Die Wanifen - René Anour - E-Book

Die Wanifen E-Book

René Anour

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Beschreibung

Die Alpen, in grauer Vorzeit Die junge Ainwa ist zu ihrem Volk an den Ufern des Atasees zurückgekehrt. Nach langer Zeit haben ihre Leute Ainwa als fähige Heilerin und Sprachrohr der Naturgeister akzeptiert. Doch etwas Dunkles strömt aus der Welt der Geister in die Menschenwelt und gefährdet das Leben im Seenland. Wenn Ainwa Ihr Volk beschützen will, muss sie das Geheimnis lüften, das sich im mysteriösen Grauerlenwald, an den Ufern des schwarzen Sees verbirgt…

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© 2017 René Anour

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-4586-9

e-Book:

978-3-7439-4588-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

René Anour

Die Wanifen - Zeitenwende

René Anour lebt in Wien, das heißt, wenn er nicht gerade in irgendeinem Wald nach Inspiration sucht. Schreiben bedeutet für ihn die einzige Tätigkeit, bei der man wirklich zur Ruhe kommt. Persönlich treffen, kann man ihn außer bei Lesungen auch bei einem Auftritt der Kabarettistengruppe Vetophil, deren Gründungsmitglied er ist. Seine Leser hält er am Laufenden unter:

facebook.com/anournovels

twitter.com/anournovels

reneanour.wordpress.com

Weiters in dieser Reihe erschienen:

René Anour, Die Wanifen-Seegeist (Band I):

René Anour, Die Wanifen-Geisterfeuer (Band II)

An Dich:

Du bist mit mir in eine andere Zeit gegangen, den tiefen Wald, das Dorf im Wasser, den See, zu Naturgeistern und Wisenten, Knabenkraut und Baumriesen.

Danke,

René Anour

Zur Orientierung:

Diese Geschichte (abgesehen vom Prolog) spielt in zwei unterschiedlichen Zeitebenen, in der Zeit von Seyring und der Zeit von Ainwa. Diese sind durch etwa zweihundert Jahre voneinander getrennt. In den Ereignissen in »Die Wanifen-Geisterfeuer« nahmen beide an einem regelmäßig stattfindenden Turnier unter Wanifen teil, das beide Male so ähnlich ablief, dass man glauben konnte, Ainwa und Seyring wären auf demselben Turnier. Zwischen den beiden scheint über die Grenzen der Zeit eine geheimnisvolle Verbindung zu bestehen…

Prolog

»Kelpi, Percht, Salkweib, Einhorn, Tatzelwsurm.«

Der hohe Ruf eines Haubentauchers riss Kauket aus seinen Gedanken. Für einen Augenblick hob er den Kopf und schirmte seine Augen gegen die Abendsonne ab. Der See vor ihm war ein Bild des Friedens. Ein paar flauschige Haubentaucherküken paddelten eilig auf ihre Mutter zu und schlüpften unter ihre Flügel, bis nur ihre Köpfe sichtbar waren.

Kauket schnaubte und wandte sich wieder den Zeichen im Uferkies vor ihm zu. Keines sah wie das andere aus, genauso wenig, wie sich die dazugehörigen Geister ähnelten, wenn man Urgroßvater Schepsi Glauben schenken wollte.

»Kelpi, Percht, Salkweib, Einhorn, Tatzelwurm ... der Alb, Bartengryf...

»...Hermelinenwór, Frostkindl und... Ata«, ergänzte eine helle Mädchenstimme.

Kauket seufzte, ohne den Blick von den Geistzeichen zu heben.

»Geh nachhause, Nephtys. Mutter und Vater werden sich Sorgen machen.«

»Wieso? Ich möchte mit dir lernen. Urgroßvater hat gesagt...«

»Er hat mir gesagt, was mit mir passieren wird«, unterbrach sie Kauket und hob den Kopf. »Dass ich mich verwandeln werde. Ich muss darauf vorbereitet sein – also lass mich in Ruhe.«

Nephtys Miene verfinsterte sich, sie streckte den Fuß aus und verwischte die Geistzeichen im Kies. Obwohl sie nur ein Sommer voneinander trennte, wirkte sie mit ihren elf Sommern unverzeihlich kindisch auf Kauket. Ihr wuscheliges Haar und das runde Gesicht verstärkten den Eindruck noch.

»Ich hoffe, du bist stolz auf das, was du getan hast!« Nephtys fauchte und rollte mit den Augen.

»Na, na«, meinte eine raue Stimme. »Ärgert ihr einander wieder?«

Kauket wandte sich von seiner Schwester ab und senkte den Blick.

»Ich habe versucht zu lernen«, murmelte er mit zusammengepressten Kiefern.

»Es ist ungerecht. Ich kann das genauso gut wie Kauket, Urgroßvater, schau!« Nephtys malte mit dem Fuß die Umrisse eines fliegenden Vogels in den Sand.

»Benutz die Zeichen der Geister nicht leichtfertig, Nephtys. Der große Ata könnte es dir übelnehmen.« Ihr Urgroßvater lächelte. Je älter er wurde, desto mehr wirkte er wie ein Teil des Waldes. Sein brustlanger Bart war mit Moosen durchsetzt, in dem krausen Haar, das unter seiner Ledermütze hervorquoll, hatten sich Holunderblüten verfangen und in seinen buschigen Augenbrauen hatte bestimmt schon einmal ein Zaunkönig gebrütet.

Auch wenn es ihm noch immer gelang, sich ihnen völlig lautlos zu nähern, konnte Kauket nicht umhin zu bemerken, wie gekrümmt er dastand, während er das Zeichen des großen Wassergeistes mit seinem Stab verwischte. Der Anblick irritierte Kauket. Urgroßvater Schepsi hatte immer schon alt ausgesehen, aber früher hatte er sich seine Jahre nicht anmerken lassen.

Schepsi musterte Nephtys mit freundlichem Blick. »Ich habe eine Überraschung für dich, Kleines, aber sie bedeutet große Verantwortung…«

Nephtys musterte ihn mit neugierigen Augen. »Was ist es, Urgroßvater?«

Kauket wunderte sich, wie er es immer wieder schaffte, ihr das Gefühl zu geben, ernst genommen zu werden. Vielleicht war das der Grund, warum sie die beiden so oft bei Kaukets Ausbildung störte.

Schepsi grinste verschwörerisch. Mit einer dramatischen Geste griff er hinter sich und holte etwas aus seinem Pelzkragen.

Nephtys reckte das Kinn vor, um erkennen zu können, was sich zwischen seinen gekrümmten Fingern verbarg. Ein flauschiger, schwarz weiß gestreifter Federball, hockte zwischen Schepsis erdigen Fingern. Nephtys stieß ein entzücktes Seufzen aus. »Ein Haubentaucher Küken!«

Kauket rollte mit den Augen.

»Seine Eltern wurden von einem Fuchs gerissen, als sie das Nest verteidigt haben. Der Kleine ist jetzt ganz allein.« Nephtys formte ihre Hände zu einer Schale, damit Schepsi ihr das Küken überreichen konnte. Der Haubentaucher beäugte Nephtys und Kauket neugierig. Entweder wusste er nicht, dass Menschen Gefahr bedeuteten, oder es lag an Urgroßvater Schepsis besonderer Verbindung zu Tieren. Seit Kauket denken konnte, hatte sein Urgroßvater tagelange Ausflüge in den Wald unternommen und war oft in Begleitung aller möglichen Kreaturen zurückgekehrt, die man sonst kaum zu Gesicht bekam. Ein Sperlingskauz, ein Siebenschläfer, ein Hermelin und ein Luchs waren die, an die Kauket sich am besten erinnerte.

»Er ist hungrig und braucht rasch Nahrung«, ermahnte er Nephtys. »Du musst dich gut um ihn kümmern. Er frisst Wasserinsekten und wenn er größer wird, Fische.«

Nephtys nickte eifrig.

Schepsi strich ihr durch das Haar. »Dann los, Kleines, such ihm was zu fressen, während ich hier mit Kauket rede.«

Sie warteten, bis sie das Lied, das Nephtys dem Küken vorsang, nicht mehr hören konnten. Schepsi atmete tief durch und stützte sich auf seinen Stab. Das Lächeln auf seiner Miene erstarb. Für einen Moment krampfte sich seine Miene zusammen, als hätte er Schmerzen.

»Geht es dir gut, Urgroßvater?«, fragte Kauket besorgt.

Eine Weile antwortete er nicht, und als er es tat, wünschte sich Kauket, er hätte weiter geschwiegen.

»Meine Zeit neigt sich dem Ende zu«, hauchte er mit heiserer Stimme. »Heute Nacht…«

Kauket spürte, wie ihm die Farbe aus dem Gesicht wich.

»Du bist ein Wanife, Urgroßvater. Du kannst die Hilfe der Geister erflehen.«

Schepsi hob seinen Kopf ein wenig, und mit etwas Anstrengung kehrte sein warmherziges Lächeln zurück auf seine Miene.

»Das Alter … ist keine Krankheit, die die Geister heilen können.«

»Du hast mir erzählt, in der Welt der Geister hat Zeit eine andere Bedeutung … du könntest zu ihnen gehen … und dort leben…«

»Du hast gut aufgepasst, Kauket.« Schepsi richtete sich mit einem schmerzerfüllten Stöhnen auf. »Aus dir wird ein großer Wanife werden. Bereits jetzt spüre ich die Nähe deines Seelengeists in deiner Gegenwart. Ein Gefährte aus unserer alten Heimat … Die Geisterwelt kann ein wundervoller Ort sein … voller Geheimnisse, aber sie verändert einen, Kauket, deshalb darf man sich nicht zu lange dort aufhalten. Sie nimmt dir etwas … Es ist ein Ort ohne Wärme. Was dort bleibt, verliert seine Menschlichkeit, wird allmählich selbst zum Geist, verliert sich.«

Er schüttelte müde den Kopf. »Ich habe meine Kinder, meine Enkel und meine Urenkel im Arm gehalten. Diese Welt ist mein zu Hause.«

»Aber ich brauche dich«, warf Kauket ein. »Niemand sonst weiß, was es bedeutet, ein Wanife zu sein. Wie soll ich das schaffen?«

Schepsi legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Du weißt alles darüber, was du wissen musst«, erklärte er und strich ihm über den Kopf. »Den Rest …« er legte seine Hand auf Kaukets Brust, »wirst du hier wissen, wenn die Zeit kommt.«

Kauket presste die Lippen zusammen und versuchte zu verhindern, dass die Verzweiflung die Oberhand gewann. Für einen Moment schien das Gesicht seines Urgroßvaters hinter einem Tränenschleier zu verschwimmen.

»Wir haben nicht viel Zeit«, meinte Schepsi sanft. »Und es gibt etwas, dass du noch wissen musst, bevor ich gehe.« Kauket wischte sich über das Gesicht und nickte leicht.

»Zuerst, sag mir, Kauket: was ist ein Wanife?«

»Ein Mensch, der von einem Wesen der Geisterwelt erwählt wird. Wenn der Wanife erwachsen wird, schließt sich zwischen ihm und seinem Seelengeist ein Band, das für den Rest seines Lebens dauert.«

»Welche Fähigkeiten besitzt ein Wanife?«

»Kein Wanife hat die gleichen Fähigkeiten, da die Kräfte von seinem Seelengeist stammen. Je nachdem, was für eine Kreatur es ist, besitzt man Fähigkeiten im Heilen, im Wandeln durch die Geisterwelt, im Wachsen … und im Geisterringen.«

»Wie fand unser Volk unsere neue Heimat, hier im Seenland?«

»Wir waren Flüchtlinge. Verjagt aus unserer alten Heimat im Süden, kamen wir hier an, am Ende unser Kräfte. Feort, vom Volk der Ata, der größte Wanife aller Zeiten, fand uns, rettete uns und gab uns eine neue Heimat hier, in diesem verborgenen Tal.«

»Sehr gut«, flüsterte Schepsi, »sehr gut.«

Ein Schatten schien sich über seine Miene zu legen.

»Warum gibt es bei Feorts Volk, den Ata, keine Wanifen mehr?«

Kauket schluckte. Normalerweise gelang es ihm, seine Angst zu beherrschen. Aber seit Schepsi ihm die Geschichte zum ersten Mal erzählt hatte, wachte er manchmal schweißgebadet auf, und glaubte ein paar orange leuchtende Augen in der Dunkelheit zu sehen.

»Der Kelpi«, flüsterte er. »Er hat sie verflucht. Er war der Seelengeist des letzten Wanifen der Ata, von Geralt.«

»Meinem Freund«, flüsterte Schepsi kraftlos. »Meinem Bruder… erzähl weiter, mein Junge!«

»Der Kelpi war ein mächtiger Geist, der über die dunklen Triebe der Seele herrscht. Es gibt keine bösen Geister, aber Geralt fürchtete die Macht seines Seelengeists, und dass sie Besitz von ihm ergreifen würde. Er verriet den Kelpi – und sperrte ihn in eine alte Eibe. A-aber die Kräfte des Kelpis ließen sich nicht unterdrücken. Er zerstörte sein Gefängnis und wollte Rache für Geralts Verrat. Er wollte einen Weg finden, die Grenze zur Menschenwelt zu überschreiten, um über die Menschen herzufallen, die ihn so gequält hatten. Aber die einzigen, die die Grenze überschreiten können, sind Wanifen … Deswegen tötete er Geralt, und … und …«

»Sprich es aus«, flüsterte Schepsi.

Kauket schluckte.

»Er riss ihm das Herz aus dem Leib, weil er glaubte, damit seine Macht zu erben. Seither kann er bei jedem Blutmond, wenn die Geister- und die Menschenwelt sich nahe sind, in die Menschenwelt wandeln. Dort jagt er die Kinder der Ata, aus denen einmal Wanifen werden können. Er t-tötet sie … trinkt ihr Blut und mit jedem Tropfen kommt er seinem Ziel näher.

Schepsi nickte. Seine Augen waren geschlossen und seine Lider bebten, als erlebte er jenen Albtraum noch einmal. Er hatte Kauket erzählt, wie er nach seinem Freund gesucht hatte, wie er dem Kelpi nur um Haaresbreite entkommen war.

Irgendwo hinter den Bergen erscholl ein leises Grollen. Die Richtung, aus der es drang, verriet Kauket, dass das Gewitter, das sich gerade zusammenbraute, vermutlich am Tal vorbeiziehen würde.

»Die Ata haben vergessen, was Wanifen sind«, erklärte Schepsi, als er die Augen wieder geöffnet hatte. »Sie existieren nur noch in ihren Geschichten, solange lastet der Fluch des Kelpis schon auf ihnen… Bei jedem Blutmond, Kauket, habe ich versucht, das Kind zu retten, auf das der Kelpi es gerade abgesehen hatte. Ich schickte nachts Tiere zu ihnen, die ihnen helfen sollten, sich vor ihm zu verstecken – aber er hat sie alle geholt. Meine Zeit ist vorbei, Junge… und es tut mir weh, dich mit dieser Bürde zurückzulassen. Du wirst dich dem, was der Kelpi geworden ist, eines Tages stellen müssen. Du wirst den künftigen Wanifen der Ata schützen, so wie Feort einst uns geschützt hat.«

»Wie soll ich das schaffen?«, hauchte Kauket. »D-du hast es so oft versucht. Der Kelpi ist mächtig, wie soll ich ihn besiegen?«

Schepsi lächelte wieder. »Du wirst einen Weg finden, wo ich versagt habe. Ein Band aus Liebe verbindet uns mit den Ata. Bring ihren neuen Wanifen hierher, an diesen Ort, den selbst der Kelpi nicht kennt. Bilde ihn aus und stellt euch ihm gem…«

Schepsi wurde von einem heftigen Hustenanfall gebeutelt. Kauket legte ihm besorgt die Hand auf den Rücken.

»Urgroßvater?«

Schepsi winkte ab. Nach einer Weile fing er sich wieder.

»Du hast gesagt, es gäbe da noch etwas … etwas, dass du mir noch nicht erzählt hast?«

Schepsi stützte sich auf seinen Stab. Kauket hörte, wie er langsam die Luft aus seinem Körper entweichen lies.

Ein Eisvogel schoss pfeilgerade über die spiegelglatte Wasseroberfläche, wie ein blitzendes Juwel.

»Dieses Land«, flüsterte er. »ist etwas Besonderes, Kauket. Nirgendwo sonst gibt es eine höhere Dichte an Kraftplätzen, den Toren zur Geisterwelt. Die Ata sind mit diesem Land auf besondere Weise verbunden. Sie hatten immer schon besonders starke Wanifen und ich glaube, das hat einen Grund… Ich glaube, sie sollen uns vor etwas schützen, etwas, das noch so weit fort ist, dass ich es in der Geisterwelt kaum wie das sanfte Kräuseln des Sees in der Abendbrise spüre... Aber wenn es kommt, Kauket …« Schepsi ergriff Kauket am Ärmel seines Hemds. »Wenn es kommt, müssen die Ata wieder einen Wanifen haben, verstehst du?«

»Wovon sprichst du?«

»Es ist unsere Schuld«, wisperte Schepsi abwesend. »Wir haben das getan…«

Kauket runzelte verwirrt die Stirn. Ein paar finstere Wolken rollten über die Berge. Das Grollen wiederholte sich. Kauket hatte sich getäuscht. Das Gewitter würde über dem Tal niedergehen. Sein Blick schweifte zum anderen Ufer des Sees, wo ein paar dicht nebeneinander stehende Holzhütten standen.

»Wir sollten zurück.«

Schepsi murmelte ein paar Wörter in der alten Sprache seines Volks. Kauket wusste, dass er dann nicht mit ihm, sondern mit seinem Seelengeist sprach, der sich vielleicht jetzt gerade nur durch den Schleier zwischen den Welten von ihren Blicken verborgen, in ihrer Nähe befand.

Der Griff um Schepsis Stab verstärkte sich. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als würde er plötzlich wieder von neuer Lebenskraft durchströmt.

»Kauket!«

Seine Stimme klang mit einem Mal wieder viel kräftiger. »Mein Seelengeist hat mir ein letztes Mal geholfen, bevor ich euch verlassen muss. Ein bisschen Kraft, um dir noch dieses letzte Geheimnis anzuvertrauen … Wenn es an der Zeit ist, wenn der Kelpi besiegt und die Ata wieder einen Wanifen haben … musst du ihm dieses Geheimnis weitergeben, Kauket…«

Die Warmherzigkeit in Schepsis Miene war einer fast feierlichen Ernsthaftigkeit gewichen.

»In der Nacht, als der Kelpi Geralt tötete, habe ich noch etwas anderes gesehen…«

Stimmen im Wind

Seyring

Eins,

Wieso kann ich nicht aufhören, Angst zu haben …

Zwei

Er wird hier irgendwo auf mich warten … und dieser Albtraum beginnt von neuem.

Drei

Seyring drückte sich tiefer ins Haseldickicht und starrte auf die Lichtung hinaus. Ein Windstoß fuhr durch die frühlingsgrünen Bäume und wirbelte wollige Pappelsamen und Weißdornblüten durch die Luft.

Vier

Der Duft von Lindenblüten stieg ihm in die Nase. Seyring versuchte aufmerksam zu bleiben, sich nicht von der friedlichen Stimmung ablenken zu lassen.

Fünf

Ein Schwarm Hänflinge flog zwitschernd über den Kraftplatz. Seyring zuckte zusammen. Nur ein paar Vögel … es sind nur ein paar Vögel.

Sechs

Der, den er suchte, würde ohnedies kein Geräusch verursachen.

Sieben

Ein Rehkitz stakste unbeholfen auf den Kraftplatz hinaus und sah sich mit aufgestellten Lauschern um. Die Mutter trabte kurz darauf ebenfalls auf die Lichtung und begann das Kleine zu säugen.

Acht

Tiere konnten beide Welten wahrnehmen. Wenn sie sich so ruhig verhielten, drohte vielleicht wirklich keine Gefahr.

Neun

Seyrings Griff schloss sich fester um seinen Stab. Er durfte sich nicht einlullen lassen. Er war mächtig. Wenn Seyring Erfolg haben wollte, musste er schnell sein, bereit. Sein Körper spannte sich. Seine Zehen suchten Halt im Waldboden, um sich abstoßen zu können.

Zehn

»Frostkindl!« brüllte Seyring, und stieß sich ab. Ricke und Kitz zuckten zusammen und verschwanden mit hohen Sprüngen im Wald, als Seyring durch das Dickicht brach. Er stolperte auf den Kraftplatz hinaus und sah sich nach allen Seiten um.

Nichts.

Keine Spuren, keine Gestalt, die aus der Geisterwelt auftauchte, nur die beiden nackten Steine, die die Lichtung begrenzten, und rundherum der fast bis in den Himmel ragende Urwald.

Seyring ließ seine Gestalt erschlaffen und atmete auf. Er war nicht hier… Er wusste, er sollte erleichtert sein, aber stattdessen machte sich ein seltsames Bedauern in ihm breit.

Ein helles Kichern erscholl über ihm. Seyring legte den Kopf in den Nacken und beobachtete das silbrig glitzernde Baby, das über ihm flatterte. Natürlich war es kein echtes Baby…

»Lachst du mich etwa aus?«, fragte Seyring.

Das Baby gluckste und steckte sich seine Knubbelfinger in den Mund.

Das Frostkindl war sicher einer der freundlichsten Bewohner der Geisterwelt, und durch einen glücklichen Zufall hatte Seyring die Möglichkeit, neben seinem Seelengeist, dem Elfenkauz, eines zu seinem Schutz rufen zu können. Es wirkte so harmlos … aber es konnte das Herz eines Angreifers erweichen und ihn friedlich werden lassen – vielleicht der einzige Schutz gegen einen Gegner, dem mit Kraft und Geschicklichkeit nicht beizukommen war.

Seyring seufzte und hob seinen Stab.

»Kehr zurück, Frostkindl. Er ist nicht hier …«

Das Frostkindl flatterte noch ein paarmal mit seinen glitzernden Flügeln und verschwand so rasch wie es aufgetaucht war.

Eine Nachtigall begann zu zwitschern. Er hatte sich nicht getäuscht – alles war friedlich, alles war normal.

»Alles gut«, flüsterte er, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass es so war. Sein Blick fokussierte sich auf samtig-gelbe Blütenköpfe unter ihm im Gras. Der Winter hatte lange gedauert, zu lange. Viele Ata litten an Husten, und Seyrings Tränke halfen kaum. Er war als Heiler alles andere als brillant, aber sein Gefühl hatte ihm deutlich gesagt, dass Huflattich helfen würde und sein Trank würde besser wirken, wenn er die Blumen an einem Kraftplatz wie diesem sammelte.

Er bückte sich und begann die pelzigen Blüten in seinen Beutel zu stopfen. Vielleicht sollte er einen kleinen Ausflug in die Geisterwelt unternehmen, jetzt, wo er schon hier war, sehen, ob er irgendwo seine Spur fand. Jemand wie er würde dort Spuren hinterlassen. Während seiner vielen Ausflüge in jene Welt hatte Seyring immer bemerkt, wie eng diese mit der der Menschen verknüpft war. Tobten die Geister, änderte sich das Wetter. Bekämpften sich die Menschen, zogen sich die Geister zurück, bis auf die Kreaturen, die von Angst und Wut angezogen wurden. Wenn Seyring in seinen Jahren als Wanife etwas gelernt hatte, dann, wie fein und kompliziert die Verästelungen zwischen Menschen- und Geisterwelt waren, fast wie das Myzel eines Pilzes, das Wurzeln, Erde und Bäume durchdrang. Manchmal wünschte er sich, ein besserer Wandler zu sein, einer jener Wanifen, die sich in der Geisterwelt so natürlich bewegten, als wäre sie ihr zweites Zuhause, damit er diese Verbindungen besser verstehen lernte … aber seit einiger Zeit war es für ihn gefährlich geworden hinüberzuwandeln…

Etwas schubste ihn von der Seite, sodass er sich mit der Hand abstützen musste, um nicht umzukippen. Seyring rollte mit den Augen. Auch wenn nichts zu sehen war, wusste er, wer dafür verantwortlich war.

»Du brauchst nicht eifersüchtig zu sein, weil ich es vor dir gerufen habe. Du solltest am allerbesten wissen, warum...« Seyring wurde ein weiteres Mal geschubst und plumpste auf den Boden.

»In Ordnung«, stöhnte er und hob seinen Stab ein wenig. »Komm raus, wenn du willst.«

Für einen Moment schien die Realität vor seinen Augen zu verschwimmen, dann landete eine massige Gestalt neben Seyring. Es war ein paar Monate her, seit er ihn leibhaftig gesehen hatte, und ihm wurde schmerzlich bewusst, wie sehr er ihm gefehlt hatte. Der Geist, der ihn ausgewählt hatte, durch dessen Band Seyring überhaupt erst zum Wanifen geworden war, sein Seelengeist, sein Elfenkauz.

Er lächelte, als sich sein weiches Federkleid gegen seinen Arm schmiegte. Seyring erhob sich und wandte sich dem Elfenkauz zu. Sie hatten so viel miteinander erlebt, waren zu unzertrennlichen Gefährten geworden. Der Elfenkauz verkörperte Weisheit und einen wachen Verstand. Diese Eigenschaften hatte er in Seyring wiedergefunden, als er ihn als Kind als seinen Wanifen ausgesucht hatte. In letzter Zeit hatte Seyring sich allerdings gefragt, ob er sich nicht in ihm geirrt hatte.

Der Elfenkauz war eine majestätische Erscheinung, an die man sich nie wirklich gewöhnte. Kopf, Brust, Flügel und Vorderbeine ähnelten einem riesigen Waldkauz, während Körper und Hinterläufe mit Fell bedeckt waren und am ehesten an einen Luchs erinnerten.

Zwei schwarze Augen musterten Seyring neugierig. Er machte einen Schritt auf seinen Geist zu und schlang seine Arme um seinen Hals. Er fühlte, wie der Elfenkauz sich an ihn schmiegte und ihm seinen Schnabel auf die Schulter legte.

»Wie sind die Dinge bloß so außer Kontrolle geraten«, hauchte Seyring. Es war leicht, sich in der Gegenwart des Elfenkauzes sicher zu fühlen. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«

Der Elfenkauz stieß ein leises Schuhu aus. Seyring löste sich von ihm, behielt aber eine Hand in seinem Federkleid. Wieso glaubte er eigentlich, dass der Andere zurückkehren würde? Seyring hatte keine Ahnung, über was für Fähigkeiten er jetzt verfügte. Vielleicht hatte er seine Aufmerksamkeit längst anderen Zielen zugewandt und Ataheim den Rücken zugekehrt. Wenn das stimmte, war alles vergeblich…

»Ich hätte das alles verhindern können«, flüsterte Seyring. Der Elfenkauz legte seinen Kopf schräg und musterte Seyring.

Seyring atmete tief durch. »Ich ...«

Ein seltsamer Wind kam auf. Seyring hob den Kopf. In seinen Fingern prickelte es. Die Bäume begannen zu knarzen. Seine rechte Hand schloss sich um seinen Stab.

»Er kommt«, flüsterte er.

Der Elfenkauz begann nervös auf und ab zu tänzeln.

Und er ist viel stärker, als ich dachte.

Er hörte Stimmen, die wie Echos über die Lichtung hallten. Luftströmungen umflossen ihn, als würden sie ihn abtasten. Seyring wusste, dass es weit mehr war als das … Er hatte gesehen, was die Macht dieses Geists anderen antun konnte und wenn er sich erst entschied, Seyring anzugreifen … Vielleicht hätte er wirklich nicht herkommen dürfen. Vielleicht hätte er auf die unheilvollen Träume hören sollen, die er vor dem Gamlain geträumt hatte, die vor kurzem wieder zurückgekehrt waren… Aber wie hätte er nicht kommen können, wie hätte er aufhören und sich abwenden können? Nein, in Wahrheit hatte er keine Wahl gehabt, nicht in dieser Sache … nicht bei ihm. Seyring wandte sich der Mitte des Kraftplatzes zu. Eine gebeugte Gestalt war dort aufgetaucht.

Seyring spürte, wie sich die Haare auf seinen Armen aufstellten. Vielleicht hatte er sich nie einem mächtigeren Wanifen gegenüber gesehen – und sie befanden sich auf einem Kraftplatz, das bedeutete, er konnte sein Ungetüm von Seelengeist jederzeit leibhaftig erscheinen lassen. Allein der Gedanke ließ Panik in Seyring aufsteigen, aber er drängte sie erfolgreich zurück, für den Moment.

Der Andere hielt den Kopf gesenkt und stützte sich mit einer Hand am Boden ab. Seinen Stab hatte er halb erhoben. Er war kleiner als Seyring, selbst wenn er aufrecht stehen würde, aber er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass Größe bei Wanifen nicht das Geringste über deren Kraft aussagte. Während er sein Gesicht nicht erkennen konnte, leuchtete das Geistzeichen unter seinem Handgelenk förmlich zu ihm herüber.

Der Elfenkauz wollte sich instinktiv vor seinen Schützling stellen, aber Seyring hielt ihn zurück. Er musste jede Art von Provokation vermeiden, bis zuletzt. Hätte er das Frostkindl doch nicht zurück in die Geisterwelt geschickt … Es war der einzige Geist, der ihm vielleicht noch helfen konnte … aber was hätte eine Brise gegen den Sturm bedeutet, den er in der Gegenwart des Anderen spürte?

»Ich bin hier, um mit dir zu sprechen«, erklärte Seyring und war verblüfft, wie fest seine Stimme klang.

Der Andere bewegte sich kaum.

»Wer wagt es, durch meinen Wald zu wandeln?«, hauchte er.

»Seit wann ist es dein Wald?«, erwiderte Seyring.

Eine Windböe traf Seyring und ließ ihn einen Schritt zurücktaumeln. Es war vermutlich nicht einmal ein gewollter Angriff gewesen, schoss es ihm durch den Kopf. »Wir dulden keine Menschen hier!«, krächzte der Andere, ohne ihn anzusehen.

Wir… Seyring lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er hatte eine Vermutung, was sich gerade unsichtbar an die Seite des Anderen schmiegte. Er war sich nur nicht sicher, mit wem er gerade sprach…Vieles an seiner Gestalt deutete darauf hin, dass er sich eine ganze Weile in der Geisterwelt aufgehalten haben musste. Die Ärmel seiner Lederkleidung waren abgerissen. Er trug keine Schuhe, und seine Hose reichte ihm nur bis zu den Knien. Niemand, der im Seenland lebte und daran interessiert war, nachts nicht zu erfrieren, lief so durch den Wald.

»Deine Gedanken stören unsere Ruhe«, rief der Andere gepresst. Das Echo seiner Worte hallte ungewöhnlich oft wider, umwehte Seyring, als bestünde seine Stimme aus Wind. Seyring spürte Panik in sich emporsteigen. Er versuchte sich mit der Tatsache zu beruhigen, dass sie immerhin noch miteinander sprachen. Wenn der Andere seinen Seelengeist rief, dann war es wirklich vorbei.

»Menschen und Stille, das verträgt sich nicht«, erwiderte Seyring. »Das solltest du wissen, schließlich bist du einer- oder hast du das vergessen?«

Der Andere atmete tief durch. Er sah noch immer nicht auf, als fürchtete er, die Kontrolle zu verlieren, wenn er Seyring anblickte.

»Verschwinde … oder wir werden dich…«

»Was«, unterbrach ihn Seyring, »wirst du mich dann töten? Du bist ein Wanife, so wie ich. Wir beschützten unser Volk und halten die Menschen und die Geisterwelt im Gleichgewicht. Welches ist dein Volk?«

»Wir … sind wir«, erwiderte der Andere. Wieder diese Stimme aus Wind, die seine Worte unzählige Male wiederholte. »Wir dienen niemandem…« Der Fremde hob den Kopf. Ein Paar graue Augen richtete sich auf Seyring. »Wir hassen Menschen!«

Seyring wurde durch die Luft geschleudert. Wo flog er hin? Er würde auf steinhartem Boden aufprallen, sich schwer verletzen oder Schlimmeres…. Etwas Weiches bremste seinen Sturz. Mit einem sanften Ruck kam er zum Stillstand. Benommen taumelte er vom Rücken des Elfenkauzes herunter. Nicht das erste Mal, dass sein Seelengeist ihn beschützt hatte. Seyring hielt seinen Stab umklammert. Der Andere hatte sich unterdes aufgerichtet. Er war tatsächlich etwas kleiner als Seyring und deutlich schlanker. Die eigentümliche Kombination von blondem Haar und braunen Augen, die Seyrings Gesicht prägte, hatte sich bei dem Anderen ins Gegenteil umgekehrt. Pechschwarzes Haar und diese eigentümlichen, hellen Augen.

»Ich bin nicht gekommen, um zu kämpfen«, erklärte Seyring fest. »Ich bin gekommen, um dich nachhause zu holen. Wir sind keine Fremden … Wir sind Freunde … Brüder.« Seyring streckte die Hand aus. »Bitte, komm mit mir nachhause, Feort!«

Für einen Moment schien Feorts Miene zu zittern.

»Kreuze nie mehr unseren Weg«, zischte er. Wind zerrte an Seyrings Haar und zwang ihn, zurückzuweichen. Er sah, wie Feort seinen Stab auf den Wechselstein schlug. Einen Augenblick später war er verschwunden.

Der Wind legte sich. In den Baumkronen über Seyring begannen ein paar Stieglitze zu zwitschern. Seyrings Gestalt erschlaffte. Er senkte den Blick und spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. »Es tut mir Leid, alter Freund«, flüsterte er. »Es tut mir so Leid…«

Zweihundert Sommer später.

Der Siebenschläfer

»Ist es das?«

Der Krieger lugte aus dem Haseldickicht hervor und ließ seinen Blick über das Dorf schweifen. Noch war es dem Frühling nicht gelungen, den Winter in die Knie zu zwingen. Schneefelder zogen sich fast bis ans Seeufer hinunter. Ein paar Schollen trieben auf dem Wasser.

»Fragst du mich das wirklich?«

Der Krieger wandte sich zur Seite und schlug dem Siebenschläfer auf den Hinterkopf. Natürlich war Siebenschläfer nicht sein richtiger Name, den kannte der Krieger gar nicht. Die drei anderen Krieger und er hatten ihn vor etwa drei Sommern aufgelesen. Blutend wie ein angeschossenes Reh hatte er sich durch den Wald geschleppt auf die Lichtung mit den zwei großen Steinen, wo sie gerade gelagert hatten. Als sie ihn aufgehalten hatten, hatte er sie gar nicht bemerkt, nur seltsame Sachen gemurmelt wie »Sie sind Geister«, »Sie holen uns alle« und ähnlichen Unfug. Sie hätten ihm die Kehle aufgeschlitzt und nachgesehen, ob er irgendwas Brauchbares bei sich trug, obwohl man das bei seinem räudigen Aussehen nicht annehmen konnte. Dann hatte Traim, einer aus ihrer Gruppe, das Zeichen auf seinem Arm entdeckt. Sah aus wie ein Eichhörnchen mit riesigen Augen. Traim kannte solche Zeichen, sagte, in seinem alten Dorf an den Ufern des großen Stroms hätte es auch so jemanden gegeben. Sagte, dass solche Leute Kräfte hatten, mit den Geistern reden konnten und sowas.

Dann war er selbst es gewesen, der den Einfall gehabt hatte. Es konnte doch Vorteile haben, so jemanden in der Bande zu haben. Reisende und kleine Dörfer überfallen war nicht ungefährlich. Wenn man bei seinem Vorhaben auf die Hilfe der Geister zählen konnte, mochte das im besten Fall die Dinge einfacher gestalten, im Schlechtesten konnten sie Siebenschläfer immer noch töten. Der Krieger war immer noch nicht sicher, ob er das nicht doch noch irgendwann tun würde, auch wenn sie bei ihren Raubzügen so gut wie unbesiegbar geworden waren. Der Kerl hatte etwas an sich, das er nicht leiden konnte…

Vielleicht lag es daran, dass Siebenschläfer seine Kräfte gleich an ihm ausprobiert hatte, als er bei ihrer ersten Begegnung zu sich gekommen war. Damals hatte er ihnen erzählt, wie er in diesen verlotterten Zustand geraten war. Er hatte das Seenland durchstreift. Einen Landstrich, um den sie bei ihren Raubzügen bisher einen Bogen gemacht hatten. In diesem wilden Land gab es nur wenig zu holen, und jedermann wusste, dass es von zähen Völkern bewohnt wurde, die gelernt hatten, der Wildheit ihres Landes zu trotzen. Solche Leute verteidigten ihre wenigen Habseligkeiten bis zum Tod. Zwecklos, sich dort aufzureiben. Siebenschläfer jedenfalls war auf dem Weg zu irgendeinem geheimen Treffen von Seinesgleichen gewesen. Irgendwo in den Bergen wollten sie sich gegenseitig beweisen, wer von ihnen der mächtigste war. Er hatte sich damals ernsthaft gewundert, was ausgerechnet Siebenschläfer dort gesucht hatte, mit seiner rundlichen Gestalt und den schwarzen Knopfaugen, die ihn eher an ein hilfloses Bärenjunges erinnerten...

Jedenfalls waren die Dinge dort etwas aus dem Ruder gelaufen und seine Freunde hatten begonnen, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Anscheinend hatte es ein riesiges Gemetzel gegeben, das kaum jemand überlebt hatte. Siebenschläfer hatte sich irgendwo in einer Baumkrone verkrochen und seine Kräfte eingesetzt, um dort nicht behelligt zu werden. Sagte, am Ende hätte alles gebrannt und die Erde gebebt, so heftig wären die Kämpfe zwischen den Geistern gewesen. Er wusste eigentlich selbst nicht, wie er überlebt hatte. Irgendwann hätte einfach alles aufgehört, und er hätte nur noch Leichen gesehen. Nach einem weiteren Tag hatte er dann gewagt, den Ort zu verlassen.

Der Krieger sah Siebenschläfer von der Seite an. Sein Gamsfellhemd war ärmellos und entblößte gekräuseltes, braunes Haar auf seiner Haut … nicht mehr als bei jedem anderen Mann, dennoch schien er weniger zu frieren als die anderen der Gruppe. Ob das auch mit seiner verfluchten Magie zusammenhing?

Er hatte ihn herausgefordert, damals. »Zeig mir deine Kräfte, wenn du leben willst, Kerl.«

Was brachte es, ihn durchzufüttern, wenn er überhaupt keine Fähigkeiten besaß?

Er war ihm ins offene Messer gelaufen, aber das hatte er erst viel später herausgefunden.

Siebenschläfer hatte nichts anderes getan, als seinen Stab zu heben und Bilch zu murmeln. Die Luft schien zu verschwimmen und plötzlich war vor ihm eine Art Tier aufgetaucht, groß wie ein Keiler mit einem langen buschigen Schwanz. Mit seinem seidigen braunen Fell und seinen schwarzen Augen hatte die Kreatur an einen riesigen Siebenschläfer erinnert. Als es dann noch begann zu schnurren und sich mit schläfrigem Blick die Ohren zu putzen, hatte der Hohn über seine Unsicherheit gesiegt.

»Ist das der mächtige Geist, der dich beschützt?«, hatte er gelacht. Er hatte sein Messer gezückt und wollte sich auf Siebenschläfer stürzen, der hinter dem seltsamen Tier stand und ihm gelassen entgegenblickte. Es war beim Wollen geblieben. Nach dem ersten Schritt hatte sich eine seltsame Schwere in seinen Gliedern breitgemacht, angenehm, süß, wie kurz vor dem Einschlafen an einem Herdfeuer, in warme Felle gehüllt. Das Schnurren des Wesens schien seinen ganzen Körper zum Vibrieren zu bringen, machte, dass seine Muskeln sich entspannten und seine Entschlossenheit schwand. Er wollte weitergehen, aber die süße Müdigkeit, die seinen Verstand umwölkte, wollte nichts anderes, als dass er sich in ihr auflöste. Das einzige, was sein Willen noch mit letzter Kraft zu verhindern mochte, war, seine Augen am Zufallen zu hindern. Noch...

Schemenhaft sah er, wie der Siebenschläfer an seiner Kreatur vorbeiging, auf ihn zu. Irgendwo nahm er noch das Grinsen auf seiner Miene wahr, dann tippte der Siebenschläfer ihm mit der Fingerspitze auf die Stirn. Vor dem Aufprall auf dem weichen Waldboden war er schon eingeschlafen gewesen. Verfluchter Siebenschläfer! Die ganze Truppe hatte ihn ausgelacht, als er wieder aufgewacht war. Später hatte er herausgefunden, dass es kein Zufall gewesen war, dass sie Siebenschläfer an jener Lichtung gefunden hatten. Es gab Plätze, wo er und seinesgleichen stärker waren als sonst, viel stärker, wo sie ihre Schutzgeister leibhaftig rufen konnten. Wahrscheinlich hatte er sich mit letzter Kraft dorthin geschleppt, um sich von seinen Verletzungen zu erholen – und genau dort hatten sie ihn aufgelesen.

Außerhalb dieser Kraftplätze war Siebenschläfer weit weniger mächtig. Er hatte schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, ihn aus Rache für das Geschehene aufzuschlitzen. Die einschläfernden Kräfte seiner Kreatur waren abseits dieser Plätze zwar immer noch deutlich spürbar, aber es war möglich, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Nur dumm, dass ihre Raubzüge so hervorragend gelaufen waren, seit Siebenschläfer sie begleitete. Früher hatten sie wahllos Siedlungen überfallen, im Morgengrauen, wo niemand damit rechnete. Hinein, alles einsacken, was ging, an Nahrung, Gebrauchsgegenständen und Waffen … und wieder hinaus. Hin und wieder hatten sie ein junges Weib verschleppt, um sich eine Weile mit ihr die Zeit zu vertreiben. Jeder Raubzug hatte bedeutet, ihr Leben zu riskieren … jetzt waren es genaugenommen keine Raubzüge mehr. Sie betraten die Siedlungen, zogen ihr Spiel durch und verschwanden wieder. Er sehnte sich kein Stückchen zurück nach der Gefahr. Was nützte ein Leben im Überfluss, wenn man ständig um sein Leben bangen musste. Deshalb durfte der vermaledeite Siebenschläfer weiterleben, vorläufig jedenfalls.

Sie hatten bereits die meisten Siedlungen in ihrem üblichen Streifgebieten abgegrast, da hatten sie seltsame Gerüchte gehört, Gerüchte aus dem Seenland, dass sie bisher so tunlichst gemieden hatten. Vor allem Siebenschläfer schien jedes Mal beinahe in Panik zu geraten, wenn jemand auch nur die Idee geäußert hatte, dorthin zu ziehen. Weg von den weiten Waldsteppen und den dichten Auwäldern am Rande des großen Stroms, durch die riesige Wisent- und Auerochsherden zogen, in die Berge, den Urwald mit seinen himmelhohen Bäumen, zotteligen Bären, Wolfsrudeln und dunklen Plätzen, an denen Dinge lauerten, die der Verstand kaum erahnen konnte.

Aber die Geschichten hätten nicht verführerischer klingen können. Im Seenland, so hieß es, an den schimmernden Fluten des großen Ata, läge ein Dorf, das die eisigen Finger des Winters nicht berühren konnten und wo kaum jemand krank wurde. Dieses Dorf, so sagte man, wäre von den Geistern gesegnet. All diese Dinge hatten ihnen vor allem eines verraten: dieses Volk musste unsagbar reich an Vorräten sein, wenn man sich so viele Geschichten darüber erzählte. Sie waren sich einig gewesen, es zu riskieren. Alle waren dafür gewesen, bis auf Siebenschläfer. Er meinte, die Geschichten über das Dorf würden förmlich danach riechen, dass sich einer der Seinen dort aufhielt und die Menschen beschützte. Außerdem behauptete er, das Seenland würde von einem mächtigen Geist regiert, dessen wütende Macht sogar bis in die Menschenwelt reichte.

Er hatte Siebenschläfer ausgelacht. Bei all ihren Raubzügen waren sie keinem zweiten begegnet, der so war wie er. Alle dahingeschlachtet in dem großen Gemetzel, dem Siebenschläfer nur halbtot entronnen war. Das große Morden hatte im Seenland stattgefunden. Wieso sollte ausgerechnet dort einer überlebt haben. Außerdem schien keiner von denen dieselben Kräfte zu besitzen. Siebenschläfers Kräfte halfen ihnen, das Feuer des Widerstands in ihren Opfern zu dämpfen, damit sie ihnen die Beute kampflos überließen. Wenn jemand existierte, der das Wetter ein wenig sonniger machen konnte, hatte er dem nicht viel entgegen zu setzen.

»Mir gefällt das nicht«, murmelte Siebenschläfer neben ihm und sah zum Dorf hinunter. »Das hier… zeugt von Macht. Nichts, womit ich mich messen kann.«

»Na, das ist doch mal was«, flüsterte Traim auf seiner anderen Seite und grinste. Tarf, der dritte Krieger in ihrer Gruppe, pfiff leise.

Auch wenn er Siebenschläfer ungern Recht gab … so etwas hatte er tatsächlich noch nie gesehen. Der See unter ihnen war über weite Strecken gefroren, doch nahe dem Ufer trieben nur noch lose Schollen auf der Wasseroberfläche. Rund um das Dorf konnte man keine Spuren von Eis entdecken. Es stand seelenruhig in den harmlos glitzernden Wellen.

Ähnlich verhielt es sich mit dem Schnee. Sich dem Dorf durch den Wald zu nähern war schwierig gewesen, sie hatten Schneeschuhe aus Otterfell getragen, um in den hüfthohen Massen vorwärts zu kommen. Vom Waldrand weg hinunter bis zum Zaun, der den Landteil des Dorfs begrenzte, wurde der Schnee immer weniger. Zuerst sah man bräunliche Grasnarbe zwischen den Schneefeldern hervorlugen und schließlich, innerhalb des Dorfzauns, zeigte sich sogar zartes Grün.

Er kniff die Augen zusammen. Die Menschen, die sich auf der Wiese und auf den Stegen bewegten, waren warm gekleidet, Wisentleder, Gamsfell und Pelze aller Art. Trotzdem … immer wieder sah er einen Mann oder eine Frau, die ihre Arme nicht bedeckten oder die ihr Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegenreckten, während er selbst seine Nase in seinen Pelzkragen vergraben hatte, damit sie ihm nicht abfror.

Wieso schenkte er solchen Kleinigkeiten überhaupt seine Aufmerksamkeit? Nahrung, das war wichtig, Felle, Waffen… Ein Lächeln breitete sich auf seiner Miene aus. Er beobachtete eine Frau, die einen Korb mit riesigen Hechten in eine kleine Hütte brachte, aus dessen Dach dunkler Rauch aufstieg. Einen Moment später kam sie mit einem Korb voller geräucherter Forellen wieder heraus. Ziemlich viel Fisch für diese Jahreszeit … er mochte Fisch. Auf einer offensichtlich neu errichteten Plattform war eine Gruppe Männer damit beschäftigt, Fichtenstämme der Länge nach aufzulegen. Anscheinend würde hier eine neue Hütte entstehen. Ein hochgewachsener Mann in einem dunklen Bärenpelz beaufsichtigte die Arbeiten und packte mit an, wo es nötig war. Er trug Tätowierungen auf seiner Schläfe. Sein blondes Haar leuchtete zu ihnen herüber. Ein Bärenfell … sowas hatte nicht jeder. Der Lange würde ihm das Fell entweder freiwillig überlassen oder er würde es ihm aus den blutigen Fingern schneiden…

Er suchte Traims Blick und nickte ihm kurz zu. Das war kein guter Zeitpunkt. Zu viel Geschäftigkeit im Dorf, und das winterkahle Haseldickicht bot nicht genug Sichtschutz. Kurz bevor die Sonne unterging, würden sie es noch einmal versuchen…

Siebenschläfer hob die Hand und zeigte auf eine der Hütten, die etwas abseits stand und nur durch einen schmalen Steg mit den anderen verbunden war.

»Ich wusste es«, murmelte er. »Diese Hütte … dort lebt er, ihr Wanife!«

»Mach dir deinen Pelz nicht nass«, stöhnte Tarf. »Wenn er so ist wie du, werden wir mit ihm fertig.«

Siebenschläfer begann nervös an dem Buchenlaub herumzufingern, das aus der Spitze seines Stabs wuchs.

»Was immer da unten ist«, hauchte er. »Es ist nicht wie ich.«

Die Strahlen der untergehenden Sonne glitzerten auf dem Schnee, als sie den Wald verließen und hinunter zum Dorf stapften. Jeder von ihnen trug einen Speer und zwei Feuerstein- Messer. Traim besaß auch einen Bogen, aber dem hatte das feuchte Wetter der letzten Wochen so zugesetzt, dass es Traim schwerfiel, damit zu zielen. Vielleicht fanden sie dort unten ja einen neuen, in diesem Dorf … in Ataheim.

Die Ata hatten sich inzwischen in ihre Hütten zurückgezogen, und das Licht erster Herdfeuer flackerte zu ihnen herüber. Der Rauchgeruch drang ihnen in die Nase und überlagerte die frische Winterluft. Jeder ihrer Schritte knarzte auf der dünner werdenden Schneedecke. Bisher hatte sie niemand entdeckt … ein gutes Zeichen.

»Was spürst du, Siebenschläfer?« fragte der Krieger mit einem Seitenblick. Von Zeit zu Zeit bedurfte es eines drohenden Knurrens, da Siebenschläfer ständig versuchte, sich hinter die Krieger zurückfallen zu lassen.

»Nichts« flüsterte er und schloss mit ein paar Laufschritten zu ihnen auf. »Als würde ich versuchen etwas zu greifen, das in den Tiefen des Sees liegt.«

»Streng dich an«, zischte Tarf. »Ich hab keine Lust, mich mit dem ganzen Dorf anzulegen.«

Ihre Schuhe traten auf feuchtes Gras. Der Zaun ragte direkt vor ihnen in die Höhe, zu hoch um darüber sehen zu können, wenn man direkt davor stand. Der Krieger versuchte durch die Lücken zwischen den Stäben zu spähen, konnte im schwindenden Licht aber nichts erkennen.

Sie hatten das Tor erreicht und verharrten. Aus den Hütten drangen leise Stimmen und manchmal Gelächter. Geruch nach Holz und Räucherfisch gesellte sich zu dem Rauch, den man schon vom Wald aus hatte wittern können.

Der Krieger legte die Hand auf das Tor und drückte vorsichtig. Es bewegte sich keinen Deut … natürlich nicht. Was für einen Sinn hatte ein Zaun, wenn man nachts das Tor offen ließ, um wilde einzulassen? Er nickte Siebenschläfer zu. Der seufzte und schloss die Augen.

Gut … das bedeutete, er rief seine Kreatur zu sich. Dann würde er seine Kräfte gegen die Menschen im Dorf richten. Die, die bereits müde von ihrem Tagwerk waren – und das waren die meisten – würden ein wenig schneller einschlafen. Der Rest würde sich einfach mehr geneigt fühlen, ihnen zu helfen…

Während sie warteten, begann die Sonne hinter den Bergrücken unterzugehen. Die Stimmen in den Hütten verklangen allmählich. Vom Wasser her drang der weithallende Ruf der Prachttaucher zu ihnen herüber. Siebenschläfer öffnete die Augen und blies die Luft aus seinen kleinen Nasenlöchern. Kein Dampf … Bildete der Krieger es sich nur ein oder war es hier unten tatsächlich wärmer als oben im Wald?

»Bereit?«, flüsterte der Krieger.

Siebenschläfer nickte zögernd.

»Mal sehen, welcher Pechvogel noch wach ist«, grinste Traim. Es war immer dasselbe … die arme Seele, die ihnen das Tor öffnete, war in der Regel die einzige, die sterben musste.

»I-ist jemand hier?«, rief der Krieger mit gespielt zitternder Stimme. »Bitte … lasst uns rein. Habt Gnade… wir wollen uns nur ein bisschen aufwärmen… Draußen im Wald erfrieren wir…«

Er lauschte … Als nichts passierte, warf er Siebenschläfer einen wütenden Blick zu, doch dieser zuckte nur mit den Schultern. Hatte er zu viel der Magie seines Bilchs eingesetzt, sodass alle eingeschlummert waren? Nein, so mächtig war er nicht, nicht einmal auf einem dieser Kraftplätze.

»B-bitte«, fuhr der Krieger lautstark fort und klopfte mit dem Schaft seines Speers gegen das Tor. »Unsere Finger sind klamm, sie werden uns abfrieren… Lasst uns nicht sterben…«

Nichts … oder doch? Moment, wenn er sich stark konzentrierte, klang es beinahe, als würden sich Schritte dem Tor nähern. Leise Schritte, wie die eines vorbeihuschenden Schneehasen, nur langsamer.

Er wandte sich kurz den Anderen zu, dann wieder dem Tor. »Helft uns, bei allen Geistern, zeigt Gnade…«

Durch die Lücken im Zaun konnte er sehen, wie sich etwas Helles dahinter bewegte. Er vernahm ein Knarzen und dann fiel etwas mit einem dumpfen Poltern zu Boden. Traim und Tarf grinsten… Das musste der Riegel gewesen sein…

Langsam wurde das Tor aufgezogen. Sie mussten jetzt vorsichtig sein, nicht sofort losstürmen. Alles musste in einer gewissen Ruhe und Freundlichkeit erfolgen. Selbst das Töten.

Seine freie Hand schloss sich um den Griff seines Feuersteinmessers.

Das Tor schwang nach Innen und gab den Blick auf die Dorfwiese frei … und dutzende Jäger mit Fackeln und Speeren, deren Spitzen sie auf sie gerichtet hielten. Rußgeschwärzte Gesichter starrten ihnen feindselig entgegen.

Der Krieger stieß einen unhörbaren Fluch aus. Er wandte sich Siebenschläfer zu, doch der schien von dem Anblick der hellwachen und bis an die Zähne bewaffneten Ata ebenso überrascht zu sein wie er.

Rennen… Sie mussten rennen. Nein … diese Ata waren Wisentjäger. Wer rannte, dem wurde schnell ein Speer zwischen die Schulterblätter geschleudert.

Eine Gestalt trat aus der Masse an Speeren hervor. Der lange Kerl mit dem Bärenfell über dem Rücken. Seine blauen Augen stachen aus seinem rußgeschwärzten Gesicht hervor. War wohl ihr Häuptling, auch wenn er dafür etwas jung wirkte. Aber der Krieger konnte verstehen, warum die Ata ihm trauten. Er bewegte sich mit einer Langsamkeit, die verriet, dass sie jederzeit in tödliche Präzision umschlagen konnte.

Der Häuptling der Ata betrachtete die vier Eindringlinge der Reihe nach und schnaubte abfällig.

»Meister Rainelf?«, sagte er leise.

»Ja, Häuptling.«

Der Jäger blinzelte. War die Gestalt neben dem Häuptling schon vorher dagewesen? Oder hatte sie sich so schnell bewegt, dass er sie nicht wahrgenommen hatte? Er hörte, wie Siebenschläfer neben ihm die Luft anhielt.

Der Mann, der neben dem Häuptling aufgetaucht war, ähnelte diesem, wie eine Eule einem Habicht, beides waren Greife, aber das war auch schon alles.

Schneeweißes Haar, das war das erste, was einem ins Auge sprang, durchsetzt mit vereinzelten rotbraunen Strähnen in einem Gesicht, das beinahe jugendlich wirkte. »Sind das die Räuber, denen du gefolgt bist?«

Der Mann wandte sich den Kriegern zu und lächelte. Obwohl es Winter war, trug er nur ein ärmelloses Hemd aus Hirschleder und eine lockere Hose. Ein schlanker Stab mit frischen Lärchentrieben lag locker in seiner Hand.

Dieser Kerl war einer von Siebenschläfers Art. Das bedeutete, sie hatten neben dutzenden Speeren auch noch ein Wesen der Geisterwelt gegen sich.

»Ja«, flüsterte der Mann. Er schloss die Augen und neigte seinen Kopf zur Seite. »Ah … ein Bilch… So haben sie die anderen Völker also überfallen.«

»Schalt diesen Kerl aus«, zischte er Siebenschläfer zu, dessen Gesicht jede Farbe verloren zu haben schien.

»Hier stimmt etwas nicht«, flüsterte er. »Ich dringe nicht zu ihnen durch.«

»Töten wir sie«, erklärte der Häuptling.

Der Weißhaarige musterte sie abschätzend. Eine alte Narbe zog sich von einer Seite seines Gesichts über seinen Hals und seine Schulter – als wäre er verbrannt worden.

»Ich will alleine mit ihnen sprechen. Vielleicht… wissen sie etwas über die Zwillinge.«

Der Häuptling wandte sich ihm mit zweifelnder Miene zu. »Sie sind seit vielen Monden fort«, flüsterte er.

»Aber wir haben sie nicht vergessen.«

Der Häuptling starrte den Weißhaarigen mit vorgerecktem Kinn an, dann gab er den Jägern mit einem Kopfnicken ein Zeichen, sich etwas zurückzuziehen, ehe er ihnen selbst folgte. Sie befanden sich etwa hundert Schritte entfernt. Weit genug weg, um ihren Speeren ausweichen zu können, falls es nötig sein sollte. Ein zierlicher Jäger mit lockigem, braunem Haar blieb neben dem Weißhaarigen zurück. Der Krieger brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass es sich um eine Frau handelte. War das Leben hier so hart, dass selbst die Weiber Speere trugen?

Er konnte nicht verstehen, was sie im zuflüsterte, aber es klang besorgt.

Der Weißhaarige schüttelte nur den Kopf und wartete, bis sie sich ebenfalls zurückgezogen hatte. Sein Blick ruhte auf ihnen. Kam es dem Krieger nur so vor, oder hatten seine Augen unterschiedliche Farben?

»Bilchmeister«, hauchte er und fixierte Siebenschläfer. »Missbrauchst du deinen Geist, um diesem Abschaum zu dienen?«

»Was geht dich das an«, flüsterte Siebenschläfer und wich einen Schritt zurück.

»Lasst uns gehen«, mischte sich Traim ein. »Wir kamen in Frieden und erkennen, dass dieses kriegerische Volk uns abweist. Wir werden woanders Unterschlupf suchen.«

Der Weißhaarige wandte sich ihm langsam zu. »Ich folge euch seit zwei Tagen. Seit ihr das Land der Ata betreten habt, bin ich euer Schatten gewesen. Ich weiß genau … was ihr seid.«

»Dann verstehen wir uns ja«, erwiderte der Krieger kühl. »Eure Jäger außer Reichweite zu schicken war ein Fehler. Jetzt können wir dich töten und in den Wald flüchten. Deine Leute können uns folgen … aber im Wald sind wir keine Beute mehr. Neun oder zehn von euch müssen auch dran glauben, bevor ihr uns erledigt habt… oder du rennst sofort zurück zu deinen Leuten und lässt uns abziehen.«

Siebenschläfer ergriff ihn am Arm, als wollte er ihn besänftigen. Der Wunsch, ihm die Kehle durchzuschneiden, wurde so mächtig, dass er ihn kaum beherrschen konnte. Aber jetzt war nicht der geeignete Augenblick dafür. Später, wenn sie das alles überstanden hatten und er nicht mehr damit rechnete. Was nützte er ihnen jetzt noch, wo seine Kräfte versagt hatten? Nur ein weiteres Maul, das man stopfen musste.

Der Weißhaarige legte seinen Kopf zur Seite und musterte den Krieger, so wie man ein seltsames Tier betrachtete. Dann lächelte er.

»Da dein Freund nicht begreift, in welcher Lage ihr seid, frage ich dich, Bilchmeister: wir suchen zwei Kinder, Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Sie heißen Lodring und Logreth. Sie verschwanden vor acht Monden. Seid ihr zwei Atakindern auf euren Raubzügen begegnet?«

Tarf lachte und spuckte auf den Boden. »Eure Bälger interessieren uns nicht.«

Der Blick des Weißhaarigen ruhte auf Siebenschläfer. Auf seinem entblößten Handgelenk erkannte der Krieger zwei von den Zeichen, von denen Siebenschläfer eines trug. Hatte das etwas zu bedeuten? War Siebenschläfer deshalb so nervös?

»W-wir haben viele Kinder gesehen. Sie sahen nicht aus, wie die aus eurem Volk. Aber vielleicht, falls sie andere Kleidung getragen hätten…«

Der Weißhaarige blies langsam die Luft aus der Nase aus, sonst gab er nicht einmal durch ein Blinzeln zu erkennen, was er von Siebenschläfers Antwort hielt.

Ein kalter Wind zog auf. Die Wellen des Sees begannen sich zu kräuseln.

Siebenschläfer stieß ein leises Wimmern aus. »Wir müssen hier weg«, zischte er. »Etwas kom…«

Der Krieger schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Siebenschläfer verlor das Gleichgewicht und musste mit der Hand in die Erde greifen.

Traim schnaubte und nickte ihm zu.

»Nun zu dir«, erklärte er an den Weißhaarigen gewandt. Mit einer blitzschnellen Bewegung schleuderte er sein Feuersteinmesser nach dem Mann. Er hatte diesen Angriff so oft ausgeführt … stand jemand so nah vor ihm, gab es kein Ausweichen.

Er wartete auf das Knirschen, wenn die Klinge das Brustbein durschlug, da erkannte er plötzlich etwas Helles aus den Augenwinkeln. Bevor er sich umdrehen konnte, wurde er von einem heftigen Schlag niedergestreckt.

Erst allmählich konnte er die Benommenheit abschütteln. Der Weißhaarige stand über ihm und drückte seine Stockspitze gegen seine Kehle. Seine Augen hatten unterschiedliche Farben, eines eisgrau, eines braun. Besonders das Eisgraue schien ihn unerbittlich anzufunkeln. Wie hatte er das gemacht? Niemand konnte sich so schnell bewegen.

»Legt eure Waffen auf den Boden«, sagte er leise. Der Krieger versuchte den Kopf zu drehen, aber der Druck auf seine Kehle verstärkte sich.

»Tut, was er sagt«, wimmerte Siebenschläfer.

»Bist du von Sinnen?«, zischte Tarf.

Es donnerte. Der Hauch eines Lächelns huschte für einen Moment über die Miene des Weißhaarigen.

»Wir werden sterben, wenn ihr es nicht tut«, flüsterte Siebenschläfer.

Der Krieger spürte, wie neben ihm etwas auf den Boden plumpste. Siebenschläfers Messer… Als wenn er es jemals benutzt hätte. Ein paar Augenblicke herrschte Stille. Dann hörte er, wie die Speere der anderen beiden Jäger auf dem Boden aufschlugen.

»Den Bogen auch …«, meinte der Weißhaarige. »und die drei Messer.«

Ein wütendes Knurren wurde laut. Wie zur Antwort ertönte ein Donner.

»Macht schon«, zischte Siebenschläfer. »Wir müssen verschwinden!«

Auch die restlichen Feuersteinmesser plumpsten zu Boden.

»Ich lasse dir deinen Stab, Bilchmeister«, erklärte der Weißhaarige, »und ich werde erfahren, ob du deinen Geist auch in Zukunft missbrauchst. Tust du es wieder, werde ich dich aufspüren.«

Es hörte sich gar nicht so sehr wie eine Drohung an, dachte der Krieger, eher wie eine Feststellung. Spannenderweise ließ gerade diese Tatsache die Worte umso bedrohlicher wirken.

Der Druck auf seine Kehle wich plötzlich. Sofort kroch er außer Reichweite und rappelte sich auf.

»Dies ist eure letzte Gelegenheit«, erklärte der Weißhaarige. »Geht … schnell!«

Der Krieger nickte Traim und Tarf zu. Sie wandten sich ab und liefen den Hang hinauf. Bald spürten sie unter ihren Lederschuhen wieder knirschenden Schnee. Sie wurden nicht langsamer, bis sie wieder in den Schatten des Winterwalds eingetaucht waren, wo sie sich gestatteten, Atem zu schöpfen.

»Seht, wie er dort unten steht«, knurrte Tarf. »Als wenn er uns immer noch sehen könnte…«

Der Krieger blickte hinunter nach Ataheim, wo er zwischen den Stämmen noch immer die aufrechte Gestalt des Weißhaarigen ausmachen konnte. Er spuckte in den Schnee. Für einen Moment fragte er sich, was jetzt aus ihnen werden sollte. Es war noch immer Winter und sie hatten keine Waffen mehr. Alles würde jetzt sehr viel schwieriger werden, nur wegen dieser verfluchten Ata. Er hatte beinahe vergessen, wie es sich anfühlte im Winter zu hungern…

Ein erneutes Donnern ließ Siebenschläfer zusammenfahren. Die Haare auf den Armen des Kriegers richteten sich auf.

»Wir dürfen hier nicht bleiben«, winselte Siebenschläfer. »Wir dürfen nicht …«

Er lief los. Für diesmal ließen die Krieger ihn gewähren und stapften hinterher. Sie mussten dieses Land verlassen, so schnell es ging. Nicht nur wegen des Weißhaarigen und seiner Zaubertricks. Sie hatten hier keinen Unterschlupf, und wie viele Eisnächte im Seenland würden sie überleben? Sie trugen nur Feuersteine und Nahrung für einen Tag bei sich. Um Siebenschläfer konnte der Krieger sich später kümmern … und das würde er.

Sie stapften durch den Wald, während die Nacht ihre eisigen Finger über das Land streckte. Der Schnee und das steile Gelände ließen nur langsames Vorwärtskommen zu. Der Mond war beinahe voll, sodass zumindest sein silbernes Licht von der Schneedecke zurückgeworfen wurde und ihnen den Weg wies. Der Krieger spürte, wie seine Schenkel zu brennen begannen. Er verharrte und stützte sich auf seinen Knien ab.

Er kniff die Augen zusammen. Hatte er gerade eine Gestalt durch die Stämme der alten Tannen schreiten sehen? Er schüttelte den Kopf. Er hatte heute einen heftigen Schlag abgekriegt. Vielleicht brauchte es eine Weile, bis er wieder der Alte war … aber sie würden das hier überleben und auch der Winter würde nicht ewig dauern. Sie würden zurückkommen und sich an dem Weißhaarigen rächen, ihm im Wald auflauern, wenn er es am wenigsten erwartete. Der Gedanke gab ihm die Kraft sich aufzurichten.

»Da draußen ist etwas«, erklärte Siebenschläfer. Seine Gestalt wirkte angespannt. Er hielt seinen Stab mit beiden Händen umklammert. »Etwas Großes.«

Der Krieger sah sich um. Hatte er sich etwa doch nicht getäuscht? Für einen Moment glaubte er wieder jemanden über den Schnee wandeln zu sehen… Aber entgegen dem, was Siebenschläfer sagte, hatte die Gestalt überhaupt nicht groß ausgesehen.

Der Krieger stapfte los.

»Warte«, zischte Siebenschläfer, aber der Krieger ignorierte ihn. Er kümmerte sich nicht darum, ob die anderen ihm folgten oder nicht. Er hatte etwas gesehen … da war er sich jetzt sicher – und er wollte wissen, was für eine lebensmüde Gestalt mutterseelenallein durch den Winterwald strich.

Er quetschte sich zwischen ein paar Buchen hindurch, bog kahles Himbeergestrüpp zur Seite. Da … ein dutzend Schritte entfernt hockte jemand im Schnee. Für einen Moment hatte er Angst, es könnte vielleicht kein Mensch sein. Ein Geist, der den Schleier zwischen den Welten durchschritten hatte und in dieser Mondnacht die Menschenwelt heimsuchte. Aber ein zweiter Blick offenbarte, dass es sich um einen Menschen handelte, eine junge Frau, um genau zu sein. Rabenschwarzes Haar wogte über ihren Rücken und ihr kurzärmliges Wisentlederhemd. Eine Hand ruhte auf einem im Schnee liegenden Stab, die andere befühlte die Rinde einer alten Weißtanne, vor der sie kauerte.

Ihre Tracht verriet, dass sie zu den Ata gehören musste, der Stab, dass es sich vielleicht um eine von Siebenschläfers Art handelte.

Das Mädchen ließ das Kinn auf die Brust sinken und schloss die Augen.

»Ich kann dich hören«, erklärte sie.

Der Krieger blinzelte für einen Moment, aber dann grinste er. Er hatte sich ihr ungefähr so leise genähert wie ein angreifender Keiler.

Die Frau erhob sich. Der Krieger hatte sich getäuscht. Sie war gar nicht im Schnee gekauert. Unter ihren Füßen war der Boden dunkel.

»Wer bist du?«, fragte sie. Ihre Stimme klang rau wie der Winterwind.

Das Grinsen auf der Miene des Kriegers wurde eine Spur breiter.

»Scheint, als wären wir doch nicht ganz umsonst hergekommen«, er machte ein paar Schritte auf das Mädchen zu.

Wieder fernes Donnergrollen. Die Bäume um ihn herum ächzten leise.

»Du befindest dich im Land der Ata«, erwiderte sie unbeeindruckt.

Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Sie hob abwesend ihre Hand, als würde sie etwas hervorholen wollen, das auf ihrem Rücken hing. Sie besann sich und ließ ihren Arm wieder sinken.

»Wer ist das?«, fragte Tarf, der keuchend herangestapft war. Auch Traim und Siebenschläfer waren herangekommen.

»Doch noch ein bisschen Beute«, knurrte der Krieger. Sein Blick glitt über ihre Gestalt. Ein mageres Ding, aber durchaus gefällig. Sie trug einen kleinen Lederbeutel. Den würden sie sich auch nehmen, aber vor allem sie…

»Du bist ein Wanife…«, ihr Blick hatte sich interessiert auf Siebenschläfer gerichtet.

»Was tut ihr hier?«

»Kann das sein?«, flüsterte Siebenschläfer hinter ihm.

Der Krieger ignorierte ihn einmal mehr und machte einen weiteren Schritt auf sie zu.

»Ist dir kalt, Kleines?«

Sie wich nicht zurück. Mit einer raschen Bewegung konnte er sie packen … aber er musste es in einer unerwarteten Situation tun.

»Wir werden ein Feuer machen«, meinte er gedehnt. »Setz dich zu uns, wenn du willst, wärme dich. Der Urwald ist gefährlich … Ein Mädchen wie du sollte nicht allein sein.« »Feuer kann genauso tödlich sein wie Kälte.« Ihre Worte klangen genauso abweisend wie dieses verdammte Seenland. Sie war noch immer zu angespannt, zu bereit jeden Moment davonzuspringen wie ein scheues Reh. Er musste sie noch ein wenig mehr in Sicherheit wiegen…

»Wir kamen ins Seenland, um zu tauschen. Haben ein paar nette Leute in dem Dorf am großen See getroffen. Siebenschläfer hier befürchtet einen neuen Wintereinbruch. Deshalb sind wir aufgebrochen … um nicht wochenlang festzusitzen.«

»Ihr scheint schlecht getauscht zu haben«, bemerkte das Mädchen mit Blick auf das spärliche Gepäck der Krieger.

Es donnerte erneut … näher diesmal. Ein seltsamer Wind zog auf. Die Bäume ächzten lauter als gerade eben.

»Wir … müssen weiter«, warf Siebenschläfer unsicher ein. »Schön euch getroffen zu haben. Mögt ihr eine sichere Weiterreise haben.«

Das Mädchen zog die Augenbrauen hoch. »Wieso so ängstlich?«

Das Ächzen der Bäume wurde lauter. Sie neigten sich zur Seite, als würden sie von etwas Großem beiseitegeschoben. Verdammtes Gewitter…

»Wir wollen keinen Ärger«, erklärte Siebenschläfer.

Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf ihn gerichtet. Der Krieger verlagerte sein Gewicht auf die Zehenballen.

»Ich wünschte, das wäre wahr«, flüsterte die Frau.

Der Krieger sprang nach vor und versuchte sie zu packen. Sie versuchte nicht, auszuweichen. Das einzige, was sie tat, war ihren Stab ein klein wenig zu heben. Ein tiefes Grollen erscholl. Als würde der Himmel selbst knurren.

Der Krieger wurde zurückgeschleudert und landete im Himbeergestrüpp. Tarf und Traim keuchten erschrocken auf. Der Krieger befreite sich fluchend aus den dornenbewährten Ranken. Bis auf ein paar Kratzer schien er unverletzt zu sein. Was war gerade passiert? Hatte dieses Weib das getan?

»Schnappt sie!«, zischte er.

Traim und Tarf zögerten, gingen aber schließlich doch auf das Mädchen los. Sie erwartete die beiden mit erhobenem Stab. Ihre Gestalt schien zu beben.

»Verschwindet«, rief sie mühsam beherrscht, »Sonst weiß ich nicht, was passieren wird!«

Siebenschläfer stolperte zurück, versuchte hinter einer mächtigen Eiche Deckung zu finden.

Der Krieger fuhr sich über das Gesicht und blinzelte. Traim und Tarf schienen ihr Zögern überwunden zu haben und stampften auf das Mädchen zu. Ein Brüllen erscholl. Blitze zuckten über den Himmel. Tarf und Traim schrien. Es sah aus, als würden sie von etwas gepackt und durch die Luft gewirbelt. Ihre Schreie erstarben, als beide mit einem dumpfen Knacken gegen Baumstämme geschleudert wurden. Ihre Körper plumpsten leblos in den Schnee. Der Krieger glaubte für einen Moment den leeren Blick von Traims Augen aufzufangen.

Das Mädchen hielt seinen Stab immer noch erhoben. Wind zerrte an ihrem Haar. Der Krieger bekam eine Gänsehaut. Mit einem Mal befiel ihn wieder der Eindruck, es nicht mit einem Menschen, sondern einer wilden, ungezähmten Kreatur zu tun zu haben.

»Fort mit dir«, zischte sie. »Solange du noch kannst…«

Der Krieger rappelte sich auf. Traim und Tarf würden nicht mehr aufstehen, aber er hatte noch Kraft … Verflucht soll der Siebenschläfer sein und all das Gesindel, das so war wie er. Er würde die Zauberschlampe mit seinen eigenen Händen erwürgen!

Er brüllte auf und rannte auf sie zu. War ihm ihre Miene zuvor noch unsicher erschienen, funkelte ihm nun kalter Zorn entgegen. Sie bewegte ihren Stab kaum. Gleißend blaues Licht zuckte auf, brannte sich in jede Faser seines Körpers. Alles in ihm krampfte sich zusammen, nur um dann zu verglühen. Das letzte, was er hörte, war das Krachen eines mächtigen Donners.

Der Siebenschläfer kauerte wimmernd am Boden und hielt sich die Ohren zu. Der Geruch von versengtem Fleisch stieg ihm in die Nase und verursachte ihm Übelkeit. Aus den Augenwinkeln konnte er die verkohlte Gestalt des Kriegers erkennen. Traims und Tarfs zerschmetterte Körper lagen ein wenig entfernt von ihm im Schnee. Er konnte ihre Schritte hören. Er sah ihre Wisentlederschuhe vor sich im Schnee stehen, sah, wie der Schnee unter ihr dahinschmolz.

»Sieh mich an«, befahl sie mit heiserer Stimme.

Siebenschläfer wagte es nicht, aufzusehen.

»Bitte, großer Ata, verschon mich, lass mich leben, bitte, bitte…«

Ein tiefes Grollen ertönte.

Eine Weile herrschte Stille. Dann spürte er, wie etwas an seinem Stab zog. Er wagte es nicht, sich zu widersetzen und lockerte seinen Griff.