Tödlicher Duft - René Anour - E-Book

Tödlicher Duft E-Book

René Anour

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Beschreibung

Der Duft von Lavendel und Intrige

Das sonst so verschlafene Grasse ist in Aufruhr: Eric Sentir, Erfinder betörender Düfte für den renommierten Parfümeur Fragonard, wird tot aufgefunden. Seine Leiche schwimmt in einem Bottich seiner eigenen Kreation, inmitten blutroter Kamelienblüten. Und das ausgerechnet sonntags, wenn Louis Campanard sich in Ruhe seinem Lavendelgarten widmen möchte. Der erfahrene Commissaire beschließt, die Polizeipsychologin Linda Delacours aus Paris zu holen und undercover in die geheimnisvolle Welt der Duftkreation einzuschleusen. Um den Fall aufzuklären, müssen die beiden ihr ganzes Können aufwenden – und geraten dabei selbst ins Visier des Täters.

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Seitenzahl: 433

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Das Buch

In den Gässchen der Hauptstadt des Parfums geht es gemütlich zu. So gefällt es Commissaire Louis Campanard, der die örtliche Polizeidirektion unter seine Fittiche genommen hat. Zugegeben, mit seinem gezwirbelten Schnauzbart und den grellbunten Hawaiihemden wirkt er etwas eigen. Aber genau das macht aus ihm eben einen echten Grassois. Und sein polizeilicher Scharfsinn ist unbestritten. Den muss er denn auch zum Einsatz bringen, als der berühmteste Parfümeur von Fragonard ermordet aufgefunden wird. Die altehrwürdige Institution sieht es gar nicht gern, wenn ihre heiligen Hallen durchsucht werden. Daher bedient sich Campanard ungewöhnlicher Methoden: Er lässt die berühmte Psychologin Linda Delacours undercover ermitteln. Nicht alle sind von der Kompetenz der jungen Frau überzeugt, deren Zusammenarbeit mit der Pariser Polizei nicht gerade rosig endete. Doch Campanard weiß, was es bedeutet, harte Zeiten durchzumachen. Er glaubt an Linda. Und er weiß: Der Mörder wird wieder zuschlagen.

Der Autor

René Anour studierte Veterinärmedizin und absolvierte ein Doktorat im Bereich Pathophysiologie, wobei ihn ein Forschungsaufenthalt bis an die Harvard Medical School führte. Inzwischen ist er als Experte für neu entwickelte Medikamente für die European Medicines Agency tätig. Als ­Autor ist er mit Krimis und Sachbüchern erfolgreich. Für die Recherche von »Tödlicher Duft« hat er sich intensiv mit der Region um Grasse und der betörenden Welt der Parfümkreation befasst.

René Anour

Der erste Fall für Commissaire Campanard

Kriminalroman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 03/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock/Zoonar/Joachim G. Pinkawa/Jo. PinX/Fesusu Robert/yana_vinnikova

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978 - 3-641-31127-8

www.heyne.de

Prolog Der König der Düfte

Es war kurz vor Sonnenaufgang an einem Frühlingsmorgen, als Jean vor die Tür trat und sich ausgiebig streckte. Zu keiner anderen Zeit wurde Grasse seinem Ruf als Stadt der Düfte so sehr gerecht wie in solchen Augenblicken, wenn alles still und die Luft ein süßes Gemisch aus Jasmin, Mairose und Orangenblüten war.

Er schwang sich auf sein Fahrrad und brauste durch die noch menschenleeren Gassen. Nur ab und zu richtete er sich auf, wenn der Fahrtwind ihm seine dunklen Locken ins Gesicht blies.

Nach einer Weile hielt er an der kleinen Boulangerie Place des Herbes, wo Babette, die junge Bäckerin, ihm schon seinen Espresso und ein noch ofenwarmes Croissant auf der Theke bereitgestellt hatte.

»Bonjour, Jean«, rief sie mit einem Lächeln, das ihn gleich ein wenig wacher werden ließ.

»Salut, Babs. Drei fünfzig, wie immer?«

»Bitte!«

Jean legte ihr die Münzen hin, nahm die Espressotasse und sein Croissant und trug beides nach draußen zu dem Stehtisch vor der offenen Tür der Boulangerie. Gedankenversunken betrachtete er die bunten Häuserfassaden auf dem Platz, nippte an seinem Kaffee und tauchte die Spitze seines Croissants hinein, bevor er den ersten Bissen nahm.

»Um die Zeit fühlt sich’s fast an, als wären wir zwei die einzigen Grassois.«

»Aber nur, weil Sonntag ist«, erwiderte Babette lachend aus dem Laden hinter ihm. »Unter der Woche geht’s schon anders zu.«

»Genau deshalb mach ich unter der Woche lieber was anderes.«

»Ah ja?« Babette stützte sich auf die Theke und lächelte verschmitzt. »Besuchst du die Universität eigentlich nur, oder studierst du dort auch?«

Jean hob eine Augenbraue. »Mal so, mal so!«

»Ach?«

»Aber wenigstens bin ich keiner dieser Typen, die sich von seinen Eltern aushalten lassen. Ich finanziere mir das mit meinem Wochenendjob alles selbst.« Er hob seine Kaffeetasse. »Und deshalb habe ich das Vergnügen, dich jeden Sonntag zu treffen.« Jean merkte zufrieden, wie Babette errötete und sich abwandte.

»Wie ist es dort eigentlich?«, fragte sie schließlich. »Im Inneren dieser riesigen Parfümerie.«

Jean sog übertrieben die Luft ein. »Ein Ort voller Wunder und Geheimnisse!«

»Ich meine es ernst!«

»Ich auch«, lachte Jean. »Vor allem ist es ruhig. Der perfekte Studentenjob. Ein Aufseher, so wie ich, kann in Ruhe ein Buch lesen.« Er griff in seinen Rucksack, zog ein Taschenbuch hervor und ging wieder zum Tresen hinüber. »Das hier, zum Beispiel, kennst du’s?«

Babette nahm es entgegen. »Das Parfum«, murmelte sie. »Nein, tut mir leid. All meine Lesezeit wird momentan von Netflix aufgefressen.«

»Da verpasst du was.« Jean stützte sich ebenfalls am Tresen ab. »Es geht um ein Genie, das den vollkommenen Duft kreieren will … und dafür über Leichen geht.«

Babette warf Jean einen Blick aus ihren dunklen Augen zu, der nun ihn erröten ließ. Schließlich wandte sie sich ab und tat so, als würde sie das Gebäck in der Vitrine arrangie­ren.

»So jemanden habt ihr doch auch in eurer Parfümerie. Der ist ständig in der Zeitung. Der König der Düfte. Der Kerl hat Hunderttausende Follower auf Instagram.«

»Du meinst Monsieur Sentir?« Jean lachte. »Ich kenne ihn nicht wirklich, aber es heißt, er wäre ziemlich selbstverliebt.«

»Das dachte ich mir«, kicherte Babette. »Fast alle Bilder auf seinem Profil sind Selfies, auf denen er so guckt …«

Babette tat, als würde sie ein Bild von sich schießen und imitierte Sentirs Version eines sexy-lasziven Blicks so treffend, dass Jean vor Lachen fast seinen Kaffee wieder ausspuckte.

»Leihst du es mir trotzdem? Das Buch, meine ich.«

»Sicher!«, grinste Jean. Er nahm Babette den Roman vorsichtig aus der Hand und zückte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche seiner Jeansjacke. Mit ein paar schnellen Strichen kritzelte er seine Telefonnummer auf die Innenseite des ­Covers. »Bitte!« Er reichte ihr das Buch. »Damit du mich anrufen kannst, wenn du es zurückgeben willst.«

Babette biss sich auf die Unterlippe. »Ich könnte es ja einfach hier für dich liegen lassen …«

»Oder wir treffen uns mal auf einen gemeinsamen Kaf­fee …«, erwiderte er spielerisch. »Das hier ist immer so eine einseitige Sache.«

Babette lächelte. »Ich überleg’s mir«, flüsterte sie, dann beugte sie sich vor und küsste ihn rasch auf die Wange. »Was ist?«, neckte sie ihn, als Jean sie nur mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. »Ich dachte, du musst arbeiten?«

»Ja … ja, richtig.« Jean stopfte sich rasch den Rest seines Croissants in den Mund. »Und vergiff niff, miff anzurufen!«, rief er Babette zu, die ihm noch kurz winkte und sich dann ihrem Ofen zuwandte.

***

Jean machte seinen Rundgang durch die Räumlichkeiten von Fragonard und unterdrückte ein Gähnen. Eigentlich war sein Job vollkommen überflüssig, aber er würde sich hüten, das seinen Arbeitgebern von der Parfümerie mitzuteilen. Das ­Gebäude war alarmgesichert, und die Eingänge wurden von echten Security-Kräften bewacht, keinen Studenten wie Jean. Im Prinzip bestand seine Aufgabe nur darin, durch die Räume des Museums und der angeschlossenen Fabrik zu schlendern und Hilfe zu rufen, wenn ein Feuer ausbrach oder eine der Maschinen Alarm schlug, weil sie nicht mehr funktionierte. Während des ganzen Jahres, in dem er hier nun schon arbeitete, hatte er noch nie jemanden anrufen müssen – und mehr Bücher gelesen als je zuvor in seinem Leben.

Er ging langsam durch die Labore der Fabrik. Es gefiel ihm, dass man sich trotz des technischen Fortschritts noch immer bemühte, die Räumlichkeiten ansprechend zu gestalten. Hier in Halle A, in der die natürlichen Duftstoffe gewonnen wurden, trug jeder Metallbottich sein eigenes, reich verziertes Schild, auf dem der Name der Basis sowie das Verfahren, mit dem die Geruchsstoffe extrahiert wurden, zu lesen waren, wie: Jasminum officinale, Enfleurage à chaud.

Plötzlich erklang ein dumpfes Pochen. Jean sah verwirrt auf. Normalerweise war es hier bis auf das Surren der elektrischen Rührgeräte und Zentrifugen still.

Wieder das Pochen. Es klang, als würde etwas Massives gegen eine Metallwand stoßen. Jean lauschte und folgte dem Geräusch bis zu einem riesigen Kupferbottich. Ein weiteres Pochen, aus der Nähe fast schon ein Dröhnen. Jean hatte sich nicht getäuscht; es musste aus dem Inneren dieses Behälters kommen. Er legte die Hand auf die Kupferwand und runzelte die Stirn.

Camellia japonica, blutrot. Extraktion

Wenn er es richtig verstand, befanden sich in dem Bottich Kamelienblüten, die vermutlich in einer Art Lösungsmittel schwammen. Auf einem Display am Bottich blinkte ein roter Schriftzug: Rührvorgang blockiert, Deckel öffnen!

Wieder erklang das Pochen. Verdammt. Er musste die Leute vom technischen Notdienst anrufen. Aber was, wenn sich irgendwo in dem Ding Druck aufstaute und es einfach explodierte, bevor jemand kam? Jean hatte keine Ahnung, was wirklich in diesen Behältern vor sich ging. Wahrscheinlich war es klug, sicherheitshalber den Deckel zu öffnen, bis die Techniker eintrafen.

Zumindest befand sich auf dem Display ein grüner Knopf, der unmissverständlich klarmachte, dass der Deckel gehoben würde, wenn man ihn drückte.

»Ach, Mist!«, zischte Jean und wandte sich unschlüssig um.

Bevor ihn auch der letzte Rest seines Mutes verließ, drückte er den Knopf.

Ein lautes Surren ließ ihn zusammenzucken. Dann wurde der riesige Deckel von einer hydraulischen Konstruktion an der Decke angehoben. Konzentrierter Blütenduft stieg Jean in die Nase, und er musste niesen. Er stieg zwei Metallstufen ­hinauf, um in den Bottich sehen zu können.

Unzählige blutrote Kamelienblüten schwammen in einer klaren Flüssigkeit. Wie Jean vermutet hatte, wurde der große Rührer von einem massigen Etwas blockiert, das immer wieder gegen die Kupferwand stieß, wenn der Rührer sich zu drehen versuchte.

»Das gibt’s nicht!«, flüsterte er. Das Ding in dem Bottich war ein Mensch, der auf dem Rücken liegend in den Kamelien­blüten trieb. Der leblose Mann trug einen hellblauen Anzug mit Einstecktuch, dessen Farbe exakt das Rot der Blüten zu spiegeln schien.

Während der Kopf des Mannes immer und immer wieder gegen die Bottichwand donnerte, begriff Jean, dass er ­dessen blasse Miene kannte. Auch wenn der Ausdruck auf dem Gesicht des Königs der Düfte alles andere als sexy und lasziv wirkte.

»Ach, du heilige …«

Kapitel 1 Campanard

Natürlich musste diese Geschichte an einem Sonntagmorgen passieren. Dabei waren Louis Antoine Campanard die Sonntage heilig. Sie gehörten ganz und gar seinem kleinen Terrassengarten. Normalerweise ging er schon kurz nach Sonnenaufgang hinaus. Sein erster Weg führte ihn immer zum Lavendel-Rosenbeet.

Er hatte schon oft gehört, dass man Lavendel als Beiwerk zu Rosen pflanzen sollte. Der Lavendel half der Rose angeblich, ihre volle Pracht zu entfalten, da sein Duft Schädlinge fernhielt. Campanard sah das jedoch umgekehrt: Seine Hingabe gehörte dem Lavendel. Während dieser draußen auf den Feldern vor der Stadt erst Knospen trieb, begann er in Campanards Garten, in dem geschützten Beet vor der alten Steinmauer, bereits seine volle Blütenpracht zu entfalten. Er hatte sich für einen Provence-Lavendel der Sorte Bleu des Collines entschieden, dessen fast dunkelblaue Blüten dicht standen und einen unvergleichlich intensiven Duft verströmten, den Campanard über alles liebte.

Die beiden Delbard-Rosenbüsche, ein weißer der Sorte Centenaire de Lourdes, und ein tiefroter Château de Versailles wirkten im Vergleich zu der blühenden Lavendelpracht beinahe schlicht. Aber Campanard gefiel es, dass das Beet vom richtigen Winkel aus betrachtet ein wenig an die Trikolore erinnerte. Dem Lavendel schien der Tau zu bekommen, der vom nahen Meer kam, sich in den Rosenbüschen verfing und auf ihn herabtropfte.

Am meisten freute Campanard sich an einem normalen Sonntagmorgen über das Gebrumm im Beet, die unzähligen Bienen und Hummeln, die der Lavendel anzog, die kleinen Bläulinge, die an fliegende Lavendelblüten erinnerten. Manchmal verirrte sich sogar ein riesiger Osterluzeifalter in seinen Garten, dessen schwarz-rot gemusterte Flügel wie ein abstraktes Kunstwerk wirkten.

Nach dem Gießen wäre es Zeit für ein Tässchen Kaffee gewesen. Er hätte sich mit einem Espresso an den weißen Gartentisch unter seinem Orangenbaum gesetzt und ein paar Navettes gegessen, Kekse, die verführerisch nach Orangenblüten schmeckten. Dabei hätte er in Ruhe die Wochenendausgabe von Nice Matin gelesen, natürlich in Papierform, denn Campanard hasste es, auf irgendwelchen Bildschirmen herumwischen zu müssen.

So hätte sein Sonntagmorgen ausgesehen, wenn Inspec­teur Olivier ihn nicht um fünf Uhr morgens angerufen und von einem Mordverdacht bei Fragonard berichtet hätte.

Das hatte in Grasse eine ähnliche Dringlichkeit wie die Entdeckung einer Leiche im Louvre direkt vor der Mona Lisa.

Campanard hatte sich unmittelbar von seinem Wochenende verabschiedet, sich angezogen und war zu Fragonard hinübergegangen. Natürlich hätte er darauf warten können, dass Olivier ihn mit dem Polizeiwagen abholte, aber Campanard vertrat die Auffassung, dass man in Grasse alles zu Fuß erreichen konnte – und sollte.

»Guten Morgen, Chef!«, rief Olivier lächelnd, als Campanard das Museum erreichte. Campanard fragte sich manchmal, was passieren müsste, damit Olivier einmal übel gelaunt wäre. Die unaufdringlich freundliche Art des jungen Polizis­ten machte die Zusammenarbeit mit ihm ausgesprochen angenehm.

»Die Inspektoren Madère und Pontfili haben den Notruf entgegengenommen und bereits alles absperren lassen, wie Sie angeordnet haben.«

»Sind die Forensiker unterwegs?«

»Werden bald hier sein.«

»Sehr gut. Ich will erst den Fundort besichtigen, bevor die hier aufkreuzen. Der Tote?«

»Schwimmt noch immer in dem Bottich, in dem man ihn gefunden hat. Ich habe die strikte Anweisung gegeben, nichts anzurühren.«

Campanard klopfte dem Inspektor auf die Schulter. »Fertigen Sie mir inzwischen eine Liste an. Von allen, die am Wochenende normalerweise hier sind. Wachpersonal, Reinigungskräfte. Nicht die Museumsangestellten vergessen, außerdem die Führungsetage von Fragonard. Sie haben sich bei uns am Revier zur Befragung einzufinden. Wir beginnen in einer Stunde. Ich akzeptiere keine Ausrede.«

»Natürlich, Chef!«

»Verlieren Sie keine Zeit. Das wird ein langer Tag heute.«

Campanard wandte sich ab und stieg die Stufen zum Eingang empor. Die beiden Polizisten davor nickten ihm zu und traten zur Seite. Sein Blick streifte ein massives Kunstwerk, das aus ineinander verschmolzenen Kupferkesseln mit unzähligen Hähnen zu bestehen schien.

Der Commissaire war schon oft hier gewesen, zum ersten Mal als kleiner Junge in der École primaire. Aber wie bei allen beliebten Sehenswürdigkeiten vergaß man als Einheimischer irgendwann, dass sie da waren, und überließ sie den Touristenhorden. Die würden heute allerdings ausbleiben.

Olivier hatte ihn darüber aufgeklärt, dass der Tote weiter hinten im Gebäude in der Halle mit den alten Kupferkesseln gefunden worden war.

Als Erstes fragte sich Campanard, was dieser Éric Sentir nachts hier gewollt haben konnte und ob er allein gekommen oder sein Mörder bereits bei ihm gewesen war. Darüber würden die Überwachungskameras hoffentlich Auskunft geben.

Er durchschritt einen großen Verkaufsbereich, gefolgt von einer Ausstellung zur Geschichte der Parfümherstellung mit Bildern, welche die Entstehung von Fragonard bis heute dokumentierten. Viele glaubten, dass der Betrieb nach dem Gründer der Parfümerie benannt war. Tatsächlich aber hatte der wahre Gründer, ein alter Notar aus Paris, sein Unternehmen damals nach dem berühmtesten Maler von Grasse benannt: Jean-Honoré Fragonard. Es war eine Liebeserklärung an die Stadt und ihre Geschichte.

Aus der vor Campanard liegenden Halle drangen leise Stimmen an sein Ohr. Als er den holzvertäfelten Raum betrat, hob er überrascht die Augenbrauen. In seiner Erinnerung war das hier ein Ausstellungsraum gewesen, darin Kupferbottiche und Druckbehältnisse, mit denen man in den Zwanzigerjahren Düfte extrahiert hatte. Jetzt wirkte es, als hätte alles eine heftige Kollision mit der Technologie der Gegenwart erfahren. Die Ausstellungsstücke waren mit elektrischen Rührern, Touchpads und automatisch verschließbaren Deckeln versehen worden. Und wenn Campanard sich nicht täuschte, dann wurde hier tatsächlich etwas produziert. Zumindest suggerierte dies das Geräusch laufen­der Ma­schinen.

»Bonjour, Chef!« Eine junge Polizistin kam auf ihn zu.

»Auch Ihnen einen guten Morgen, Madère«, brummte Campanard. »Danke, dass Sie hier die Stellung gehalten haben. Haben Sie ein paar Fotos für mich gemacht?«

»Natürlich!«

»Der Junge?«

»Sitzt hinten auf einer Besucherbank. Ich habe ihm einen Kaffee gebracht.«

»Gut so, bleiben Sie bitte noch einen Moment bei ihm. Ich will einen Blick auf Sentir werfen, bevor Richaud mit seinen Forensikern hier herumzuschwirren beginnt.«

»Natürlich. Er ist dort drüben.«

Sie wies auf den einzigen Bottich, der geöffnet war.

Campanard nickte und ging zu dem Kupferbehälter hinüber, dessen Inhalt noch ein wenig dampfte.

In aller Ruhe schlenderte er um den Kessel herum und klopfte gegen die Kupferwand, die ein wenig nachvibrierte. Keine Chance, dass jemand zufällig in dieses Riesending hinein­geraten konnte. Selbst Campanard mit seinen beträcht­lichen Ausmaßen erreichte gerade mal so den Bottichrand mit seinen Fingerspitzen, wenn er sich streckte.

Eigentlich konnte man nur über die Stufen hineingeraten, die zu dem Panel mit den Bedienelementen führten … oder hineingestoßen werden.

Langsam stieg er hinauf und warf einen Blick in den Bottich.

Süßlicher Blumenduft stieg ihm in die Nase. Sentir trieb immer noch da unten zwischen den blutroten Kamelien, seltsam verkeilt zwischen der Bottichwand und dem stillstehenden Rührer.

Viel würde von der Obduktion abhängen. War Sentir schon tot gewesen, bevor er in den Bottich gelangt war, oder erst darin gestorben? Von hier oben war das nicht zu erkennen. Campanard kniff die Augen zusammen. Die Miene des Toten wirkte jedenfalls nicht qualvoll verzerrt, soweit er das sehen konnte.

Der Commissaire runzelte die Stirn und stieg die Metallstufen hinunter. Als er wieder den Boden der Halle betrat, hörte er ein Knirschen unter der Sohle seines Budapesters. Verwirrt hob er den Fuß und bückte sich.

Er erkannte winzige bernsteinfarbene Glassplitter. Als er sich umsah, entdeckte er auf dem Boden verstreut noch einige größere Scherben, die noch keine Bekanntschaft mit seiner Schuhsohle gemacht hatten.

Campanard hob eine von ihnen auf. Einen Moment lang hielt er sie zwischen Daumen und Zeigefinger gegen das Licht und drehte sie ein wenig.

Campanard war ein wenig weitsichtig, aber er glaubte winzige Tröpfchen auf einer Seite des Splitters zu erkennen, kaum mehr als ein Film.

Vorsichtig roch er an dem kleinen Stück Glas. Ein seltsamer Duft stieg ihm in die Nase. Wie der Geist eines Parfums bahnte er sich den Weg in sein Bewusstsein, schien etwas auslösen zu wollen und verpuffte dann doch im Nichts, weil er zu schwach geworden war.

Verwirrt schüttelte der Commissaire den Kopf und roch erneut an dem Splitter. Aber was auch immer noch an Par­füm­resten daran geklebt hatte, war nun endgültig verflogen.

»Hm«, murmelte er.

Gedankenversunken schlenderte er zu Inspecteur Madère hinüber, die auf einer Besucherbank Platz genommen hatte. Neben ihr saß der Junge, der hier Wochenenddienste versah und die Leiche entdeckt hatte. Er wirkte blass. Der Becher mit dem Automatenkaffee, den er in der Hand hielt, zitterte merklich.

»Darf ich Sie kurz ablösen, Madère? Bitte sehen Sie nach, ob Richaud und seine Forensiker schon da sind, und führen Sie sie herein.«

»Ja, Chef!« Sie lächelte dem Nachtwächter kurz zu, dann stand sie auf und ging.

Der Junge betrachtete Campanard mit einem Anflug von Furcht, während dieser sich zu ihm setzte. »Louis Campanard, Commissaire de Police de Grasse«, erklärte er freundlich und streckte ihm die Hand hin.

»Jean Calment«, erwiderte der Junge und ergriff Campanards riesige Hand zögerlich.

»Danke, dass Sie uns gleich gerufen haben.«

Calment nickte. »Klar.«

»Wie lange arbeiten Sie hier schon?«

»Zwei Jahre«, erklärte er. »Aber nach heute …« Er nahm einen zittrigen Schluck von seinem Kaffee und schüttelte den Kopf. »So angenehm kann der Job gar nicht sein, dass ich noch einmal herkomme.«

»Wen haben Sie denn abgelöst, als sie heute Morgen gekommen sind?«

»Ähm, das war Sophie. Auch eine Studentin. Sie war die Nacht über hier.«

»Und ihr ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Sie hat bei der Ablöse nichts erwähnt. Ich schätze, Sie müssen selbst mit ihr reden, aber …«

Campanard hob die Augenbrauen und sah Calment erwartungsvoll an.

»Na ja, verraten Sie’s nicht denen vom Personalbüro, aber Sophie hat das hier nicht sonderlich ernst genommen. Ein bisschen versteh ich’s ja, weil draußen sowieso immer ein paar vom Sicherheitspersonal stehen. Sie nimmt sich gern ein Kissen zum Dienst mit und pennt auf irgendeiner Bank. Meistens muss ich sie wecken. Diesmal auch.«

»Mhm«, brummte Campanard. »Kannten Sie Monsieur Sentir persönlich?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Einmal habe ich ihn gesehen. Die haben mich auf das Frühlingsfest von Fragonard eingeladen, obwohl ich hier nur Teilzeit arbeite. Feiner Zug. Tolles Büfett. Drüben in den Jardins des Plantes war das. Er ist ja ziemlich berühmt, deshalb wusste ich, wie er aussieht. Da war immer eine Traube von Menschen um ihn herum. Ich bin natürlich nicht zu ihm gegangen.«

»Verstehe. Was studieren Sie eigentlich, Jean?«

Die Miene des Jungen schien sich etwas aufzuhellen. »Hat eigentlich gar nichts mit Parfum zu tun. Literatur.«

»Ah!«, erwiderte Campanard lächelnd. »Wer ist denn Ihr Lieblingsautor?«

»Wenn ich einen wählen müsste, Victor Hugo.«

Campanard lachte. »Wer gern Monsieur Hugo liest, hat bei mir schon mal einen Stein im Brett. Jean Valjean ist mein absoluter Lieblingscharakter in der französischen Literatur, müssen Sie wissen.«

Calment grinste.

»Gehen Sie nach Hause, Junge, ruhen Sie sich ein bisschen aus. Es kann sein, dass wir Sie in den nächsten Tagen noch einmal zu uns aufs Revier bitten, wenn wir uns ein ­genaueres Bild verschafft haben.«

»Ich habe der freundlichen Polizistin von vorhin schon alles gesagt, was ich weiß.«

»Natürlich haben Sie das. Es kann nur sein, dass sich im Zuge der Ermittlungen neue Fragen auftun.«

Campanard sah dem Jungen nachdenklich hinterher, während dieser die Halle verließ. Dann zückte er sein ledergebundenes Notizbuch und schrieb ein paar Beobachtungen ­hinein. Ein toter König … Was dessen Untertanen wohl dazu zu sagen hatten?

***

Es war Montagabend, und obwohl Campanard zwei besonders intensive Tage hinter sich hatte, fühlte er sich seltsamerweise nicht müde. Olivier und er hatten sich auf einen Befragungsmarathon begeben. Seit Sonntagmittag gingen Angestellte von Fragonard im Commissariat de Grasse ein und aus, wurden wahlweise vom Commissaire selbst oder von Olivier verhört. Campanard hatte auf Eile gedrängt. Schließlich wollte er vermeiden, dass Fragonard seine Mitarbeiter unter Druck setzte, um das Unternehmen vor Ruf­schädigung zu schützen.

»Einen wunderschönen guten Abend, Madame Girard!«, grüßte Campanard freundlich, als Inspecteur Madère eine gut aussehende Mittvierzigerin mit rot gefärbten Locken in das Verhörzimmer führte. »Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns.«

Es war Campanards ureigenste Überzeugung, dass jeder Mensch es verdiente, mit Freundlichkeit behandelt zu werden. Selbst oder sogar gerade während einer Befragung.

»Bonsoir«, erwiderte Madame Girard und setzte sich ihm gegenüber, nachdem er ihr den Stuhl zugewiesen hatte.

»Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Etwas Kühles?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Sie arbeiten als technische Assistentin im Labor von Fragonard. Wie kann ich mir das vorstellen?«

»Ich bin die Leiterin der Naturels. Pardon, ich sollte das zuerst erklären: Für unsere Parfums verwenden wir natürliche Duftstoffe, meistens aus Pflanzen. Ätherische Öle, hauptsächlich. Die Laborteams, die sich damit befassen, nennen wir die Naturels. Die anderen synthetisieren künstliche Duftstoffe, deshalb nennen wir sie die Synthétiques. Meine Aufgabe besteht darin, den Gehalt an Duftstoffen in unserem Material zu beproben. Das ist eine Art Qualitätskontrolle, sowohl für das Material, das von unseren Blumenfeldern kommt, als auch für das, das wir geliefert bekommen.«

»Geliefert?«

»O ja, manche Blumen lassen sich anderswo besser anbauen. Patschuli, zum Beispiel, importieren wir traditionell aus Indonesien. Abgesehen von der Qualitätskontrolle schlagen wir natürlich die geeigneten Verfahren vor, mit denen wir die gesuchten Stoffe isolieren wollen.«

»Erklären Sie mir die Zusammenarbeit mit Monsieur Sentir. War er oft bei Ihnen?«

»Monsieur Sentir!«, wiederholte Madame Girard beinahe ehrfürchtig. »In den Laboren war er persönlich nie. Aber er hat oft interveniert. Er hatte viele … Vorschläge.«

Campanard schlug sein Notizbuch auf und kritzelte ein paar Anmerkungen hinein. »Vorschläge?«

»Nun ja, manchmal hat er uns Anweisungen hinterlassen. Zum Beispiel wollte er für sein letztes Parfum nur blutrote Kamelien.«

Campanard runzelte die Stirn. »Ah ja? Jetzt müssen Sie mir helfen. Warum ist das ungewöhnlich?«

Madame Girard lächelte. »Weil die Farbe den Gehalt an Duftstoffen nicht beeinflusst. Wir haben aus unserer Sicht einwandfreies Material verworfen und mussten auf die roten Kamelien warten.«

»Er wirkte in seinen Forderungen also nicht unbedingt ratio­nal?«

»Oh, ich würde mir nie anmaßen, so etwas zu behaupten«, erwiderte Madame Girard betroffen. »Monsieur Sentir war ein Genie, ein Künstler. Und den Wert oder die Berechtigung seiner Kunst kann man mit wissenschaftlichen Methoden unmöglich messen. Jeder von uns hat sich geehrt gefühlt, mit ihm zu arbeiten.«

»Da bin ich sicher«, brummte Campanard und fügte ein paar Notizen hinzu. »Hatten Sie noch mit anderen Parfüm­entwicklern zu tun?«

»O ja, wir arbeiten viel mit Maître Duchapin. Seine letzte Kreation, Oase de Nuit … Aus meiner Sicht ist es das ausgewogenste Parfum, das wir je entwickelt haben. Ein Meisterstück!«

»Ich verstehe. Macht dieser Duchapin auch so viele Vorschläge wie Sentir?«

»O nein«, lachte Madame Girard. »Er besucht uns oft persönlich, bespricht seine Pläne, kennt und versteht alle Abläufe. Er vertraut unserem Urteil.«

»Hat er sich gut mit Sentir verstanden?«

»Darüber maße ich mir kein Urteil an. Aber … die beiden haben einander gewiss sehr respektiert.«

Campanard senkte das Kinn. »Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich kann es nur vermuten. Zwei so talentierte Menschen …«

Campanard klappte sein Notizbuch zu. »Vielen Dank, meine teure Madame Girard, das ist alles.« Er erhob sich und eskortierte sie zur Tür, hinter der schon Inspecteur Madère wartete.

»Vielleicht plaudern wir beide noch einmal, in diesem Fall melde ich mich.«

Er hielt die junge Inspektorin noch kurz an der Schulter fest, bevor sie Girard nach draußen begleitete.

»Madère, wie sieht’s aus?«

»Einer noch für heute, Chef. Richard LaPlace, der Museumsleiter.«

»Danke, bringen Sie ihn gleich herein.«

Als Madère den Museumsleiter kurz darauf hereinführte, fand Campanard, dass der eher klein gewachsene Mann in seinem karierten Sakko viel zu selbstsicher wirkte. Als wüsste er schon jetzt genau, was er erzählen würde, welche Formulierungen er vermeiden und welche er gebrauchen wollte, um sein Unternehmen und auch sich in einem makellosen Licht zu präsentieren.

»Bonsoir, Monsieur LaPlace. Verzeihen Sie, dass Sie so lang warten mussten.«

LaPlace hob lächelnd die Hände. Man konnte ihn fast schon als dürr bezeichnen, das Sakko schlotterte an seinen Armen.

»Aber, aber, in Anbetracht der furchtbaren Umstände habe ich natürlich Verständnis.«

»Möchten Sie vielleicht ein Tässchen Kaffee?«

»Nein, danke, für mich kein Koffein nach 18 Uhr.«

»Na gut, dann lassen Sie uns beginnen. Wie gefiel Ihnen Monsieur Sentirs Frisur?«

Der Museumsleiter blinzelte verwirrt. Wenn sein Gegen­über bei einem Verhör allzu selbstsicher wirkte, begann Campanard gerne mit einer unkonventionellen Frage. Das brachte die Befragten ein wenig aus dem Tritt, warf alles über den Haufen, was sie sich an glattgebügelten Antworten zurechtgelegt hatten, und ließ sie ein bisschen ehrlicher werden.

»I-ich bin nicht sicher? Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Sie wirkte … nun ja, immer sehr gepflegt.«

»Mochten Sie ihn?«, schoss Campanard nach.

»Aber ja! Natürlich!« Der Museumsleiter lachte nervös. »Er hat unser großes Haus wieder ins Gespräch gebracht. Dass wir die traditionellen Apparaturen im Museum wieder zur Parfumherstellung nutzen, darauf hat er bestanden. Er war … etwas ganz Besonderes.«

»Mhm«, brummte Campanard und schrieb ein paar Anmerkungen in sein ledergebundenes Notizbuch. »Aber schon etwas eingebildet, der Gute, nicht wahr? Ich meine, jemand, der sich selbst ›König der Düfte‹ nannte … Kommen Sie!«

LaPlace verschränkte seine Finger vor dem Körper, als wollte er damit verhindern, dass sie ohne seine Erlaubnis etwas preisgaben.

»Große Künstler sind oft große Persönlichkeiten«, meinte er mit einem verkrampften Lächeln.

»Da haben Sie wohl recht.« Campanard ließ sich absichtlich Zeit und tippte mit seinem Rosenholzfüller unablässig gegen den Einband seines Notizbuchs, was LaPlace sichtlich nervös zu machen schien.

»Er hat uns gern besucht«, platzte es aus dem Museumsleiter heraus, der das Geräusch offenbar nicht mehr ertrug. »Hat die Produktion inspiziert.«

»Hatte er eine Schlüsselkarte?«

»Selbstverständlich!«

»Wer noch?«

»D-die Liste liegt bei uns auf und …«

»Und Sie lassen sie mir morgen zukommen. Es wird das Erste sein, was Sie morgens machen«, stellte Campanard ruhig fest, ohne von seinem Notizbuch aufzusehen. »Was produzieren Sie denn in den alten Laboren? Die Räumlichkeiten wirken nicht gerade zeitgemäß.«

»Die Charge null seines neuen Parfums. Die weltweite Produktion wird natürlich nicht dort stattfinden. Monsieur Sentir glaubte daran, dass es seinem Duft eine magische Note verleiht, wenn er mitten im Herzen von Fragonard entsteht. Ich glaube, deshalb kam er so oft.«

»Mir scheint, dieser Monsieur Sentir ist ein wenig …«, Campanard sah von seinem Tablet auf und fixierte sein Gegenüber, »… lästig gewesen!«

»H-hören Sie«, meinte der Museumsleiter, während Campanard sich nach vorn lehnte. Eine Geste, die bei einem Mann von Campanards Ausmaßen oft schon genügte, um jemanden aus der Fassung zu bringen. »Ich hatte für Monsieur Sentir nur den allergrößten Respekt übrig … und ich kann Ihnen versichern, Sie werden von niemandem bei Fragonard etwas anderes hören.«

Campanard nickte. »Ich fürchte, mit dem zweiten Teil haben Sie absolut recht.« Campanard beugte sich noch etwas weiter vor. »Aber da ist nun mal eine Leiche, die wir aus einem Bottich in Ihrem Museum gefischt haben. Und für die hat wohl jemand etwas anderes als den … ›allergrößten Respekt‹ empfunden.«

Einen Moment lang dachte Campanard, sein ­Gegenüber würde einen Herzinfarkt erleiden. Er lächelte jovial und klopfte dem Museumsbesitzer auf die Schulter. »Vielen Dank, Monsieur LaPlace. Sie waren mir eine ­außerordentliche Hilfe.«

Er stand auf und schüttelte dem verdutzten Museumsleiter die Hand. »Sie verlassen mir doch nicht die Stadt?«, meinte er mit erhobenem Zeigefinger. »Falls wir noch einmal miteinander plaudern wollen.«

»Gewiss nicht«, hauchte LaPlace.

Campanard wandte sich ab, während LaPlace aus dem Befragungszimmer taumelte und dann von der jungen Polizistin hinausbegleitet wurde.

Der Letzte für heute.

Campanard öffnete die Tür und marschierte nachdenklich den halbrunden Gang bis zu seinem Büro entlang. Das Commissariat de Police de Grasse war nicht unbedingt ein typi­scher Bau für Campanards geliebte Heimatstadt, und er konnte nicht behaupten, dass er ihn besonders mochte. Ein Beton-Ufo aus den Achtzigern, das zu Füßen von Grasse abgestürzt zu sein schien.

Doch wenn der Commissaire in seinem Büro das Fenster öffnete, konnte er bis zur Küste hinuntersehen, und in lauen Nächten wie dieser roch man den Jasmin, der in dem verwilderten Garten vor dem Commissariat wuchs. Jeden Morgen, wenn Campanard zur Arbeit spazierte, kam er an zahllosen kleinen Gärten und dem strahlend roten Anwesen der Parfümerie Molinard vorbei. So hatte er seinen Arbeitsplatz doch noch ins Herz geschlossen.

Von seiner Tür aus warf er einen Blick in den großen Büroraum des Commissariats, wo noch immer rege Betriebsamkeit herrschte.

»Olivier!« Seine Stimme hallte durch den Gang. Der junge Polizist lugte vom Großraumbüro in den halbrunden Gang hinein.

»Ja, Chef?«

Sehr gut, er schien seine Befragungen für den heutigen Tag auch schon abgeschlossen zu haben.

»Zu mir!« Campanard schnippte mit den Fingern und ging in sein Arbeitszimmer.

Kapitel 2 Projet Obscur

Campanard trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. »Also, wen haben Sie heute verhört, Olivier?«

Der junge Kriminalpolizist räusperte sich. Campanard Bericht zu erstatten, war niemals Routine. Olivier hatte mittlerweile gelernt, selbst mit den unkonventionellsten Anweisungen zu rechnen und sich über den Gedankenaustausch mit Campanard zu freuen.

»Zuerst den Chef der Sécurité und eine der Putzfrauen. Beide sehr hilfsbereit, wussten aber nichts. Die Security-Leute haben nichts Ungewöhnliches beobachtet. Dann kamen die echtenFragonards. Ich meine die, die direkt für den Parfümeur tätig sind, nicht für Leiharbeitsfirmen.« Olivier seufzte. »Alles in allem habe ich ein Dutzend von ihnen befragt. Alle, die ich heute irgendwie erwischen konnte: Management, Vertrieb, ein paar Leute aus den Laboren. Aber ich mache es kurz: Die haben alle nichts gesagt, Chef.«

Campanard runzelte die Stirn. »Nichts?«

»Nun ja, nicht nichts, aber ihre Aussagen lesen sich wie offizielle Pressemeldungen. Völlig unbrauchbar. Die scheinen um jeden Preis einen Skandal von ihrem Arbeitgeber fernhalten zu wollen.«

Campanard beugte sich über seinen Schreibtisch. »Das ist alles?«

Olivier nickte betreten.

»Ich habe ganz ähnliche Erfahrungen gemacht«, brummte sein Vorgesetzter.

Olivier nickte erleichtert. Wenn der Commissaire auch nichts herausgefunden hatte, dann war ihm wahrscheinlich kein gröberer Fehler unterlaufen.

Seit Campanard vor etwa zwei Jahren wie aus dem Nichts am Commissariat aufgetaucht war und dessen Leitung übernahm, hatte Olivier schon einige Male erlebt, wie der Commissaire Verbrechen aufklärte, an denen seine Kollegen und er sich zuvor die Zähne ausgebissen hatten. Kaum widmete sich Campanard persönlich den Fällen, erzählten die Zeuginnen und Zeugen plötzlich Dinge, die sie vorher verschwiegen hatten, neue Spuren taten sich auf, und schon bald war der Fall gelöst. Olivier wusste nicht genau, was es war, aber wenn er etwas hätte benennen müssen, dann der Umstand, dass der Commissaire einfach ein untrügliches Gespür für Menschen besaß – weil er sie nämlich aus tiefsten Herzen mochte.

»Offensichtlich gibt es bei Fragonard einen zweiten Platzhirsch, viel weniger bekannt als unser König der Düfte, ein bisschen geheimnisvoller.«

Olivier nickte zögernd. »Franc Duchapin. Von dem wurde mir auch erzählt. Niemand wollte das so direkt sagen, aber ich habe den Eindruck, er sei eigentlich fähiger als Sentir.«

»Das war auch mein Eindruck. Haben Sie ihn erreicht?«

Olivier senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Nun ja, ich hatte ihn kurz am Telefon.«

»Und?«

»Meinte, er habe kein Interesse, befragt zu werden, da ihn das nur ablenken würde. Jede weitere Anfrage lässt er nur noch über ein Anwaltsbüro in Cannes laufen.«

»Ich verstehe.«

Olivier erlebte nur selten, dass sich jemand bei einem möglichen Mordfall der Befragung komplett entzog. In der Regel reichte Campanards natürliche Autorität, damit die Leute sich dazu bereit erklärten. In diesem Fall bedeutete das, dass sie Duchapin nicht einmal zu Gesicht bekamen, es sei denn, sie sprachen einen Haftbefehl aus. Aber für den gab es momentan keinerlei Grundlage, nicht zuletzt, weil Duchapin in der Mordnacht nachweislich auf der Premiere seines eigenen Parfums Oase de Nuit gewesen war, was Dutzende Menschen bezeugen konnten.

Die Art, wie Campanard seine Augenbrauen zusammenkniff, verriet Olivier, dass er gerade selbst die abstrusesten Ideen wälzte, wie man an den Kerl herankommen könnte.

»Fragonard ist nun mal eine Institution«, brummte Campanard nach einer Weile. »Für Grasse fast wie ein Tempel. Und die Angestellten haben Angst, dass sie ihren Job verlieren, wenn der Betrieb in Misskredit gerät. Sagen Sie, unser Toter hieß doch nicht immer schon ›Sentir‹, oder?«

Olivier grinste und schüttelte den Kopf. Ein Star­parfümeur, dessen Nachname Duften, Riechen oder Fühlen bedeuten konnte, wäre tatsächlich ein zu großer Zufall gewesen.

»Er hat vor fünfzehn Jahren seinen Namen geändert. Davor hieß er Éric Bellegueule.«

»Verstehe«, brummte Campanard. »Dieser Name schreit geradezu nach Provinz. Vermutlich dachte er, dass er so keinen Erfolg haben kann.«

»Da haben Sie wohl recht, Chef.« Olivier verstand zwar nicht viel von Duftkreation, aber dass man neben klingenden Namen wie St. Laurent, Chanel oder Dior nicht Schönmaul heißen wollte, leuchtete ihm ein.

Olivier räusperte sich. »Wir bekommen pausenlos neue Medienanfragen. Anscheinend haben die größeren Zeitungen und die wichtigsten Fernsehstationen schon heute darüber berichtet. Dieser Sentir war eine ziemliche Berühmtheit.«

»Das überrascht mich nicht«, murmelte Campanard. »Aber es bedeutet, dass bald ganz Frankreich erwartet, dass wir einen Mörder aus dem Hut zaubern.«

»Oder eine Mörderin«, murmelte Olivier.

»Wie war das?«

»Sprache schafft Realität, Chef. Hilft mir, nicht so eingeschränkt zu denken.«

»Guter Punkt, Olivier, in dieser Sache können wir gar nicht offen genug denken. Haben Sie schon die Ergebnisse der Obduk­tion?« Campanard nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

Olivier betrachtete den Schriftzug darauf: Schnauzer sind schick. Darunter befand sich eine Zeichnung, die dem üppigen Bart von Campanard mit seinen gezwirbelten Spitzen zum Verwechseln ähnelte.

»Noch nicht. Die Forensiker haben die Tatortanalyse auch noch nicht abgeschlossen, aber Richaud hat mich wissen lassen, dass sie nicht besonders ergiebig sein wird. Docteur Oriel hat Sentir bereits obduziert, der vollständige Bericht wird noch ein paar Tage brauchen.«

»Wieso das?«

»Sie lässt Ihnen ausrichten, dass noch ein paar wichtige toxikologische Analysen laufen und dass es sehr herausfordernd ist, die tatsächliche Todesursache festzustellen.«

»Da bin ich schon mal gespannt.«

Campanard lehnte sich zurück und wischte sich gedankenversunken den Milchkaffee aus dem Schnäuzer. »Fragonard ist eine Festung. Und wir stehen vor den Toren und bitten vergeblich um Einlass.«

Olivier trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Na ja, Chef, also hineingelassen hat man uns schon.«

»Haben Sie noch nie was von einer Metapher gehört?«, brummte Campanard und schüttelte den Kopf. »Lesen Sie heute Abend verdammt noch mal den Dumas, den ich Ihnen ans Herz gelegt habe.« Er zeigte auf Olivier. »Dienstliche Anord­nung.«

»Ist das Ihr Ernst?«

Aber Campanard schien ihn gar nicht mehr zu hören. Er lehnte sich so weit zurück, dass Olivier fürchtete, sein Stuhl würde nach hinten kippen. Dann verschränkte er die Finger auf seinem üppigen Bauch. »Für diesen Fall ist die traditionelle Ermittlungsarbeit denkbar schlecht geeignet. Wir müssen … agiler werden, die Sache von zwei Seiten angehen. Ein kleines, aber feines Sonderermittlungsteam. So kommen wir hinter die Mauern von Fragonard.«

Olivier kratzte sich am Kopf.

»Die Direction du Département hat schon ein paarmal Nein zu Ihrer Idee gesagt. Projet Obscur benötigt einfach zu viele Sondergenehmigungen.«

Campanard grinste. »Ich habe so das Gefühl, dass die Di­rec­tion ab sofort weniger Einwände haben wird, jetzt, da die Medien derart verrücktspielen.«

»Und wer soll zu dem neuen Sonderermittlungsteam gehören? Außer Ihnen selbst, meine ich.«

»Na, Sie natürlich, Olivier. Sie sind mein bester Mann.«

»Ich fühle mich geehrt, Chef«, murmelte der Polizist.

Campanard nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Und dann brauchen wir Linda Delacours.«

»Die Psychologin, die Sie vor einem halben Jahr für die Ermittlungen in dem Mordfall Stadtrat Tramet engagieren wollten?«

»Genau die«, brummte Campanard.

»Wir haben damals keine Antwort bekommen… Soweit ich informiert bin, arbeitet sie im Moment nicht.«

»Weiß ich. Ich werde sie anrufen, sobald ich morgen die Genehmigung habe. Die Dame hat ein Talent, das wir dringend brauchen.«

»Aber …« Olivier wusste, dass er sich auf dünnes Eis begab. »Meinen Sie denn, dass Madame Delacours wirklich …«

»Die Richtige ist? Aber ja! Sie werden sehen.«

Kapitel 3 Les Palmiers

Der Zug war nicht mit dem schnellen TGV vergleichbar, mit dem Linda vom Pariser Gare de Lyon bis nach Cannes gezischt war. Die Lokalbahn ruckelte gehörig und hielt während der kaum dreißig Minuten dauernden Fahrt von Cannes nach Grasse doppelt so oft an wie der Hochgeschwindigkeitszug zuvor. Nachdem sie Cannes mit dem strahlend blauen Meer, den mondänen Villen und Palmengärten hinter sich gelassen hatte, fuhr sie immer weiter landeinwärts in Richtung Berge.

Der Zug wackelte so heftig, dass Linda sich beim Herausfischen ihrer Einsatzunterlagen aus dem Koffer konzentrieren musste, um nicht reisekrank zu werden.

Eigentlich hatte Linda sie schon in Paris gelesen, aber sie wollte sich bei ihrem neuen Vorgesetzten, einem gewissen Louis Campanard, der sie letzte Woche persönlich angerufen hatte, keine Blöße geben.

Die Mühe hätte sie sich jedoch sparen können: Die Unterlagen verrieten nur die Eckpunkte des Falls. Und dann noch dieses Anschreiben.

Meine teure Madame Delacours,

bitte finden Sie sich am 22. Mai gegen 11 Uhr im Hotel Les Palmiers, 17 Avenue Yves Emmanuel Baudoin, ein.

In freudiger Erwartung

L. A. Campanard, Commissaire

Linda schmunzelte. Meine teure. Sie wusste nicht, wann es üblich gewesen war, eine Mitarbeiterin so zu betiteln. Vor Lindas Geburt jedenfalls, wenn überhaupt. Trotzdem, irgendwie fand sie es herzlich.

Linda legte die Unterlagen beiseite und streckte sich. Diesen Fall würde sie genauso effizient meistern wie die vielen anderen, an denen sie am forensischen Institut in Paris gearbeitet hatte. Kaum jemand dort hatte mehr Erfolge vorzuweisen als sie.

Aber dieser Jemand bist du nicht mehr, und das weißt du, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Linda merkte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Du bist dem nicht gewachsen, du bist zu zerbrechlich geworden.

Hastig umfasste sie ihre Finger und brachte die Stimme zum Schweigen. Mit verkrampfter Miene zwang sie sich, aus dem Fenster zu sehen. Die Landschaft um sie herum wirkte … lieblich. Als hätte man Alpen und Tropen in einen Bottich geworfen und kräftig umgerührt: bewaldete Berghänge, Gärten, in denen Palmen und Zitronenbäume wuchsen. Und immer wieder in allen Farben blühende Felder und Gewächshäuser.

Linda atmete tief durch, wodurch die Anspannung von ihr abfiel, und gähnte ausgiebig.

Vielleicht sollte sie ein wenig schlafen. Gestern war sie den ganzen Tag auf Achse gewesen, hatte ihre kleine Wohnung in Buttes-Chaumont, dem neunzehnten Pariser Arrondissement, voll möbliert an zwei Studenten vermietet und hin und her überlegt, was sie alles mitnehmen sollte. Am Ende war es doch nur ein Koffer geworden, da sie die Auffassung vertrat, dass man selbst von den Dingen, die man für absolut essenziell hielt, nur die Hälfte brauchte.

Gerade wollte sie ein wenig die Augen schließen, als sie etwas blendete. Blinzelnd erblickte sie eine kleine Stadt, die vor ihr auf einer Anhöhe aufgetaucht war und im Licht der Morgensonne leuchtete.

Grasse schmiegte sich an einen sanften Berghang. Wenn es in der Ortschaft moderne Gebäude gab, dann lagen diese irgendwo hinter den mittelalterlichen Steinbauten, die sich im Zentrum zusammendrängten und den Anblick aus der Ferne dominierten.

Zwischen den Häusern brach immer wieder üppiges Grün von terrassenartig angeordneten Gärten hervor. Einen Augenblick lang nahm das Panorama Linda gefangen. Gott, wie kitschig, hätte Ségolène, ihre beste Freundin in Paris, gestöhnt. Ségo war Anwältin, und niemandem, den Linda kannte, schien die Distanziertheit und die Geschwindigkeit der Hauptstadt mehr zu behagen. Linda hätte gelacht und ihr zugestimmt. Aber jetzt, da sie ganz allein war, musste sie sich eingestehen, dass sie den Anblick durchaus mochte.

Als der Zug wenig später endlich in den Bahnhof von Grasse zuckelte, beeilte sich Linda auszusteigen. Eine unerwartete Wärme schlug ihr entgegen, und so zog sie ihre Jacke rasch im Gehen aus und verstaute sie in ihrem Rucksack.

Am Ausgang des Bahnhofs blieb sie stehen. Das Einzige, was sie hörte, waren das ununterbrochene Zirpen der Zikaden in einer nahen Schirmpinie und das schrille Rufen der Mauersegler, die zwischen den engen Häuserschluchten umherschossen. Der Rest der Stadt schien noch zu schlafen.

Linda atmete tief ein und aus. Irrte sie sich, oder roch es hier wirklich nach Blüten? Vermutlich war das an einem Morgen Ende Mai an vielen Orten Frankreichs so. Der Duft war so intensiv, dass er Linda in der Nase kitzelte und sie niesen ließ. Das Zentrum der Stadt lag deutlich höher als der Bahnhof, da hatte sie wohl einen ganz schönen Weg vor sich.

»Na, dann«, murmelte sie. »On y va!«

***

Schwitzend kämpfte Linda sich die alten Gassen hinauf, die so schmal waren, dass keine zweite Person neben ihr hätte gehen können. Kein Straßenzug verlief hier ebenerdig. Rauf und runter, das schienen die einzigen Richtungen zu sein, die Grasse kannte.

Während das Rattern ihres Koffers auf dem Kopfsteinpflaster unnatürlich laut von den Häuserfronten widerhallte, erblickte sie immer wieder Blumenampeln mit leuchtend roten Begonien unter schmiedeeisernen Laternen. Von manchen der mittelalterlichen Gebäude bröckelte der gelbbraune Putz, andere wirkten frisch saniert und leuchteten in kräftigem Orange oder Rot. Ein paar früh aufgestandene Touristen stolperten mit erhobenen Smartphones durch die Gassen, sodass Linda aufpassen musste, mit keinem von ihnen zusammenzustoßen.

Hinter der nächsten Kurve tauchte ein helles Gebäude mit hellblauen Fensterläden auf. Neben der Eingangstür hing ein verblasstes Schild. Darauf waren eine blassgrüne Palme und der Schriftzug Hotel Pension Les Palmiers zu sehen.

»Voilà!«, seufzte Linda, lehnte sich gegen die Wand und verschnaufte einen Moment lang.

Ein paar Jugendliche in sommerlichen Leinenhemden kamen ihr plaudernd entgegen. Sie alle wirkten so entspannt und schön auf Linda. Ein Junge aus der Gruppe warf ihr neugierige Blicke zu.

»Salut!« Er schenkte ihr ein Grinsen.

Linda schüttelte augenrollend den Kopf. Sie war bestimmt zehn Jahre älter als dieser Junge und ausgebildete Psychologin. Nicht das erste Mal, dass jemand sie jünger schätzte, als sie war.

Im Inneren der Pension war es ein wenig kühler. Linda ließ ihr Gepäck auf den Schachbrettfliesen des länglichen Flurs stehen und ging zur Rezeption. Dahinter saß eine stark geschminkte ältere Frau, die gerade in einem Magazin blätterte und einen Artikel über Carla Bruni las.

Linda wartete einen Moment, bis die Dame sich bequemte, von ihrer Lektüre aufzusehen.

»Was kann ich für Sie tun, Schätzchen?«

»Ich werde hier erwartet.«

Die Dame betrachtete sie über den Rand ihrer Brillengläser hinweg. »Mit Sicherheit nicht.«

»O doch, um …« Linda lächelte. »Gegen elf Uhr!«

Der Blick der Rezeptionistin glitt zur Wanduhr, die 10:58 Uhr anzeigte, dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Sie sind mindestens eine Viertelstunde zu früh. Warten Sie hinten im Frühstücksraum.«

»Aber Sie wissen doch überhaupt nicht, mit wem …«

»Warten Sie hinten im Frühstücksraum.«

»Schon gut.« Auch in dieser Stadt gab es offenbar ein paar Leute, die ähnlich höflich waren wie die Pariser.

Linda holte ihren Koffer und marschierte an der Rezeptionistin vorbei, die sich längst wieder in ihre Zeitschrift vertieft hatte.

Der Frühstücksraum war etwas in die Jahre gekommen, aber trotzdem einigermaßen charmant eingerichtet. Durch ein großes Fenster konnte man in den Garten sehen, aus dem Vogelgezwitscher in den Raum drang.

Die Stühle waren aus dunklem Holz gefertigt und hatten filigran gemusterte Lehnen, und auf jedem Tisch stand ein kleines Gesteck aus duftenden Orangenblüten.

Das hieß dann wohl warten. Linda machte es sich an einem der Tische bequem. »Ich kann das«, flüsterte sie.

***

»Chef, wieso wollten Sie bloß, dass ich dieses Haus anmiete?«, murmelte Olivier, während sie durch den schmalen Gang der Pension marschierten. »Auf dem Revier hätten wir mehr als genug Räumlichkeiten, die wir …«

»Ich habe meine Gründe, Olivier«, unterbrach der Commissaire ihn ungewöhnlich kurz angebunden und nahm seinen Panamahut ab. Darunter trug er einen dezenten Sidecut mit ordentlichem Seitenscheitel. Dass sein Haar noch relativ dunkel wirkte, während der Schnauzer schon vollkommen silbern geworden war, verwunderte Olivier immer wieder. Campanard öffnete die Tür zum Frühstückszimmer.

Olivier trat hinter ihm in den sonnendurchfluteten, nach Blüten und Holz duftenden Raum. Die einzige Person darin war eine junge Frau in einem dunkelblauen Hosenanzug, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einer der Bänke saß und in einem Buch las. Olivier fand, dass sie nicht ­gerade klassisch französisch aussah. Der blasse Teint und das kinnlange blonde Haar verliehen ihr eine kühle Aura, die ein wenig durch die zart wirkende Figur abgemildert wurde. Die dickrandige Brille auf ihrer Nase wirkte viel zu groß für ihr Gesicht.

Porträts großer Franzosen, stand in großen Lettern auf dem Cover ihres Buchs.

»Bonjour, Madame!«, hallte Campanards Stimme durch den Raum.

Die Frau sah auf und musterte den Commissaire eingehend, während er die Sonnenbrille mit den kreisrunden Gläsern abnahm und ihren Blick mit seinen hellen Augen erwiderte.

»Willkommen in Grasse, meine teure Madame Delacours!«

»Ah! Commissaire Campanard, nicht wahr?«, fragte sie, legte das Buch beiseite und stand auf. Ihre Stimme klang überraschend voluminös und rau wie aneinanderreibende Kieselsteine.

»Es freut mich, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen, Madame Delacours«, erklärte er und küsste ihre Hand.

Während er sich Olivier zuwandte, hob Delacours ihre Linke und schnippte mit einer gezielten Bewegung der Rechten ein Barthaar von ihrem Handrücken.

»Ich darf Ihnen meinen Kollegen, Inspecteur Pierre Olivier, vorstellen.«

»Freut mich sehr!« Olivier eilte zu ihr und reichte ihr die Hand.

»Salut«, erwiderte Delacours schlicht. Während ihre Miene ruhig wirkte, glitt ihr Blick über sein Gesicht, als versuchte sie, jedes Detail davon zu erfassen.

»Ich muss gestehen, bei den Wunderdingen, die ich über Sie gehört habe, dachte ich, Sie wären …«, setzte Olivier an.

»Älter und erfahrener?«, erwiderte Delacours mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ja, ein wenig, um ehrlich zu sein.«

»Nun, Alter ist kein Garant für Kompetenz und Jugend keiner für Innovationsgeist. Zumindest behauptet das eine brandneue Studie im American Journal of Psychology.« Sie wandte sich Campanard zu. »Verzeihen Sie, darf ich fragen, wieso wir uns nicht auf dem Revier treffen?«

»Setzen wir uns erst mal.« Campanard legte seinen Pana­mahut ab, setzte sich an einen der Tische und wartete, bis Dela­cours und Olivier sich zu ihm gesellt hatten.

Olivier bemerkte amüsiert, wie Delacours das Hemd des Commissaire mit einem neugierigen Blick bedachte: grüne Urwaldbäume auf weißem Leinenstoff, dazwischen knallbunte Papageienschwärme. Olivier hatte keine Ahnung, wo sein Vorgesetzter diese ausgefallenen Designs immer auftrieb. Noch dazu in seiner Größe.

»Ich habe Martine gebeten, uns ein paar kühle Getränke zu bringen, falls Sie nach der langen Reise Durst haben.«

Die Tür wurde geöffnet, und die Dame von der Rezeption kam herein. »Da bin ich, Commissaire«, flötete sie und servierte jedem im Raum ein Glas mit einem blassvioletten perlenden Getränk und einer Zitronenscheibe darin.

»Danke, Martine, sehr liebenswürdig!«

»Ach, Sie«, kicherte Martine und verließ den Raum wieder, während Delacours sie mit einer hochgezogenen Augenbraue musterte.

»Willkommen in Grasse!« Campanard nahm einen kräftigen Schluck.

Delacours nippte vorsichtig an ihrem Getränk und verzog kurz den Mund. Olivier konnte es ihr nicht verübeln. Er fand selbst, dass das Zeug wie eine Aromadusche schmeckte, aber der Commissaire war seltsamerweise ganz versessen darauf.

»Lavendelsoda. Das Beste an einem heißen Tag«, erklärte Campanard. »Den Sirup dafür macht sie selbst, die Blüten sind aus dem Garten.« Er nahm einen weiteren Schluck und wischte sich mit dem Handrücken über den Bart.

»Ich denke, ich sollte mich Ihnen noch richtig vorstellen: Louis Antoine Campanard II. Für Sie Commissaire, oder was mir lieber wäre, einfach Chef. Sie, Madame, Inspecteur Olivier und meine Wenigkeit bilden fortan das Team, das sich mit dem Mordfall Éric Sentir befassen wird.«

Delacours nickte kurz.

»Sentir war vielleicht die berühmteste Nase in ganz Frankreich«, fuhr Campanard fort.

»So nennen wir ausgebildete Parfümentwickler«, beeilte sich Olivier hinzuzufügen. »Es ist ein seltenes Talent. Eigentlich mehr Kunst als Handwerk.«

Delacours schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Ich weiß. Tatsächlich fand ich es faszinierend, darüber zu lesen. Man würde gar nicht vermuten, wie viel hinter der Komposition von Düften steckt.«

»In der Tat!«, bestätigte Campanard. »Und eine dieser Kompositionen scheint eine besondere Rolle in unserem Fall zu spielen. Wir fanden Spuren eines Parfums in der Nähe der Leiche.«

Delacours neigte den Kopf ein wenig. »Bei allem Respekt … Commissaire.« Das Wort Chef schien ihr nicht so recht über die Lippen kommen zu wollen. »Das erscheint mir nicht ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass Sentir in der berühmtesten Parfümerie der Stadt gefunden wurde.«

»Es handelt sich um ein zersplittertes Fläschchen, das direkt neben dem Bottich entdeckt wurde, in dem seine Leiche trieb.«

Delacours verengte die Augen. »Haben Sie die Bestandteile analysiert?«

Campanard nickte Olivier zu, der sich räusperte.

»Die Forensiker fanden DNA-Spuren von Éric Sentir auf den Splittern. Die Analyse des Flascheninhalts war bedeutend schwieriger, da es sich wohl um flüchtige Duftstoffe handelte und die verbliebene Menge sich im Bereich von Mikrolitern bewegt. Die Forensiker fanden ein paar aromatische Moleküle, die in Kakaobohnen vorkommen, dann seltsamerweise Verbindungen, die man aus Schwarzschimmel kennt. Die Analyse ist noch nicht abgeschlossen, es ist jedoch unwahrscheinlich, dass wir alle Bestandteile identifizieren werden.«

»Schwarzschimmel und Kakao«, wiederholte Delacours neugierig. »Das scheint mir keine Allerweltskombination zu sein.«

»Ganz und gar nicht«, bestätigte Campanard. »Jedenfalls sind es keine Inhaltsstoffe von Sentirs Parfums. Helfen Sie mir, Olivier, wie hießen die noch?«

»Orphée, Persephone, und das neueste sollte Lueur heißen.«

»Der Mann vergisst nie etwas«, meinte Campanard anerkennend und räusperte sich, bevor er fortfuhr.

»Monsieur Sentir scheint eine gewisse Faszination für die Unterwelt der griechischen Mythologie gehegt zu haben. Nur der neueste Duft Lichtschein fällt aus der Reihe. Dabei war Sentir ein Lebemann, hat auf keiner Party gefehlt. Eine unerschütterliche Frohnatur, wenn man seinem Umfeld Glauben schenken mag.«

»Das würde ich nicht«, unterbrach die Psychologin.

»Wie bitte?«, fragte Campanard.

Olivier bemerkte, wie Delacours’ Hände zu zittern begannen, doch die junge Frau umfasste rasch die eine Hand mit der anderen und räusperte sich.

»Das Bild von Sentir, das Sie mir geschickt haben, das letzte, das er vor seinem Tod auf Instagram gepostet hat. Moment …«

Sie holte hastig die Unterlagen aus ihrem Koffer und zeigte den beiden Männern das Foto: Seidiges Haar mit blonden Strähnchen fiel dem König der Düfte über die Schultern. Sein Lächeln wirkte, als würde er seine unnatürlich weißen Zähne blecken. Er trug ein weinrotes Sakko über einem Hemd, dessen oberste Knöpfe geöffnet waren und eine sonnengebräunte Brust entblößten.

»Auf diesem Bild ist Sentir meiner Meinung nach sehr unglücklich.«

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Olivier verwirrt, während sich Campanards Mundwinkel ein klein wenig hoben.

Delacours legte das Bild auf den Tisch. »Würden Sie für mich lächeln, Inspecteur Olivier? Denken Sie dabei an etwas Schönes.«

Olivier warf Campanard einen verwirrten Blick zu, aber der nickte nur auffordernd.

»Nun gut.« Olivier lächelte und dachte an seinen letzten Geburtstag, als seine Kollegen ihn auf dem Revier mit einer kleinen Torte überrascht hatten.

Delacours musterte ihn eingehend. Olivier hatte das seltsame Gefühl, dass sie mochte, was sie sah.

»Sehen Sie, Commissaire?« Sie hob den Zeigefinger. »Seine Wangenmuskeln sind angespannt, dadurch wird die obere Hälfte des Gesichts gehoben, die Augen werden lateral … an der Seite durch die Kontraktion winziger Muskeln verengt. Das Lächeln ist echt.«

Campanard nickte und betrachtete Olivier konzentriert.

»Nun wird es etwas schwieriger, Inspecteur«, erklärte Dela­cours. »Bitte denken Sie an etwas abgrundtief Trauriges. Halten Sie diesen Gedanken fest und versuchen Sie trotzdem zu lächeln.«

»Ich will es versuchen. Geben Sie mir nur einen Moment.«

Olivier entspannte seine Gesichtsmuskeln ein wenig und atmete tief durch. Dann lächelte er ein weiteres Mal, auch wenn es sich diesmal anfühlte, als versuchte er mit seinen Lippen zwei Felsen auseinanderzudrücken.

»Ausgezeichnet«, flüsterte Delacours. »Jetzt tun Sie bitte noch so, als würden Sie mit aller Macht gegen Tränen ankämp­fen.«

Olivier gehorchte und hoffte, dass er das elende Gefühl, das er heraufbeschworen hatte, möglichst rasch wieder abschüt­teln durfte.