivile Seefahrt zu bieten hat: dem Schiffslotsen. Der Hamburger Hafen der fünfziger Jahre, den Herrn Witt in seinen Erzählungen wieder auferstehen lässt, erscheint Orlando als eine völlig fremde Welt.

„Ich bin als vierzehnjähriger Jung mit fünfzig D-Mark nach Hamburg gekommen, musste ich mich erst mal ganz allein durchschlagen. Ich habe ziemlich lange auf dem Stall gelegen.“

„Auf dem Stall gelegen?“

„Das heißt, man wartete, bis man einen Platz auf einem Schiff bekam. Und das war nun gar nicht so einfach, denn es war ja erst kurz nach dem Krieg. Die Briten hatten gerade erst die Kontrolle des Hafens eingestellt und den Schiffsbaustopp für Deutschland aufgehoben. Ich hab jeden Tag schon um sieben die Heuerstelle gefegt und Botengänge für die anderen Matrosen gemacht. So habe ich zu essen bekommen und konnte durchhalten. Habe dann auch einen Platz im Seemannsheim bekommen, das war ein sehr ordentliches und sauberes Quartier. Nur sonntags war es schwierig, da konnte ich nicht raus, war viel zu gefährlich, denn die Polizei hätte mich sofort aufgegriffen. Ich war ja noch minderjährig. Das hieß dann oft Kohldampf schieben. Überhaupt, das mit dem Essen - im Heim war essen nicht erlaubt. Wenn ich mal was dabeihatte, hab ich das dann auf dem Klo verputzt.“

Orlando staunt. Was für eine andere Welt das war! Herr Witt erzählt von den gefährlichen Messerstechereien im Hafen, den leichten Mädchen und den Seemännern, die sich beim Warten auf einen Heuerplatz die Zeit mit Spielen, Fluchen und Geschichtenerzählen vertrieben.

Er erzählt, wie er es geschafft hat, mit nur sechs Jahren Volksschule auf der Seefahrtschule einen Abschluss nach dem anderen nachzuholen. Er erzählt von den Fahrten nach Chile, den USA, Grönland und vielen anderen Ländern und von den Passagen über den Nordatlantik, die von rauem und gefährlichem Wetter begleitet waren.

„Und dann hab ich als Matrose, als ich schon ein bisschen Geld hatte, mal eine halben Zirkuswagen gemietet. In der anderen Hälfte haben zwei Damen aus dem horizontalen Gewerbe gewohnt. Die hab ich aber nur selten gesehen, wir hatten einfach zu verschiedene Arbeitszeiten.“

Er erzählt, was er alles für die Patente lernen musste, die er erworben hat, unter anderem Astronomie und Trigonometrie für die Navigation. So wurde er Steuermann, Kapitän und schließlich Lotse.

Orlando ist fasziniert von den lebendigen Schilderungen eines Berufes, von dem er zuvor keine Ahnung hatte.

Nach über einer Stunde und anderthalb Stück Torte sowie zwei weiteren Pharisäern lenkt er das Gespräch dann schließlich sanft auf das Geschäftliche um.

Er erfährt, dass Herr Witt nach pfiffigen Möglichkeiten sucht, damit seine Erben nach seinem Tod möglichst wenig Steuern bezahlen müssen.

„Mir geht es nicht darum, Vater Staat eins auszuwischen“, sagt Herr Witt, oder vielmehr Hendrik, denn mittlerweile hat er Orlando das Du offiziell angeboten. Er hält einen Moment inne, dann blitzt wieder der Schalk in seinem Gesicht auf. „Aber das bespricht sich doch besser in meinem Arbeitszimmer. Da ist der Zutritt allerdings nur mit Bommerlunder gestattet.“

Orlando ist jetzt an dem gefährlichen Punkt angekommen, an dem ihn der Alkohol sorglos macht. Das führt dann meist zu einer gewissen Selbstüberschätzung. Er denkt an die Worte seines Chefs: Alles, was nötig ist, Herr Müller! und nickt lässig. Dabei entgeht ihm, dass sich sein Gegenüber ein freches Grinsen verkneifen muss.

Hendrik Witt hat schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt wie heute. Er weiß, dass es nicht ganz fair ist, den netten jungen Mann so abzufüllen. Aber der Jung wird das schon verkraften. Es ist einfach so verlockend, mal wieder mit jemandem zu reden, für den seine Geschichten noch neu sind, der intelligent und interessiert ist. Außerdem hat er den Eindruck, dass es auch dem kleinen Steuerberater äußerst guttäte, sich mal richtig auszusprechen. Hendrik hat einen Blick für unterdrückte Leidenschaften, eine Fähigkeit, die er in seinen vielen Lebensjahren perfektioniert hat. Außerdem ist er fest davon überzeugt, dass ein Mann, der Orlando heißt, sein Leben nicht nur mit Zahlen und Akten verbringen sollte. Natürlich wird er so oder so in der Kanzlei Kunde werden, allein schon wegen des Namens Störtebeker, aber er ist auch beeindruckt von Orlandos professioneller Beratung. Denn obwohl der nach dem zweiten Bommerlunder, den Hendrik ihm mit dem uralten Trinkspruch „auf einem Bein steht man schlecht“ eingeholfen hat, definitiv Mühe hatte, seinen seriösen Eindruck weiter aufrecht zu erhalten, war er immer noch in der Lage gewesen, aus dem Stehgreif die wichtigsten Optionen für ein ausgeklügeltes Steuersparmodell zu erläutern.

Mit eleganter Finesse gelingt es Hendrik, Orlando auch noch zu zwei weiteren Gläsern zu überzeugen. Nun wird es richtig gemütlich. Der Jung verträgt ja offenkundig nicht besonders viel.

Er selbst hat nach dem zweiten Glas aufgehört, schließlich muss er auf seine Gesundheit achten. Er wird sich vermutlich mal wieder eine neue Topfpflanze kaufen müssen, denn aus irgendeinem Grund vertragen die Dinger einfach keinen anständigen Schnaps. Er selbst wäre früher jedenfalls nach dem bisschen Bommerlunder nicht in so einem Zustand seliger Entrücktheit gewesen, in dem Orlando sich jetzt befindet.

Gerade hat er ihm einen seinen Liebling-Shantys beigebracht und ihn außerdem noch dazu überredet, Mitglied in seinem Männerchor zu werden. So schöne Stimmen wie Orlandos werden dort händeringend gesucht.

Nachdem sie auch noch „All for me grog“ geschmettert haben, trinkt Orlando jetzt ganz von allein einen vierten Bommerlunder. Er kippt ihn auf einen Zug, setzt ihn ab und seufzt theatralisch.

Nach der ausgelassenen Stimmung von eben folgt jetzt die Katzenjammerphase. Hendrik kennt dieses Procedere aus dem Effeff und hat es nicht selten zu seinen Gunsten eingesetzt. Er setzt sich also gemütlich in seinem Schaukelstuhl zurecht und lauscht.

Wie er ganz richtig vermutet hat, ist Orlando eigentlich ein nahezu altmodischer Schöngeist und hat das Pech, etwas exzellent zu beherrschen, das gesellschaftlich anerkannt ist und gutes Geld einbringt. Wehe den Menschen, die mit diesem Talent geschlagen sind, und deren Herzen doch eigentlich für etwas ganz anderes brennen. Orlando aber scheint einen Weg gefunden zu haben, sich damit ohne große Probleme zu arrangieren. Was ihn gerade so durcheinanderbringt, muss also etwas anderes sein.

„Was macht die Liebe?“, landet Hendrik punktgenau seinen Treffer, der Orlandos Abwehr zusammenbrechen lässt.

„Ich habe alles falsch gemacht!“, jammert der prompt und seufzt voller Selbstmitleid. Und dann erzählt er.