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"Eine farbenprächtige Reise durch das mittelalterliche Böhmen." Ricarda Jordan
Regensburg, 1268. Die junge Kaufmannstochter Arigund verliert ihr Herz an den Adligen Reimar. Er erwidert ihre Gefühle, doch Arigund wird mit seinem Bruder Wirtho verheiratet, einem gewalttätigen Trunkenbold. Als Wirtho von ihrer Liebe erfährt, bedroht er die beiden. Reimar verschwindet spurlos, und Arigund muss fliehen. Um zu überleben, setzt sie das Einzige ein, was ihr geblieben ist: ihre engelsgleiche Stimme. Doch Wirtho bleibt ihr auf der Spur - und sinnt auf Rache ...
Ebenfalls von Karolina Halbach bei beHEARTBEAT lieferbar: Der historische Roman "Die Falknerin".
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Seitenzahl: 861
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
ZUM SCHLUSS
DANKSAGUNG
Eine farbenprächtige Reise durch das mittelalterliche BöhmenRegensburg, 1268. Die junge Kaufmannstochter Arigund verliert ihr Herz an den Adligen Reimar. Er erwidert ihre Gefühle, doch Arigund wird mit seinem Bruder Wirtho verheiratet, einem gewalttätigen Trunkenbold. Als Wirtho von ihrer Liebe erfährt, bedroht er die beiden. Reimar verschwindet spurlos, und Arigund muss fliehen. Um zu überleben, setzt sie das Einzige ein, was ihr geblieben ist: ihre engelsgleiche Stimme. Doch Wirtho bleibt ihr auf der Spur – und sinnt auf Rache …
Karolina Halbach wurde 1962 in Neustadt an der Waldnaab geboren und kennt Regensburg schon seit ihrer Kindheit. Schon damals hat sie sich in das »bayrische Venedig« verliebt. Mehrere Jahre war es ihr vergönnt, mit Blick auf Burg Brennberg zu wohnen, was sie zu ihrem historischen Roman »Die Wandersängerin« inspiriert hat. Viele der beschriebenen Örtlichkeiten, wie etwa das Höllbachtal, Falkenstein und den »Goldenen Steig« kennt sie als begeisterte Freizeitreiterin vom Pferdesattel aus.
Heute lebt die promovierte Naturwissenschaftlerin mit ihrer Familie, ihren zwei Hunden und drei Ponys in der Nähe von Passau.
Karolina Halbach
DIEWANDER-SÄNGERIN
beHEARTBEAT
Digitale Neuausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2012/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Kai Lückemeier
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München unter Verwendung von Motiven © shutterstock: faestock | Ensuper | Everett - Art | Oksana Alekseeva
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5397-6
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MEINEM VATER,
EINEMWAHRLICHEHRENHAFTEN MANN,
DERVIELZUFRÜHVONUNSGEGANGENIST
NOVEMBER 1267
Behutsam legte das Mädchen die Gänsefeder zur Seite und schüttelte das verkrampfte Handgelenk. Sie sah aus dem Doppelbogenfenster, das man schon in wenigen Wochen mit Stroh und hölzernen Läden gegen die Kälte des Winters abdichten würde, hinaus auf die Wahlenstraße. Ein Löwe mit Menschenkopf zierte den Schlussstein, das Wappen der Zandt, des Geschlechts ihrer Mutter. Pater David, eben noch tief über das Lesepult gebeugt und versunken in ein Pergament, hob den Kopf und sah zu ihr herüber. »Nun Arigund, ist es dir gelungen, die Schrift aus dem Griechischen zu übersetzen?«
Das Mädchen atmete tief durch und bemühte sich um einen bescheidenen Tonfall. Ihre Begeisterung für Griechisch und Latein hielt sich ziemlich in Grenzen. Sie mochte lebendige Sprachen, solche, die man auch sprechen konnte: Italienisch, Französisch oder Tschechisch. Die konnte man gut brauchen, wenn der Vater einmal Gäste aus den Städten beherbergte, mit denen er Handel betrieb. Was dagegen sollte sie mit Latein und Griechisch anfangen? Ihr Hauslehrer war in diesen Dingen leider unnachgiebig. Doch vielleicht konnte sie ihn diesmal überlisten?
»Pater, Ihr habt mir doch versprochen, dass wir heute diesen neuen Choral anstimmen – zum Lobpreis Christi.«
Der Prior sah sie aus ernsten blauen Augen an, strich sich die Kutte zurecht und runzelte die Stirn.
»Zum Lobpreis des Herrn, mein Kind, oder weil du erhoffst, der Weisheit des Aristoteles zu entgehen?«
»Ich habe es so gut gemacht, wie ich konnte, doch die Übersetzung war ziemlich schwierig. Nach einem Lied würde es mir bestimmt leichter fallen, mich zu sammeln und die richtigen Worte zu finden.«
Der Mönch lächelte in seinen Bart hinein. Dieses DeCapella-Mädchen blieb selten eine Antwort schuldig. Wäre sie als Junge geboren, stünde ihr gewiss eine große Zukunft im Fernhandel offen. Fragend schaute das Mädchen den Prior an. Diese Augen, diese dunklen, fast schwarzen Augen, umrahmt von einem Kranz ungebärdiger, tief dunkelbrauner Haare, die einer Madonna würdig waren und die kleine, zierliche Statur waren ein Erbe von Arigunds Vater, dem Venezianer. Aber den klugen Kopf hatte das Kind eindeutig von der mütterlichen Seite. Das Geschlecht der Zandts war in Regensburg angesehen. Arigunds Großvater war ein außerordentlich einflussreicher Mann und hatte in seinem Leben wohl so alles erreicht, was ein Bürger Regensburgs mit Gottes Hilfe und einem schnellen Verstand erlangen konnte. Seine Tochter, Arigunds Mutter, hätte dem DeCapella sicher prächtige Söhne geschenkt. Aber leider hatte Gott der Herr in seinem unerforschlichen Ratschluss die Frau Anna Barbara schon kurz nach der Geburt ihrer Tochter zu sich genommen. Was für ein Verlust!
»Na gut«, gab der Priester nach. »Leg die Feder beiseite! Ich werde mir das Pergament später ansehen.«
Seine Sandalen schlurften über den Holzboden, als er zu ihr herüberkam. Für den hübschen Wandteppich und den venezianischen Spiegel hatte er keinen Blick übrig. Als Bettelmönch hatte er den weltlichen Dingen entsagt, und sie interessierten ihn tatsächlich nicht, außer sie hatten mit der Entwicklung seines Minoritenklosters zu tun. Dies war auch der maßgebliche Grund, warum er sich die Mühe machte, das Patriziermädchen zu unterrichten. Schließlich zählte ihr Vater zu den wichtigsten Förderern seiner ständig wachsenden Bruderschaft.
Pater David von Augsburg liebte jedoch die Musik. Er war davon überzeugt, dass die menschliche Stimme, insbesondere wenn sie geschult und zu seinem Lobpreis angestimmt wurde, Gott den Herrn erfreue. Und hier war er auf eine unvermutete Begabung seiner jungen Schülerin gestoßen! Denn auch wenn natürlich Knabenchöre an Reinheit und Klang nicht zu übertreffen waren, musste er zugeben, dass dieses DeCapella-Mädchen eine angenehme Stimme besaß. Es machte Freude, mit ihr zu singen.
Schon im Gehen stimmte der Pater ein paar Töne an. Er hatte einen volltönenden Bariton, um den ihn viele Brüder beneideten, und er hatte gelernt, seinen ganzen Körper bei der Erzeugung der Töne zu nutzen. Arigund sang zwar noch im hellen Sopran eines Kindes, zart anzuhören und unschuldig wie eine Lerche am frühen Sommermorgen, aber es gelang ihr jetzt schon, die Technik seines Gesangs nachzuahmen. Zudem hatte sie ein gutes Gehör, und so dauerte es auch diesmal nicht lange, bis sie die Melodie erfasste. Gleich in der zweiten Strophe stimmte sie in seinen Gesang ein. Behutsam führte der Mönch das Mädchen durch die schwierigen Passagen des Liedes.
Doch dann hielt Arigund unvermutet inne.
»Pater David, ich bitte um Entschuldigung, aber ich glaube, wenn ich diese Stelle etwas tiefer singe, dann würde sie noch besser klingen. Und vor dem ›Ave Maria‹ sollten wir eine kleine Pause einlegen. Der Lobpreis der Jungfrau fände dann mehr Beachtung.«
Lächelnd nickte der Mönch.
»Nun dann, versuche es. Ich werde lauschen und dir sagen, was ich darüber denke.«
*
Während Arigund sang, öffnete sich leise die Türe. Ein kleiner Mann trat vorsichtig in den Raum. Obwohl er sich schlicht kleidete, konnte niemand Zweifel an seinem Wohlstand hegen. Das Tuch war von einem Könner gewebt und von feiner Wolle. Und auch das Wohnhaus des Antonio DeCapella zeugte von Reichtum. Erst im letzten Jahr war der neue Turm seiner Residenz in der Wahlenstraße fertiggestellt worden. Fast wagemutig zog er so mit der Familie Zandt auf gleiche Höhe.
Der Kaufmann wartete, bis seine Tochter geendet hatte und begrüßte den Mönch dann freundlich: »Gott zum Gruße, Pater David. Wie ich höre, studiert ihr gerade mit meiner Tochter ein neues Lied ein.«
Der Mönch vernahm den etwas missbilligenden Unterton. In letzter Zeit schien der Kaufmann zunehmend unzufrieden mit den Fortschritten seiner Tochter, so als ginge ihm alles nicht schnell genug. Dabei lernte das Mädchen fleißig. Aber schließlich war sie noch ein Kind.
»Wir sind gerade mit den Übungsstunden fertig geworden. Arigunds Griechisch verbessert sich. Sie liest es flüssig und macht nur noch wenige Fehler beim Schreiben.«
»Das Griechische, aha, und wie steht es mit dem Rechnen?«
Wieder war der Tonfall bohrender, als es der Mönch von DeCapella gewohnt war.
»Eure Tochter, Herr, scheint mir ungewöhnliches Talent fürs Kaufmännische zu haben. Die Anzahl von Regensburger Pfennigen in einem Krug könnte sie allein an seinem Gewicht bestimmen.«
Zufrieden strich der Kaufmann seiner Tochter über den Lockenkopf. »Mia cara, deine Übungsstunden sind für heute beendet. Lass mich kurz mit dem Prior allein.«
Gehorsam packte das Mädchen seine Utensilien zusammen, knickste kurz und schloss dann die Türe hinter sich.
Antonio DeCapella wartete, bis er hörte, wie sich die Schritte seiner Tochter entfernten.
»Mein lieber Pater David«, hob er dann an, »ich möchte Euch um einen Dienst bitten.«
Der Pater runzelte die Stirn. Es kam nicht oft vor, dass ihn einer der reichen Kaufleute um etwas bat. Meistens war es eher umgekehrt.
DeCapella nagte an seiner Unterlippe, studierte fahrig das Pergament, in dem der Pater vorhin gelesen hatte, und meinte dann: »Ich werde mich erneut vermählen und möchte die Einsegnung gern in Eurer Klosterkirche vollziehen.«
Die Falten auf der Stirn des Paters glätteten sich. Eine Hochzeit – wie erfreulich!
»Es soll der Schaden der Bruderschaft nicht sein«, setzte der Kaufmann eilig hinzu.
Das klang nach einer großzügigen Spende. Im Geiste ging der Pater die notwendigen Renovierungsarbeiten an der Kapelle durch. Ihm fiel da so manches ein. »Selbstverständlich, Herr, wenn Ihr den Segen des Herrn wünscht, so werden wir ihn gern für Euch erbitten! Wann soll die Hochzeit denn stattfinden?«
»Im nächsten Jahr.«
»Und darf ich fragen, wen Ihr Euch zur Frau erkoren habt?«
Diesmal schien der Patrizier herumzudrucksen. Der Mönch wunderte sich. Ein Mann wie DeCapella würde sicher keine Ehe eingehen, die nicht standesgemäß wäre. Da gab es andere Möglichkeiten, sich die Gunst einer Frau zu erwerben. Selbst ein Bischof ging ins Frauenhaus, um sich seiner unguten Säfte zu entledigen. Pater David ließ dem Kaufmann Zeit und hob einen Becher frisches Brunnenwasser an die Lippen. Schließlich stieß DeCapella den Namen hervor: »Katharina Thundorf.«
Der Mönch hätte um ein Haar das Wasser wieder ausgespuckt. Das war wahrlich eine Überraschung.
»Katharina Thundorf?«, wiederholte Pater David ungläubig. Er hätte weit eher angenommen, dass DeCapella sich erneut ein Weib aus der Familie Zandt suchen würde, was aus Sicht des Familienfriedens geschickter gewesen wäre. Eine Thundorferin zu heiraten, das war mutig, nein, waghalsig. Die Zandts und Thundorfs, obwohl beide im Rat vertreten, waren schon seit Generationen verfeindet.
DeCapella knetete nervös seine Finger. »Ja.«
Es entstand eine weitere Pause. »Wisst Ihr, Pater, es ist eine gute Frau, eine Witwe.«
»Sicher. Sie ist das älteste der Thundorf-Kinder und heiratete mit dreizehn einen Fernhandelskaufmann in Augsburg. Im letzten Jahr raffte ihn die Schwindsucht dahin.«
»Das Trauerjahr ist bereits verstrichen.«
»Aber es könnte andere Probleme geben. Die Zandts …«
»Das lasst meine Sorge sein!«, unterbrach ihn DeCapella hastig. »Ich mache mir Gedanken um Arigund. Was wird sie zu einer Stiefmutter sagen?«
»Es ehrt Euch, Herr, dass Ihr Euch Gedanken um das Wohl Eurer Tochter macht. Andererseits, sie ist ein Mädchen und wird das Haus über kurz oder lang sowieso verlassen.«
»Sie wird vierzehn.«
»Richtig, vielleicht ein wenig zu alt, um sie zur Erziehung fortzugeben.« Der Pater kraulte nachdenklich seinen Bart und fuhr dann fort: »Und noch nicht alt genug für eine Heirat.«
Der Kaufmann nickte. »Selbst wenn: Die Ehe müsste wohlbedacht sein. Der alte Zandt steht ihr sehr nah. Es wird schwierig werden, seinen Ansprüchen zu genügen.«
»Dann lasst ihn doch die Ehe arrangieren.«
»Himmel, nein! Ich habe nur dieses Kind. Die Ehe muss wohlbedacht sein. Falls mir die Thundorferin keinen Sohn schenkt, darf das Haus DeCapella nicht in falsche Hände geraten.«
Unschlüssig wiegte der Pater den Kopf und begann auf und ab zu schreiten. Die Ledersandalen klatschten auf den Holzboden.
»Arrangiert eine Ehe, die über ihrem Stand ist, möglichst mit einem Adelsherrn.«
DeCapella lächelte. »Gegen so eine Hochzeit könnte der alte Zandt tatsächlich kaum Einwände vorbringen. Der Kaufmann kratzte sich am Kinn und fuhr dann nachdenklich fort: »Aber welcher Edelfreie will schon unter Stand heiraten, auch wenn man es mit dem Verlust der Titel und Güter nicht mehr so streng nimmt wie früher?«
»Für einen reichen Fernhandelskaufmann wäre es zu bewerkstelligen, wenn man es geschickt einfädelt. Die Herren Ritter neigen zur Völlerei und haben kein rechtes Verhältnis zum Geld …«
»Und der Fürstbischof?«, wandte DeCapella ein.
»Ich als Prior könnte ein gutes Wort für Euch einlegen, Herr. Schließlich seid Ihr ein bedeutender Gönner unseres Klosters.«
Ein wohlwollendes Lächeln huschte über DeCapellas Gesicht. Er schien genau auf diese Zusage gehofft zu haben. Doch dann verdunkelte sich seine Miene erneut.
»Wird man sie denn gut behandeln? Die Ritter scheinen mir recht raubeinig. Sie ist ein Stadtkind und an Freiheit gewöhnt.«
Pater David zuckte die Schultern. »Sie ist ein Mädchen und wird sich ihrem Schicksal fügen. Es wäre allerdings von Vorteil, ein Haus zu wählen, mit dem wir Regensburger in Burgfrieden leben. Nicht, dass aus einer Zwistigkeit der Adelsherren am Ende Euer Fleisch und Blut zu einem Unterpfand würde.«
DeCapella winkte ab. Als hätte er vor, seine Tochter einem dieser Raubritter zu geben, die ständig versuchten, seine Agenten zu erschlagen!
»Ich werde einen Gefallen einfordern«, erklärte er dem Abt. »Die Brennberger stehen in meiner Schuld – und meine Tochter ist nicht schlechter als jedes der adligen Mädchen, das an ihrem Hof erzogen wird …«
»Die Burg der Truchsesse?«, fragte der Mönch streng. »Aber die Herrin der Burg … führt einen Minnehof!«
DeCapella fuhr auf. »Und was ist daran schlecht? Ich hörte, sie empfängt die berühmtesten Troubadoure. Arigund wird ihren musikalischen Neigungen weiter nachgehen können.«
»Aber … aber … sie wird nicht nur singen und die Laute schlagen lernen. Sie wird … tanzen! Und sie wird mit … äh … mit Männern zusammenkommen.«
Pater David druckste herum. Wie viele Kirchenmänner missbilligte er die neue Mode, die Edelfräulein und jungen Ritter an den Fürstenhöfen nicht mehr streng voneinander getrennt aufwachsen und lernen zu lassen. Adelsfreie wie die Herrin von Burg Brennberg unterwiesen Mädchen und Jungen im höfischen – minniglichen – Umgang miteinander. Dazu gehörten der gemeinsame Genuss von Musik, Tanz und Dichtung. An Minnehöfen waren Troubadoure ebenso willkommen wie starke Kämpfer – und das Idealbild des modernen Ritters vereinigte beide Tugenden. Doch DeCapella ließ keinen Einwand gelten.
»Die Herrin von Brennberg wird es wohl schaffen, diese Kontakte im Rahmen schicklicher Formen zu halten«, bemerkte DeCapella streng. »Ihr wollt sicher weder meiner Tochter noch der Edelfrau mangelnde Tugend unterstellen?«
Der Pater schüttelte den Kopf. Die Sache war offensichtlich sowieso schon beschlossen.
»Dann werde ich die Hochzeitszeremonie mit meinen Brüdern besprechen.« Er machte eine segnende Geste und schritt zur Tür. Er hatte sie fast erreicht, als ihm der Kaufmann nachrief: »Prior, ich bin Euch sehr zu Dank verpflichtet, dass ihr Euch in den letzten Jahren so hingebungsvoll der Ausbildung meiner Tochter gewidmet habt, und ich würde – wenn Eure Zeit es erlaubt – sie bis zu Arigunds Abreise, sagen wir zu Mariä Himmelfahrt, auch gerne weiterführen. Danach …, nun, ich hoffe, ich kann für einen möglichen Erben mit meiner neuen Frau auf Euch zählen?«
»Gewiss«, antwortete der Geistliche knapp. Doch dann wandte er sich noch einmal um: »Ihr müsst mir nicht danken. Ich habe Arigund gern unterrichtet, für ein Mädchen ist sie ein aufgewecktes Kind. Ich hoffe, Gott wird auch weiterhin über sie wachen.«
MÄRZ 1268
Annelies fand Arigund mit hochrotem Kopf in einer Ecke ihrer Kammer kauernd.
»Herrin, was ist denn passiert?«, fragte die Zofe besorgt, doch sie ahnte bereits, dass es wieder Ärger mit dem Herrn DeCapella gegeben hatte. In den vergangenen Wochen war er oft ungeduldig mit seiner Tochter und fuhr sie wegen jeder Kleinigkeit an.
»Ich habe mich verrechnet, nur um einen einzigen Pfennig!«, zischte die Patriziertochter gekränkt. »Weißt du, was er gesagt hat?«
Annelies schüttelte den Kopf.
»Fehler können sich nur die Bettler vor dem Dom erlauben. Mach so weiter, und du landest genau da!«
Im nächsten Moment begann das Mädchen hemmungslos zu weinen. Hilflos stand Annelies daneben und wusste nicht, ob sie Trost spenden oder Aufmunterung geben sollte. In letzter Zeit war Arigund schwer einzuschätzen. Die Köchin meinte, das läge daran, dass die junge Herrin zur Frau reifte. Dann hatte Annelies eine Idee. Auf flinken Füßen eilte sie in die Küche hinunter und erbat von der Köchin ein Glas warmer, mit Honig gesüßter Milch. Sie fand Arigund bei ihrer Rückkehr regungslos an derselben Stelle, noch immer in Tränen aufgelöst. Behutsam berührte die Zofe ihre junge Herrin an der Schulter.
»Schaut einmal, was ich Euch gebracht habe. Süße Milch, die mögt Ihr doch so gerne.«
Arigund sah auf. Ihre Augen waren rot und verquollen, aus ihrer Nase lief der Rotz. Die Zofe stellte den Becher neben ihrer Herrin ab, sprang auf und fischte nach einem Stofftaschentuch aus der Truhe neben Arigunds Bettstatt. Sie reichte es ihrer Herrin. Die griff nach dem fein bestickten Leinentuch und schnäuzte zweimal kräftig hinein, dann nahm sie einen tiefen Schluck aus dem Becher. Annelies hockte sich neben sie. Unaufgefordert begann sie Arigunds Haar zu bürsten. Das beruhigte ihre Herrin normalerweise immer.
»Das war so gemein«, flüsterte Arigund nach einer Weile des Schweigens, »und man konnte es bis in die Schreibstube hören. Das hat er mit Absicht gemacht. Bestimmt lachen dort jetzt alle über mich.«
»Aber nein«, versicherte Annelies. »Schaut einmal, der Herr DeCapella liebt Euch mehr als sein Leben. Er will nur Euer Bestes. Deshalb ist er so streng.«
»Aber ich gebe mir wirklich Mühe, und trotzdem mache ich alles falsch«, seufzte Arigund.
»Schaut, Ihr seid doch noch jung. Es ist ganz unmöglich, dass Ihr genauso gut schreibt und rechnet wie die Männer der Schreibstube. Die machen das schon seit vielen Jahren. Zudem höre ich von denen nur anerkennende Worte über Euch.«
»Und Pater David ist auch dauernd unzufrieden mit mir. In der letzten Schrift sind mir drei Fehler unterlaufen. Er war so wütend, dass die Ader auf seiner Stirn ganz dick geworden ist. Ich fürchtete beinahe, sie würde platzen.«
»Pater David gibt Euch aber auch viel zu schwierige Texte.«
Unglücklich schüttelte das Mädchen den Kopf. »Nein, ich habe einfach kein Talent fürs Griechische.«
»Dafür habt Ihr die Stimme einer Nachtigall. Ihr könnt jeden jungen Herren in Regensburg mit Eurem Gesang verzaubern und ins Paradies entführen.«
Sofort begannen Arigunds Tränen zu trocknen und ihre Augen wieder zu leuchten. »Du meinst wie Circe, die Tochter des Sonnengottes, die es vermochte, mit ihrer Stimme Wölfe und Bären zu zähmen?«
Annelies nickte eifrig, auch wenn sie sich schwerlich vorstellen konnte, dass ein hungriger Wolf sich ernsthaft von bloßem Gesang besänftigen ließ. Bei Männern dagegen mochte das Arigund schon gelingen – vorausgesetzt, sie schwenkte dabei ein wenig die Hüften. Das jedenfalls behauptete Annelies’ Cousine Magda, die im Hause DeCapella als Küchenmagd diente.
»Ach, ich wünschte, ich würde tatsächlich auf Circes Insel leben, das wäre ein Traum! Du würdest doch mitkommen, oder?«
»Natürlich, wer würde nicht gerne Männer, wenn sie unliebsam werden, in Schweine verwandeln?«
Annelies kannte die Geschichte, die Arigund mit dem Prior studiert hatte. Noch gestern hatten die beiden darüber gekichert. Die Zofe musste bei dem Gedanken wieder schmunzeln und steckte Arigund mit ihrer Fröhlichkeit an.
»Männer können aber auch ganz schön verlockend sein«, meinte das Kaufmannsmädchen. Es zwinkerte Annelies zu, und die wusste genau, auf was – beziehungsweise auf wen – ihre Herrin anspielte. Annelies aber tat ganz unschuldig und meinte: »Das kann ich mir kaum vorstellen. Die meisten Männer, die ich kenne, hätte Circe augenblicklich verzaubert.«
»Also, der Mann, den ich mal heirate, der muss von nobler Gesinnung sein, gerecht und aufrecht. So jemand wie König Artus, ein Ritter. Aber natürlich muss er auch Geld haben.«
»Ich fürchte, da werden wir noch eine Weile warten müssen, bis uns so einer angetragen wird. Und bis dahin könnt Ihr Euch von Eurem Vater verwöhnen lassen.«
Annelies deutete auf das Kleid aus feinstem byzantinischen Tuch, das Herr DeCapella von seinem italienischen Hausschneider für seine Tochter hatte anfertigen lassen. Doch Arigund zeigte sich nach wie vor unversöhnlich. »Das hat er doch nur gemacht, damit ich die Kröte mit seiner Hochzeit schlucke.«
Annelies überlegte, wie viele Kleider sie selbst wohl im Schrank hätte, wenn sie für jede »Kröte«, die sie hatte schlucken müssen, eines bekommen hätte. Vielleicht gar ein solches, wie es da lag. Es war in Meister Pedros Werkstatt angefertigt worden, und der war in ganz Regensburg für sein Geschick mit Nadel und Faden bekannt.
Die Zofe griff behutsam nach der aufwendig gearbeiteten Brüsseler Spitze, die Kragen und Ärmel des Gewandes zierte. Sie war mit Glasperlen bestickt, genug, um den Reichtum des Hauses DeCapella zu bezeugen, aber nicht so viel, um anmaßend zu wirken. Annelies liebte es, mit den teuren Stoffen und Spitzen zu hantieren, und sie hatte Talent dafür, wie man Kleidung geschickt zusammenstellte. Ihre Mutter hatte es sie einst gelehrt, damals, als der Vater noch als Tuchhändler hatte arbeiten können. Das waren gute Zeiten gewesen. Doch dann war der Vater krank geworden und die Familie hatte Hunger gelitten. Schließlich hatte Annelies die Stelle im Haus der DeCapellas angetreten. Seither wurde sie zumindest täglich satt.
»Sei es, wie es sei, Ihr werdet wunderschön darin aussehen, Herrin. Wisst ihr eigentlich schon, wer alles zum Fest kommen wird?«
Im Grunde kannte die Magd die Antwort selbst. Seit Monaten bot die Gästeliste den Bediensteten Gesprächsstoff, wenn sie sich zum Nachtmahl in der Küche versammelten. Annelies, eigentlich ein scheues Mädchen, das nicht gerne im Mittelpunkt stand, wurde von den anderen oft mit Fragen bedrängt. Wer denn alles käme und ob vielleicht bei dieser Gelegenheit auch nach einem Bräutigam für die Tochter des Hauses Ausschau gehalten werde? Ob Annelies die Zukünftige des Herren DeCapella bereits zu Gesicht bekommen habe und ob sie wirklich so streng sei, wie sich alle erzählten? Normalerweise senkte Annelies dann immer den Kopf und zuckte mit den Schultern. Sie tratschte nicht über ihre Herrschaft – höchstens ein wenig mit Magda, aber da gab es derzeit ein ganz anderes Thema. Annelies lächelte versonnen in sich hinein und hätte fast nicht mitbekommen, dass sich Arigund tatsächlich auf das Ablenkungsmanöver einließ.
»Alle großen Häuser Regensburgs werden da sein und natürlich auch deren Söhne«, verkündete sie.
»Und vielleicht Euer zukünftiger Gatte?«, neckte Annelies.
Arigund kicherte. »Hast du da einen bestimmten im Sinn? Etwa den schielenden Kirschensteiner Buben?«, erwiderte sie keck.
»Ich dachte da mehr an den jungen Herren Schierling«, schlug Annelies vor.
»Bist du wirre? Den müsste ich ja hinter einem Schleier verstecken. Als ich ihn zuletzt sah, hatte er lauter rote Pusteln im Gesicht.«
»Ah, ich verstehe, Euch steht eher der Sinn nach einem aufgeweckten Italiener. Einem Troubadour vielleicht?« Annelies machte eine Bewegung, als schlüge sie die Laute.
»Ich fürchte, die Söhne der Venezianer, die mein Vater geladen hat, taugen nicht einmal als Gondoliere.«
»Aber wohlhabend wären sie schon.«
»In der Tat. Das kann man ihnen nicht absprechen.« Arigund nickte desinteressiert. Sie brauchte sich um den Reichtum ihres künftigen Gemahls nicht zu sorgen. In der Bekanntschaft ihres Vaters gab es keine armen Schlucker.
»Ihr solltet auf jeden Fall versuchen, ihnen vorgestellt zu werden, bevor eine Thundorferin Euch den Kavalier wegschnappt.«
Arigund verzog die Lippen zu einem Schmollmund. »Die fehlen ja nie, wenn sie einen fetten Happen riechen.«
»Bei diesem Fest können sie schwerlich fernbleiben«, versuchte die Magd zu scherzen, »wo der Herr DeCapella doch die Herrin Katharina heiratet.«
Arigund schaute drein, als habe sie Zahnschmerzen.
»Diese Thundorferin mit ihrem Pfannkuchengesicht! Wäre sie nicht aus einflussreichem Hause, käme eine Verbindung mit ihr nie in Frage.«
»Natürlich reicht die Frau Katharina nicht im Entferntesten an die Schönheit und Würde Eurer Mutter heran«, beschwichtigte Annelies.
Anna Barbara Zandt war Arigunds Vorbild. In den Handelshäusern Regensburgs wurde der Name ihrer Mutter auch heute noch mit großer Achtung genannt, und in so mancher Gesindeküche munkelte man, dass das Haus DeCapella seinen Aufstieg in Regensburg nicht so sehr dem kaufmännischen Talent des Herrn als vielmehr den Verbindungen und dem Verhandlungsgeschick seiner Gemahlin zu verdanken habe. Von seiner neuen Frau erhoffte sich der Herr DeCapella sicher Ähnliches. Schließlich war die Patrizierburg der Thundorfer in der Gesandtenstraße in den letzten Jahren stetig gewachsen. Die Köchin hatte deshalb gemeint, dass die Katharina Thundorf, auch wenn bereits Witwe und gewiss nicht halb so angenehm wie die Anna Barbara Zandt, eine gute Partie war. Herr DeCapella besäße zweifellos ein glückliches Händchen in Heiratsangelegenheiten.
»Mein Onkel fährt auf einem der Thundorfer Donauschiffe«, meinte Annelies zaghaft. »Er sagt, man würde sie nur mit erlesenen Waren beladen.«
»Papperlapapp, Dienstbotengeschwätz!«, herrschte Arigund sie an. »Die Thundorfs biedern sich den Wittelsbachern an. So verdienen sie ihr Geld, nicht mit ehrbarem Fernhandel. Ein wahrer Regensburger Kaufmann ist ein freier Bürger, frei im Geist und nur dem Kaiser zu Diensten.«
Annelies zuckte zusammen. Das konnte ja heiter werden. Wenn Arigund sich mit solchen Äußerungen nicht zurückhielt, würde sie sich rasch den Zorn der Katharina Thundorf zuziehen. Schließlich brachte die ihre eigenen Dienstboten mit, und die würden ihrer Herrin so etwas augenblicklich zutragen. Auch Annelies würde in Zukunft noch vorsichtiger werden müssen. Zwar war sie keine Unfreie, doch sie hatte noch einige Jahre als Zofe vor sich, bis sie mit einer angemessenen Aussteuer nach Hause zurückkehren und eine Hochzeit in Erwägung ziehen konnte. Sie hätte es lieber gehabt, wenn bis dahin alles beim Alten geblieben wäre.
APRIL 1268
Kerzengerade verharrte Arigund auf einem Hocker und ließ die langwierige Ankleideprozedur über sich ergehen. Zwei Glockenschläge später, als die Zofe ihr Werk vollendet hatte, war das Mädchen kaum wiederzuerkennen. Gekleidet in dunklen Brokat, mit feinen Strümpfen und Schuhen aus weichem Ziegenleder, wirkte Arigund so nobel wie eine Prinzessin. Die nun zur Raison gebrachten Haare wurden gekrönt von einem Reif aus Ebenholz, dem Schappel, das dem nahezu durchsichtigen Schleier Halt bot. Die feine Spitze bedeckte Arigunds für hiesige Mädchen etwas zu dunklen Haare und ihren braunen Teint. Nur die schwarzbraunen Augen blitzten nach wie vor höchst undamenhaft.
»Herrin, ihr seid wunderschön«, hauchte Annelies.
Arigund zwinkerte ihrer Magd zu. »Sag ich doch!«, kokettierte sie. »Mein Vater wird mit Stolz auf mich blicken.«
Beschwingt stieg Arigund die Treppe zur großen Halle herunter. Im Eingang zum Festsaal entdeckte sie ihren Vater – bereits im Hochzeitsgewand – im eifrigen Gespräch mit zwei hünenhaften Männern. Arigund erkannte die Adelsfreien von Brennberg, Herren der gleichnamigen Burg. Der schwarze Waffenrock mit rotem Blitz kennzeichnete sie als Ritter von hohem Rang. Arigund hatte Pater David gut zugehört, als er ihr die Regensburger Adelshierarchien erklärte. Für ihren Vater musste es eine große Ehre sein, dass der Fürstbischof seinen Truchsess gesandt hatte. Nur selten kam ein Ritter zur Hochzeit eines bürgerlichen Kaufmanns. Arigund hatte nur eine vage Vorstellung vom Leben der Ritter. Hier in der Stadt hielt man sie für unzivilisierte Gesellen, die darauf aus waren, den Kaufleuten Geld und Waren abzunehmen oder sie sogar zu ermorden. Pater David jedoch schilderte sie ihr in den glühendsten Farben. In seinen Geschichten waren Ritter noble Männer mit edler Gesinnung, die den Heiligen Gral bewachten. Arigund näherte sich zögernd, um festzustellen, in welche der beiden Kategorien die Brennberger wohl fielen. Von hier oben war das allerdings schwer auszumachen. Ob es schicklich war, die Ritter zu begrüßen? Andererseits waren die Brennberger seit Langem Kunden des Handelshauses DeCapella. Und so behandelte Arigunds Vater sie nun auch: höflich, aber nicht unterwürfig. Zwar mied der Kaufmann den direkten Blickkontakt zu den Rittern, aber er hatte sich immerhin auf die zweitunterste Treppenstufe gestellt. Der kleine Mann befand sich somit nur knapp unter Augenhöhe der Hünen, und er sprach laut und gestikulierte lebhaft – auch dies nicht unbedingt angemessen im Umgang mit Adeligen.
»So leid es mir tut, Euer Gnaden, aber ich muss darauf bestehen, dass die Außenstände umgehend ausgeglichen werden«, hörte das Mädchen ihren Vater sagen. »Über der Schwertleite Eures Sohnes ist bereits der Winter vergangen, und kein einziger Regensburger Pfennig wurde unserem Hause übergeben.«
»Ihr werdet doch wohl auf das Ehrenwort eines Ritters vertrauen«, grollte der Brennberger. »Ihr werdet Euer Geld schon bekommen.«
»Ich bedauere außerordentlich, aber auch ich stehe in der Pflicht. Die Venezianer überlassen mir den Brokat nicht für gute Worte, sondern nur gegen klingende Münze. Wir rüsten zum Marienfeiertag ein Schiff. Bis dahin kann ich Euch Frist gewähren, danach jedoch müsste ich mich an den Fürstbischof wenden.«
Die Schwerthand des Ritters zuckte. Arigund unterdrückte einen Aufschrei und trat zurück in den Gang. Dabei stieß sie gegen eine Vase, die klirrend zu Boden fiel. Ihr Vater sah zu ihr hoch. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, eben noch angespannt, änderte sich sofort. Ein Strahlen ließ seine dunkelbraunen Augen leuchten. Er breitete die Arme aus und kam seiner Tochter entgegen.
»Madonna, mia cara«, raunte er. »Du blendest uns mit deiner Schönheit.« Er deutete einen Handkuss an und geleitete sie dann die Stufen hinunter.
»Hohe Herren, darf ich Euch meine Tochter Arigund vorstellen. Arigund, verneige dich vor dem Truchsess des Bischofs, Herrn Reimar von Brennberg, und seinem Sohn Wirtho.«
Das Mädchen beugte den Nacken und versank in einem angemessen tiefen Knicks. Der Geruch von Pferdeschweiß und Bier stieg ihr in die Nase. Zwischen den Wimpern hindurch blinzelte sie die beiden Ritter an. Mächtige Gestalten waren das, Furcht erregend mit ihren seitlich gegürteten Schwertern. Niemand sonst in Regensburg würde ihrem Vater in seinem eigenen Haus derart herrisch gegenübertreten. Der Truchsess musste in der Tat ein mächtiger Mann sein. Es war mutig von ihrem Vater, so unnachgiebig auf seinen Forderungen zu beharren. Arigund bemerkte den abschätzenden Blick des Burgherren.
»Ein wenig kleinwüchsig, das Mädchen. Wie alt bist du, Kind? Acht? Neun?«
Arigund versank noch mehr. Ja, sie war von kleiner, schmächtiger Gestalt, genau wie ihr Vater. Aber das konnte doch noch werden!
»Sie vollendete im Februar das vierzehnte Lebensjahr und ist unserem Haus bereits eine große Stütze im Kontor«, pries DeCapella seine Tochter an.
»Im Kontor? So wird sie von einem Schreiber unterrichtet?«
»Ihr Lehrer ist Bruder David von Augsburg, der Prior des Minoritenklosters. Sie kann hervorragend rechnen und ist dabei, sich in die Bücher einzuarbeiten.«
»Ach, sind das die Aufgaben der Damen in einem städtischen Kaufmannshaus?«
»Je früher man den Wert des Geldes schätzen lernt, desto weniger leichtfertig gibt man es später aus.«
Wenn auch in Demut vorgetragen, so war dies eindeutig eine Spitze gegen den Truchsess, dessen schlechtes Zahlungsgebahren in Patrizierkreisen legendär war. Kaum ein Kaufmann gab ihm noch Kredit.
Der Truchsess zog entsprechend die buschigen Augenbrauen hoch. »Nun, hat sie denn auch weibliche Qualitäten?«
»Gewiss, sie kann nicht nur mit der Feder zaubern. Euer Gnaden werden in ganz Regensburg niemanden mit einer schöneren Stimme finden. Ihr Gesang ähnelt dem einer Nachtigall im Sommerwind.«
Reimar von Brennberg antwortete mit etwas, was genauso gut ein Husten- wie ein Lachanfall sein konnte. Arigund knirschte mit den Zähnen und ballte die kleinen Fäuste. War sie eben noch ganz aufgeregt gewesen, einem echten Ritter zu begegnen, so machte sich in diesem Moment ihr italienisches Temperament bemerkbar. Mochte der alte Schwarzbart sich über ihre Figur lustig machen, aber ihren Gesang ließ sie von niemandem in Abrede stellen. Sie dachte gerade noch darüber nach, ob es unzüchtig wäre, das Wort an den Ritter zu richten, als ein Bediensteter am Hauseingang erschien und meldete, dass die Kutschen zur Kirche bereitstünden. Der Truchsess nickte unwillig und verabschiedete sich. Arigunds Vater griff nach den Mänteln und warf seiner Tochter einen liebevollen Blick zu. Sie würde heute in einer anderen Kutsche sitzen.
*
Als Arigund die Karosse bestieg, bemerkte sie verwundert, dass sich bereits eine Person darin befand. Das helle Haar und die füllige Figur zeichneten sie als eine Thundorferin aus. Und tatsächlich: »Hildegard, deine neue Stiefschwester«, stellte die Fremde sich vor. »Du musst Arigund sein.«
Überrascht musterte Arigund ihre Gesellschaft. Sie hatte nicht erwartet, so schnell ihrer neuen Verwandtschaft gegenüberzustehen. Sie zögerte einen Moment zu lange, bevor sie Hildegard die Hand reichte.
»Sei willkommen – und richtig, ich bin Arigund, Tochter der Anna Barbara Zandt.«
Arigund setzte sich Hildegard gegenüber in die Kutsche und beäugte ihre zukünftige Stiefschwester neugierig. Katharina Thundorf, die zukünftige Gemahlin ihres Vaters, brachte drei Kinder in die Ehe, ein Mädchen und zwei Söhne. Arigund hatte das wohl gewusst, aber es war eine Sache, davon zu erfahren, dass man eine zwei Jahre ältere Schwester bekommen würde, eine andere war es, ihr gegenüberzusitzen. Was um Himmels willen sollte sie mit ihr reden?
»Gar nichts!«, würde ihr Großvater Zandt wahrscheinlich brummen. »Mit Thundorfern spricht man nicht!« Aber der war jetzt nicht hier. Arigund knetete verlegen ihre Finger. Glücklicherweise nahm Hildegard mit einem unverfänglichen Thema die Unterhaltung auf.
»Ganz schön warm für April.« Sie wedelte sich frische Luft zu.
»Ja«, bestätigte Arigund lahm.
Hildegard zupfte an ihren Handschuhen aus feinem weißen Kalbsleder herum.
»Wir sind uns noch nicht begegnet«, versuchte es Hildegard noch einmal. »Ich war in den letzten Jahren in Italien.«
»Ähm, ja«, meinte Arigund lediglich, »habe ich gehört. Ich war noch nie aus Regensburg heraus.«
»In unserem Haus ist es üblich, dass die Kinder ihr Elternhaus früh verlassen. Venedig ist zudem sehr angenehm. Ich spreche jetzt fließend Italienisch. Das ist sehr wichtig, wenn man einmal einem Handelshaus vorstehen soll.«
»An dieser Sprache wird es auch bei mir nicht scheitern.«
»Sicher, am Italienisch nicht.«
Hildegard warf einen vielsagenden Blick auf Arigunds winzige Brüste. Im Vergleich zu Hildegards waren sie eigentlich gar nicht vorhanden.
Was für ein gemeines Biest!, dachte sich Arigund und begann bereits Pläne zu schmieden, wie sie den anstrengenden Familienzuwachs wieder loswerden könnte. Da erinnerte sie sich an die letzte Bemerkung ihrer zukünftigen Stiefschwester. »Du hast die Strapazen einer langen Reise auf dich genommen, um an dieser Hochzeit teilzunehmen. Hattest du wenigstens eine angenehme Begleitung?«
»Mein Verlobter Eduardo Caprilli war an meiner Seite. Er hätte mich sowieso niemals ohne Schutz reisen lassen.«
Ein Sonnenstrahl am Wolkenhimmel! Vielleicht verschwand das Luder ja von selbst wieder.
»Wie nobel von ihm!«
Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über Hildegards Gesicht. »Gewiss, es ist nur schade, dass er so bald wieder zurückmuss. Ich werde mich vor Sehnsucht nach ihm verzehren.«
»Wieso? Fährst du nicht mit?« In Arigunds Stimme schwang fast so etwas wie Verzweiflung.
»Meine Mutter wünscht, dass ich an ihrer Seite bleibe. Ich werde ihr natürlich gehorchen.«
»Dann wirst du den Herrn Caprilli nicht wiedersehen?«
»Gewiss doch!« Hildegard betrachtete Arigund, als hätte sie ein dümmliches Hausmädchen vor sich. »Sobald unsere eigene Hochzeit arrangiert ist.«
»Und was tust du bis dahin?«
»Meine Mutter im Kontor unterstützen.«
»Aha, dann wohnst du also im Hause deiner Großeltern?«
»Ich bitte dich, was würde es für einen Eindruck machen, würde ich jeden Tag zwischen den Häusern hin und her laufen wie ein Dienstbote! Und was würde mein zukünftiger Gatte dazu sagen? Es wird ja wohl im Hause DeCapella ein angemessenes Zimmer für mich geben.«
Arigund schwankte zwischen Wut und Verzweiflung. Diese Hildegard würde ihr in Zukunft das Leben zur Hölle machen. Warte nur ab, dachte sie, so leicht gebe ich mich nicht geschlagen!
Glücklicherweise endete die Fahrt zum Minoritenkloster just in diesem Augenblick. Die Kutsche hielt an, und Arigund streckte sich eine wohlvertraute Hand entgegen. Es war Großvater Zandt, der sie in Empfang nahm. Er warf Hildegard Thundorf lediglich einen abschätzigen Blick zu, half seiner Enkelin aus dem Wagen und strahlte sie an.
»Geschätzte Herrin, würdet ihr einem alten Mann die Ehre Eurer Gesellschaft gönnen.«
»Nichts, was ich lieber täte, mein Herr!«
Arigund legte nicht weniger würdevoll ihre Hand in die seine und schwebte davon, ohne Hildegard auch nur noch einen Blick zuzuwerfen. Großvater und Enkelin erreichten das Portal des Minoritenklosters unbelästigt. Hier und da warf der alte Mann Bettlern Geld zu, die ihre Gebrechen offen zur Schau stellten. Betteln war in Regensburg ein einträgliches Privileg, das per Bettelbrief genehmigt werden musste. Arigunds Vater befand sich bereits vor Ort. In seinen prächtigen Kleidern wirkte der Kaufmann vor der hölzernen Kirche fast fehl am Platz. Als Arigund hörte, wie vom Turm des Marktplatzes aus die Hochzeit angeblasen wurde, verfiel sie ins Grübeln. Wer würde wohl der Nächste sein, den die Bläser ankündigten? Patrizierhochzeiten waren auch im reichen Regensburg nicht an der Tagesordnung. Sie sah zu ihrem Großvater herauf, der, obwohl ihn das Alter bereits gebeugt hatte, sie dennoch um zwei Köpfe überragte. »Wenn ich einmal heirate, Großvater, dann möchte ich es auf den Schwellen des Domes tun, und ich will, dass die Bläser so fest in ihre Instrumente stoßen, dass man es bis in den Himmel hinauf hören kann.«
Der alte Mann sah sie liebevoll an. »Das wird so sein, meine Schöne, ganz bestimmt. Aber jetzt sei still, denn da kommt dieses Weib, das die Nachfolge meiner Anna Barbara antreten soll.«
Er hustete und spuckte auf den mit Stroh ausgelegten Boden vor der Kirche.
»Das wird sie niemals können, Großvater«, raunte Arigund ihm zu.
Der alte Zandt tätschelte wohlwollend ihre Hand, trat einen Schritt zurück, sah sie an und stellte nüchtern fest: »Wenn mich meine alten Augen nicht täuschen, bist du jetzt schon schöner, als diese Thundorferin es jemals sein wird, und klüger bist du auch. Es wird langsam Zeit, dass wir einen gut aussehenden und wohlhabenden Gatten für dich ausfindig machen, bevor dein Vater dich verscherbelt.«
»Ich habe mein Herz schon verschenkt.« Arigunds Augen blitzten. Ihr Großvater zog die Augenbrauen zusammen.
»An dich, Großvater.«
Arigund strahlte den alten Mann an. Mit gespielter Empörung machte er eine abwehrende Geste. »Mein liebes Fräulein, ich kann Euch keineswegs zur Frau nehmen, obwohl es mir eine Ehre wäre.«
Verschmitzt zwinkerte er ihr zu. »Ich bin bereits verheiratet, und zwar mit der besten Frau, die der Herrgott auf dieser Erde hat wandeln lassen.«
Arigund spielte die unglücklich Verliebte. »Das bricht mir das Herz, und ich werde wohl ins Kloster gehen müssen, aber wenn ihr dieser Frau in echter Liebe zugetan seid, mein Herr, so muss ich wohl zurücktreten.«
»Ich liebe sie mehr als mein Leben«, versicherte der alte Zandt ernsthaft. »Ich verehre deine Großmutter, und nicht nur der wunderbaren Söhne und Töchter wegen, die sie mir geschenkt hat. Mögen uns noch viele schöne Jahre vergönnt sein.«
»Ich wünsche mir, dass ich das auch einmal von meinem Gatten sagen kann, wenn ich so alt bin wie du. Verrate mir euer Geheimnis!«
»Am Glück einer Ehe muss man ständig schmieden, Kleines.« Missmutig blickte der Großvater zur Kirchenpforte hoch, wo gerade in diesem Augenblick Katharina Thundorf an der Hand ihres Vormunds ihrem zukünftigen Gatten entgegenschritt. Sie war in ein prächtiges weißes Kleid gewandet, mit reich besticktem Kragen und Saum. Ernst stellte sich das Brautpaar nebeneinander auf.
»… und man muss natürlich auch edle Metalle miteinander verbinden«, murmelte der alte Zandt bei ihrem Anblick, allerdings so leise, dass nur Arigund ihn hören konnte. Gemeinsam beobachteten sie, wie DeCapella nach den sieben Paar Handschuhen griff, die ihm ein Diener auf einem Tablett darbot. Er reichte seiner Braut je eines mit den Worten: »Hiermit verspreche ich Euch den rechten Schutz, den sicheren Schutz, den vollen Schutz, nach Regensburgischer Gewohnheit, nach bayrischem Recht, wie es von Rechts wegen ein freier Regensburger einer freien Regensburgerin gegenüber tun soll, mir zu meinem Recht, Euch zu Eurem, mit meiner Standeswürde gegen Eure Standeswürde.« Der Vormund der Thundorferin, den Arigund nicht kannte, nickte. Dann griff er nach dem Schwert an seiner Seite. Er steckte den Hut auf das Schwert und den goldenen Ehering auf den Schwertgriff und übergab beides dem Bräutigam.
»Hiermit übergebe ich Euch mein Mündel zu Euren Treuen und Gnaden und bitte Euch der Treue willen, mit der ich sie Euch anvertraue, dass Ihr ihr ein rechter und ein wohlwollender Vormund seid und dass ihr kein schlechter Vormund seid noch werdet. So empfangt sie und habt sie.«
Von Rechts wegen galt die Ehe nun als geschlossen. Bei der sich anschließenden Messe wurde lediglich der Segen Gottes erfleht. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Thundorferin. Sie schien mit dem Bund mehr als zufrieden zu sein. Arigund dagegen hatte ein mulmiges Gefühl. Sie sah zu ihrem Großvater hoch, der die Stirn in tiefe Falten gezogen hatte. Behutsam zupfte sie ihn am Ärmel.
»Großvater?«
Doch dann wurde sie von einem unüberhörbaren Furzen unterbrochen, gefolgt von bestialischem Gestank. Arigund, Zandt und die anderen Gäste wandten sich indigniert um …
*
»Bella gerant alii, tu mercator nube«, kommentierte der Truchsess. Sein Sohn, der den Lateinunterricht meistens geschwänzt hatte, sah ihn verständnislos an.
Reimar von Brennberg seufzte. »Das heißt, dass unser guter DeCapella keine Schwertkämpfe bestreiten muss, um an Einfluss zu gewinnen«, erklärte er. »Er heiratet einfach die richtige Frau.«
»Aha«, meinte Wirtho mit mäßigem Interesse. »Wie lange dauert’s jetzt wohl noch bis zum Hochzeitsmahl? Ich hab ordentlich Hunger, und zwar auf mehr als nur die klägliche Bohnensuppe, die unser Koch Tag für Tag zusammenbraut. Die macht nicht satt und verursacht böse Blähungen.«
Zur Bestätigung entließ der junge Ritter einen ordentlichen Furz aus seinen Beinlingen, der sich sofort geruchvoll verteilte.
»Bist du von Sinnen!«, fauchte sein Vater und versuchte sich unauffällig Luft zuzufächeln. Auch die anderen Gäste begannen bereits die Nase zu rümpfen. Reimar bemerkte, dass der alte Zandt und seine kleinwüchsige Enkelin sich umwandten.
Wirtho jedoch grinste nur und begann sich umzusehen, als würde er selbst nach dem Übeltäter Ausschau halten. Sein Vater zog ihn am Ärmel die Stufen zur Kapelle hoch. »Komm schon!«
Sie hatten gerade den Eingang der Kirche erreicht, als der Kirchenchor einen Choral anstimmte. Zwei Diener warteten auf den Truchsess und seinen Sohn und geleiteten sie zu einem bevorzugten Platz. Erleichtert ließ sich der von Brennberg nieder.
»Untersteh dich, noch einmal die Luft zu vergiften, die ich atme!«, herrschte er Wirtho an. »Und benimm dich nachher bitte wie ein Ritter und nicht wie ein Stallbursche!«
»Das tu ich doch stets, Vater«, maulte Wirtho. »Wenn die nur bald einmal mit dem Gejaule aufhören würden. Es bereitet meinen Ohren Qual.«
Der junge Mann deutete nach oben zum Chor. Von Brennberg verdrehte die Augen. Wenngleich an einem Minnehof groß geworden, zeigte sein Sohn nicht das geringste musikalische Talent. Sogar ein Maultier traf besser den Ton. Als Vater tat von Brennberg dies in der Seele weh, weil die Sangeskunst in jedem Fall für eine höfische Karriere von Vorteil war. Auch in anderer Hinsicht ließ Wirtho mit seinen neunzehn Lenzen noch viel zu wünschen übrig. Der Truchsess versuchte seit Jahren, dem Burschen ritterliche Tugenden einzubläuen, aber so richtig fruchtete nichts. Nicht einmal vor dem Burgkaplan hatte Wirtho Respekt. Neulich hatte sich Pater Anselm beschwert, er habe den Sohn des Truchsess dabei erwischt, wie der sich das Geld der Kollekte unter den Nagel reißen wollte. Und was den Dienst an Frauen anging, wusste der Waffenmeister zu berichten, er habe den jungen Herren kürzlich mit der Tochter des Stallmeisters im Heu erwischt, wobei sich das Mädchen des zukünftigen Herren von Brennberg mit dem Reisigbesen erwehrte und ihm ein blaues Auge schlug. Zweifellos hatte der Waffenmeister dem Wein schon reichlich zugesprochen, als er die Zote zum Besten gab, und vermutlich hatte er schamlos übertrieben. Aber Wirtho hatte wenige Wochen zuvor tatsächlich ein blaues Auge gehabt – angeblich von einem Schwertkampf, bei dem das Visier nicht ordentlich geschlossen gewesen war. Reimar von Brennberg hatte seinem Sohn die Geschichte abgenommen, denn wenn man bei Wirtho ritterliche Talente suchen wollte, so entdeckte man diese am ehesten auf dem Turnierplatz. Dort konnte er, das Schwert fest in der Hand, mit erstaunlicher Ausdauer auf seinen Gegner eindreschen. Sein Ruf als Haudegen eilte dem jungen Brennberger bereits jetzt voraus. »Wenigstens etwas«, dachte sich der Burgherr. »Mit etwas Glück kann der Bub sich auf dem Turnierplatz bewähren.«
Die Küche des Hauses DeCapella war an sich schon ein geschäftiger Ort, am heutigen Tag jedoch wimmelte sie nur so von Menschen. Jedes Paar Hände wurde für die Vorbereitung des Festmahls benötigt, und die meisten halfen gerne. Schließlich wurden im Raum neben der Küche auch die Kutscher und sonstigen Bediensteten der Gäste verköstigt. Dadurch war die Küche der Mittelpunkt für Geschichten und Neuigkeiten. Ohne Zweifel lieferten die Geheimnisse, die hier im Laufe der Festlichkeiten von Mund zu Mund gingen, den Gesprächsstoff der nächsten Monate. Jeder wollte der Erste sein, der sie zu hören bekam und weitergeben konnte. Das Gesinde der DeCapellas brauchte deshalb von der Köchin nicht erst gerufen zu werden, sondern fand sich – sobald sich die Gelegenheit ergab – ganz von selbst ein.
Annelies hatte noch einen weiteren Grund, weshalb sie – sobald ihre Herrin Arigund in die Kutsche gestiegen war – die Dienstbotentreppe herab zur Küche eilte. Sie wollte Magda treffen, die sie insgeheim beneidete. Auch wenn es angesehener war, als Zofe zu arbeiten, so brachte eine Stellung in der Küche doch viele Vorteile. Als Köchin musste man nie darben und konnte ungestraft von den besten Speisen kosten. Auch das Essen, das die Herrschaft zurückgehen ließ, landete auf den Tellern der Küchenmannschaft. Konstantia, die Köchin, verteilte es dann nach Gutdünken weiter. Mit Konstantia war nicht gut Kirschen essen. Und frech kommen durfte man ihr schon gar nicht. Annelies hatte selbst erlebt, wie sie mit Peter umgesprungen war, als er gescherzt hatte, Konstantia wäre nur deshalb so sauertöpfisch, weil sie zu viel Kraut in sich hineinstopfe – und die Köchin just in diesem Moment um die Ecke gekommen war. Drei Tage hatte sie den armen Peter darben lassen, und bestimmt wäre der Bub verhungert, hätten ihm nicht Annelies und Magda heimlich von ihrer eigenen Ration abgegeben. Doch während Annelies die Treppen heruntersprang, dachte sie weder an Konstantia noch an Peter. Vielmehr hoffte sie, mit Magdas Hilfe jemanden zu sehen – oder wenigstens Neuigkeiten über ihn zu erfahren. Annelies schwärmte schon seit geraumer Zeit für Matthias, den Reitknecht der Brennberger. Der Feuerkopf war der Zofe ins Auge gestochen, als er und sein Herr zu Wirthos Schwertleite Salz und Gewürze erstanden hatten. Matthias war der schönste Junge, den Annelies je gesehen hatte. Er war stattlich wie ein Ritter, besaß ein sinnliches Kinn und starke Hände, die selbst den wilden Hengst des Herrn Wirtho mühelos bändigen konnten. Annelies hatte Matthias einmal sogar ganz nahe sein können. Herr DeCapella hatte ihr aufgetragen, den Bediensteten des Truchsess mit Wasser verdünnten Wein zu reichen. Matthias hatte sie angelächelt und gesagt: »Eine Erfrischung aus Euren Händen labt mehr als Ambrosia, schöne Jungfrau.«
Dann hatte er ihr den Becher aus den Händen genommen und dabei ganz nebenbei ihre Finger berührt. Sie war feuerrot geworden, und wenn sie sich die Szene in Erinnerung rief, bekam sie auch jetzt noch eine Gänsehaut, und ein angenehmes Kribbeln durchlief ihren Körper.
Arigund dagegen hatte gemeint: »Wo der Junge nur solche Sprüche herhat? Klingt arg danach, als hätte er sie bei irgendeinem Ritter erlauscht.«
Annelies war das egal. Für sie gab es keinen Zweifel: Matthias war der Mann ihrer Träume, mochte Arigund auch noch so sehr darüber scherzen. Leider war es bei diesem einen Satz zwischen ihnen geblieben. Der Truchsess hatte im Haus des Bischofs Residenz bezogen und die Ware später von anderen Männern abholen lassen. Heute jedoch blieben die Brennberg’schen Pferde im Stall der DeCapellas, und somit musste auch Matthias hier sein. Annelies merkte, wie ihre Hände vor Aufregung feucht wurden. Sie wischte sie rasch an der Schürze ihres Dirndls ab, fuhr sich einmal durchs Haar und atmete tief ein. Sie stieß die schwere Holztür zur Küche auf. Eine Dampfwolke quoll ihr entgegen, Gerüche von Pfannkuchen, frisch gebackenem Brot und einem ganzen Ochsen, der sich auf dem Bratspieß drehte. Dann drückte jemand die Tür wieder energisch zu. Annelies öffnete sie erneut und schlüpfte nun augenblicklich hindurch, nur um der Köchin direkt in die Arme zu laufen. Eine große Rührschüssel in Konstantias Arm begann bedenklich zu schwanken. Annelies griff danach und spürte im selben Moment den Ellbogen der Köchin in ihren Rippen.
»Nichts da, freches Ding!«, schnaubte die Köchin. »Finger weg vom Teig.«
Sie schubste die Zofe zur Seite und walzte an ihr vorbei, während sie quer durch die Küche grölte: »Eier, Magda, ich brauche Eier!«
Schon im nächsten Augenblick wirbelte Konstantia herum und musterte Annelies mit ihren wässrigen Schweinsäuglein, während sie auf die weißliche Masse in der Schüssel mit dem Kochlöffel eindrosch, als stecke ein Dämon darin. »Und du, Mädchen! Steh da nicht rum! Schäl die Steckrüben.«
Annelies quetschte sich an den dicht gedrängt arbeitenden Küchenmägden und -jungen vorbei, bis sie zu dem Tischchen kam, auf dem der Korb mit den Rüben stand. Die Zofe griff nach dem Messer und angelte nach einer Wurzel. Das Gemüse war so frisch, dass sich die Erde daran noch klebrig anfühlte, und es duftete, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Annelies fragte sich, wo man um diese Jahreszeit so frisches Gemüse herbekam, aber es blieb ihr keine Zeit, um nachzufragen. Magda schlüpfte atemlos neben sie. Das Mädchen wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Was ist los?«, flüsterte Annelies.
Magda wies mit dem Kinn zur Köchin. »Heute ist sie besonders unausstehlich.«
»Das wird schon, wenn die Herrschaften das Essen loben.«
»Hoffentlich.« Magda zeigte Annelies ihre rot verquollenen Hände. Ein tiefer Schnitt zog sich quer über den Daumen. »Sie hat mir eine Kopfnuss verpasst, weil sie der Meinung war, ich würde die Schale zu großherzig herunterschneiden. Da rutschte das Messer aus.«
»Arme Magda«, tröstete Annelies. »Und – hast du ihn schon gesehen?«
Magda tat so als habe sie keine Ahnung, von wem ihre Freundin sprach. »Wen?«
»Du weißt schon, Matthias. Seine Herrschaft stand vorhin im Saal, im eifrigen Gespräch mit dem Herrn DeCapella.«
»Na, was die wohl zu bereden hatten? Vielleicht bezahlt der Truchsess endlich seine Schulden? Fragt sich nur, wovon?«
»Was redest du da? Die Brennberger sind reiche Leute, Lehnsherren des Bischofs. Die holen es sich doch von ihren Bauern.«
»So ein schlaues Mädchen und weiß doch nicht, dass das Land der Brennberger karg ist und ihre Leibeigenen kaum genug haben, um selbst über den Winter zu kommen. Tja, und die Erlaubnis, die Wälder zu nutzen, verwehrt ihnen der Bischof bislang.«
»Woher weißt du das?«, fragte Annelies misstrauisch. »Hast du’s von ihm?«
»Vielleicht, vielleicht auch von einem anderen. Ich an deiner Stelle wäre nicht so scharf auf einen Umzug nach Burg Brennberg.«
»Ach, ich bräuchte nicht viel, wenn ich nur mit Matthias zusammen sein könnte. Jetzt sag schon, Magda, weißt du, ob er hier ist?«
»Natürlich. Und ich hab auch dafür gesorgt, dass du ihn zu Gesicht bekommst. Wir beide werden nachher die Speisen für die Kutscher auftragen, was sagst du dazu?«
Annelies stieß einen Jauchzer aus, was sofort die Köchin auf den Plan rief. »Was habt ihr da zu tuscheln, törichte Trakken? Schaut lieber, dass das Gemüse flugs im Topf landet. Sonst geht ihr heute mit hungrigen Mägen ins Bett.«
Die Mädchen zogen die Köpfe ein und machten sich eifrig an die Arbeit. Und die ging ihnen nicht aus, bis den Herrschaften die Nachspeise aufgetragen wurde. Wenigstens besserte sich die Laune der Köchin mit jedem Gang.
»Warte, Schätzchen«, hielt sie Annelies zurück, als sie nach einer der Schüsseln für die Stallknechte greifen wollte. Sie drückte dem Mädchen die Reste der Süßspeise in die Hand, gab einen großzügigen Löffel Honig darüber und zwinkerte der Zofe verschwörerisch zu.
»So schindest du bei deinem Hübschen Eindruck, meine Süße!«
Die Zofe senkte verlegen den Blick und huschte Richtung Küchenausgang. Offenbar hatte sich Annelies’ Schwärmerei für Matthias bereits herumgesprochen.
»Magda, kannst du nicht einmal etwas für dich behalten?«, raunte sie ihrer Freundin wütend zu, die einen Krug Bier schleppte. Die grinste und erwiderte: »Lass uns tauschen. Nach allem, was ich bis jetzt mitbekommen habe, findet flüssige Nahrung besseren Anklang bei den Knechten. Ich bring das zu Peter und den anderen Jungen.«
»Meinst du nicht, die Männer wollen auch ein bisschen Süßkram?«
»Pass lieber auf, dass die Kerle dich nicht vernaschen!«
In der Stube für die Rossknechte und Kutscher wurde Annelies mit großem »Hallo« empfangen.
»Was kommt denn da für ein niedliches Füllen!«, grölte ein dunkelhaariger Koloss am Ende des Tisches und stieß einen Pfiff aus.
»Hier herüber, meine Hübsche!«, lallte ein ergrauter Kutscher in zerknautschter Livree. »Schenk mir ein!«
Annelies zwängte sich an den hölzernen Schemeln vorbei, während sie vergeblich nach Matthias Ausschau hielt. Einige Male spürte sie eine Hand, die plump nach ihren Schenkeln tastete. Der Kutscher streckte ihr seinen Becher entgegen. Sie hob den Krug und beugte sich nach vorn, um das Gefäß zu füllen. In diesem Moment packten sie zwei raue Hände an den Hüften. Annelies kreischte auf, und um ein Haar wäre ihr der irdene Krug entglitten.
»Lass mich los, du ungehobelter Klotz!«, fauchte sie und versuchte sich zu befreien. Der Kerl dachte jedoch gar nicht daran, seinen Fang preiszugeben. »Was für ein schlankes Stütchen. Bist du denn schon zugeritten?«
Annelies knallte den Krug auf den Tisch und das Bier schwappte über den Rand.
»Haltet euch besser an das Bier, wenn ihr nicht Ärger mit meiner Herrschaft bekommen wollt.«
Mit diesen Worten kniff sie den Kerl in den Arm, dem das aber nichts auszumachen schien. Die Knechte pfiffen noch lauter. Der Dunkelhaarige schien wenig beeindruckt. »Oho, hört, hört, mit ihrer Herrschaft bekommen wir Ärger. Da haben wir aber Angst, nicht wahr?«
»Jetzt lass sie schon laufen, Trunkenbold«, brummte der alte Kutscher und schaute den Kerl streng an. »Du kannst heut Nacht eh keine Peitsche mehr schwingen.«
Annelies bekam einen Schubs und einen höchst unanständigen Klaps auf den Po. Erleichtert versuchte sie zu entkommen, aber die Reitknechte waren gerade erst in Fahrt geraten. »Genau!«, schallte es vom anderen Ende des Tisches. »Komm zu mir Mädchen! Ich zeig dir nachher die Kutsche meiner Herrschaft!«
Ein anderer erhaschte ihre Schürze und trällerte: »Ich bring dir ein Ständchen, du süßes Täubchen. Ich singe fast so gut wie unser Herr Wirtho.«
Die Männer lachten. Annelies setzte ihre Ellbogen ein und erwischte den Sänger am Auge. Sofort ließ er los. Doch schon verstellte ihr ein schmalbrüstiger, dürrer Kerl mit Zahnlücke den Weg. »Ich kann zwar nicht singen, hätte aber anderes zu bieten.«
Rüde zog er sie an sich, sodass sie seine Lenden spüren konnte. Empört trat ihm die Magd gegen das Schienbein. Der Dürre jaulte auf und taumelte zurück. Die anderen lachten und klatschten. Bierkrüge klirrten gegeneinander. Dann war der Knecht mit der Zahnlücke wieder auf den Beinen und kam drohend auf sie zu. Plötzlich war aus den derben Scherzen Ernst geworden. »Warte nur, du Luder!«
Annelies erschrak und hob schützend die Arme. Jemand packte sie am Handgelenk und zog sie zurück. Die Zofe schrie auf. Dann erkannte sie jedoch Matthias. Er stellte sich schützend zwischen das Mädchen und den Angreifer.
»Genug! Ist das die Art, wie man das Gastrecht ehrt?«, rief er in die Menge. »Ihr führt Euch auf wie Bauerntölpel.«
Im Raum entstand eine peinliche Stille, nur unterbrochen von einem lauten Rülpser des Livrierten. »Na dann, prost«, meinte er, und im nächsten Moment brach schallendes Gelächter los. Auch Matthias griff nach einem Humpen, hob ihn an und leerte ihn bis auf den letzten Tropfen. Erst nachdem die Gespräche wieder aufgeflammt waren, wandte er sich entschuldigend an Annelies: »Verzeih die derben Worte meiner Gesellen. Es ist das ungewohnte Starkbier, das ihre Zunge löst, und kein böser Wille.«
Sanft zog er das verblüffte Mädchen aus dem Raum. Sie wollte widersprechen, aber die Stimme versagte ihr. Matthias war da. Er war gekommen, um sie zu retten. Er hatte sich vor den ganzen Haufen betrunkener Rossknechte gestellt, um ihre Unschuld zu verteidigen. Annelies konnte vor Aufregung kaum einen klaren Gedanken fassen. Ihre Wangen glühten, und sie folgte dem Rotschopf willenlos. Dann waren sie draußen auf dem Hof. Der süßliche Geruch der Pferde drang zu ihnen herüber, und aus dem hohen Haus hörten sie fröhlichen Gesang und lautes Lachen. Matthias ließ ihre Hand los, doch nicht ohne einen Kuss auf die Fingerspitzen zu hauchen.
»Annelies, so sehe ich dich wieder«, flüsterte er.
»Du kennst meinen Namen?«, erwiderte sie erstaunt. »Und du erinnerst dich an mich?«
»Wie hätte ich dich vergessen können, deine Anmut und dein liebliches Gesicht!«
Bei diesen Worten streichelten seine Finger ihre Wangen, berührten ihre Augen, ihren Mund. »Nur um dich wiederzusehen bin ich mit der Herrschaft hierher gereist.«
Er beugte sich über sie. Seine Lippen waren nun dicht an ihren Ohren, und seine Hände umschlangen sie. »Eigentlich hätte ich auf der Burg bleiben sollen. Arithmea, die Stute meines Herrn, wirft in diesen Tagen. Doch das Schicksal war mir wohlgesonnen. Der Oberstallmeister verstauchte sich den Knöchel, und es war an mir, den herrschaftlichen Tross zu begleiten. Nichts, was ich lieber getan hätte, denn so wagte ich auf eine Gelegenheit zu hoffen, mit dir sprechen zu können. Jetzt ist sie da, und es ist mir wie ein Traum.«
Es fühlte sich wundervoll an, als seine Zunge wie zufällig ihr Ohrläppchen berührte.
»Nur um dich zu sehen bin ich zu den Knechten in die Stube gegangen«, flüsterte die Siebzehnjährige.
Matthias’ Griff wurde fester. Eine Hand glitt hinunter zu ihrem Gesäß. »So hast du dich ebenfalls nach mir gesehnt?«
»Jeden Tag, jede Stunde brannte Sehnsucht in mir, aber nie hätte ich vermutet, dass es dir genauso ergeht. Mein Herz steht in Flammen!«
Suchend sah sie sich um. Hier mitten auf dem Hof wollte sie mit keinem Burschen gesehen werden. Auch als Zofe konnte man rasch ins Gerede kommen. Matthias schien zu verstehen und hatte sofort eine Lösung parat. Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie Richtung Stall. Aber nun begann Annelies das Ganze Spaß zu machen. Sie beschloss, ihn zu necken, und blieb stehen.
»Das sagst du nur so, in Wirklichkeit …«
Der Rotschopf schien einen Augenblick verwirrt, ließ sich dann aber auf das Spiel ein. »Wie kannst du nur zweifeln!«, erwiderte er scheinbar gekränkt. »Schon als ich dich im Marienmonat das erste Mal mit deiner Herrin Arigund sah, bist du mir aufgefallen, aber ich wagte nicht, dich anzusprechen. Heute aber sah ich, dass deine Augen geleuchtet haben wie die Sterne einer Sommernacht, als dein Blick auf mich fiel, und jetzt, lass mich genauer hinsehen …« Seine Hände umfassten Annelies’ Gesicht. Er küsste sie sanft auf die Lippen. Nie, niemals würde sie diesen ersten Kuss vergessen. Er schmeckte salzig, ein bisschen nach Bier und doch süßer als jeder Honig. Sie hatte nur noch das Bedürfnis, in die Arme dieses Mannes zu gleiten. Sie wollte sich an ihn schmiegen, doch diesmal war er es, der sie warten ließ. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete sie.
Dann hob er sie einfach hoch und trug sie zum Stall. Sie legte die Arme um seinen Hals und schmiegte sich an ihn. Matthias’ Gesicht war ganz dicht an ihrem. Sie roch seine Nähe, fühlte seine Wärme, ein Prickeln an ihren Wangen, das in ihren ganzen Körper ausstrahlte. Erst im Stall setzte er sie ab, aber los ließ er sie nicht mehr. Seine Lippen strichen behutsam über ihre Schultern, ihren Hals und tasteten sich in Bereiche vor, die zu berühren sie keinem Mann vorher erlaubt hatte.
»Annelies! Annelies!«, klang es von irgendwoher, aber es war nicht Matthias’ zärtliches Flüstern, sondern ein lauter, fordernder Ruf. Magda, eindeutig Magda.
»Rasch hier hinein!«, raunte Matthias.
Er schlang seine Arme um Annelies’ Hüften und zog sie ins Heu. Scheinbar zufällig fuhr dabei seine Hand unter ihren Rock. Überrascht bemerkte das Mädchen, dass ihrem Mund ein lustvoller Laut entwich. Im nächsten Moment sah sie sich selbst, wie sie dicht an Matthias gepresst lag, kurz davor etwas zu tun, was sie eventuell teuer bezahlen musste. Eine freie Zofe, die schwanger wurde, schickte man in Regensburg sofort zu ihrer Familie zurück, und die brachte sie postwendend ins Frauenhaus, wo sie sich für Geld verkaufen musste. Außer – ja außer Matthias nahm sie zur Frau, aber das wäre schwierig. Ein Knecht konnte gewöhnlich keine Frau ernähren und benötigte vor der Vermählung auch die Erlaubnis seines Herrn. Mit einem Ruck befreite sie sich. Matthias versuchte, sie zurückzuhalten.
»Was ist denn? Annelies, schöne, wundervolle …«
Die Magd legte ihm rasch die Hand auf den Mund.
»Pst, still!«, flüsterte sie, doch der von Leidenschaft gepackte Reitknecht küsste lediglich die dargebotenen Finger und hielt sie noch fester. Magdas Rufe wurden lauter. Annelies befreite sich, ordnete hastig ihre Schürze, klopfte sich das Heu aus dem Rock und trat aus dem Torbogen heraus.
»Ja, was ist?«, antwortete sie deutlich zu atemlos.
»Deine Herrin ruft nach dir!«, erklärte Magda.
Jetzt schien auch Matthias zu bemerken, dass sie nicht allein waren. Er verbarg sich taktvoll im Schatten, griff aber rasch noch einmal begehrlich nach Annelies Fingern. »Ich warte auf dich.« Doch das Mädchen rannte schon über den Hof, ohne sich noch einmal umzudrehen.
*
Arigund zergelte ungeduldig an ihren Ärmeln, als Annelies eintrat. »Wo warst du denn?«, herrschte sie das Mädchen an, als es endlich durch die Tür zu ihrer Stube huschte. »Rasch, ich muss mich umziehen.«
»Verzeiht, Herrin«, hauchte die Zofe und begann an Arigunds Haar herumzuzupfen. Die schüttelte unmutig den Kopf.
»Nicht doch das Haar, Annelies. Ich brauch ein neues Kleid. Dieses ist hinüber. Bring mir das hellblaue, das mit dem bestickten Saum.«
»Entschuldigt, das Kleid, natürlich.« Die Magd begann ziellos in Arigunds Kleidertruhe herumzukramen.