Die Wanifen-Geisterfeuer - René Anour - E-Book

Die Wanifen-Geisterfeuer E-Book

René Anour

0,0

Beschreibung

Bei den Mondleuten versucht Ainwa ein neues Leben als Heilerin zu beginnen. Allerdings ist das schwieriger als gedacht, schließlich hat sie zwar die Verbindung zu ihrem Seelengeist, dem großen Wassergeist Ata aufgebaut, kann dessen Kraft aber noch nicht bändigen. Nur Rainelf spendet ihr Trost, doch ist er von seiner Vergangenheit gezeichnet und wagt sich nicht in die Nähe des Dorfs. Als sich plötzlich fremde Wanifen in den Wäldern des Seenlands zu versammeln beginnen, sieht Ainwa einer neuen Bedrohung entgegen…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 500

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



www.tredition.de

© 2015 René Anour

Umschlag, Illustration: Sarah Postner

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7323-3288-5

Hardcover:

978-3-7323-5972-1

e-Book:

978-3-7323-3289-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

René Anour

Die Wanifen - Geisterfeuer

René Anour lebt in Wien, das heißt, wenn er nicht gerade in irgendeinem Wald nach Inspiration sucht. Schreiben bedeutet für ihn die einzige Tätigkeit, bei der man wirklich zur Ruhe kommt. Persönlich treffen, kann man ihn außer bei Lesungen auch bei einem Auftritt der Kabarettistengruppe Vetophil, deren Gründungsmitglied er ist. Seine Leser hält er am Laufenden unter:

facebook.com/anournovels

twitter.com/anournovels

reneanour.wordpress.com

Weiters in dieser Reihe erschienen:

René Anour, Die Wanifen-Seegeist (Band I):

Seyring

Eins.

Manchmal war alles, was einem blieb, die Hoffnung.

Zwei.

Die Hoffnung, dass vor Angst erstarrte Glieder sich wieder bewegen würden, wenn man bis zehn gezählt hatte.

Drei.

»Ich will nicht sterben …«

Vier.

Seyring ließ sich tiefer in den Schatten der Tanne gleiten, hinter der er kauerte.

Fünf.

Nebelschwaden zogen durch den Herbstwald, verfingen sich im leuchtenden Laub der Buchen, erstickten das kräftige Rot der Eibensamen.

Sechs.

Er musste in der Nähe sein, ganz in der Nähe. Seyrings Finger krallten sich um einen gewundenen Stab.

Sieben.

»Sei mutig, Seyring!«

Acht.

»Ich könnte noch immer davonlaufen…«

Neun.

»Und der Junge? Was wird der Andere ihm antun, wenn er ihn findet?«

Zehn.

Seyring atmete tief durch. Er fühlte einen kühlen Hauch auf seiner Haut. Nichts als wogender Nebel vor ihm – aber der Andere war da, so sicher, wie die Lärche im Winter ihre Nadeln verlor.

Seyring richtete sich auf und trat entschlossen hinter der Tanne hervor, hinter der er sich versteckt hatte.

»Im Namen aller Geister des Seenlands«, rief er. »Zeig dich!«

Stille … nur der leise Warnruf einer Blaumeise. Der Geruch von nassem Laub hing in der Luft.

Wo versteckte er sich?

Die Spuren nackter Füße im Schlamm, so war Seyring das erste Mal auf den Anderen aufmerksam geworden. Niemand bei klarem Verstand würde zu dieser Jahreszeit allein und barfuß durch den Urwald laufen, niemand aus Seyrings Dorf jedenfalls.

Die Spuren waren nicht das einzige, das Seyring gefunden hatte – auch wenn er sich gewünscht hätte, es wäre so. Im Umkreis der Fußabdrücke hatte Seyring Heidelbeerbüsche entdeckt, deren Blätter so trocken und leblos waren, dass sie unter der leisesten Berührung zerbröselten. Zwischen diesen toten Sträuchern war eine völlig ausgedörrte Kröte gehockt, deren Schicksal sich Seyring bei dem feuchten Wetter der letzten Monate nicht erklären konnte. Seyring war alles andere als ein erfahrener Wanife, aber er erkannte Geisterwerk, wenn er es sah.

Er hatte keine Zeit gehabt, die Menschen im Dorf zu warnen. Wer immer dieses Gebiet durchstreifte, stellte eine Gefahr dar – und Beiringer, sein alter Meister, hatte sich klar ausgedrückt, als er im Sterben gelegen war:

»Du musst dich in Acht nehmen, Seyring«, hatte er ihm eingeschärft. »Wenn du Glück hast, so wie ich, trägst du mehr Jahre in dir als andere Menschen. Aber nimm dich vor den Anderen in Acht. Manche von ihnen haben ihrer Heimat den Rücken gekehrt und durchstreifen den Wald wie Tiere. Wenn sie dich finden, werden sie dich jagen und dir deinen Seelengeist stehlen. Die Menschen im Dorf wären ihnen dann schutzlos ausgeliefert. Das darfst du niemals zulassen!«

Und jetzt, gerade mal ein Jahr später, war einer dieser Wanifen im Seenland aufgetaucht. Seyring hatte kaum Erfahrung im Kampf. Beiringer hatte ihm zwar die groben Züge des Geisterringens erklärt, und ein paar Mal hatten sie sogar Übungskämpfe ausgefochten, aber Beiringer war damals schon alt gewesen und hatte zu Lebzeiten nie ein echtes Duell bestritten. Sein Seelengeist, ein Donnergui, hatte Beiringer die Gabe verliehen, mit den Bäumen zu sprechen – keine sonderlich praktische Fähigkeit, wenn man Seyring fragte – und war genauso wenig für den Kampf geeignet wie sein Herr. Nach Beiringers Tod hatte Seyring einsehen müssen, dass es nur einen gab, der ihm noch helfen konnte, ein mächtiger Wanife zu werden – er selbst.

Oft war er tagelang durch den Wald gestreift, über Felswände geklettert und durch Seen geschwommen, damit sein Körper stark und geschmeidig wurde. Er hatte seinen Seelengeist immer wieder auf den Kraftplatz gerufen, um dort seine eigenen Bewegungen auf seinen Geists zu übertragen, so wie es auch in einem echten Geisterduell geschah.

Er war in die Geisterwelt hinübergewandelt und hatte gelernt, sich dort mit einer Kraft und einer Geschicklichkeit zu bewegen, wie es in der Menschenwelt nie möglich gewesen wäre. Gerade darauf wäre Seyring verdammt stolz gewesen, wenn er sich nicht einmal mehr an die Worte seines Meisters erinnert hätte: »Manche von uns können sich in dieser Geisterwelt so bewegen wie ihre Geister, und wenn Schnelligkeit und Wendigkeit zu den Fähigkeiten des Geistes gehören, kann das Auge ihren Bewegungen nicht mehr folgen.”

Schnelligkeit gehörte jedenfalls nicht zu den besonderen Fähigkeiten von Seyrings Seelengeist. Seyring erinnerte sich noch sehr genau an die Nacht seines Erwachens, wo er ihm zum ersten Mal begegnet war, wo er zum ersten und zum einzigen Mal mit rauer Stimme zu ihm gesprochen hatte. Er hatte es damals nicht gewusst, obwohl Beiringer ihn schon lange im Auge gehabt hatte. Die unsichtbare Gegenwart in Seyrings Nähe hatte dem alten Meister schon lange verraten, dass aus Seyring im Mannesalter ein Wanife werden würde.

In jener Nacht hatte Seyring keinen Schlaf gefunden. Eine fremdartige Stimme hatte ihm seltsame Worte eingeflüstert. Die Balken in der Pfahlbauhütte seiner Eltern hatten seltsam geknackt und geknarzt.

Finde mich. Finde mich im Wald.

Wider besseren Wissens hatte sich Seyring aus der Hütte geschlichen und war in den finsteren Urwald hinausgerannt.

Ich warte auf dich.

Er war gelaufen, immer weiter und weiter, bis er eine seltsame Lichtung erreicht hatte. Wie eine Wand wurde sie von den Stämmen mächtiger Tannen und Buchen umrahmt. Zwei runde Steinbuckel erhoben sich an ihren Rändern.

Ich bin hier, flüsterte die Stimme.

»Wer bist du?”, hatte Seyring in die Nacht hinein gerufen. »Was willst du von mir?”

Sag meinen Namen! Die Stimme war wesentlich lauter und fordernder als zuvor. Ruf mich!

Seyring hatte sich die Hände auf die Ohren gepresst. Ruf mich in deine Welt!

»Ich kenn‘ deinen Namen nicht!”

Mein Name ist Wind unter dem Mond, Schwingen in der Nacht. Sprich ihn aus!

Seyring war am Boden gekauert und hatte versucht, die fremde Stimme aus seinem Kopf zu verdrängen, aber es war ihm nicht gelungen. Er hatte aufgehört zu denken, hatte nichts mehr gesehen, nichts mehr gehört, außer der Stimme in seinem Kopf und dem heftigen Pochen seines Herzens.

»Elfenkauz!”, hatte er gebrüllt, als wenn seine Zunge ihren eigenen Willen gehabt hätte.

Die Stimme war verstummt, von einem Moment auf den anderen. Seyring erinnerte sich seltsamerweise noch gut an diesen angenehmen Moment der Stille, den Augenblick, bevor sein rechter Arm in Flammen aufgegangen war, zumindest hatte es sich so angefühlt. Seyring hatte nie zuvor einen vergleichbaren Schmerz erlebt, das Feuer schien sich auf eine Stelle direkt unter seinem rechten Handgelenk zu konzentrieren. Gerade, als er gedacht hatte, den Schmerz nicht einen Augenblick länger ertragen zu können, war er verschwunden, so plötzlich wie er aufgeflammt war.

Schwarze, filigrane Linien waren unter seinem Handgelenk aufgetaucht. Sie ähnelten denen, die er einmal auf dem Unterarm des alten Beiringers gesehen hatte, als man ihn als Kind mit schwerem Fieber zu ihm gebracht hatte. Trotzdem hatte sein Zeichen anders ausgesehen, schlanker, mit zwei Kreisen, die ihn an Augen erinnerten.

Mein Zeichen verbindet uns. Ich werde dich schützen, solange du lebst. Die Stimme hatte rau geklungen, aber nicht mehr so unerträglich fordernd wie gerade zuvor.

Seyring hatte aufgeblickt- und da hatte er ihn zum ersten Mal gesehen, unwirklich in seinem Aussehen, aber so greifbar, dass es sich nicht um Einbildung handeln konnte.

Sein Körper erinnerte an einen riesigen Luchs, dessen Fell auf Schulterhöhe in graubraun gesprenkelte Federn überging. Der Kopf glich dem eines Waldkauzes mit großen, schwarzen Augen und einem Schnabel, der fast halb so lang wie Seyrings Arm war. Die Kreatur breitete ein paar mächtige Eulenflügel aus und schüttelte sich.

»Ich kenne dich«, hatte Seyring geflüstert. »Ich habe von dir geträumt!«

Seyring erinnerte sich an jene Nacht, als sei es erst gestern gewesen. Sein Elfenkauz hatte ihm erzählt, wie er ihn gefunden hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, wie ihn die Art, wie Seyring in undurchschaubaren Situationen die richtigen Schlüsse zog, angelockt hatte, weil er sich in seiner Seele wiedererkannt hatte. Seither waren sie unzertrennlich, der Elfenkauz und er.

»Bleib im Hier und Jetzt«, ermahnte sich Seyring.

Er war den Spuren des Fremden bis hierher gefolgt. Er konnte noch immer in der Nähe sein und nur auf den richtigen Zeitpunkt für einen Hinterhalt warten.

»Bist du hier?«, flüsterte Seyring in die Stille hinein. Ein sanfter Luftzug auf seinem Bein verriet ihm die Nähe des Elfenkauzes. Noch konnte er ihn nicht sehen, erst wenn Seyring ihn hier, am Kraftplatz, rufen würde, wie er es in der Nacht seines Erwachens getan hatte, würde er leibhaftig in dieser Welt erscheinen.

Ein lautes Knacken ließ Seyring zusammenfahren. Schritte näherten sich aus dem Dickicht. Seyring hob seinen Stab und spannte sich. Vielleicht konnte er den Fremden überrumpeln, bevor es zu einem Duell kam.

Jetzt! Seyring fuhr herum und ließ seinen Stab mit aller Gewalt auf die Gestalt hinuntersausen, die gerade aus dem Dickicht aufgetaucht war.

Ein erschrockener Schrei durchschnitt die Luft. Seyring riss überrascht die Augen auf und schaffte es gerade noch, seinen Hieb zur Seite abzulenken, sodass er haarscharf am Kopf des Jungen vorbeisauste.

»Du?«, zischte Seyring wütend. »Bist du noch bei Sinnen? Ich hätte dir beinahe den Schädel eingeschlagen!«

Der Junge war vor Schreck gestolpert und richtete sich mit finsterer Miene wieder auf.

»Du warst fast den ganzen Tag fort«, maulte der Junge.

Seyring musterte ihn irritiert. Anscheinend gab es keine äußerlichen Gemeinsamkeiten, die verrieten, wer zum Wanifen bestimmt war und wer nicht.

Während Seyring viele seiner Altersgenossen überragte und sein Kopf von sonnenfarbenem Haar bedeckt war, das nicht so recht zu seinen dunklen Augen passen wollte, schienen sich diese Merkmale bei dem Jungen ins Gegenteil verkehrt zu haben. Für seine elf Sommer war er eher schmächtig und seine grauen Augen bildeten einen seltsamen Kontrast zu dem rabenschwarzen Haar, das bei ihren Leuten sehr selten war.

»Hast du irgendeine Ahnung, in was für eine Gefahr du dich gerade gebracht hast?«, Seyring sah sich misstrauisch um. Nichts verriet die Gegenwart eines weiteren Menschen. War es möglich, dass der Fremde weitergezogen war?

»Ich war hier doch schon hundertmal«, behauptete der Junge.

»Nur, wenn ich dabei war«, meinte Seyring streng. »Du weißt genau, dass du allein nichts im Wald verloren hast!« »Ich kann auf mich aufpassen!«

»So, kannst du das?«, meinte Seyring und blickte mit hochgezogenen Augenbrauen auf den Jungen herab. Nach einer Weile seufzte er und rieb sich die Stirn »Weißt du, manchmal wünschte ich, ich könnte dich deinen Eltern einfach zurückgeben!«

Die Miene des Jungen verfinsterte sich. »Warum tust du’s dann nicht?«, meinte er herausfordernd.

Seyring schnaubte und gab dem Jungen eine leichte Kopfnuss. »Keine Diskussionen, Zwerg, wir gehen nachhause!« Er wandte sich ab und verließ den Kraftplatz mit raschem Schritt. Vielleicht hatte er tatsächlich noch einmal Glück gehabt, und die Gefahr war an ihnen vorübergezogen. Er atmete befreit auf.

»Weißt du«, rief der Junge, während er versuchte, mit Seyring Schritt zu halten. »Ich habe einen Namen!«

Feuersee

Es begann mit den Träumen. Träume, die mit einer beängstigenden Regelmäßigkeit wiederkehrten, die mich jedes Mal schweißgebadet aufschrecken ließen, nur um danach angsterstarrt da zu hocken, krampfhaft auf die schlurfenden Schritte des Albs horchend, der um mein Lager herumschlich.

Nicht, dass meine Träume davor angenehm gewesen wären. Der Alb, der Herrscher über die Ängste, die in der Seele der Menschen wohnen, kehrte Nacht für Nacht an mein Lager zurück, um mich im Schlaf in den Abgrund meiner schlimmsten Erinnerungen zu werfen. Tagsüber wagte er es nicht, mir in die Nähe zu kommen, auf gewisse Weise fürchteten wir einander gegenseitig.

Aber diese Träume waren anders als die, mit denen der Alb mich sonst quälte; stiller, aber nicht minder bedrohlich.

In diesen Träumen stehe ich am Ufer des großen Sees und schaue auf das Wasser hinaus. Völlig unbewegt liegt es vor mir, und ich kann nicht erkennen, wo es endet und wo der orangefarbene Himmel anfängt. Alles ist reglos, das Wasser, die Blätter an den Zweigen der Bäume, auch in den Pfahlhütten des Dorfes herrscht Totenstille.

Ich höre jemanden meinen Namen sagen und drehe mich um. Da stehen sie alle, reglos, als wäre die Zeit selbst stehengeblieben. Rainelfs schlanke Gestalt, einsam und verloren mit gesenktem Haupt.

Er ist nicht der einzige. Ich sehe Alfanger, den alten Heiler der Ata. Er hält einen Korb mit getrockneten Beeren und blickt mit zugekniffenen Augen auf das Wasser hinaus.

Nephtys, die dunkelhäutige Uruku, deren Bruder Kauket mein Lehrer gewesen war, hockt sprungbereit am Boden, den Speer in der Hand.

Mein Blick fällt auf den von grauen Strähnen durchsetzten Bart meines Ziehvaters. Alle stehen sie inmitten dutzender Menschen, deren steinerner Blick auf den weiten Horizont gerichtet ist.

Das nächste, was ich bemerke, ist die Musik, ein seltsames Lied, fremd und vertraut zugleich, und dann steht er neben mir: ein Junge, sonnenfarbenes Haar fällt ihm über die Schulter. Er gehört nicht zu den Steinen. Sein Gesicht wendet sich mir zu, und ich sehe ein Paar traurige, haselnussfarbene Augen, die mich schmerzhaft an meinen toten Gorman erinnern.

»Gut ist böse. Böse ist gut.« Sobald er die Worte spricht, höre ich, wie ein Chor von Kinderstimmen sie nachsingt, wie ein unheimliches Echo.

»Rein ist unrein, Unrein ist rein«, sagt die Stimme des Jungen, dicht gefolgt von den singenden Kinderstimmen.

»Leben ist Sterben, Sterben ist Leben.«

»Wer bist du?«, frage ich ihn. Meine Worte klingen seltsam hohl ohne die Kinderstimmen, die sie wiederholen.

Er wendet sich ab und blickt auf das Wasser hinaus.

»Es kommt«, flüstert er. »Das Gamlain!«

Ich folge seinem Blick – und dann sehe ich es. Feuer …

»Meisterin Ainwa?«

Ich hob den Kopf. Die Erinnerung an die Träume hatte mich vergessen lassen, wo ich mich gerade befand.

»Was sagen die Geister?«

Ich musterte den Mann, der mir gegenüber auf einem Gamsfell hockte. Die Finger, die auf seinen Schenkeln ruhten, wirkten an den Gelenken seltsam aufgetrieben, sodass sich seine raue Haut dünn wie Schmetterlingsflügel über seine Knöchel spannte. Ich sah so etwas nicht zum ersten Mal. Es war eine Krankheit, die manchmal mit dem Alter kam. Schon die letzte Wanife der Mondleute hatte begonnen, ihn zu behandeln. Vor ihrem Tod …

Mit ihr hatten die Mondleute eine fähige Heilerin verloren. Sein Zustand hatte sich verschlechtert, seit sie fort war.

Ich seufzte.

»Die Geister sagen mir, dass dein Anliegen im Augenblick nicht dein größtes Problem ist.«

Ich hatte keinen Grund, ihm zu erzählen, dass keiner meiner Geister mit mir über etwas in dieser Art gesprochen hatte. Sie sprachen eigentlich überhaupt nicht, wenn man das unverständliche Geknurre des Perchts außer Acht ließ. Der Mann zögerte. Wie hieß er nochmal? Eigentlich sollte ich mir seinen Namen gemerkt haben. Er war immerhin das dritte oder vierte Mal bei mir. Loibichl? Ja … ich glaubte, sein Name war Loibichl.

Der Mann senkte den Blick und rutschte unbehaglich auf seinem Gamsfell herum. Bei näherem Hinsehen sah er jünger aus, als ich ihn zuerst geschätzt hatte. Vierzig Sommer, mehr konnten es nicht sein. Sein silbergraues Haar hatte mich genarrt.

»Meisterin Ainwa«, murmelte er. »Ich weiß, diese Krankheit tötet mich, und wenn sie’s nicht tut, tut’s der Winter oder die Hufe eines Wisents. Ihr seid eine Wanife. Ihr wisst viel, was mir verborgen bleibt, aber ihr lebt allein in dieser Hütte – wie Meisterin Séamon vor euch. Ich weiß nicht, ob ihr je die Freude erlebt habt, das Lager mit jemandem zu teilen oder ob es euch überhaupt erlaubt ist. Das Pochen meiner Glieder, wenn’s kalt wird – ich ertrage es nur, weil ich bei meiner Frau liegen kann. Kann ich das nicht mehr, dann weiß ich nicht, auf was ich mich noch freuen soll.«

Meine Miene regte sich nicht, aber innerlich fühlte ich das kleine bisschen Selbstsicherheit, das ich mir so mühsam aufgebaut hatte, zerrinnen. Ich hatte gar nicht an mich herangelassen, wie schmerzhaft Loibichls Krankheit sein musste. Wahrscheinlich deshalb, weil ich so viel schlechter darin war, sie zu behandeln, als meine Vorgängerin. Wenn ich nicht wäre, würde das Mädchen noch leben, und Loibichl müsste nicht diese Schmerzen erleiden. Jetzt war sie tot, mein geliebter Gorman hatte sie getötet, als der Kelpi, der bösartigste aller Geister, Besitz von ihm ergriffen hatte. Sie hatte sterben müssen, weil Gorman geglaubt hatte, er könnte mir durch diesen Akt Séamons Macht schenken. Es hatte nicht funktioniert. Das Mädchen war umsonst gestorben und ich war hierhergekommen, um ein Loch zu füllen, für das ich viel zu klein war.

»Vielleicht kann ich dir helfen«, erklärte ich. »Aber es ist eine Gratwanderung. Das Risiko, dass etwas schiefgeht und du dir großen Schaden zufügst, ist groß.«

»Was muss ich tun?«, fragte Loibichl und beugte sich nach vorne.

Ich erhob mich seufzend und suchte zwischen den unzähligen kleinen Tontöpfen, in denen Séamon ihre Heilkräuter aufbewahrt hatte, nach einem, den ich erst kürzlich entdeckt hatte.

Da! Ich ergriff einen staubigen Tonbehälter und hob prüfend den Deckel. Ein bläuliches Schillern gepaart mit einem scharfen Geruch verriet mir, dass ich den richtigen erwischt hatte.

Ich ließ mich wieder auf meinem Felllager nieder, während Loibichl meine Bewegungen aufmerksam verfolgte. Ich erwiderte seinen Blick, um sicher zu gehen, dass er mir seine volle Aufmerksamkeit schenkte, und leerte den Inhalt des Behälters vor mir auf den Hüttenboden. Ein paar dunkelblau schillernde Käfer mit dicken Hinterleibern purzelten aus dem Tontopf heraus und blieben reglos liegen.

»Das sind Ölkäfer«, erklärte ich und hob einen der toten Käfer an seinem Bein hoch. »Sie sind sehr, sehr giftig.«

Mit einer gewissen Genugtuung bemerkte ich, wie Loibichl erbleichte.

»Ich werde für dich ein Pulver aus ihnen zubereiten. Von diesem Pulver löst du eine Prise in ein paar Wassertropfen und schmierst sie dir auf die Zunge.«

Loibichls Augen weiteten sich aufgeregt. »Meisterin Ainwa«, flüsterte er. »Heißt das, Ihr könnt mir wirklich helfen? Ich danke euch! Die Geister haben euch gesegnet und … «

»Ich war noch nicht fertig«, unterbrach ich ihn finster. »Dieses Pulver ist gefährlich. Es wird nichts von seiner Giftigkeit verloren haben. Du darfst wirklich nur eine winzige Menge schlucken. Ein bisschen zu viel und … der Effekt könnte wesentlich länger anhalten, als dir lieb ist, und dir höllische Schmerzen bereiten.«

Zu meiner Überraschung wich das Lächeln nicht von Loibichls Miene. Er erhob sich und verbeugte sich vor mir. »Ich weiß, was es bedeutet, höllische Schmerzen zu haben. Ich werde Eure Medizin mit Vorsicht anwenden.«

Ich schenkte ihm ein angedeutetes Nicken. »Ich rufe dich, sobald es fertig ist.«

Noch lange, nachdem Loibichl gegangen war, starrte ich auf das Wisentfell vor dem Eingang und dachte über Loibichls Worte nach. Er hatte Recht, ich hatte noch nie das Lager mit einem Mann geteilt. Gorman und ich hatten einander geliebt, aber als wir endlich zueinandergefunden hatten, hatte der Kelpi ihn mir fortgerissen.

Verboten …

Vielleicht war es einem Wanifen tatsächlich verboten, einen Gefährten oder eine Gefährtin zu haben, schließlich waren die Wenigen, denen ich begegnet war, immer allein gewesen. Vielleicht mussten diejenigen, die sich mit einer Wanife wie mir abgaben, früher oder später den Preis dafür bezahlen…

Ich versuchte, den Gedanken beiseite zu schieben; schließlich hatte Kauket, mein Lehrer, mir nie von einem derartigen Gesetz erzählt, und ich war sicher, er hätte es mir nicht verschwiegen.

Ich erhob mich und schlug das Wisentfell am Eingang zurück. Sofort spürte ich die angenehm warmen Strahlen der Herbstsonne auf meiner Haut und streckte mich genüsslich. Der Mondsee, an dessen Ufer sich die Hütten der Mondleute drängten, schimmerte ruhig im Sonnenlicht. In sanfte Bergrücken eingebettet, hatte er die Form einer Sichel, der er seinen Namen zu verdanken hatte. Seine Wasser waren von einem milchigen Grün, heller und weniger tief als die des großen Sees, wo mein Volk, die Ata, lebten. Ansonsten hatte das Pfahlbaudorf der Mondleute schon vertraut auf mich gewirkt, als ich es das erste Mal erblickt hatte, so sehr ähnelte die Form der Hütten, die Plattformen und Stege denen in Ataheim. Die Dorfwiese an Land war von einem hohen Holzzaun umgeben, der einen wirksamen Schutz vor den Tieren des Urwalds bot. Mannslange Hechte und Seeforellen trockneten auf spitze Pfähle gespießt in der Sonne.

Mein Blick glitt weiter, bis zum Waldrand, wo Fichten und Tannen bis in den Himmel zu ragen schienen und sich schon das erste Gelb in die Blätter der Buchen und die Nadeln der Lärchen gemischt hatte. Ich spürte den Drang, durch den Wald zu streifen, wo sich an versteckten Orten die Tore befanden, an denen sich die Welt der Menschen und die Geisterwelt überschnitten, jene Plätze, an denen Wanifen am mächtigsten waren.

Ich lief zurück in die Hütte und holte meinen Eibenstab, der seit dem Tag, an dem ich ihn zufällig im Wald aufgehoben hatte, zu so etwas wie der natürlichen Verlängerung meines Arms geworden war. Es war der Stab, der die Fähigkeiten eines Wanifen bündelte, mit dessen Hilfe er in die Geisterwelt und zurück wandeln konnte und mit dem der Beginn eines Geisterduells markiert wurde. Die Stege schwankten leicht, als ich sie mit schnellem Schritt überquerte. Sobald ich die Verbindung zu meinem Seelengeist, dem großen Ata, hergestellt hatte, hatte der Stab sich verändert, und grüne Eibentriebe waren aus seiner Spitze gewachsen, die niemals zu verdorren schienen.

Aus den Augenwinkeln erkannte ich manchmal für einen Wimpernschlag mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Wenn anderen Menschen etwas an mir auffiel, war es mein Haar. Schwarz wie Rabenfedern und ebenso widerspenstig reichte es mir fast bis zur Hüfte. Die meisten Menschen des Seenlands hatten blondes oder aschblondes Haar, und so zog ich oft misstrauische Blicke auf mich. Der Rest von mir passte besser zu meiner Heimat und hielt einen Großteil der Menschen davon ab, mich mit Fackeln und Knüppeln bewaffnet in den Wald zu jagen. Das mochte sich übertrieben anhören, doch in meiner alten Heimat war die Verbannung eine sehr reale Bedrohung für mich gewesen, allerdings aus anderen Gründen als meiner Haarfarbe.

Ich atmete hörbar auf, als ich den Schatten des Waldes erreicht hatte, und verlangsamte meine Schritte. Für einen Moment lauschte ich: nur das hohe Ziepen einer Meise, und weit über mir der Ruf eines Habichts, der am Himmel seine Kreise zog. Alles wirkte friedlich, in dieser und in der Geisterwelt.

Ich ging weiter und freute mich an der beginnenden Verfärbung der Blätter. Die Sonne würde in den nächsten Monaten nicht oft zu sehen sein. Wenn der Herbst fortschritt, stiegen vom See dichte Nebelschwaden auf, die die Sonne oft wochenlang verdeckten.

Sein Haar, dachte ich, bald würde es von schneeweißen Strähnen durchsetzt sein, und wenn der erste Schnee fiel, würde er mit der Umgebung verschmelzen, wie das Hermelin, das ihn begleitete.

Es dauerte nicht lange, bis ich den Kraftplatz erreichte. Noch bevor ich meinen Fuß in dieses Gebiet gesetzt hatte, hatte ich diesen Ort in meinen Träumen gesehen: der Kraftplatz der alten Rotbuche. Hierher hatte Gorman Séamon gelockt, um ihr ihren Seelengeist zu stehlen. Hier war die Wanife der Mondleute gestorben.

Als ich die rötlichen Blätter des alten Baumes vor mir auftauchen sah, brach die Erinnerung an die furchtbare Bluttat, die hier geschehen war, mit voller Wucht über mich herein. Was hier geschehen war, hatte mir endgültig vor Augen geführt, dass ich Gorman nicht retten konnte und dass ich alles daran setzen musste, ihn aufzuhalten. Ich schloss die Augen. Nur ein Schritt, Ainwa, dann würde es aufhören … Ich überschritt die Grenze zum Kraftplatz und seufzte auf. Es war der Grund, warum ich trotzdem immer wieder hierherkam. Die dunklen Erinnerungen, die mich plagten, verflogen hier, und ich fühlte nur noch ein angenehmes Gefühl des Friedens, manchmal beinahe Heiterkeit. Ich vermutete, es war Teil der Magie dieser Orte, und Wanifen wie ich waren besonders empfänglich dafür.

Mit Kraftplätzen verbanden mich die furchtbarsten, aber auch die schönsten Erinnerungen meines Lebens. Am Dreibach, einem besonders mächtigen Kraftplatz, hatte ich unzählige schöne Stunden mit Gorman verbracht. Dort hatte er mich geküsst und mir seine Liebe gestanden, dort hatte ich ihm ein paar Monate später einen vergifteten Pfeil ins Herz gejagt…

Ich ließ mich auf einem der großen Wechselsteine, die den Kraftplatz begrenzten, nieder und blinzelte in den wolkenlosen Himmel. Ein Eichhörnchen hockte über mir auf einem Ast und beschwerte sich mit lautem Keckern über meine Anwesenheit.

Die Oberfläche des Steins unter mir war angenehm warm. Ich dachte an Loibichl und seine aufgequollenen Knöchel. »Ich sollte ihn heilen können«, dachte ich. »Wieso kann ich es nicht?«

Nein, ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Dafür hatte ich noch genug Zeit. Einmal in aller Ruhe entspannen und an nichts denken…

Der mächtigste Geist des Seenlandes ist dein Seelengeist. Eine Urkraft…

Ich stöhnte und rieb mir die Augen. Wieso konnte man seine Gedanken eigentlich nicht nach Belieben aus- und einschalten, zumindest hier sollte das doch möglich sein.

Nun gut, eine Ursache, warum ich beim Heilen nicht die Wunder bewirkte, zu denen ich eigentlich fähig sein sollte, war sicher, dass ich Ata nicht mehr in meine Nähe ließ. Die Wanifen, die ich kannte, hielten ihre Seelengeister immer in ihrer Nähe, aber für mich war das ein Ding der Unmöglichkeit. In Atas Nähe konnte sich das Wetter von einem Augenblick zum anderen ändern. Seine bloße Gegenwart machte, dass die Bäume sich knarrend zur Seite neigten und die Wasser begannen in heftigen Wellen zu toben … und dass, wenn ich nicht gerade aufgeregt, ängstlich oder zornig war – dann konnte es wirklich gefährlich werden, und ich gehörte – wie ich mir selbst eingestehen musste – nicht zu der Sorte Mensch, die sich gut beherrschen konnte. »Kann nur eine Phase sein«, seufzte ich. Das Band zwischen mir und Ata war in meinem ersten Geisterduell vollständig wiederhergestellt worden. Es gab keinen Grund zur Beunruhigung.

»Du siehst besorgt aus.«

Ich zuckte zusammen, ehe sich ein breites Grinsen auf meinen Zügen ausbreitete.

»Seit wann bist du ein Experte für menschliche Gefühle?« Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er neben mir lag und in den Himmel blickte. An Rainelfs plötzliches Auftauchen konnte man sich wohl nie gewöhnen. Ich bezweifelte, dass es einen anderen Wanifen gab, der sich schneller und geschickter bewegen konnte als er. Man sah ihn nie kommen oder gehen, er war einfach von einem Augenblick zum anderen da – und wieder fort.

Rainelf gähnte und streckte sich. Ich wandte den Kopf und musterte seine rotbraunen Locken. Noch nicht … Noch keine Spur von Weiß.

Der Winter würde noch etwas auf sich warten lassen, denn wie das Fell seines Seelengeists, des Hermelinenwórs, färbte sich auch Rainelfs Haar im Winter schneeweiß.

»Ich kann es sehen«, meinte er und hob mit einer lockeren Bewegung seine Finger. »Die Art, wie sich deine Stirn kräuselt. So siehst du aus, wenn du unglücklich bist.«

»Meine Stirn kräuselt sich ganz bestimmt nicht!«

»Nicht mehr«, erwiderte Rainelf lächelnd. »Es hat aufgehört, als du mich gesehen hast.«

Ich zog die Augenbrauen hoch und wandte mich ab. »Du schmeichelst dir, alter Mann.«

»Mein Kind, vertrau der Weisheit von über sechzig Wintern«, meinte Rainelf mit gespielt krächzender Stimme.

Ich prustete los und rammte Rainelf meinen Ellbogen in die Seite.

Man sah es ihm nicht an, aber Rainelf war tatsächlich ein alter Mann. Unzählige Sommer lang hatte der Kelpi ihn in der Geisterwelt gefangen gehalten, wo die Zeit anderen Gesetzen gehorchte als hier. So hatte mir, als ich ihm begegnet war, die kühle Miene eines jungen Mannes entgegengeblickt, in seiner Art und seinen Bewegungen mehr Wesen der Geisterwelt als Mensch. Seine Menschlichkeit, die Fähigkeit Freude und das Bedürfnis nach Wärme zu empfinden, war ihm irgendwann in seinen langen Jahren in der anderen Welt abhandengekommen. Jetzt, wo er wieder frei war, hatte er sich langsam daran gemacht, wieder zu dem zu werden, der er war.

Seine schneeweiße Haut hatte die Farbe von Honig angenommen, und auf seinen eisglatten Wangen konnte man rotbraune Bartstoppel erkennen, wenn man genauer hinsah. Am seltsamsten war allerdings die Sache mit Rainelfs Auge: Wie der Raureif, der im Winter die Zweige überzog, hatten sie früher ausgesehen, doch vor einigen Wochen hatte eines seiner Augen begonnen, sich zu verändern, und hatte schließlich die Farbe von frischen Kastanien angenommen.

Als ich ihn danach gefragt hatte, hatte er mir erklärt, dass seine Augen braun gewesen waren, bevor der Kelpi ihn verschleppt hatte, und wie sein Lachen war auch die Farbe seines Auges allmählich wieder zurückgekehrt.

Manche Wunden verheilten, andere trug man weiter mit sich. Rainelfs anderes Auge blieb so grau und kalt, wie es gewesen war, und noch immer zeigte er sich keinem Menschen außer mir.

»Also, worüber machst du dir Sorgen?«, meinte er und schirmte seine Augen vor der Sonne ab.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, erwiderte ich sanft.

Rainelfs Miene wirkte mit einem Mal leer.

»Ich weiß nicht einmal, wo dein Lager ist«, fuhr ich fort, als er nicht weitersprach. »Ich weiß nicht, ob du genug Vorräte hast, um den Winter zu überstehen. Diesmal wirst du die Kälte spüren, wenn sie kommt, und ich würde nicht einmal wissen, wo ich dich suchen soll, wenn dir etwas zustößt.«

»Sorge dich nicht um mich«, murmelte er.

»Aber das tue ich«, entgegnete ich. »Alles hier … meine tollpatschigen Versuche, Séamon zu ersetzen und dabei jeden Tag mit meiner Unfähigkeit konfrontiert zu werden, ist so viel einfacher, weil ich mit dir darüber reden kann.« Ich senkte den Blick. »Um ehrlich zu sein … bist du der einzige, mit dem ich wirklich reden kann.«

Wir beide wussten, dass es nicht meine Unfähigkeit war, die mir das Leben wirklich schwer machte, nun, zumindest nicht nur. Es war Schuld, die mich plagte, und niemand konnte das besser verstehen als Rainelf.

»Du solltest mit mir kommen, ins Dorf. Die Leute dort würden sich zur Abwechslung über einen fähigen Wanifen freuen.«

»Du bist mehr als fähig … «

»Das ist nicht der Punkt.« Ich hatte gelernt, nicht mehr auf Rainelfs Ablenkungsmanöver hereinzufallen.

Der Hauch eines Lächelns glitt über seine Miene.

»Es ist zu früh«, er wandte sich ab und erhob sich.

»Du bist seit einem Jahr frei, worauf willst du noch warten?« Ich stand ebenfalls auf und berührte ihn an der Schulter. Rainelf fuhr ruckartig herum. Kalter Zorn funkelte in seinen Augen, genau wie bei unserer ersten Begegnung, als ich ihn nicht für einen Menschen, sondern für einen Schneegeist gehalten hatte.

Für einen Moment spürte ich noch seine sonnenwarme Haut unter meinen Fingern, dann war er verschwunden.

Ich seufzte. Nach allem, was wir gemeinsam erlebt hatten, gab es noch immer Mauern zwischen uns, die wir nicht überwinden konnten…

»Sei nicht enttäuscht.«

Ich wandte mich um.

Rainelf stand gegen den Stamm der alten Rotbuche gelehnt und sah zu mir herüber. Es war schwer zu sagen, wo sein Haar aufhörte und das rotbraune Laub des Baumes begann. Er warf mir einen fast flehentlichen Blick zu.

»Ich … versuche es.«

Ich ging zu ihm hinüber und presste meine Stirn gegen seine. Die Berührung seiner Haut, seine Locken zwischen meinen Fingern ließen mich meine Sorgen für einen Augenblick vergessen.

»Du wirst schon bald soweit sein, ich versprech’s dir«, flüsterte ich. »Du bist kein Geist des Waldes mehr … «

»Du musst nicht nach mir sehen«, flüsterte Rainelf. »Ich werde nach dir sehen.«

Ich hob meinen Kopf und musterte ihn lächelnd.

»Ja«, flüsterte ich. »Ja, das tust du!«

Es gab eine unausgesprochene Wahrheit zwischen uns – dass wir ohne den anderen nicht am Leben wären.

Die schwarze Brücke

Ich wartete, bis Rainelf wieder im Wald verschwunden war. Wir hatten über vieles gesprochen, die Wisentherden, die das Seenland im Herbst wieder verließen, und die Pilze, die gerade so zahlreich aus dem Boden schossen, dass man beinahe über sie stolperte. Ich fand nicht die richtige Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen, was mich im Moment so beschäftigte. Vielleicht war es besser so. Die Beziehung zu meinem Seelengeist war schließlich meine Sache, und ich würde unsere Probleme alleine lösen.

Ein wohliger Schauer überkam mich. Ich war lange nicht in die Geisterwelt gewandelt. Für mich, die ich nie darin gefangen gewesen war, war es eine Welt voller Geheimnisse und Wunder. Gefährlich, ja, vor allem, wenn man noch so unerfahren war wie ich. Im Gegensatz zu manchen anderen Wanifen bewegte ich mich dort genauso langsam wie in der Menschenwelt, was mich schon einmal zum Ziel für ein paar Quellwichte gemacht hatte. Mittlerweile konnte ich dort allerdings auf die Hilfe meiner Geister hoffen, wenn es nötig sein sollte. Neben meinem Seelengeist, dem großen Ata, waren das der Percht, ein wilder Geist des Winters, den ich unwissentlich errungen hatte, als ich seinen Meister, Salm, in Notwehr getötet hatte, und der Alb, der Menschen töten konnte, indem er sie ihre schlimmsten Albträume erleben ließ. Der Alb war der Seelengeist von Jewas gewesen, einem durchtriebenen Wanifen, der es beinahe geschafft hatte, mich im Duell zu töten, ehe Ata mir zu Hilfe gekommen war. Seither hatte ich allerdings kein einziges Mal über mich gebracht, die Fähigkeiten des Albs zu nutzen.

Die Grenze zwischen den Welten zu überschreiten, war verhältnismäßig einfach. Ich lief zu einem der Wechselsteine hinüber und hob meinen Eibenstab. Die beiden Wechselsteine, die alle Kraftplätze begrenzten, bildeten das Tor. Ein Schlag mit dem Stab auf einen Wechselstein brachte einen in die Geisterwelt, ein weiterer wieder zurück. Die Wechselsteine hatten noch einen anderen, weniger angenehmen Zweck: wenn sich zwei Wanifen duellierten, schlugen sie dreimal auf die Wechselsteine, um das Zwiefeld zu schließen. Das bedeutete, dass keiner der beiden den Kraftplatz verlassen konnte, bis einer den anderen tötete.

Ich ließ den Eibenstab auf den Wechselstein donnern. Ein kühler Hauch, mehr war es nicht, was man beim Wandeln in die Geisterwelt verspürte. Ich erinnerte mich, wie ich meinen Übertritt in diese Welt beim ersten Mal gar nicht bemerkt hatte und verzweifelt nach dem Dorf der Urukus gesucht hatte, das dort natürlich nicht existierte. Während die Tiere des Waldes in beiden Welten zuhause waren, blieb die Geisterwelt den meisten Menschen verschlossen.

Ich atmete tief ein und schloss die Augen. Die Kreaturen der Geisterwelt konnten wunderschön sein, aber es gab auch jene, vor denen man sich in Acht nehmen musste:

Die wilden Rudel der Perchten, die sich in felsigem Gelände aufhielten. Quellwichte, die gerne junge Mädchen in die Irre führten. Der Tatzelwurm, der in feuchten Höhlen seine Kinder, die Grottenolme, bewachte und viele mehr, die ich, wenn überhaupt, nur aus Erzählungen kannte.

»Percht«, rief ich. »Komm zu mir.«

Ich setzte mich auf den Boden der Lichtung und wartete.

Aus dem Wald drangen die eigentümlichsten Geräusche und Rufe. Mein Meister, Kauket, hatte mit großer Ausdauer versucht, mir beizubringen, die Anwesenheit der Geister zu erspüren, und mit viel Übung hatte ich tatsächlich große Fortschritte gemacht. Hatte ich bei meinen ersten Ausflügen hierher nur die normalen Geräusche des Waldes wahrgenommen, so hörte ich jetzt die Rufe, die Schritte und das Flügelschlagen aller Geister, die sich in meiner Nähe befanden.

Am Anfang hatte ich das als gruselig empfunden, schließlich konnte ich die Geräusche noch nicht den einzelnen Geistern zuordnen, aber mit jedem Besuch gewöhnte ich mich mehr daran. Diese Laute gehörten genauso hierher wie das Vogelgezwitscher.

Ein Bersten im Unterholz ließ mich kurz zusammenfahren und zauberte dann ein Lächeln auf meine Lippen. Eine riesenhafte Gestalt sprang auf die Lichtung, ein Albtraum aus wehendem Fell und gebogenen Hörnern.

Der Percht brüllte und stampfte auf mich zu. Er bleckte seine Zähne. Ein Paar gelbe Augen fixierten mich, wie ein Eisvogel den Fisch an der Wasseroberfläche.

»Du bist spät, alter Flohsack«, erklärte ich unbeeindruckt.

Der Percht stieß ein genervtes Knurren aus und schubste mich mit einer seiner gewaltigen Pranken. Er hatte dazu gelernt und seine freundschaftlichen Rempler warfen mich nicht mehr zu Boden, sondern ließen mich allenfalls ein paar Schritte zurücktaumeln.

»Freut mich, dass du so unternehmungslustig bist«, meinte ich grinsend. »Ich brauche deine Hilfe! Was hältst du von einem kleinen Ausflug?«

Der Percht rollte mit seinen furchterregenden Augen und streckte mir seine lange Zunge entgegen, etwas, das er gern tat, weil er wusste, dass es mich ärgerte.

Er bückte sich und wartete, bis ich auf seinen Rücken geklettert war und meine Arme um seinen Hals geschlungen hatte.

Eigentlich hasste ich es, so zu reisen. Mir wurde dabei meistens furchtbar übel, aber es reduzierte einen Zweitagesmarsch zu einer Angelegenheit eines Abends. Nach Ataheim im Norden des Sees wäre es noch um einiges weiter gewesen, aber für das, was ich zu tun gedachte, reichte auch das dem Mondsee näher liegende Südufer.

Der Percht schnaubte und katapultierte sich in die Luft. Ich schloss die Augen und versuchte mich mit aller Kraft festzuhalten, der Wind blies mir ins Gesicht, und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als der Percht wieder dem Boden entgegen segelte.

Ich hätte gerne die Augen offen behalten, um vielleicht den ein oder anderen Bewohner der Geisterwelt zu erspähen, aber bei dem ständigen Auf und Ab und der halsbrecherischen Geschwindigkeit, mit der wir uns durch den Wald bewegten, hätte ich mich nur übergeben müssen.

Die Sonne war bereits untergegangen, als ich für einen winzigen Augenblick die Augen öffnete, und es war fast unmöglich, Einzelheiten in dem flirrenden Gewirr aus Ästen und Blättern wahrzunehmen.

Eine leise Unruhe beschlich mich. Mein Zusammentreffen mit Rainelf hatte mich völlig die Zeit vergessen lassen. Kauket hatte mich immer davor gewarnt, nach Sonnenuntergang in die Geisterwelt zu wechseln. Nach Sonnenuntergang würden die weniger angenehmen Zeitgenossen hervorkommen, hatte er immer gemeint. Nun, damit musste ich jetzt wohl klar kommen. Immerhin beschützte mich der Percht … und etwas wesentlich Mächtigeres, sollten die Dinge aus dem Ruder laufen.

Es war dunkel, als der Percht ruckartig anhielt, sodass ich beinahe von seinem Rücken geplumpst wäre. Meine Füße fühlten sich wackelig an, als ich vom Rücken des Perchts herunterkletterte. Dankbar, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, blickte ich mich um. Ich hörte das Gurgeln von Wasser. Die Umrisse der Bäume um mich herum zeichneten sich deutlich im Mondlicht ab. Zwischen ihnen erkannte ich das Glitzern der Seeoberfläche.

Ich signalisierte dem Percht zurückzubleiben und folgte dem Lauf eines kleinen Bächleins, das ein paar Schritte hangabwärts in den See mündete.

Das Mondlicht erschien mir ungewöhnlich hell, als ich den Wald verließ und ans Ufer hinaus trat. Hier, am Südufer des Ata Sees, fiel das Ufer steil ab, und mir blieb nur ein schmaler Felssims, auf dem ich stehen konnte, während unter mir der Grund des Sees in ungeahnte Tiefen hinabstürzte. Die Atajäger nannten diesen Ort schwarze Brücke. Es wurde gemunkelt, dass, wenn man sich hier dem Ufer näherte, der Geist des Sees einen in die schwarzen Abgründe hinabzog und nie wieder frei gab. Wie jede Legende enthielt sie einen Funken Wahrheit. Ata hielt sich erstaunlich oft an diesem wilden Ort auf—aber das war nichts, was mich ängstigte.

Ein jähes Gefühl von Heimweh erfasste mich, als ich die glitzernden Fluten des großen Sees vor mir betrachtete. Mein Blick richtete sich auf den Horizont, wo in der Menschenwelt meine Heimat Ataheim lag. Ich musste an die Menschen denken, die ich dort zurückgelassen hatte, ohne mich zu verabschieden. Meinen Ziehvater Galsinger, Alfanger den alten Heiler und Nephtys, die Schwester meines Meisters Kauket. Sie vermisste ich von allen am meisten. Durch ihre warmherzige Art hatte ich zum ersten Mal erfahren, was es bedeutete, Teil einer Familie zu sein.

So sehr es mich reizte, dem Dorf einen nächtlichen Besuch abzustatten, es war nicht der Grund, warum ich hierhergekommen war.

Ich atmete tief durch und lauschte dem langgezogenen Ruf eines nahen Waldvogels, dann streckte ich meinen Arm aus und hielt meinen Stab über das Wasser.

»Ich bin deinetwegen gekommen«, flüsterte ich.

Das Wasser kräuselte sich unter der Spitze meines Stabs, und ich wusste, mein Ruf würde sein Ziel finden.

Vorsichtshalber wich ich ein wenig von der Felskante zurück. Seltsame Wellen bildeten sich auf der Seeoberfläche und bewegten sich auf mich zu. Die große Fläche, die sie auf der Wasseroberfläche einnahmen, ließen einen an eine Strömung oder ein jähes Aufbrausen des Windes denken, aber ich wusste es besser.

Die Bäume hinter mir begannen zu knarzen, und für einen Augenblick schob sich eine Wolke vor den Mond. Als sie den Mond wieder freigab, war sein Licht nicht das einzige, was im Wasser funkelte. Etwas glitt, vorwärtsgetrieben durch das Schlagen riesiger Schwingen, durch das Wasser. Es sah so unwirklich aus, der Kontrast zwischen den schwarzen Fluten des Sees und dem silberfunkelnden Gefieder von Ata, dem großen Wassergeist.

Ich erinnerte mich noch lebhaft daran, wie er zum ersten Mal leibhaftig erschienen war. Damals hatte ich diese gewaltige Wasserkreatur fliegen sehen, begleitet von Donner und Blitz war er über meinen Gegner hereingebrochen. Selbst die Bäume in seiner Nähe hatten sich in seiner Gegenwart gebogen, als würden sie sich vor seiner Kraft verneigen.

Jetzt war es anders…

Die gigantische Gestalt Atas tauchte vollkommen lautlos auf mich zu. Ich hockte mich an die Kante des Felsens und blickte zu ihm hinab. Wie elegant er sich unter Wasser bewegte – der gestreckte Hals, die wallende, blaue Mähne, die schlagenden Schwingen, als würde er fliegen.

Ich tauchte meinen Arm ins Wasser des Sees und berührte die Spitze von Atas Schnabel.

In diesem Moment hob der Wassergeist langsam den Hals aus dem Wasser, bis er aus Baumhöhe zu mir herunter starrte. Wasser perlte von seinem Gefieder ab und rann in kleinen Strömen zurück in den See.

Ich suchte seine grauen Augen. Diese Augen konnten einem das Gefühl geben, in Flammen zu stehen und gleichzeitig zu Eis zu werden – jetzt erwiderten sie meinen Blick eher lustlos.

»Du hast mir gefehlt«, murmelte ich.

Nichts, was ich sagen konnte, wäre der Wahrheit nähergekommen. Obwohl ich Ata für eine Weile zurück in seine Heimat geschickt hatte, um die Mondleute durch seine Gegenwart nicht zu verängstigen, verging kein Tag, an dem ich nicht unter seiner Abwesenheit litt. Diese Gefühle mussten Teil des Bands sein, das ein Wanife mit seinem Seelengeist teilte.

Ata schloss die Augen und senkte kaum merklich das Haupt.

»Komm mit mir. Es … es ist mir egal, ob dich jemand fürchtet. Ich möchte sehen, was wir gemeinsam erreichen können. Du warst noch nie der Seelengeist eines anderen Wanifen, das muss doch etwas bedeuten!«

Atas mächtige Gestalt schaukelte leicht auf den Wellen. Ich konnte nicht erkennen, ob meine Worte irgendeine Reaktion bei ihm auslösten.

Tränen stiegen mir in die Augen.

»Warum bist du so teilnahmslos geworden!«, rief ich. »Was habe ich falsch gemacht?«

Ein mattes Grollen drang aus Atas Kehle.

»Ich habe deine Stimme gehört, als du mich vor dem Ertrinken gerettet hast. Sprich mit mir! Ich möchte ja die Wanife sein, die du dir erwählt hast, aber sag mir, was ich tun soll!« Ata senkte sein mächtiges Haupt und wich meinem Blick aus.

»Gut«, rief ich. »Gut, dann lass es doch! Wenn du lieber dieser blasse Schatten bleiben willst, nur zu!«

Ata wandte sich ab. Langsam tauchte sein Kopf unter Wasser.

»Warte!«, murmelte ich. »Warte, es tut mir ja leid, aber … « Ein Schwall Wasser traf mich und durchnässte meine Kleider. Als ich mir meine triefenden Haare aus dem Gesicht wischte, sah ich Atas funkelnde Gestalt in der Tiefe verschwinden.

Ich stieß einen frustrierten Schrei aus und wandte mich ab. Die Wahrheit war, dass ich Ata nicht nur wegen der Mondleute hierher geschickt hatte. Die Wahrheit war, dass ich es nicht mehr ertragen hatte, ihn so zu sehen…

Ich wandte mich ab und stieg langsam den Hang hinauf, wo der Percht mich mit einem unwirschen Knurren begrüßte. Für einen Augenblick krallte ich meine Finger in seinen Pelz und schloss die Augen. Mit einem unhörbaren Seufzen schwang ich mich wieder auf seinen Rücken und einen Wimpernschlag später segelten wir durch den Wald zurück ins Land der Mondleute.

Glücklicherweise trockneten meine Kleider während des wilden Rittes auf dem Rücken des Perchts; Kälte spielte in der Geisterwelt keine Rolle, aber einmal zurück in der Menschenwelt konnte sie tödlich sein.

Am Kraftplatz angekommen, marschierte ich ohne große Umschweife zu einem der Wechselsteine und schlug mit meinem Stab darauf. Die Gestalt des Perchts verblasste, und ich spürte die kühle Nachtluft auf meiner Haut.

Vielleicht – mit etwas Zeit – würde Ata von ganz allein wieder zu dem werden, der er war.

Wenn er mir nicht zeigte, was ihm fehlte, konnte ich ihm auch nicht helfen. Nur war das eben nicht so leicht zu akzeptieren, bei einem Wesen, mit dem man auf so tiefe Weise verbunden war, wie Ata mit mir.

Ich seufzte und blickte mich um. Von Ferne drang der helle Ruf eines Käuzchens an mein Ohr, sonst war alles ruhig.

Ich machte einen Schritt, als etwas unter meinen Ledersohlen knirschte. Ich blieb verwirrt stehen und hob meinen Fuß. Was war das? Ich bückte mich, um mehr erkennen zu können.

Das Gras …

Selbst im Mondlicht erkannte ich, dass etwas damit nicht stimmte. Ich fuhr mit der Hand über die Spitze der Halme und beobachtete, wie sie unter meinen Fingern zerbröckelten und zu Staub zerfielen. Ich kniff die Augen zusammen. Da war noch etwas … Vor mir erkannte ich einen Fußabdruck im feuchten Waldboden. Ein nackter Fuß …

Rainelf war der einzige Mensch, den ich kannte, der barfuß lief, und zwar zu jeder Jahreszeit. Aber irgendwie war mir noch nie aufgefallen, dass er Spuren hinterließ und schon gar nicht totes Gras.

Ein Hauch von Angst erfasste mich. Wenn das nicht Rainelfs Fußabdruck war, konnte das nur eines bedeuten: während meines Ausflugs in die Geisterwelt war ein fremder Wanife hier gewesen. Er hatte nicht die Nähe des Dorfes gesucht, um mich im Licht des Tages zu begrüßen, sondern war in der Dunkelheit der Nacht an diesen Ort gekommen. Ich richtete mich schlagartig auf. Mein Blick irrte hektisch zwischen den Stämmen der Bäume umher. Wenn er hinter mir her war, konnte er noch immer in der Nähe sein. Er musste mich hier töten, wenn er meinen Seelengeist wollte, denn außerhalb eines Kraftplatzes wirkte der Zauber nicht. Ein Zweig knackte im Unterholz und ließ mich zusammenfahren. Wahrscheinlich nur ein Tier … Ich versuchte, mich wieder zu beruhigen. Vielleicht war er nur auf der Durchreise, vielleicht hatte er nur einen Ort gesucht, um die Geisterwelt zu verlassen, und war weitergezogen.

Ich atmete tief durch. Zeit, nachhause zu gehen. Morgen würde ich mit Rainelf beraten, was wir wegen des Fremden unternehmen würden.

Am Horizont türmten sich Wolken auf. Ich sollte mich beeilen, sonst würde ich noch in ein Gewitter geraten.

Ich machte ein paar Schritte aus dem Kraftplatz heraus und verharrte. Meine Finger krallten sich um meinen Eibenstab. Neben meinem Schatten war ein zweiter aufgetaucht, länger und massiger.

»Gansss alaiiin?«

Ich spürte den Atemhauch des Fremden in meinem Nacken. Diese Stimme … ich hatte noch nie jemanden so reden gehört: als hätte er zum ersten Mal versucht zu sprechen.

»Ata«, wisperte ich. »Ich brauche dich.«

Kalter Schweiß löste sich aus meinen Poren. Mein Herz schien meinen Brustkorb zerschlagen zu wollen.

Du darfst nicht zögern, Ainwa! Alles, was du hast, ist deine Entschlossenheit!

Mit einem Schrei fuhr ich herum und schlug mit aller Kraft auf den Fremden ein.

Nur, dass da niemand mehr war…

Ich keuchte und wich einen Schritt zurück. Er konnte nicht einfach verschwunden sein. Wahrscheinlich war er ein ausgezeichneter Wandler, ähnlich wie Rainelf. Er musste am Rand des Kraftplatzes gestanden haben und blitzschnell in die Geisterwelt verschwunden sein. Was bedeutete, er konnte jeden Augenblick…

Ein starker Modergeruch stieg mir in die Nase. Ich wollte herumfahren, aber etwas packte mich an den Haaren und riss meinen Kopf zurück. Ich schrie, aber der Schrei wurde von einer kalten Hand erstickt. Ohne dass ich mich wehren konnte, zog der Angreifer mich zu sich heran, bis er mich mit dem Rücken an seine Brust gepresst hielt. Ich versuchte ihn mit meinem Stab zu schlagen, aber der Angreifer schien meine Hiebe nicht mal zu spüren. Ich versuchte vergeblich, mich seinem Griff zu entwinden. Ich befand mich außerhalb des Kraftplatzes. Aus der Geisterwelt war keine Hilfe zu erwarten.

Wenn ich schielte, konnte ich seinen Handrücken erkennen. Seine Haut war irgendwo zwischen braun und schwarz und von Flechten bewachsen wie die Rinde eines Baums. Welcher Kreatur war ich hier in die Falle gegangen?

Ich konnte vor Angst nicht mehr klar denken. Es gab keinen Ausweg mehr. Er konnte mich umbringen, einfach so, und etwas sagte mir, dass er genau das tun würde.

Ich brüllte in seine modrige Handfläche hinein und versuchte mich gegen seinen Griff aufzubäumen. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er mich noch näher an sich heran.

Etwas Feuchtes berührte meine Wange.

Ich versuchte den Kopf wegzudrehen, aber sein Griff ließ nicht die geringste Bewegung zu.

»Gansss allaiiiin?«, raunte mir eine Stimme ins Ohr. Die Art, wie seine Stimme am Ende des Wortes hoch wie die einer Frau wurde, ließ mich erschaudern.

Ein Schnauben erscholl, und etwas wie ein Schmatzen.

»Iiiiiiich … iiiiich!« Wieder dieses abscheuliche Schmatzen.

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.

»Iiiiicch hol miiiiiiiiirrr deine Ssseele!«

Er drehte sich um und begann mich wieder Richtung Kraftplatz zu schleifen. Natürlich, er musste mich auf dem Kraftplatz töten, wenn er mir Ata stehlen wollte – und die Hand auf meinem Mund verhinderte, dass ich einen meiner Geister rief…

Spätestens jetzt gewann die Panik endgültig die Oberhand. Ich begriff, dass ich hier sterben würde, allein, genau wie Séamon, und Ata würde in die Hände dieses Dings fallen …

Nein, das durfte ich nicht zulassen. Ich brauchte irgendeine Ablenkung … Nur für einen winzigen Augenblick. Genau dann, wenn wir die Grenze zum Kraftplatz passierten, sonst war ich verloren.

Ich schloss die Augen. Der Percht musste noch in der Nähe sein, er musste mitbekommen haben, was hier passierte, auch wenn er sich in der Geisterwelt befand. Kraftplätze waren Knotenpunkte zwischen den Welten. Vielleicht…

Ich konzentrierte mich. Vergiss, dass du keine geschickte Wandlerin bist, Ainwa. Du musst es schaffen, den Percht durch deine Gedanken zu leiten.

»Percht! Krach!«, dachte ich mit aller Kraft.

Nichts. Vielleicht hatte er mich gehört, stampfte brüllend auf und ab, riss kleine Bäume aus und warf sie durch die Luft…

Doch hier in der Menschenwelt regte sich nicht einmal ein Grashalm. Ich erinnerte mich daran, wie Atas Gegenwart den See toben lassen konnte, wie sich selbst in meiner Welt die Baumriesen gebogen hatten, wenn er in der Nähe war. Aber Ata war nicht hier. Selbst wenn er meinen Ruf gehört hatte: ich spürte, dass er mich noch nicht gefunden hatte.

»Sooo waaarrrm«, säuselte der Fremde, während er mich am Wechselstein vorbeizerrte. »Wärrrme miiiich«, krächzte er.

Wieder fühlte ich etwas Feuchtes auf meinem Hals. Die Hand, die sich in mein Haar verkrallt hatte, sprang blitzschnell an meine Kehle und drückte zu.

»Percht!«

Ein lautes Knacken erscholl im Unterholz. Ein Ruck ging durch die Gestalt des Fremden. Für einen winzigen Augenblick lockerte sich sein Griff.

Mit aller Kraft biss ich in die Finger, die mir den Mund zu drückten. Ich hörte ein furchtbares Knirschen, als hätte ich wirklich auf ein Büschel Flechten gebissen. Was, wenn der Fremde überhaupt keinen Schmerz spüren konnte? Was, wenn er überhaupt kein Mensch war?

Ich war beinahe erleichtert, als ich plötzlich Blut schmeckte und das Aufheulen des Fremden hörte. Sein Griff lockerte sich weiter. Ich warf meinen Kopf zur Seite und plötzlich waren meine Lippen frei.

»Percht!«, brüllte ich.

Ein wildes Fauchen erscholl. Dem Fremden blieb kaum Zeit, ein überraschtes Zischen auszustoßen, als ihn die Hörner des Perchts mit voller Wucht rammten. Seine spitzen Nägel rissen die Haut auf meiner Brust auf, als er zurückgeschleudert wurde. Die Wucht des Stoßes ließ auch mich für einen Augenblick taumeln.

Mein Stab! Ich hatte ihn fallen gelassen, als der Percht uns gerammt hatte. Ich bückte mich und tastete panisch über den Boden. Ohne meinen Stab war ich verloren, ohne ihn würde ich meine Kräfte nicht bündeln können.

Eine Welle der Erleichterung erfasste mich, als sich meine Finger um das glatte Eibenholz schlossen. Jetzt konnte ich kämpfen, jetzt konnte ich mich wehren.

Ich sprang auf und blickte mich gehetzt um.

Ich musste den Fremden finden, ihn kampfunfähig machen, falls der Stoß des Perchts das noch nicht erledigt hatte. Meine Glieder zitterten wie Grashalme im Wind. Schluss jetzt! Es war noch nicht vorbei. Ich musste stark bleiben.

Im Schatten der alten Rotbuche glaubte ich eine massige Gestalt liegen zu sehen. Ein leises Wimmern drang an mein Ohr. Der Fremde musste verletzt sein. Er wand sich hin und her und versuchte vergeblich, sich aufzurappeln.

Ich wollte diesem Kerl nicht in die Nähe kommen, selbst jetzt nicht. Er könnte immer noch eine Gefahr sein. Dass er nicht aufstehen konnte, hieß nicht, dass er mir nicht auch so einen seiner Geister auf den Hals hetzen konnte.

»Percht«, flüsterte ich. Das Wimmern der Gestalt wurde ein wenig lauter. Etwas an der Art, wie sie sich bewegte, irritierte mich. Es wirkte nicht … menschlich.

Kein Zögern, Ainwa, wenn du nur die Idee eines Angriffs vermutest, töte ihn!

Ich näherte mich der stöhnenden Gestalt vorsichtig. Seine Bewegungen wurden immer schwächer und erlahmten schließlich völlig. Auch das Wimmern wurde leiser, verstummte…

Meine Sicherheit wurde mit jedem Schritt größer. Die Verletzungen des Fremden mussten noch schwerer sein, als ich gedacht hatte. Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen. Der Stoß eines Perchts konnte Bäume entwurzeln, und was war der zerbrechliche Körper eines Menschen schon gegen den mächtigen Stamm einer Buche?

Und was jetzt? Wenn ich den Fremden hier ließ, erholte er sich vielleicht doch noch und dann…

Du wirst ihn töten müssen, Ainwa. Und dann wirst du ihn ins Dorf schleifen, damit du ihn Rainelf zeigen kannst, bevor die Tiere ihn holen. Vielleicht wird er wissen, wer er ist, woher er kommt…

Ich hatte den Schatten der alten Buche erreicht. Die Gestalt, die vor mir im Gras lag, bewegte sich kaum noch.

Ich umfasste meinen Stab mit beiden Händen. Der Fremde musste ein wahrer Riese sein.

Erst aus der Nähe erkannte ich, wie groß die massige Gestalt vor mir wirklich war. Wo war sein Kopf? Wenn ich ihn töten wollte, musste ich auf den Kopf zielen.

Ein leichter Wind kam auf. Zwischen den zitternden Blättern der Rotbuche fielen verirrte Mondstrahlen auf die Gestalt des Fremden, sein langes Fell, die Hauer und die gebogenen Hörner …

»Percht!«, schrie ich erschrocken auf und bückte mich zu meinem Geist hinunter.

Ein schmerzerfülltes Wimmern wurde laut, als ich über seinen Körper strich.

»Was ist passiert?«, flüsterte ich ungläubig. »Wer … «

»Ganssss allaiiiiiiiiin?«

Ich erstarrte, während die geschundene Gestalt des Perchts vor mir zu verblassen begann.

Ja, dachte ich. Jetzt war ich wirklich allein.

Ich sprang auf und wandte mich um. Der Fremde stand einige Schritte vor mir im Mondlicht. Nicht einmal besonders groß, eher stämmig. Hätte er nicht gesprochen, ich hätte ihn vermutlich für einen Fels oder einen Baum gehalten, so reglos stand er vor mir. Seine Gestalt wirkte seltsam steif, die Arme standen von seinem Körper ab wie die Äste einer Fichte.

Von seinem Gesicht konnte ich nicht viel erkennen, nur sein struppiges Haar glänzte matt im Mondlicht. War dieses Ding wirklich ein Mensch?

»Wer bist du?«

Der Kopf der Gestalt neigte sich kaum merklich zur Seite.

»Wer biesssst duuuu?«, fragte eine hohe Stimme.

Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam. Alles an mir wollte auf der Stelle kehrtmachen und davonlaufen.

»Sei still«, schrie ich, »oder du wirst es bereuen.«

Die Gestalt des Fremden regte sich nicht. Selbst in meinen Ohren hatte die Drohung hohl geklungen. Wenn Ata endlich hier wäre, könnte er mir nichts anhaben, dann wäre ich unbesiegbar … Aber nichts verriet die Gegenwart meines mächtigen Seelengeists. Ich war allein.

»Wer biesssst duuuu?«, äffte er mich nach. »Duuuu biiiisssst ch … « Ein seltsames Röcheln erscholl, als würde ihm das Aussprechen der Worte große Mühe bereiten.

» … schwacchhhhhhhhh!«

Mit ein paar linkischen Schritten begann der Fremde auf mich zuzutaumeln. Er spielt mit mir, dachte ich. Ich hatte am eigenen Leib erfahren, wie schnell er sich bewegen konnte. Er wollte es auskosten.

Ein starker Wind kam auf. Wolken verdeckten den Mond. Der Fremde hielt in der Bewegung inne und blickte zum Himmel, während die Bäume am Waldrand zu ächzen begannen.

Ich schnaubte abfällig und schenkte dem Fremden ein triumphierendes Lächeln.

»Der Wind hat sich gedreht, du Ratte!« Der Kopf des Fremden ruckte herum und fixierte mich.

»Jetzt werden wir sehen, wer von uns beiden schwach ist!« Ich streckte meinen Stab hoch in die Luft. »Ata!«

Die Luft um uns herum begann mit einem Mal zu verschwimmen. Lautes Donnergrollen erscholl, und ein riesenhafter Schatten tauchte zwischen mir und dem Fremden auf.

Der Wanife legte den Kopf in den Nacken, als das Licht des Mondes sich auf Atas funkelndem Gefieder brach.

Ein tiefes Grollen erscholl, das die Erde erzittern ließ.

Der fremde Wanife zischte wie eine Kreuzotter und taumelte ein paar Schritte zurück.

Wie auch schon beim ersten Mal, als ich Ata in diese Welt gerufen hatte, fühlte ich das Band zwischen uns auch diesmal, wie etwas, das an meinem Herzen zog, stark, aber nicht unangenehm.

Ata ließ sich auf die Vorderkanten seiner Schwingen nieder, als wäre er eine riesige funkelnde Fledermaus, und senkte sein Haupt.

Er ist noch immer so lethargisch, schoss es mir durch den Kopf.

Ich verscheuchte den Gedanken. Ata war der mächtigste Geist, den ich kannte. Selbst in diesem Zustand würde er stärker sein als jeder Gegner, den ich mir vorstellen konnte, und bis jetzt hatte der Fremde nicht einmal einen Geist zu seiner Verteidigung gerufen. Vielleicht konnte er es nicht mal – er trug keinen Stab. Seine Gestalt war in einigen Schritten Entfernung erstarrt und blickte zu Ata hinauf, halb von ihm weggedreht, als hätte er versucht wegzulaufen und es sich plötzlich anders überlegt.

Er hätte davonlaufen sollen. Niemand konnte es mit Ata aufnehmen, das musste er doch spüren. Nun, wenn er den Kampf wollte … Ich hatte kein Mitleid mit dieser Kreatur. »Ata!«, rief ich und richtete meinen Stab auf den Fremden. »Greif ihn an!«

Ich verbreiterte meinen Stand. Gleich würde hier die Hölle losbrechen. Wenn Atas Kräfte entfesselt wurden, blieb kein Stein auf dem anderen. Wenn ich es nicht schaffte, die Kontrolle zu behalten, konnten diese Kräfte sogar mich selbst das Leben kosten.

Ata hob leicht den Kopf und stieß mit seinem Schnabel nach dem Fremden.

Der löste sich für einen Moment scheinbar in Luft auf und tauchte ein paar Schritte weiter entfernt wieder auf, noch immer in der gleichen Position, als hätte er sich überhaupt nicht bewegt.

»Was war das«, flüsterte ich. »Ata, töte ihn!«

Wieder warf ich meinen Arm nach vorne und richtete meinen Stab auf den Fremden.

Ein müdes Grollen erschallte. Wieder stieß Ata mit einer langsamen Bewegung nach dem Fremden, der ihm beinahe spielerisch auswich.

Sogar ich hätte diesem Angriff ausweichen können. Was immer Ata auf der Seele lastete, er musste es sofort ablegen, sonst war ich dem Fremden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Mein Lehrer, Kauket, hatte mir beigebracht, dass der Wanife im Duell die Bewegungen seines Geistes leiten konnte.

Ich breitete mit einer raschen Bewegung meine Arme aus. Ata hob seine gewaltigen Schwingen und senkte sie langsam wieder. Der Sturm, auf den ich gehofft hatte, war völlig ausgeblieben.

»Ata«, murmelte ich, »was…«

Ein seltsam zischendes Geräusch ließ mich innehalten, genau wie zuvor, als der Fremde versucht hatte, Worte hervorzuwürgen. Ich beobachtete, wie er sich mit einer langsamen Bewegung Ata und mir zuwandte.

Er streckte seine Hand in meine Richtung.

»Sss… Sssse… Ssselensunslerrr!«

Meine Gedanken überschlugen sich. Ich war mir nicht sicher, aber der Fremde musste gerade seinen Geist gerufen haben. Gut so! Vielleicht war es das, was Ata brauchte, um in Kampflaune zu kommen. Eine Herausforderung!

Ich kniff die Augen zusammen und wartete gespannt und ängstlich zugleich auf die Kreatur, die gleich aus der Geisterwelt auftauchen würde … aber nichts geschah.

Der Fremde hielt noch immer die Hand in meine Richtung ausgestreckt. Für einen Moment sah es aus, als würde er irgendetwas Klumpiges in der Hand halten, etwas, das sich bewegte.

Ein ungutes Gefühl beschlich mich.

»Ata, greif an!«

Ata hatte die Szene scheinbar teilnahmslos beobachtet, jetzt richtete er sich ein wenig auf und stieß auf den Fremden herab. Wieder war die Bewegung zu langsam, ein Schatten dessen, was in Atas Fähigkeiten lag.

Der Fremde wirbelte an Atas Schnabel vorbei, holte aus und warf etwas nach Ata.

Ich fühlte einen leichten Stoß gegen meine Brust. Ata stieß ein helles Brüllen aus und schüttelte sich.

Beunruhigung … Schmerz …

»Ata, was ist mit dir?«