Die Wahrheit und andere Erinnerungen - Imbi Neeme - E-Book

Die Wahrheit und andere Erinnerungen E-Book

Imbi Neeme

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Beschreibung

In einem sind sich alle sicher: Der Autounfall im Sommer 1982 war ein Wendepunkt. Damals kam Tina mit ihren beiden kleinen Töchtern Sam und Nicky plötzlich von der Straße ab. Der Wagen überschlug sich, aber niemand wurde ernstlich verletzt. Vater Craig gab Tina die Schuld, die oft zu viel trank. Nach diesem Ereignis blieb Sam beim Vater, Nicky zog zur Mutter. Als erwachsene Frauen leben Nicky und Samantha ganz unterschiedliche Leben. Aber zwischen Partnerschaft und Karriere, Mutterschaft und Kinderlosigkeit lässt sie die Erinnerung an damals nicht los. Was ist wirklich geschehen? Um das herauszufinden und nicht dieselben Fehler wie ihre Eltern zu begehen, müssen die Schwestern das schier Unmögliche tun: das Ungesagte aussprechen, die eigene Geschichte neu zusammensetzen.

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Seitenzahl: 409

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Imbi Neeme

Die Wahrheit und andere Erinnerungen

Roman

Aus dem australischen Englisch von Andrea O’Brien

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

The Spill bei Penguin Random House Australia Pty Ltd.

 

© der deutschsprachigen Ausgabe

2022 Arche Literatur Verlag AG, Zürich – Hamburg

© 2020 Imbi Neeme

Alle Rechte vorbehalten

Rechtevermittlung: Michael Meller Literary Agency

Lektorat: Nina Hübner

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-137-3

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

Für meine Schwestern

Nach dem Unfall

1982

Die beiden Mädchen warteten auf der Veranda vor dem Bruce Rock Pub auf ihre Mutter, doch an diesem heißen Spätnachmittag brachte ihnen selbst der Schatten keine Erleichterung. Um sich die Zeit zu vertreiben, ließen sie die Beine baumeln und wirbelten dabei heiße Luft und roten Staub auf, während unter ihnen einige hechelnde Hunde auf ihre Besitzer warteten.

Drinnen trank Tina, die Mutter der Mädchen, mit den Stammgästen um die Wette. Ein starker Drink war jetzt genau die richtige Medizin, um den Schrecken des Unfalls und den ganzen Mist davor zu vergessen. Die anderen Gäste fanden es amüsant, dass eine Dame aus der Stadt ganz selbstverständlich am Tresen ihrer Kaschemme saß und mitsoff, als würde sie dazugehören.

»Mein verdammter Mann kommt jetzt den ganzen verdammten Weg aus Perth angefahren«, erzählte sie, »nur wegen dem verdammten Unfall.«

Einer der Alten hob sein Glas. »Auf den verdammten Unfall!«, grölte er.

»Auf den verdammten Unfall!«, stimmten die anderen ein und hoben ihre Gläser.

Lachend prostete Tina ihnen zu, als wäre der Unfall ein Anlass zum Feiern.

Hin und wieder brachte der Wirt den Mädchen Limonade nach draußen, die allerdings wässrig schmeckte, weil die Eiswürfel so schnell schmolzen. Beim dritten Mal kam Tina mit raus und drückte ihnen eine Tüte Samboys Salt and Vinegar in die Hände.

Als Samantha, das jüngere Mädchen, ihre Mutter sah, sprang sie schnell auf die Füße. »Kommt Daddy?«, fragte sie, aber Tina hörte nicht zu. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Wirt.

»Ist es nicht wunderbar, wie Bevan sich um uns kümmert?«, lallte sie.

»Evan«, korrigierte der Wirt.

»Evan. Was sagt man, Mädchen?«

Die beiden dankten dem Wirt, eine nannte ihn Bevan, die andere Evan.

Evan/Bevan nickte kurz und verschwand wieder in der Bar. Tina wollte ihm folgen, aber Samantha hielt sie fest.

»Mum?« Die Frage nach ihrem Vater hing noch in der Luft.

Tina seufzte und wand sich sanft aus ihrem Griff. »Ja, Sammy. Euer Vater ist auf dem Weg … keine Ahnung, was das bringen soll.«

Als sie die Tür zur Bar aufschob, brach drinnen Jubelgeschrei aus.

»Glaubst du, er ist bald hier?«, fragte Samantha ihre Schwester.

»Klar.« Weil sie älter war, fühlte Nicole sich verpflichtet, mit einer Sicherheit zu antworten, die sie nicht empfand.

»Wieso ist das Auto einfach umgekippt?«

»Ich glaube, Mum ist zu schnell in die Kurve gefahren.«

»Hast du ihr gesagt, dass sie sich beeilen soll?«

»Blödsinn!«, rief Nicole wütend. »Wieso sollte ich?«

»Weil du dein Young Talent Time nicht verpassen wolltest.«

Nicole verzog das Gesicht. »Erzähl doch keinen Quatsch.«

Dann baumelten sie wieder mit den Beinen. Der blaue Fleck auf Samanthas Oberschenkel, direkt über dem Knie, war bereits angeschwollen.

»Der wird bestimmt schön bunt«, sagte sie zufrieden. »Den zeige ich am Montag allen in der Schule.«

Nicole konzentrierte sich immer noch auf ihre finstere Miene, als Samantha den Verband über dem linken Auge ihrer Schwester berührte. »Tut’s weh?«

Nicole zuckte die Achseln. »Bisschen.«

»Aber dein Schnitt ist nicht so groß wie mein Fleck«, behauptete Samantha, und dann bemerkte sie die Wölbung in der Brusttasche von Nicoles Kleid. »Hey, was hast du da drin?«, fragte sie.

»Nichts«, sagte Nicole, aber ihr Ton verriet sie.

»Ein Lolli! Unfair!«, rief Samantha. »Wieso hast du so einen und ich nicht?«

»Weil sie mich genäht haben.«

Nach dem Unfall hatten ein paar Leute angehalten, sie in Decken gewickelt und hinten in ihrem Kombi ins Bruce Rock Memorial Hospital gebracht. Zwei Stunden lang hatten sie zusammen mit einigen verletzten Samstagmorgensportlern in der Notaufnahme gewartet, aber am Ende brauchte nur Nicole medizinische Hilfe. Danach hatte ihr die Schwester einen Lolli für ihre Tapferkeit hingehalten, und Nicole hatte ihn genommen, obwohl sie jetzt schon in der Siebten und damit viel zu alt war für Lollis.

»Mein Fleck ist größer, aber ich hab nichts gekriegt«, jammerte Samantha. »Komm, wir teilen ihn uns. Wir lutschen nacheinander, okay?«

»Wäh! Eklig!«

Samantha versuchte, ihr den Lolli aus der Tasche zu ziehen. »Gib her! Du willst ihn doch sowieso nicht.« Ihre Stimme wurde immer schriller, wie ein Wasserkessel kurz vorm Kochen.

Nicole seufzte, rückte den Lolli aber raus. Wenn ihre Schwester so anfing, gab man besser nach. Zufrieden schob Samantha den ergatterten Schatz in die Tasche ihres Kleids. Dann ließ sie wieder die Beine baumeln, als wäre nichts geschehen.

 

»Wo ist eure Mutter?«

Das war Craigs erste Frage, noch bevor er seine Töchter begrüßte oder sich erkundigte, ob sie verletzt waren.

Nicole nickte in Richtung Bar. »Da drin.«

»War sie davor auch schon hier?«

»Wovor?«

»Vor dem Unfall.«

Der war zwar erst ein paar Stunden her, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit ihr Wagen von der Straße abgekommen war. Alles, was davor gewesen war, selbst die kalte Toastscheibe beim Frühstück im Motel, war jetzt schon so weit weg, so fremd, als wäre das alles gar nicht ihnen passiert, sondern zwei anderen Mädchen und deren Mutter.

Nicole kratzte sich am Kopf. »Ich hab sie mit einer …«, setzte sie an, beendete den Satz aber nicht. »Nein, sie hat nichts getrunken.«

»Sicher?«

»Wir sind zu schnell gefahren«, sagte Samantha.

»Sind wir nicht«, zischte Nicole.

»Hast du gesagt!«

»Gar nicht.«

»Mädchen!«, rief Craig. Er streckte die Hand aus und berührte sanft Nicoles Gesicht, die Stelle über dem Verband. Sein Ärger schmolz wie Butter in der Sonne. »War’s schlimm, Nic?«

»Nee. Sieben Stiche hab ich gekriegt, hat aber nicht wehgetan. Nicht doll.«

»Hast du vorn gesessen?«

»Nein, ich!«, rief Samantha dazwischen. »Hab Nicole überredet.«

»Gar nicht! Mum hat gesagt, wir sollen Plätze tauschen.«

»Hat sie nicht!«

»Egal«, sagte Craig, je eine Hand auf den Schultern seiner Töchter. »Wichtig ist nur, dass Sammy vorn war. Sie ist zu jung, um ohne Gurt hinten zu sitzen.«

»Ich hab einen blauen Fleck am Bein«, fuhr Samantha eifrig fort, um ihren großen Auftritt auszukosten. Sie hob das Kleid und präsentierte ihren Oberschenkel. »Der wird bestimmt schön bunt. Und ich hab einen Lolli gekriegt!«

Samantha mied Nicoles Blick.

»Das hast du dir verdient«, sagte Craig. »So, jetzt wartet ihr beiden schön hier, ich hole eure Mutter, und dann fahren wir heim.«

»Aber was ist mit Mums Auto?«, fragte Nicole. »Und unseren Sachen?«

»Alles schon erledigt«, versicherte Craig. »Das war der leichte Teil.«

 

Als Craig die Bar betrat, kreischte Tina los.

»Das ist mein verdammter Mann aus dem verdammten Perth!«

»Auf den verdammten Mann aus dem verdammten Perth!«, riefen die Gäste und hoben ihre Gläser.

Craig ignorierte die feuchtfröhliche Begrüßung und trat direkt auf seine Frau zu. »Abmarsch!«

»Verpiss dich!«, sagte Tina. »Ich bin beschäftigt.« Ein BH-Träger war ihr den Arm heruntergerutscht und hing dort wie eine Flagge auf halbmast.

Craig packte sie am Ellbogen und bugsierte sie unter dem Johlen und den Pfiffen der anderen Gäste zur Tür hinaus.

»Du tust mir weh«, keifte Tina, als sie auf die Veranda kamen, aber dann lachte sie drauflos.

»Du tust Mum weh!« Nicole zog an Craigs Ärmel, während Samantha ein Heulkonzert anstimmte, was unter den wartenden Hunden lautes Gebell auslöste.

Tina kicherte unkontrolliert, Craig packte sie umso härter. »Verehrtes Publikum! Der Zirkus verlässt die Stadt!«

 

Erst als sie alle in Craigs Wagen saßen, bemerkte jemand, dass Tina immer noch ihr Swan Lager in der Hand hielt. Sie führte das Glas an die Lippen und trank gierig.

Die Mädchen hielten die Luft an. Im Mazda RX7 ihres Vaters durften sie weder trinken noch essen.

»Meine Güte, Tina!«, sagte Craig. »Hast du noch nicht genug?«

»Nee. Da geht noch was.«

»Also mir reicht’s.«

»Ehrlich, Craig? Das glaube ich dir nicht.« Tina sah ihn bedeutungsschwanger an.

Craig zögerte kurz, beugte sich aber dann vor und versuchte, seiner Frau das Glas wegzureißen, was unweigerlich dazu führte, dass sich dessen restlicher Inhalt auf seine kostbaren Sitzpolster ergoss.

»Es reicht!«, sagte er und warf das leere Glas kurzerhand aus dem Fenster, wo es auf dem glutheißen Asphalt in tausend Scherben zerbrach.

»Reicht nicht«, murmelte Tina mürrisch.

Craig ignorierte sie, stattdessen ließ er den Motor aufheulen, es klang wie ein Metalllöwe, der seine Beute warnt. Tina sackte auf ihrem Sitz zusammen.

Nachdem er den Motor noch ein paarmal hochgedreht hatte, fuhr er los. Im Wagen herrschte Schweigen, nur Samantha, auf dem Rücksitz, zog in regelmäßigen Abständen die Nase hoch. Biergestank begleitete ihre Fahrt über die lange rote Straße nach Perth.

Nicole

Nach der Bestattung stand ich auf einmal allein da. Dad und Celine hatten mit dem Rest der Familie wegen des Wolkenbruchs fluchtartig Reißaus genommen, was blöd war, denn jetzt hatte ich keine Mitfahrgelegenheit zum Haus.

Zunächst gesellte ich mich zu einer größeren, mir völlig unbekannten Gruppe Trauergäste, die unter einem mächtigen Baum standen und auf eine Weise über meine Mutter redeten, aus der ich schloss, dass sie nicht wussten, wer ich war.

»Regen bis zum Absaufen, genau das richtige Wetter für die alte Säuferin«, bemerkte ein Mann in knittrigem Leinenblazer.

»Ich versteh gar nicht, wozu sie sie überhaupt beerdigen. Der ihre Leiche ist so gut konserviert, dass sie sowieso nicht verwest«, meinte ein anderer.

Die Frauen gackerten, aber dann erkannte mich wohl doch eine von ihnen, denn sie stieß ihren Nachbarn in die Seite und zischte: »Psst! Tochter!«

Sie wanzte sich an mich ran. »Nicole, richtig?« Mir stellten sich die Nackenhaare auf. »Deine Trauerrede war wirklich schön. Wir alle kannten deine Mum noch aus der Schulzeit.«

»Sehr traurig, das alles«, sagte der Mann mit dem Leinenblazer.

»Ja, sehr schön, was du da in der Kirche gesagt hast«, sagte ein anderer. »Herzliches Beileid!«

Steck dir dein Beileid sonst wohin!, dachte ich, nickte aber höflich und machte mich schleunigst vom Acker. Lieber nass werden, als die unaufrichtigen Beileidsbekundungen dieser Leute abzukriegen. Der Sommerregen in Perth war wirklich beeindruckend. Zwischen den fetten, schweren Tropfen war so viel Abstand, dass man sich fast zwischen ihnen hindurchlavieren konnte, ohne nass zu werden.

Aber natürlich wurde ich trotzdem klatschnass.

Während ich über den Friedhof lief, musste ich an eine Szene aus meiner Kindheit zurückdenken. Wir waren zu lange am Strand geblieben, und am späten Nachmittag war der Wind dermaßen aufgefrischt, dass uns der Sand ins Gesicht peitschte. Vom Indischen Ozean her war ein Sturm aufgezogen, hatte mit Blitzen den Horizont erleuchtet. Samantha und ich waren zum Auto gelaufen, um dort Schutz zu suchen, aber Mum war oben auf den Dünen stehen geblieben, hatte aufs Meer geblickt und den Sturm begrüßt.

Ich blieb stehen, warf einen Blick zurück zu dem Loch in der Erde, in dem jetzt meine tote Mutter lag.

Der Sturm ist endlich vorbei, Mum, dachte ich.

 

Als mein Vater sah, wie nass ich war, sprang er aus seinem Lexus ES350 und holte ein Handtuch aus dem Kofferraum.

»Danke, Dad«, sagte ich.

Allerdings war das Handtuch nicht für mich gedacht, sondern für den Rücksitz seiner Luxuskarosse.

Celine, auf dem Beifahrersitz, blickte in den Rückspiegel und versuchte konzentriert, ihr verschmiertes Make-up zu retten. »Muss mein Gesicht wieder aufmalen«, bemerkte sie fröhlich, während ich vorsichtig auf den Rücksitz kletterte. »Wo hast du deinen hübschen Märchenprinzen gelassen?«

»Jethro ist schon vorgegangen, um die Caterer zu empfangen.« Ich zupfte das Handtuch unter mir zurecht.

»Den musst du dir warmhalten. Bei eurer Hochzeit kannst du mir danken, dass ich euch verkuppelt hab.«

Ich biss die Zähne zusammen und rang mir ein höfliches Lächeln ab. Jethro und ich waren schon seit zehn Jahren ein glückliches Paar, aber Celine versuchte immer noch, mich unter die Haube zu bringen, als wären wir in den Fünfzigerjahren.

»Mach ich«, stieß ich hervor.

Selbst unter der dicken Schminke sah Celine im Spiegel blass und aufgedunsen aus. Mir fiel Samanthas Mutmaßung ein, dass Celine versuchte, schwanger zu werden. Vielleicht hatte sie recht.

»Fertig!«, rief Celine und drehte den Spiegel wieder zum Fahrer. Dad fummelte sofort daran herum, dann widmete er sich der elektrischen Feineinstellung der Seitenspiegel.

Wenn das so weiterging, würden wir nie hier wegkommen. Ich verspürte den plötzlichen Drang, mich wie ein Hund zu schütteln und seine kostbaren Polster vollzuspritzen.

»War das Meg vorhin?«, fragte Dad, immer noch mit den vielen Knöpfen und Hebeln beschäftigt.

»Ja«, sagte ich.

»Die hab ich seit über dreißig Jahren nicht mehr gesehen.«

»Wer ist Meg?« Celine bürstete sich mit langen, kräftigen Bewegungen das Haar.

»Tinas Schwester«, antwortete Dad.

»War das die, die beim Heulen so eine hässliche Fratze gezogen hat? Sah aus wie Tina, aber … viel jünger?«

»Sie sind nur zwei Jahre auseinander. Unglaublich, aber wahr.«

»Echt? Na, dann hat sie aber eine richtig gute Hautcreme.«

»Und eine funktionstüchtige Leber«, rief ich von hinten und schämte mich umgehend dafür. Es war viel zu früh, um sich über Mums Alkoholproblem lustig zu machen. »Ich fand’s lieb von Tante Meg, dass sie gekommen ist.«

Es hatte mich tatsächlich überrascht, dass sie für die Trauerfeier extra aus Melbourne eingeflogen war, obwohl sie Mum in den vergangenen dreißig Jahren kaum gesehen hatte. Doch aus eigener Erfahrung wusste ich, dass Schwestern immer miteinander verbunden blieben, über Zeit und Distanz hinweg. Meg hatte dasselbe Recht, um Tina zu trauern, wie alle anderen.

»Herzliches Beileid«, sagte Celine, die sich jetzt zu mir umgedreht hatte, um mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. »Ich habe Tina natürlich nur ein paarmal getroffen, aber eines weiß ich genau: Sie hat dich und Samantha sehr geliebt.«

Es war ein schwacher Trost, von der dritten Frau meines Vaters zu hören, dass meine tote Mutter mich geliebt habe, besonders, da ihre Worte vom Sirren der elektrischen Seitenspiegel untermalt wurden. Aber Celine meinte es gut, das wusste ich.

»Es war nicht immer leicht mit ihr«, gab ich zu. Mein Vater nickte, möglicherweise aus Zustimmung. Vielleicht galt die Kopfbewegung aber auch nur seinen blöden Spiegeln.

 

Dafür, dass so viele Berufssäufer zu Tinas Beerdigung gekommen waren, war erstaunlich wenig Alkohol im Umlauf. In unserem geräumigen Wohnzimmer standen die Leute mit leeren Gläsern herum, einige warfen immer wieder erwartungsvolle Blicke Richtung Küche.

»Was ist mit den Getränken?«, flüsterte Jethro.

»Ich glaube, wir wissen beide, was bei den Getränken los ist. Oder besser, wer.«

Jethro verdrehte die Augen. »Hätte ich mir auch denken können. Soll ich mich drum kümmern?«

»Nein, ich mach das schon.«

Streit war mir zuwider, aber es war nicht fair, die Beilegung einer weiteren von meiner Schwester angezettelten Krise auf Jethro abzuwälzen. Gerade, als ich mit meinem leeren Glas auf die Küche zusteuerte, kam mir Tante Meg in die Quere.

»Nicky«, sagte sie, meinen Arm fest im Griff, die Augen gerötet. »Können wir uns kurz unterhalten? Es gibt ein paar Dinge, die ich dir und Sammy sagen muss, bevor ich morgen wieder nach Melbourne zurückfliege.«

Mir war klar, dass ich mit ihr reden sollte, aber momentan hatte ich andere Sorgen. »Klar, Tante Meg«, sagte ich, während ich mich aus ihrem Griff befreite, »aber später, okay? Ich muss mich hier erst um was kümmern.«

In der Küche fragte ich die eigens engagierte Kellnerin, was mit den Getränken war.

Die Frau sah mich schuldbewusst an. »Ihre Schwester hat uns angewiesen, den Ausschank etwas hinauszuzögern. Sie wirkte ziemlich … bedrohlich.«

Ich blickte durch die offene Küchentür. Samantha stand in der Menge und funkelte mich böse an. Ich musste schlucken.

»Ja, kommt hin«, murmelte ich, während ich mein leeres Glas in Samanthas Richtung erhob. Mir war klar, dass ich diese Schlacht nicht gewinnen würde. »Und jetzt bringen Sie mir eine Tasse Wodka. Und zwar sofort«, sagte ich zur Kellnerin.

 

Der große Vorteil einer Trauerfeier ohne Alkohol bestand darin, dass gegen halb acht alle Gäste gegangen waren, sogar Tante Meg, die allerdings noch auf der Türschwelle darauf beharrte, dass sie vor ihrem Rückflug unbedingt mit mir und Samantha sprechen müsse.

»Ich ruf dich morgen früh an«, sagte ich und tätschelte ihr den Arm. Nachdem die Gute seit Jahrzehnten kaum ein Wort mit uns gewechselt hatte, konnte ihr Anliegen sicher noch einen Tag warten.

Als der letzte Gast aus der Tür war, streifte ich die Schuhe ab und sank neben Samantha auf die Couch. Sie saß stocksteif da, die Hände im Schoß. Mit Schuhen.

Eine Weile herrschte Schweigen. Es war das erste Mal seit Mums Tod, dass wir miteinander allein waren. Dafür hatte ich gesorgt, obwohl sie mich immer wieder am Telefon angefleht und mir Nachrichten geschickt hatte, aber alles zu spät, Mum war schon tot. Sogar jetzt konnte ich ihre Nähe nur aushalten, weil ich genug Wodka intus hatte, um meine Trauer erträglich zu machen.

Irgendwann wurde es mir zu blöd, und ich zog ein Puzzle unterm Tisch hervor.

»Das hab ich mir für nach der Trauerfeier aufbewahrt«, sagte ich, als ich es auf den Tisch stellte. »Hat Mum gehört. Ist eine gute Möglichkeit, ihr Andenken zu ehren, finde ich.«

Ich verschwieg ihr, dass ich das Puzzle eigentlich mit Jethro machen wollte, der sich sofort verdrückt hatte, weil er Samantha nicht ausstehen konnte.

»Ach, du meine Güte!« Samantha betrachtete die Schachtel mit unverhohlenem Abscheu. »Wenn es Tina gehört hat, fehlen bestimmt ein paar Teile.«

»Na und?«

»Ich halte es für Zeitverschwendung, wenn ein Puzzle nicht vollständig ist.«

»Das Leben ist ein Puzzle, bei dem Teile fehlen«, sagte ich, während ich den Deckel hob. »Und wir spielen trotzdem mit.«

»Ja, und manche kommen besser weg als andere.«

Ich ignorierte ihre Bemerkung, suchte stattdessen die Teile für den Rand zusammen. Samantha sah sich im Zimmer um.

»Das Foto hab ich seit Jahren nicht mehr gesehen«, sagte sie nach ein paar Minuten, den Blick auf das gerahmte, von Rosen umgebene Bild von unserer Mutter gerichtet, das auf dem Eckschrank stand. Es war 1968 entstanden, dem Jahr, in dem sie unseren Vater kennenlernte. »Sie sieht so hübsch aus.«

»Das ist das Netteste, was du in den letzten zwanzig Jahren über sie gesagt hast«, rutschte es mir heraus. »An meinem vierzigsten Geburtstag hast du sie noch eine ›verdammte Pissflitsche‹ genannt.«

»Ich glaube, wir wissen beide, wer daran Schuld hatte«, erwiderte sie, die Lippen verzogen.

»Na, die andere Pissflitsche weiß zumindest genau, wem du die Schuld gibst.« Als mir die Worte rausgerutscht waren, begriff ich, dass die Wodkadröhnung wohl doch keine gute Idee gewesen war.

Samantha rutschte auf ihrem Polster herum. »Ich weiß bis heute nicht, warum du sie damals eingeladen hast«, bemerkte sie steif.

Ich widmete mich wieder dem Puzzle, darum bemüht, das Thema abzuhaken.

»Neu?«, fragte Samantha. Sie meinte den Schrank selbst, nicht mehr das Foto.

»Nein, den haben wir aus dem gelben Zimmer geholt. Ganz schön schwer, das Scheißding.« Ich warf ihr einen Seitenblick zu, bevor ich mich korrigierte. »Schwer wie Marmorkuchen, sozusagen.«

Ich hatte ein Lächeln erwartet, aber Samantha verzog nur genervt das Gesicht. Vor ewigen Zeiten hatte uns eine ihrer Schulfreundinnen bei einem Besuch einen Marmorkuchen mitgebracht. Mum hatte ein Stück probiert und verkündet, jetzt wisse sie endlich, wieso es Marmorkuchen heiße. Danach hatte sie das Wort als Maßeinheit für alles Schwere verwendet. Samantha hatte den Witz nie verstanden, aber ich fand ihn immer noch zum Totlachen.

»Ach komm, Sam. Nimm’s nicht so schwer!« Ich stupste sie in die Seite. »Kapierst du? Marmor? Schwer?«

Als zusätzliches Friedensangebot hielt ich ihr den offenen Puzzlekarton hin. Samantha rang sich ein winziges Lächeln ab.

»Okay, ich helfe dir«, sagte sie. »Hast du ein Brett oder eine Puzzleunterlage?«

»Nee, hier auf dem Tisch geht es auch.«

»Aber was, wenn das Puzzle im Weg ist?«

»Dann gehen wir eben ins andere Wohnzimmer.«

Wie gewonnen, so zerronnen. Unser zerbrechlicher Frieden war sofort wieder in Gefahr, weil ich sie daran erinnert hatte, dass wir in einem Haus mit mehr als einem Wohnzimmer residierten. Sie zog eine solche Leichenbittermiene, dass mir angst und bange wurde. Aus unerfindlichen Gründen hatte sie sich auf »Jethros Millionen« eingeschossen, wie sie das Vermögen meines Partners gern nannte. Wenn sie darüber sprach, was oft geschah, klang es, als hätte ich mir einen wohlhabenden Freund geangelt, nur um sie damit zu ärgern.

Samantha hielt noch eine Weile an ihrer Miene fest, bis sich ihr Gesicht plötzlich entspannte. »Du machst den Rand«, bestimmte sie, ihre volle Aufmerksamkeit jetzt auf den Karton gerichtet, »ich suche die Teile.«

Während ich den Rand legte, dachte ich an die Beerdigung zurück. Über meine Ansprache hatte Samantha kein Wort verloren.

»Wie fandest du eigentlich meine Trauerrede?«, stieß ich hervor. Meine Fresse, dieser Wodka weckte den Tiger in mir. Normalerweise müsste ich all meinen Mut zusammennehmen, um ihr eine solche Frage zu stellen. Wenn das so weiterging, würde ich sie als Nächstes zur Rede stellen, warum sie Mum nicht ein einziges verdammtes Mal im Krankenhaus besucht hatte.

»Ganz okay«, sagte Samantha mit angetäuschtem Achselzucken.

»Ganz okay?«

»Ja, war gut.«

»Gut?« Ich war stinksauer. Für ein hingeworfenes »gut« hatte ich einfach zu viele Stunden mit der Rede verbracht.

»Ja, gut.«

»Du meinst, du hättest es besser machen können? Erinnerst du dich noch an deine Rede zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag?«

»Da hab ich keine Rede gehalten.«

»O doch! Du hast so hochtrabend davon erzählt, dass Schwestern wie Sicherheitsgurte sind.«

»Stimmt nicht. So was würde ich nie sagen.«

»Mum und ich haben uns darüber immer köstlich amüsiert.«

»Mum war nicht mal dabei.«

»War sie wohl.«

»War sie nicht«, entgegnete Samantha bestimmt. »Ich sollte es wissen, schließlich habe ich die Einladungen verschickt. An sie ist keine rausgegangen.«

Ich war sicher, dass Mum auf meiner Feier gewesen war, konnte mich noch genau erinnern, wie sie mit mir in Mount Lawley auf dem Gartensofa gesessen hatte.

»Außerdem«, fuhr Samantha fort, »selbst wenn sie dort gewesen wäre und ich die Rede tatsächlich gehalten hätte, wäre nichts davon bei ihr hängen geblieben. Du weißt genau, dass sie damals jeden Tag besoffen war.«

»Weißt du, Sam, in Wahrheit hat sie nichts vergessen«, versetzte ich gehässig. Es regte mich auf, dass sie Mums Alkoholproblem immer so übertrieben darstellte, als hätte unsere Mutter nichts anderes mit ihrem Leben angestellt. »Sie hat sich an mehr erinnert als Dad. Der war nämlich viel zu sehr mit seinen Ehefrauen beschäftigt.«

Natürlich hatte ich es absichtlich so ausgedrückt, als hätte er dreißig und nicht drei Frauen geheiratet. Ich wusste genau, dass Samantha mich nur wieder in den üblichen endlosen Streit verwickeln wollte.

»Wenigstens hat er seine Frauen geliebt, Tina hatte ja nur Gefühle für die Flasche«, sagte sie und zog ein weiteres Puzzleteil aus dem Karton.

»Oho, wer ist jetzt die Pissflitsche hier?«

»Du bist betrunken.«

»Bin ich nicht. Ich bin müde und emotional. Schließlich haben wir heute unsere Mutter beerdigt.«

»Unglaublich, dass du dich ausgerechnet heute besäufst.«

Plötzlich überkam mich eine Welle der Müdigkeit. Der Wodka hatte seine Wirkung getan.

»Lassen wir das«, schlug ich vor.

»Okay.« Samantha stand auf und fing an, die leeren Gläser abzuräumen. »Lassen wir das.«

»Und das hier lassen wir auch. Die Cateringleute kommen morgen und kümmern sich darum. Dafür bezahlen wir sie schließlich.«

»Lass mich einfach machen.«

»Okay, solange dein ›machen lassen‹ nicht wieder was mit Jethros Plattensammlung zu tun hat.«

»Wer sortiert denn auch seine Platten nach dem Kaufdatum?«, murmelte Samantha.

»Jemand, dem Erinnerungen wichtig sind?«

Samantha schnaufte empört und räumte weiter ab. Ich ließ das Puzzle links liegen und machte es mir stattdessen auf dem Sofa bequem, während meine Schwester Heinzelmännchen spielte.

»Genau wie früher«, rief ich, aber sie ignorierte mich.

Auf dem Foto hatte meine Mutter ihr Haar zu einer Frisur aufgetürmt, die der Schwerkraft zuwiderzulaufen schien, ihr Blick war klar, das Grinsen breit. Es stand in krassem Widerspruch zu der Person, die meine Mutter in ihren letzten Tagen im Mount Hospital gewesen war, im Krankenbett, an Maschinen angeschlossen, gelbe Haut im Neonlicht.

Dieser Zerfall.

Ich schloss die Augen und gab mich der Erschöpfung hin. Und dem Wodka.

 

»Ich bin dann mal weg.«

Samantha sah zu mir hinab, eine Keramikvase mit einem großen Strauß weißer Lilien in der Hand.

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, Minuten oder Tage. Aus unerfindlichen Gründen lag ich auf dem Boden und hatte ein Kissen unterm Kopf. Verschämt kletterte ich zurück aufs Sofa.

»Du bist runtergefallen«, teilte Samantha mir mit. Sie hatte die Zähne zusammengebissen. »Bist aber nicht mal aufgewacht.«

»Ich war ziemlich müde. Und emotional, falls du es vergessen hast.«

»Nein, Gott bewahre.« Sie bewegte den Kopf zur Vase. »Ist das deine?«

»Keine Ahnung. Kann sein.«

Samantha sah mich fassungslos an. »Willst du im Ernst behaupten, du weißt nicht, ob das deine Vase ist oder nicht?«

»Wieso? Machst du regelmäßig in deiner Küche Inventur? Vielleicht wurde sie mit den Blumen geliefert?«

Samantha atmete tief ein. »Ich nehme die mit nach Hause, wenn’s dir nichts ausmacht. Trent mag Lilien sehr.«

Obwohl meine Schwester seit über zwanzig Jahren mit ihm verheiratet war, war mir völlig neu, dass mein Schwager auf Lilien stand.

»Nimm ruhig noch andere mit, wenn du willst. Es sind so viele. Ehrlich, was soll ich mit diesen verdammten Blumen anfangen?«

»Vielleicht erinnerst du dich beim nächsten Mal dran, wenn du jemandem Blumen kaufst«, zischte Samantha.

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Tante Meg hat angerufen«, fuhr Samantha einfach fort. »Sie will mit uns sprechen, bevor sie fliegt.«

Ich ließ Samantha weiterreden, obwohl ich immer noch gern wissen wollte, welches Problem sie mit mir und Blumen hatte. »Ja, ich weiß. Vielleicht will unsere Geistertante uns endlich erklären, warum wir sie die letzten dreißig Jahre nicht gesehen haben.«

»Möglich. Ich habe ihr gesagt, dass wir uns morgen Mittag im Blue Duck mit ihr treffen.«

»Morgen Mittag? Hättest du mich nicht vorher fragen können? Vielleicht habe ich morgen einen wichtigen Termin?« Hatte ich zwar nicht, aber trotzdem. Seit ich mit Jethro zusammen war, hatte ich mich zu einem veritablen Luxusweibchen entwickelt, ein Umstand, der Samantha so richtig auf die Palme brachte.

»Seit wann hast du wichtige Termine?«

Ich schloss die Augen und wartete, bis die Haustür geräuschvoll ins Schloss gefallen war. Und kaum war es passiert, vermisste ich sie fast genauso sehr wie meine Mutter.

»Ist die Luft rein?«

Jethro streckte vorsichtig den Kopf zur Tür herein.

»Jepp, ist sie.«

»Gott sei Dank!« Er spazierte mit einer Flasche Rotwein und zwei Gläsern ins Zimmer. »Ich hoffe, sie hat die Finger von meiner Plattensammlung gelassen.«

»Ich hab’s ihr strengstens untersagt.«

»Als würde sie das von irgendwas abhalten«, murmelte Jethro. »Aber egal, genug von Samantha. Ich finde, wir sollten einen Toast aussprechen.« Er schenkte Wein ein und drückte mir ein Glas in die Hand. »Auf Tina!«, sagte er, sein Glas erhoben. »Ihr Licht schien zu hell und verlosch zu schnell.«

»Auf Tina!«

Der Wein funkelte wie ein Edelstein, das Rot wirkte kostbar und nicht giftig, wie Samantha immer behauptete.

»Auf Tina!«, wiederholte ich und trank.

Mit jedem Schluck Wein spürte ich, wie sich in mir eine innerliche Wärme ausbreitete, aber bei diesem Gefühl musste ich unweigerlich an meine tote Mutter denken, die jetzt in einem finsteren Loch auf dem Friedhof lag und diese besondere Wärme des Weines nie wieder erleben würde. Doch als ich mich zu Jethro hindrehen wollte, um diesen Gedanken mit ihm zu teilen, stieß ich mit dem Knie den Puzzlekarton vom Tisch und verstreute die Teile im ganzen Zimmer.

Da kamen mir endlich die Tränen.

Teil Nr. 1: 1984

»Was machst du da?«

Samantha gab sich alle Mühe, Nicole zu ignorieren, die sie anglotzte, während sie versuchte, das Laken festzuzurren.

»Sag schon, Sam! Was zum Teufel machst du da?«

»Ich will, dass es schön aussieht«, erklärte Samantha. »Helen Millet hat ein Laken mit Rüschen, das zu ihren Vorhängen passt.«

»Na, also das hier sieht echt blöd aus.«

»Genau wie du!«

Samantha wusste ohne hinzusehen, dass Nicole eine Grimasse schnitt, beschloss aber, nicht weiter darauf einzugehen. Bevor Helen Millet kam, gab es noch so viel zu tun. Alles sollte perfekt sein. Seit man sie mit Helen in die Siebte gesteckt hatte, hatte Samantha öfter Zeit mit ihr verbracht, und diese Übernachtung würde ihre Freundschaft besiegeln, da war sie sicher.

»So!« Zufrieden betrachtete sie ihr Werk, während sich Nicole demonstrativ auf ihrer Matratze rekelte. »Kannst du nicht wenigstens dein Bett machen?«, fragte Samantha.

»Ach, ich dachte, wir legen einfach ein Laken drüber. Weißt schon, damit es ›schön aussieht‹«, höhnte Nicole.

Samanthas Augen brannten, aber sie wandte sich rasch ab, bevor ihre Schwester sie weinen sah.

 

Tina hingegen gab sich zur Abwechslung mal richtig Mühe, im Haus aufzuräumen und zu putzen, bevor Helen Millet kam. Sie kramte sogar den alten Staubsauger hervor, den Samantha völlig vergessen hatte, und zerrte ihn über den fadenscheinigen Teppich, schüttelte die Sofakissen auf und lüftete alle Zimmer. Die ganze Zeit über sang sie Lieder aus dem Radio mit.

Nicole hielt sich die Ohren zu und tat, als wäre ihr das schrecklich peinlich. »Mum!«, rief sie, lachte aber dabei.

Samantha war das Lachen vergangen, denn sie hatte gesehen, wie Tina ein großes Glas mit klarer Flüssigkeit leer trank. Seit dem Unfall vor zwei Jahren versetzte sie der Anblick ihrer Mutter mit einem Getränk in der Hand in nervöse Unruhe, selbst wenn es nur nach Wasser aussah.

Um Punkt siebzehn Uhr stand Helen Millet vor der Haustür, einen pinken Rucksack auf dem Rücken und ein Kopfkissen unter dem Arm. Ihre Mutter, in reinweißer Stoffhose, einen pastellgelben Pullover über den Schultern, stand neben ihr.

»Wir freuen uns so, dich bei uns zu Gast zu haben, Helen!«, sagte Tina mit kristallklarer Stimme.

»Ich habe einen Marmorkuchen mit Vollkornmehl gebacken, zum Nachtisch«, sagte Helens Mutter und drückte Tina eine Tupperdose in die Hand. »Ich versuche, Helen ohne Weizenprodukte zu ernähren.« Dann zog sie eine weiße Visitenkarte aus der Tasche. »Und hier ist meine Nummer, für den Notfall.«

Kaum hatte sie die Tür geschlossen, schob sich Tina die Karte demonstrativ in den BH, was Helen Millet glücklicherweise entging, denn sie war mit ihrem Rucksack beschäftigt.

»Zum Abendessen gibt’s Nudeln«, flüsterte Samantha ihrer Freundin zu. Sie hoffte inständig, dass Nudeln nicht zu viel Weizen enthielten.

»Hmm, mein Leibgericht«, flüsterte Helen zurück. Samantha strahlte.

Während Tina kochte, versuchten sich Samantha und Helen an ihrem Puzzle, das halb fertig auf dem Küchentisch lag. Nicole saß in der Ecke und las. Wieso sie das tat, konnte Samantha sich nicht erklären. Sonst las ihre Schwester immer nur im Bett. Aber sie würde sich von ihr nicht den Spaß verderben lassen.

Das Puzzle bestand aus unzähligen kleinen Teilen, die meisten davon gehörten zum Himmel. Samantha gelang es zwar nicht oft, die Teile zusammenzusetzen, aber es machte ihr großen Spaß, sie farblich zu sortieren. Immer wieder spitzte sie zu Helen rüber, ängstlich darum bemüht, dass ihre Freundin sich nicht langweilen möge, doch Helens Miene war nicht zu deuten. Samantha fand es auch aus anderen Gründen schwierig, sich zu konzentrieren. Dieses ständige Klirren der Eiswürfel in Tinas Glas machte sie zunehmend nervös. Irgendwann stand sie auf und schnappte sich das Glas von der Frühstückstheke.

»Kann ich einen Schluck?«, fragte sie, damit Tina verstand, dass ihre Tochter genau wusste, was sie da trank.

Aber Tina lachte nur. »Wenn du achtzehn bist«, erwiderte sie und nahm ihr das Glas aus der Hand. »Ich mach dir gern einen Eiswürfel in den Sirup, wenn du was Besonderes willst.«

Nicole hob den Blick vom Buch. »Boah, danke, Tina! Sirup mit Eiswasser. Lecker!«

»Wer nicht will, der hat schon«, versetzte Tina. »So, und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muss telefonieren.«

Auf dem Weg hinaus stieß sie heftig mit der Hüfte gegen den Tisch, woraufhin der Puzzlekarton und sämtliche Teile auf dem Boden landeten, was sie aber gar nicht zu registrieren schien.

Samantha sprang sofort auf und machte sich daran, alles wieder einzusammeln.

»Du nennst deine Mum Tina?«, wandte sich Helen an Nicole. Die Puzzleteile auf dem Boden waren ihr offenbar auch egal.

»Na, so heißt sie schließlich. Manchmal nennen wir sie auch Teensy«, sagte Nicole.

»Das sagt nur unser Dad zu ihr. Meine Schwester will nur angeben.« Samantha wollte Helens volle Aufmerksamkeit zurück.

»Blöde Arschgranate«, sagte Nicole.

»Mum!«, rief Samantha, bereute ihre automatische Reaktion jedoch sofort, denn jetzt würde Tina zurückkommen, in die Küche, zu ihrem Glas.

Tina blieb allerdings, wo sie war. »Ich muss Tante Meg zum Geburtstag gratulieren!«, rief sie aus dem Flur.

»Haben wir das nicht schon gestern gemacht?«, fragte Nicole.

Samantha nickte. Sie hatten ihrer Tante Happy Birthday aufs Band gesungen.

Nach einer Weile kehrte Tina zurück in die Küche. »Ich weiß, dass wir sie gestern angerufen haben«, sagte sie. »Das ist jetzt schon die vierte Nachricht, die ich ihr draufgesprochen hab. Hoffentlich ruft sie diesmal zurück.«

Sie bahnte sich einen Weg durch die verstreuten Puzzleteile und an Samantha vorbei, um an ihren Drink zu kommen.

Samantha biss sich auf die Lippe.

 

Statt ihr Abendessen wie sonst auf dem Schoß zu verzehren, aßen sie diesmal am Küchentisch, denn Tina hatte einfach eine Tischdecke über das halb fertige Puzzle gelegt. Diese Ausnahme gefiel Samantha allerdings gar nicht, denn sie wusste aus Erfahrung, dass ihre sorgfältig nach Farben sortierten Teile beim Abziehen der Decke quer durch die Küche segeln würden. Sie war die Einzige in der Familie, die sich über fehlende Teile aufregen konnte.

Beim Essen erzählte Tina ihnen Anekdoten aus ihrer Kindheit, unter anderem die von Tante Meg, die sich in der Grundschule in die Hosen gemacht hatte. »Sie hat sich so geschämt, da hab ich ihr meine Unterhose gegeben. Blöd war nur, dass ich danach in der Pause nicht mehr dran gedacht und vor den Jungs aus der Sechsten Rad schlagen geübt habe.«

»Mum!«, rief Nicole. »Du blamierst Samantha vor unserem Gast.«

Aber Samantha hatte vor lauter Sorge gar nicht richtig zugehört, zu oft hatte Tina sich schon aus der Flasche auf dem Kühlschrank nachgeschenkt. Sechs Mal seit Helens Ankunft. Sechs Gläser mit irgendeinem Gesöff.

»Wer will Nachtisch?« Tinas Worte klebten aneinander fest. Offenbar hatte sie den Marmorkuchen vergessen, denn sie holte Eiscreme aus dem Kühlschrank und drückte jedem einen Löffel in die Hand.

»Ran an den Speck, Mädels!«, sagte sie. »Ich geh dann mal …«

Sie verließ die Küche, ohne den Satz zu beenden.

»Meine Mum würde uns nie erlauben, aus dem Becher zu essen«, sagte Helen zu Samantha.

»Tut mir echt leid. Willst du eine Schüssel? Oder lieber ein Stück Marmorkuchen?«

»Nein, ich find’s irgendwie cool.«

»Mum gehört eben zur Boheme«, sagte Nicole mit einem zufriedenen Lächeln.

Samantha hatte zwar keine Ahnung, wer oder was das war, aber wenn solche Leute Eiscreme direkt aus dem Becher löffelten, konnten sie ihr gestohlen bleiben.

Helen Millet wusste es sicher auch nicht, wollte aber wohl mehr herausfinden, denn sie sah Nicole erwartungsvoll an. Die ließ sich nicht zweimal bitten.

»Letztes Wochenende gab’s bei uns Schokoriegel und Apfelspalten zum Abendessen. Und einmal durften wir ihr die Haare schneiden. Nicht nur die Spitzen, so richtig.«

Helen war ganz Ohr. Samantha funkelte ihre Schwester so böse an, wie sie nur konnte, aber das nützte nichts. Nicole machte weiter. »Einmal, als Sam keine sauberen Socken mehr hatte, hat Mum ein Paar zusammen mit dem Geschirr in der Küchenspüle gewaschen und sie zum Trocknen in den Backofen gelegt. Als sie sie wieder rausgezogen hat, waren sie hart wie ein Brett. Mum hat sie Socken à la mode genannt.«

»Deine Mum ist so witzig!«, rief Helen entzückt. In diesem Moment erkannte Samantha, wie faszinierend Nicole und Tina für jemanden wie Helen sein mussten, und sie wurde richtig wütend.

Sie hatte das Gefühl, sich und die anderen von oben zu betrachten. »Tina ist nicht witzig, sie ist betrunken«, hörte sie sich sagen, wobei sie den Löffel auf den Tisch knallte. »Hier, komm mit.«

»Hey, was hast du vor?«, fragte Nicole, plötzlich besorgt.

Aber das, was sich in Samantha Bahn gebrochen hatte, ließ sich nicht mehr aufhalten. Diese Andere Samantha war stinkwütend und bedauerte es zutiefst, Helen Millet zu sich eingeladen zu haben. Sie wollte Tina bestrafen und Nicole dazu, weil sie ihr Geheimnis preisgegeben hatte, selbst Helen Millet hatte eine Strafe verdient, einfach, weil sie da war.

Sie nahm ihren Gast fest an die Hand, zog sie zu Tinas Schlafzimmer und zeigte ihr die beiden Weinkartons und die fast leere Flasche Whisky auf ihrem Nachttisch, wo normale Leute Bücher hatten oder Fotos und Dekokitsch.

»Siehst du das? Nicht witzig, nicht cool.«

»Du bist echt eine blöde Sau, Sam«, zischte Nicole.

»Verpiss dich aus Mums Zimmer.«

»Immer schön ruhig mit den jungen Pferdchen!« Tina erschien neben Nicole und lachte.

Helen verfolgte das Spektakel mit aufgesperrtem Mund. Samantha wusste nicht, was Helen Millet schockierender fand, Tinas Alkoholvorrat, Nicoles Ausdrucksweise oder das Gelächter ihrer Mutter.

 

Die drei Mädchen putzten sich schweigend die Zähne und lagen schon um kurz vor zehn in den Federn. Helen schlief auf einer Matratze am Boden zwischen Samanthas und Nicoles Betten.

»Wieso ist das Laken unter deiner Matratze so komisch?«, fragte Helen, an Samantha gerichtet.

»Das sind Rüschen«, sagte Nicole.

Samantha konnte nicht erkennen, ob ihre Schwester sie verspotten wollte. »Hat meine Mum gemacht, wahrscheinlich war sie besoffen«, sagte sie gehässig, knipste aber rasch das Licht aus, damit keiner von beiden ihr Gesicht sah. Sie hoffte, dass sie alles Vorausgegangene in der Dunkelheit vergessen und stattdessen wie andere Mädchen flüstern und kichern würden.

Statt zu flüstern und zu kichern sagte Helen kleinlaut: »Ich möchte nach Hause.«

Samantha seufzte und knipste das Licht wieder an. »Okay. Dann sagen wir meiner Mum, sie soll deine Mum anrufen.«

 

Nach dem Abgang von Helen und ihrer Mutter, immer noch in reinweißer Hose und mit pastellgelbem Pulli über den Schultern, kehrten Samantha und Nicole in ihr Zimmer zurück. Auf dem Weg in ihre Betten mieden sie die Matratze, als wäre sie eine Leiche.

»Ich finde, dein Bett sieht schön aus so«, bemerkte Nicole, aber Samantha wusste, dass sie sie nur aufheitern wollte. Es sah dämlich aus. Jetzt konnte sie es selbst sehen.

Nicole war rasch eingeschlafen, aber Samantha lag noch ewig wach. Irgendwann wurde im Wohnzimmer der Fernseher abgeschaltet, und sie hörte Tina, die sich sanft an der Wand entlang durch den Flur tastete und den Hörer vom Telefon hob.

»Ich vermisse dich, Meg«, sagte sie. Aber das hatte sie einfach so in den Hörer gesagt, denn Samantha hatte sie vorher nicht wählen hören. Eine Weile herrschte Stille, dann ertönte ein dumpfes Klacken. Tina hatte aufgelegt und wankte geräuschvoll in ihr Schlafzimmer.

Samantha dachte darüber nach, wie lange es schon her war, seit Tante Meg sie das letzte Mal besucht hatte. Dann stellte sie sich vor, wie sie eines Tages in einem anderen Haus leben würde, ohne ihre Schwester, und dieser Gedanke kam ihr absurd vor. Obwohl Nicole sie manchmal echt aufregte, würde sie sie sicher genauso vermissen, wie Tina jetzt Meg vermisste.

»Nicole«, flüsterte sie im Halbdunkel, aber ihre Schwester schlief tief und fest. Sie überlegte kurz, ob sie zu ihr ins Bett kriechen sollte, wie früher, als sie noch kleiner war, verwarf den Gedanken aber rasch wieder, denn Nicole würde sicher genervt reagieren. Vielleicht sollte sie besser in Tinas Bett. Sie wusste, dass ihre Mutter noch nicht schlafen, sondern bis in die frühen Morgenstunden lesen würde.

Und richtig, Tina war wach, las aber nicht. Stattdessen lag sie vollständig angezogen auf ihrem Bett und schniefte. Als sie Samantha erblickte, setzte sie sich allerdings rasch auf und strahlte sie an. »Hallo, mein kleiner Schatz!«, rief sie und tippte auf die leere Stelle neben sich. »Hast du schlecht geträumt?«

Samantha schüttelte den Kopf, kletterte aber ins Bett. »Ich kann nicht schlafen.«

»Tut mir leid, dass deine Freundin gegangen ist. Für manche Kinder ist es richtig schwierig, bei Fremden zu übernachten.«

Samantha wollte etwas erwidern, brach aber völlig unerwartet in Tränen aus.

»Na, na, alles wieder gut«, sagte Tina und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Nein, nichts ist gut!« Samantha schluchzte und vergrub sich in den Armen ihrer Mutter. »Was, wenn mich nie im Leben jemand mag? Wenn niemand meine Freundin sein will?«

»Ach, ach«, sagte Tina sanft. »Manchmal dauert es ein bisschen, bis man echte Freunde findet. Und ich mag dich! Sehr sogar. Nicole mag dich. Und ich bin ziemlich sicher, dass auch Helen dich mag.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Da wär ich mir nicht so sicher. Aber mal was anderes: Ich hab vorhin ein Stück Marmorkuchen probiert und mir fast den Zahn daran abgebrochen. Jetzt weiß ich, warum der Kuchen so heißt!«

Samantha kicherte und kuschelte sich noch enger an ihre Mutter. Als sie die Augen schloss und langsam wegdämmerte, musste sie an Helen Millets reinweißes Rüschenlaken denken. Das war alles egal, denn das alles war garantiert nicht besser als das Bett, in dem sie jetzt lag. Sie wünschte, es wäre immer so.

Teil Nr. 2: 1991

Nicoles einundzwanzigster Geburtstag begann wie alle anderen langen, gleichförmigen Tage in Inverness Crescent, wo sie seit einiger Zeit mit Tom und Kim wohnte. Mittags aufstehen, eine Bong rauchen, danach Frosties und Coco Pops essen – dieses Mal allerdings ohne Milch, weil jemand, vermutlich Tom, einen leeren Karton in den Kühlschrank zurückgestellt hatte. Anschließend Zeit der Sehnsucht, Reich und Schön, Die Fraggles. Zwischendrin noch eine Bong.

Doch dann stand Samantha plötzlich vor der Tür.

Unangekündigte Besuche ihrer Schwester waren an sich nicht ungewöhnlich, manchmal kam sie in ihrem hellbraunen Datsun 180B auf dem Weg zur Berufsschule vorbei, um sie über die Wirkung von Marihuana aufzuklären. Bei solchen Gelegenheiten komplimentierte Nicole ihre Schwester meist mit wüsten Beschimpfungen sofort zur Tür hinaus.

Samanthas innige Zuneigung zu diesem Auto brachte Nicole auf die Palme. Ihre Schwester verbrachte mehr Zeit mit Polieren und Saugen als ihr Vater, und der hatte einen Jaguar XJ3. Nicole war es ein Rätsel, wie Leute ihre Blechkarossen dermaßen vergöttern konnten. Sie besaß so was nicht mal. Völlig unnötig. Sie musste nur jeden zweiten Donnerstag wegen der Stütze auf dem Amt in Mirrabooka antreten, aber dafür konnte sie locker den Grünen Mercedes benutzen. Grüner Mercedes war Kims Name für die Stadtbusse, denn die kamen alle »vom selben beschissenen Hersteller«, selbst die, die nach Mirrabooka fuhren. Nicole fand Donnerstage extrem anstrengend. Sie hatte keine Ahnung, wie Leute es schafften, jeden Tag Vollzeit zu arbeiten. Aber dieser regelmäßige Termin in Mirrabooka gab ihrem Alltag zumindest so was wie eine Form, eine feste Routine. Wenn ihre Stütze nicht wäre, hätte Nicole vermutlich auch das letzte bisschen Zeitgefühl verloren.

So kam es auch, dass sie die Party zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag glatt vergessen hätte, wäre Samantha nicht bei ihr aufgeschlagen.

»Keine Macht den Drogen ist an der Tür«, verkündete Kim. »Und sie hat Spielsachen dabei.«

»W…was?« Nicole war auf dem Sofa weggedöst, hatte es nicht mal klingeln gehört.

»Jetzt machen wir dich mal ein bisschen schön!«, verkündete Samantha fröhlich, schob sich an Kim vorbei und marschierte mit Föhn, Lockenwickler-Set und Schminkkoffer in der Hand in die Küche. Nicole kroch vom Sofa und schlappte hinter ihr her.

»Willst du eine klassische Hochsteckfrisur? Oder soll ich dich richtig auftoupieren? Big Hair, so wie Cindy Crawford?«, fragte Samantha, während sie sich auf dem Küchentisch ausbreitete. »Ich könnte dir sogar einen Schönheitsfleck aufmalen.«

»Mach, was du meinst«, sagte Nicole, obwohl sie ziemlich sicher eine Hochsteckfrisur wollte, aber sie hatte die Planung und Ausführung ihre Geburtstagsparty schon vor einiger Zeit ihrer Schwester überlassen.

»Also Big Hair!«, rief Samantha und stöpselte das Wickler-Set ein.

Nicole ergab sich in ihr Schicksal.

»Spielt ihr Verkleiden?«, fragte Tom, der sich für seine Schicht in der Dog-Swamp-Videothek fertig machte. Er war der Einzige in dieser WG mit einem festen Job, aber den machte er nur, weil er auf diese Weise an neue Filme und Pornos herankam.

Nicole zeigte auf die Einladung, die sie schon vor Wochen an den Kühlschrank gepappt hatte, direkt neben den Griff, wo Tom sie auf jeden Fall sehen musste. »Heute Abend steigt meine Geburtstagsparty.«

»O ja, das. Na, dann mal viel Spaß!«

»Kommst du etwa nicht?«, fragte Samantha fassungslos.

»Vielleicht nach der Arbeit.« Er zog einen fast leeren Orangensaftkarton aus dem Kühlschrank, trank den letzten Schluck und stellte ihn wieder zurück. »Man sieht sich.«

»Ich dachte, Tom ist dein Freund«, flüsterte Samantha, als er die Küche verlassen hatte.

Nicole zuckte die Achseln. Sie hatte sich nie einen Namen für ihre Beziehung zu Tom überlegt. Wenn sie Lust hatten, schliefen sie miteinander, was unterm Strich gar nicht so oft vorkam.

»Hey, du hast ja immer noch eine Narbe«, rief Samantha, den Finger auf der Stelle über Nicoles Braue, wo man sie vor fast zehn Jahren genäht hatte. »Ich frag mich, was dich damals beim Unfall so verletzt hat, das war ein echt tiefer Schnitt.«

»Mein scharfer Verstand«, sagte Nicole.

Samantha drehte die erste Strähne auf die heißen Lockenwickler. »In letzter Zeit muss ich oft an den Unfall denken.«

»Ich hab’s total vergessen.«

»Wie betrunken Mum gewesen ist.«

»Sie behauptet, sie war nüchtern.«

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt.«

In Wahrheit war sich Nicole nicht sicher, was sie glauben sollte. Egal, wie oft sie Samantha versicherte, dass sie Tina nur mit der Flasche in der Hand gesehen, sie aber nicht daraus trinken gesehen hatte, ihre Schwester unterstellte ihrer Mutter grundsätzlich das Schlimmste. Sie wollte keinen Streit, deswegen konzentrierte sie sich auf die heißen Wickler auf ihrer Kopfhaut und ließ den Augenblick verstreichen.

 

Dank Samantha erschien Nicole pünktlich und stocknüchtern zu ihrer Party, die in Mount Lawley bei Craig und Donna-Louise stattfinden sollte. Sie hatte versucht, Kim mitzuschleppen, aber die hatte nur gemeint, sie würde später kommen, was vermutlich hieß, dass sie sich lieber wegbeamen und Highway 2 glotzen wollte.

Nicole schnappte sich einen West Coast Spritz aus einem Kühlbehälter im Hauswirtschaftsraum, um sich die ganze Misere irgendwie schönzutrinken oder zumindest die Wogen ihrer Turmfrisur etwas zu glätten.

Als sie in den Garten kam, fiel ihr auf, wie viel Mühe Samantha sich gegeben hatte. Sämtliche Bäume waren mit Lichterketten behängt, der Garten mit Teelichtern in bunten Gläsern dekoriert. Hinten am Zaun hing sogar ein Schild mit Nicoles Namen in eigens ausgeschnittenen hellroten Lettern.

Aus dem Nichts stand ihre Schwester plötzlich neben ihr, Arm in Arm mit Trent, ihrem hundetreuen Freund. »Gefällt es dir? Trent und ich haben den ganzen Nachmittag dekoriert.«

Trent beugte den Kopf. »Sammy hat fast alles allein gemacht.«

»Ich find’s total schön!«, sagte Nicole, und es stimmte sogar.

Samantha strahlte. »Nur das Beste für meine allergrößte und allerbeste Schwester!«

 

Der Abend verging mit weinseligen Plaudereien. Irgendwann stand Nicole endlich allein da und konnte die Party von außen betrachten. Sie sah Craig und Donna-Louise gemeinsam mit paar älteren Verwandten der Familie Cooper Hof halten, sie unterhielten sich vermutlich über Steuertricks und Immobilienpreise. Sie sah ihre Cousins, verwöhnte Schnösel, die an der University of West Australia irgendwas mit Jura oder BWL studierten und sich jetzt in der Ecke ins Koma soffen. Sie sah ein paar ehemalige Mitschülerinnen, die sie größtenteils bereits vergessen hatte. Sie sah sogar ein paar von Craigs Geschäftspartnern in ihren Nylonhosen und Blazern schwitzen.

Aber Kim fehlte, war ja klar. Genau wie Tom.

Tina war auch nicht gekommen.

Gerade als sie Samantha suchen wollte, um sie zu fragen, wo ihre Mutter blieb, stand auf einmal Ben Porter, mit dem sie in der Zehnten gegangen war, vor ihr.

»Hey, Nicky! Danke für die Einladung«, sagte er.

Nicole bemühte sich redlich, keine Grimasse zu schneiden. Sie hasste es, wenn jemand sie außerhalb der Familie Nicky nannte.

»Gern geschehen, Benny«, entgegnete sie. Warum Samantha diesen Typen eingeladen hatte, war ihr schleierhaft. Eigentlich hätte auch ihrer Schwester klar sein müssen, dass Nicole ihn nicht mehr sehen wollte, vor allem, nachdem er sie damals auf dem Klassenausflug so fies abserviert hatte, dass sie die gesamte Bootsfahrt heulend auf dem Klo verbracht hatte.

Keine Ahnung, ob Ben sich daran erinnerte, er tat zumindest so, als wäre es nie passiert. Stattdessen erzählte er ihr lang und breit von seiner letzten Bali-Reise, die er vor Kurzem mit seiner Verlobten unternommen hatte. Nicole erkannte sofort, dass Ben sich ernsthaft für einen coolen Globetrotter hielt und nicht kapierte, dass er nur ein Dorfschulze im 96FM-T-Shirt war, der bei einer flüchtigen Bekannten im Garten Dosenbier trank.

»Du solltest auch mal hinfliegen, Nicky! Ist so exotisch da. Und superbillig. Kuta ist eigentlich fast schon ein Vorort von Perth.«

Nicole lächelte und nickte, und dann legte jemand Eternal Flame auf. Als Ben sie zum Tanzen aufforderte, wusste sie, dass dies die schlimmste Nacht ihres Lebens sein würde.

 

Bei der nächstbesten Gelegenheit machte sie sich vom Acker und suchte nach Samantha, die sich mit Trent in einen versteckten Winkel des Gartens zurückgezogen hatte.

»Du hast hoffentlich so richtig Spaß?«, fragte Samantha munter.

»Wo ist Mum?«

Peinliches Schweigen. Samantha sah zu Boden, Trent lief rot an.

»Ich hol uns noch ’ne Pepsi«, sagte Trent und machte die Biege.

»Ich höre?«

»Sie … ich hab sie nicht eingeladen«, antwortete Samantha. »Aber Tante Meg schon. Sie konnte nur nicht, lässt aber Glückwünsche ausrichten!«, fügte sie eifrig hinzu. Dann strahlte sie ihre Schwester an, als würde das alles wiedergutmachen.

Nicole gingen die Glückwünsche ihrer Tante am Arsch vorbei. Sie hatte die Frau seit Jahren nicht mehr gesehen. »Das ist doch gequirlte Scheiße!«, sagte sie. »Du lädst unsere Geistertante und diesen Flachwichser Porter ein, aber unsere Mutter nicht?«

»Dad meinte, Donna-Louise würde sich mit ihr im Haus nicht wohlfühlen«, sagte Samantha mit einem Achselzucken, den Blick immer noch gesenkt.

Ich wusste nicht, dass wir hier Donna-Louises Party feiern, hätte sie am liebsten gesagt, doch selbst das stimmte nicht. Sie drehte sich zu Craig und Donna-Louise um, die beide schwer damit beschäftigt waren, die Kissen auf dem Gartensofa zu ordnen. Wahrscheinlich hatte es jemand gewagt, sich draufzusetzen.