Die Weihnachtsbraut - Barbara Büchner - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Weihnachtsbraut E-Book

Barbara Büchner

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als die geschiedene Bibliothekarin Fiona Rothenstein per Annonce den attraktiven Maurice Mersenbeck kennenlernt, findet sie den Mann etwas wunderlich, aber durchaus anziehend. Doch dann erfährt sie, dass Maurice jedes Jahr vor Weihnachten eine Bekanntschaft sucht – und keine dieser Frauen nach Weihnachten wieder gesehen wurde. Hängt ihr Verschwinden mit den seltsamen, archaischen Zeremonien zusammen, die die Familie Mersenbeck zum Julfest feiert? Ein bitter-süßer Liebesroman in lovecraftscher Tradition.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Barbara Büchner

 

 

DAS FAMILIENRITUAL

 

 

Edition Barbara Büchner

Band 5

 

 

 

Ashera Verlag

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

In der EDITION BARBARA BÜCHNER sind erschienen:

Der schwarze See, Lovecraftscher Roman

Der Leichenräuber von Wien, Krimi

Der verschleierte Orden, düstere Phantastik

Die Weihnachtsbraut, Lovecraftscher Roman

Das Familienritual, düstere Phantastik

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2021 dieser Ausgabe by Ashera Verlag

Hauptstr. 9

55592 Desloch

[email protected]

www.ashera-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder andere Verwertungen – auch auszugsweise – nur mit Genehmigung des Verlags.

Covergrafik: iStock

Innengrafiken: AdobeStock, iStock

Szenentrenner: AdobeStock

Coverlayout: Atelier Bonzai

Redaktion: Alisha Bionda

Lektorat & Satz: TTT

Vermittelt über die Agentur Ashera

(www.agentur-ashera.net)

 

Dreh dich nicht um, der Plumpsack geht um.

(Kinderlied)

 

 

Inhalt

21. Juni, nachts

22. Juni, abends

Die Lumpensuppe

22. Juni, nachts

23. Juni, tagsüber

Dr. Morlars Informationen

Cyril verändert sich

Der Zauberladen

Professor Murdochs Informationen

Die Künstlerkolonie

23. Juni, abends

23. Juni, nachts

24. Juni, tagsüber

24. Juni, nachts

25. Juni, morgens

Epilog

DIE AUTORIN

21. Juni, nachts

 

Wie unsympathisch ihr der Gedanke an die Reise nach Neu-England war, merkte die junge Pfarrersfrau Kathy Belham an den Träumen, die sie in der Nacht vor dem Aufbruch quälten. Sie waren verworren, lächerlich und bedrückend zugleich. In einer der kurzen Szenen, die ihr nach dem Erwachen mitten in der Nacht einfielen, ging sie an einem dunklen Strand entlang und beobachtete, wie sich eine Welle unter Wasser neben ihr her bewegte, als schwimme etwas Buckliges unter der Oberfläche. Sie versuchte davonzulaufen, aber mit jedem Schritt versanken ihre Füße tiefer im hemmenden Sand, während das unterseeische Ding bedrohlich näher und näher an die Wasserlinie heranpaddelte. In einem anderen Nachtmahr spürte sie kalte, hornige Finger ihren Rücken berühren und fuhr herum, aber da war nichts, nur eine Ranke der giftigen Fliegenwinde lag auf dem Boden. Schleim troff aus ihrem fahlweißen, trichterförmigen Kelch. Dann wieder überquerte sie in der Abenddämmerung eine Wiese, die gespenstisch vom Schein eines großen Feuers erhellt war. Eine Gruppe Männer stand daneben und warf Teile des überall herumliegenden Gerümpels in die Flammen. Manchmal krallten sich die Feuerzungen in Unverdaulichem fest, dann knatterte es wie Feuerwerk, und rotglühende Funken sprühten nach allen Richtungen auseinander. Manchmal fanden sie Süßes und Schmackhaftes, dann sprang die Flamme hoch und lodernd auf und drehte sich wie ein Wirbelwind. Kathy blickte in die Gesichter der Umstehenden, die im Feuerschein starr und glänzend und bronzefarben waren, und einen Moment leuchtete es wie eine Vision vor ihr auf: Gleich würde jemand einen metallenen Gong schlagen und schrille Musik aus gekrümmten Pfeifen erschallen, und rund um das lodernde Feuer würden in steifem Tanzschritt Gestalten in schwarzen perlenbesetzten Roben springen und Tänze zu Ehren abscheulicher Götter beginnen.

Einer dieser Träume jedoch war klar und deutlich das Wiederaufleben einer Erinnerung, die sie lange in sich vergraben hatte und die nun wieder ihr hässliches Haupt erhob.

Ihr Traum wiederholte ein schreckliches Erlebnis, das sie als kleines Mädchen gehabt hatte und über das sie nie mit jemand gesprochen hatte. Damals hatte Onkel Adrian eine kurze Zeit lang im Bostoner Haus ihrer Eltern gewohnt. Eines Abends, als ein heftiger Sturm durch die Straßenschluchten der Stadt fegte, war sie in den Korridor vor seinem Zimmer hinaufgestiegen, um die Fenster zu schließen. Sie war überrascht gewesen, den Schriftsteller dort vorzufinden, wie er vor dem runden Fenster an der Schmalseite des Korridors stand – reglos wie eine Schaufensterpuppe, den Blick auf die Stadt gerichtet, über der die von Blitzen erhellte Wolken dahinrasten. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, und plötzlich hatte sie eine eisige Beklemmung bei dem Gedanken empfunden, dass er ihre Schritte gehört hatte, dass er sich jeden Augenblick umdrehen und sie ansehen könne. Und dann war es tatsächlich geschehen! Ohne ein Glied zu rühren, wandte er sich, als stünde er auf einer sich drehenden Platte, und sein Blick senkte sich in den ihren. Trotz des Halbdunkels im unbeleuchteten Korridor hatte sie ihn deutlich gesehen, denn ein sonderbar violettes Licht umgab ihn. Nein, es schien von ihm auszuströmen wie der Glanz eines dämonischen Glühwürmchens!

Sie hatte wie versteinert dagestanden, den Blick in atemlosem Entsetzen auf sein Gesicht gerichtet. Es hatte sich in eine teuflische Fratze verwandelt!

Ein sympathischer Mann war Adrian Petri nie gewesen, aber selbst seine Feinde – von denen er nicht wenige hatte – mussten zugeben, dass er ein attraktiver Mann war. Eine kraftvolle, robuste Erscheinung mit leuchtend diamantblauen Augen unter struppig überhängenden Brauen und einem Busch frühzeitig weiß gewordener Haare darüber. An diesem schrecklichen Nachmittag jedoch stand sein Haar vom Schädel ab wie die Borsten eines Reisbesens. Das Gesicht darunter war seltsam in die Länge gezogen wie vom Löffel rinnender Teig und von einer abstoßend gelben Farbe, wie Kathy sie noch nie an einem lebenden Menschen gesehen hatte. Auch die Zähne waren unnatürlich lang geworden und ragten weit aus den Kiefern. Die blauen Augen glühten wie Gasflammen in den tiefen, kohlschwarzen Höhlen. Als Kathy unwillkürlich aufschrie und so ihre Anwesenheit verriet, stieß er einen grässlich zischenden Laut aus und kam auf sie zu, nicht mit menschlichen Bewegungen, sondern wie an Drähten durch die Luft gleitend. Er krümmte die erhobenen Hände, als wolle er sie im nächsten Augenblick an der Gurgel packen und erwürgen – und es waren nicht mehr die manikürten Hände eines gepflegten Mannes, sondern gelbe, schuppige Klauen wie die eines Reptils.

Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, war Kathy schreiend die Treppe hinuntergeflüchtet, in solch wilder Hast, dass sie sich um ein Haar Hals und Beine gebrochen hätte, und war erst in die Wohnung zurückgekehrt, als ihre Eltern von der Arbeit heimkamen. Sie hatte nicht gewagt, irgendjemandem davon zu erzählen. Zum Abendessen war Onkel Adrian wie gewohnt bei Tisch erschienen und hatte genauso ausgesehen wie immer. Aber Kathy wusste genau, dass sie nicht geträumt hatte und keiner Sinnestäuschung erlegen war, das bewies ihr schon sein Verhalten – der furchtbare, mörderische Blick, den er ihr über den Tisch hinweg zuwarf. Er besagte: Wage es nicht, irgendjemand davon zu erzählen, was du gesehen hast! Ich würde dich auf der Stelle töten, und ich müsste nicht einmal eine Hand heben, um es zu tun!

Sie traute ihm durchaus zu, dass er sie mit einem Bannspruch tötete. Der Schriftsteller hatte, so lange sie sich zurückerinnern konnten, eine Neigung zu ausgefallenen, zuweilen altertümlichen und morbiden, jedenfalls aber definitiv unchristlichen Formen der Religion gehabt, die sich auch in seinen Romanen niederschlug. Er hatte sich als Sucher bezeichnet – und soviel Kathy von ihm wusste, hatte er schon früh klargemacht, dass er am Ende seiner Suche Tiefgründigeres erwartete als „diesen pfäffischen Schwulst“.

Kathy erinnerte sich, dass sie einmal – zu der Zeit, als er bei ihren Eltern gewohnt hatte – heimlich einen Blick in sein Zimmer geworfen hatte, das zu betreten ihr streng verboten war. Noch Jahre später spürte sie den Schauder, der sie damals befallen hatte. Es war halb dunkel darin gewesen, denn Onkel Adrian hielt die Jalousien Tag und Nacht geschlossen. Was für grässliche Gemälde da an den Wänden hingen! Was für unheimliche Dinge in dem kleinen Glasschrank standen! Das Schlimmste war jedoch eine wächserne Hand, die auf einem Tischchen lag. Als Kathy den Kopf durch die Türspalte steckte, begann diese Hand plötzlich im Kreis herumzurucken wie eine Kompassnadel, bis der ausgestreckte Zeigefinger genau auf Kathy wies. War es wirklich eine wächserne Hand gewesen? Später hatte sie sich einzureden versucht, es sei irgendein Automat gewesen, ein mechanisches Spielzeug – aber die Hand hatte wie eine lebende menschliche ausgesehen!

Seit der Zeit war sie dem Onkel aus dem Weg gegangen, wenn er nach Boston kam, und war froh gewesen, als er die Stadt verließ und nach Neu-England zog, in das seltsame Städtchen am Meer, um dort zu heiraten und sich im Schoß seiner neuen Familie mit Inbrunst seinen okkulten Studien zu widmen. Von ihm gehört hatte sie dennoch immer wieder, teils weil andere Familienmitglieder ihr erzählten, mit welchen hämischen und arroganten Briefen er sie, die Unerleuchteten, bedachte – teils auch, weil seine Bücher große Erfolge wurden und immer wieder Berichte über ihn in illustrierten Magazinen oder auch im Fernsehen erschienen. Obwohl Kathy inzwischen zwanzig Jahre älter war, durchschauerte sie beim bloßen Anblick eines Fotos noch immer dasselbe Grauen, das sie damals im Flur vor seinem Zimmer empfunden hatte. Denn weil das Böse, wenn es einmal Wurzeln geschlagen hat, wuchert wie Efeu, war es Onkel Adrian mit jedem Jahr deutlicher anzusehen, was in seinem Inneren hauste. Die finsteren und abwegigen Forschungen, die er in der magieverseuchten kleinen Stadt am Meer betrieb, hatten ihn gezeichnet. Sein Gesicht war verkniffen, sein Blick glühte in einem unheiligen Feuer. Den Mann hatte etwas Grauenhaftes umgeben, eine Aura, die einem den Atem nahm. Einem normalen Menschen war es unmöglich, sich längere Zeit in seiner Gesellschaft aufzuhalten. Selbst die hart gesottenen Fernsehreporter hatten nicht verbergen können, wie unwohl sie sich in seiner Nähe fühlten.

Wenigstens über die Bestattung ihres ungeliebten Verwandten hatten sie sich nicht den Kopf zerbrechen müssen. Für die waren alle nötigen Anordnungen in seinem Testament getroffen worden, wie der Notar ihnen mitgeteilt hatte. Aber das war auch schon alles gewesen. Sie wussten nicht einmal genau, woran er eigentlich gestorben war, und ob das Begräbnis bereits stattgefunden hatte oder noch bevorstand.

Sie erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal den Brief des Notars gesehen hatte, dieses kurze und erstaunlich nichtssagende Schreiben, das die Mitteilung von Adrian Petris Tod enthielt und den Hinweis, sein Stiefsohn Cyril stünde nun völlig allein in der Welt.

Cyril.

Vor zwei Jahren hatte er seine Mutter verloren, und nachdem nun auch sein Stiefvater gestorben war, war er, elf Jahre alt und völlig allein in der Welt stehend, auf die Barmherzigkeit einer fernen Verwandtschaft angewiesen. Einer Verwandtschaft, die ihre Christenpflicht nur widerwillig wahrgenommen hatte.

Sie erinnerte sich an die Debatten unter Onkel Adrians Verwandten, die dieser Nachricht gefolgt waren.

Ich bitte dich, was kann das Kind dafür, wie sich Adrian benommen hat? Elf Jahre! Du weißt nicht einmal, ob sie dort irgendwie darauf eingerichtet sind, elternlose Kinder zu versorgen, es ist doch so ein entsetzliches Kaff.

Ich finde es überaus geschmacklos, dass man von uns erwartet, ein Kind dieser Person bei uns aufzunehmen. Die Tatsache, dass Adrian an solchen Leuten Gefallen gefunden hat ...

Du vergisst, dass er Schriftsteller war. Er fühlte sich fasziniert von der Atmosphäre dieses Ortes, von der Bevölkerung ...

Das ist in meinen Augen noch lange kein Grund, eine Person wie Marjorie Rogamer zu heiraten und ihr Kind bei sich aufzunehmen. Ich hoffe, das ist euch klar, dass es nicht einmal Adrians Kind ist. Wenn Jerome meint, wir müssten uns darum kümmern, dann sollte jedenfalls festgehalten werden, dass wir keine gesetzliche Verpflichtung dazu haben.

Zuletzt hatten sie sich, mit der plötzlichen allgemeinen Übereinstimmung, mit der solche Debatten zuweilen enden, auf die Lösung geeinigt Cyril abzuholen und dafür zu sorgen, dass er bis zu seiner Großjährigkeit auf irgendeine Weise angemessen gekleidet, ernährt und unterrichtet wurde. Es war zweifellos ein Werk der Barmherzigkeit, und wer von ihnen war für gute Werke prädestiniert? Jerome, der Pfarrer einer evangelischen Gemeinde war, und Kathy, die ihm als seine Frau jederzeit unentgeltlich beizustehen hatte. Kathy seufzte. Sie konnte sich selbst von der Sünde der Lieblosigkeit nicht völlig freisprechen. Sie hatte sich bereit erklärt, Cyril abzuholen, weil sie hoffte, damit ihren Teil getan zu haben und nicht mit weiteren guten Werken belastet zu werden. Auch wenn es sich nur um ein Kind handelte, sie wollte nichts mit den Leuten zu tun haben, mit denen sich Onkel Adrian versippt hatte – den Kalmans, den Rogamers, den Zorans, den Malchus´, den Jordans und den anderen alten Familien der Stadt. Allein, dass sie seine Freunde gewesen waren, bedeutete ihr Grund genug, ihnen aus dem Wege zu gehen.

Jerome hatte nicht verstanden, warum sie sich „so ängstlich anstellte“. Die Verpflichtung zu christlicher Liebe in Verbindung mit einem furchtlosen, optimistischen Gemüt hatte bei Pfarrer Belham dazu geführt, dass er immer geneigt war das Beste von anderen Menschen zu denken. Es brauchte sehr handfeste Beweise, um ihn zu überzeugen, dass ein Schurke tatsächlich ein Schurke war. Ihre Erinnerung an Onkel Adrians gespenstische Verwandlung hatte er als optische Täuschung abgetan, ihre warnenden Träume als Schäume. Und ja, die Vorliebe des Schriftstellers für abseitige, morbide Kulte war definitiv unchristlich gewesen, aber er war ja nun tot, und das Kind konnte nichts dafür, dass es aus einer verrotteten Familie stammte.

 

22. Juni, abends

 

Die Reise war lange und ermüdend gewesen, obwohl die Belhams einen Eilzug genommen hatten. Es war mittsommerlich heiß, und je näher sie den Salzmarschen und dem Meer kamen, desto schwüler wurde es, sodass selbst in den klimatisierten Waggons die Luft zum Schneiden stand. Noch schlimmer war es auf der Nebenstrecke, auf der ein aus nur zwei Wagen bestehender Zug träge dahinzuckelte und bei jedem Maulwurfshaufen hielt. Als sie dann endlich, schon bei Sonnenuntergang in der Station ankamen, mussten sie feststellen, dass sich das Städtchen in beträchtlicher Entfernung vom Bahnhof befand, also nahmen sie ein Taxi.

Die Straße war so unerfreulich, wie der Pfarrer und seine Frau befürchtet hatten. Sie führte weiterhin durch die öde Landschaft, die sie in den letzten zwei Stunden vom Zug aus gesehen hatten. Die dunkelnden Wiesen waren rundum mit dem Auswurf der Stadt besät. Ein Autobus ohne Räder stand in einem Haufen von zerschrammtem Gerümpel, von alten Metallmöbeln, Geräteteilen, zertrümmerten Schaltanlagen, verrosteten Fenstergittern und verbeulten Karosserieteilen. Das schwindende Sonnenlicht flammte düsterrot auf dem heißen Metall. Zuweilen begannen unmittelbar am Straßenrand die ölig schillernden, violetten Sümpfe, sodass der geringste Fahrfehler sie mittenrein in den Morast befördert hätte. Durch das spaltbreit offene Fenster zog ein säuerlicher Geruch nach verfaulendem Holz und verrottenden Pflanzen herein. Eine erstickende Schwüle stieg davon auf.

„Da vorne ist es“, sagte der Taxifahrer nach etwa fünf Meilen und wies mit ausgestreckter Hand in die Dämmerung. Tatsächlich blinkte kurz darauf im Licht der Scheinwerfer eines der üblichen Ortsschilder auf. Darauf stand der gebräuchliche Name der Stadt, aber er war mit dicken, blutroten Spray-Strichen ausgekreuzt und durch ein wunderliches Gekritzel ersetzt worden. Vielleicht die Signatur eines Sprayers, denn mit menschlicher Schrift hatte es keine Ähnlichkeit. „Sie haben hier wohl geschäftlich zu tun?“, wollte der Fahrer wissen.

„Wie kommen Sie darauf?“

Der Mann lachte. „Na, ich kenne niemand, der zur Erholung in das miese Kaff fahren würde. Die Leute hier sind ein eigener Schlag – ich sage immer, die fressen das, was sie auf der Straße überfahren haben! Wer nicht unbedingt hier sein muss, lässt es bleiben. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf: Laufen Sie nachts nicht auf der Straße herum. Gehen Sie in Ihre Zimmer und sperren Sie die Tür von innen ab.“

Jerome, der an die Sitzbank gelehnt döste, brummte nur, als er diese beunruhigende Mitteilung hörte, aber Kathy fröstelte heftig. Der Gedanke kam ihr, ob es in dieser Stadt genügen würde, die Tür abzusperren – ob hier nicht Gefahren auf sie warteten, für die eine verschlossene Tür kein Hindernis war. Die Abendnebel, die von den Marschen hereinwehten, schienen gesättigt mit einer unsichtbaren, aber deutlich spürbaren Bedrohung, als ritten Geister auf flüchtigen Pferden. Sie versuchte sich einzureden, dass es nur die ungewohnte und nach dem Trubel von Boston unheimlich lautlose Landschaft war, die ihr Angst machte, aber sie konnte sich selber nicht täuschen. Sie wusste, dass ein Fluch über der kleinen Stadt lag, denn Onkel Adrian hatte sie um dieses Fluches willen zu seiner neuen Heimat gemacht. Er hatte einen Ort gesucht, an dem das Böse zu Hause war, und hier hatte er ihn gefunden.

Wenig später mündete die Landstraße in eine Hauptstraße, die sich, zuweilen gefährlich verengt, zwischen den Häusern hindurchzwängte. Es mochte an dem Wechsel von der unbeleuchteten Landstraße zu den illuminierten Gassen der Stadt liegen, dass es Kathy erschien, als tauchten sie in eine riesige Blase merkwürdig violetten Lichts, die sich wie eine Dunstglocke über die Dächer breitete, und zugleich mit dem Licht in eine Art gelatinöser Substanz, die sich unsichtbar, aber deutlich fühlbar bis ins Innere des Wagens ergoss. Sie rang einen Moment lang nach Atem, erschreckt von dem Gefühl, dass die Atemluft immer weniger würde. Aber was es auch war, ihren Lungen tat es keinen Schaden. Sie konnte weiter atmen wie bisher. Dennoch wurde sie die Empfindung nicht los, dass die Luft in dieser Stadt, die außer einer Fischkonservenfabrik keinerlei Industrie aufwies, von einem beklemmenden Smog durchwirkt war, ärger als ein Wald rauchender Schlote ihn hervorrufen konnte. Einem Nebel, der sich wie ein klebriger Schmer auf ihre Gedanken und Empfindungen legte.

Es ist nichts, versuchte sie sich selbst zu trösten. Es ist nur eben sehr heiß, und mit der vielen Feuchtigkeit hier ist es schwül, und ich bin müde von dem langen Sitzen und Aus-dem-Zugfenster-Starren. Und außerdem ist mir diese ganze Reise von Herzen zuwider.

Die Stadt – eigentlich nur eine größere Ortschaft – musste einmal sehr hübsch gewesen sein, war aber längst verblüht und machte denselben peinlichen Eindruck wie Vergnügungsparks im Winter und Nachtklubtänzerinnen im hellen Tageslicht. Ihre Gebäude waren aus den Fugen geraten durch den unbarmherzig nagenden Ansturm der salzigen Winde, die über die Marschen brausten, und von allem Lack des Wohlstandes entblößt. Die Häuser hatten hohe schmale Fenster mit geschweiften Oberlichten und Balkone, so schmal wie Fenstersimse. Von den farbigen Gittern davor war der Lack abgeblättert, und das rostige Eisen starrte darunter hervor. Das Scheinwerferlicht glitt über etwas, das wie das anatomische Präparat einer Palme aussah, braun, verdorrt, verkrüppelt. Es stand in einem vergoldeten Übertopf auf einer windschiefen Treppe.

Zu der allgemeinen Verwitterung kamen Schmutz und Verwahrlosung. Die Mauern waren verschandelt von grellen Plakaten, die die Ankunft einer Rockband mit dem wenig ansprechenden Namen „Die Krüppelbande“ ankündigten, und die Straße war glitzernd gefleckt von windverwehten Stanniolpapierfetzen und zersplittertem Glas. Kathy Belham warf einen Blick auf ihren Ehemann, der neben ihr döste. Selbst jetzt, wo er mit halb offenem Mund gedämpft schnarchte, war er eine eindrucksvolle Erscheinung: ein großer, auffallend gut aussehender Mann mit dickem weizenblondem Haar, in das sich erste Strähnen von Grau mischten, und graublauen Augen. Ein längst vergangener Unfall, der ihn fast ein Auge gekostet hätte, hatte eine scharfe waagrechte Narbe wie einen Säbelschmiss auf dem Jochbein hinterlassen.

Beneidenswerter Jerome, dachte Kathy, der überall schlafen konnte! Sie war froh, dass er mitgekommen war. Nach dem ersten Blick auf das Städtchen war ihr klar geworden, dass sie hier dringend jemand brauchen würde, der sie aufheiterte. Alles in diesem Winkel Neu-Englands atmete Depression. Und es war nicht die milde Melancholie einer Stadt, die ihre besten Tage längst hinter sich hatte, sondern eine feindselige Verkrochenheit, etwas Finsteres und Verschlagenes, wie übellaunige alte Menschen es an sich haben – Menschen, die in ihrem Leben viele böse Geheimnisse angesammelt haben.

„Na, Ihr Mann ist ja wenigstens ein kräftiger Bursche, der Sie beschützen kann“, bemerkte der Fahrer und sprach damit genau das aus, was Kathy selbst soeben gedacht hatte. „Aber wie gesagt: Bleiben Sie nachts auf Ihrem Zimmer. Hier gehen ungute Dinge vor. Vor allem jetzt, so kurz vor dem Sommerfest! Das ist die schlimmste Zeit im Jahr. Zum Glück haben Sie keine Kinder mit, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen!“

„Was meinen Sie?“, fragte Kathy erschrocken, denn da kam ihr der Gedanke, dass sie in Kürze ein Kind bei sich haben würden. „Ist das Sommerfest denn so obszön, dass man Kinder davon fernhalten muss?“

„Sie könnten froh sein, wenn es nur das wäre, Lady. Nun, da Sie ohnehin allein mit Ihrem Mann hier sind, kann ich es Ihnen ja sagen. Das Sommerfest hat einen schlimmen Ruf, weil es früher ... in den alten Zeiten, verstehen Sie ... zu Ehren von irgendeinem Teufel gefeiert wurde, dem Plumpsack, wie sie ihn nennen. Es wird erzählt, dass sie diesem Teufel zu Ehren sogar Kinder im Sumpf ertränkt hätten. Alle die alten Familien der Stadt hatten dabei ihre Hände im Spiel, die Rogamers, die Kalmans, die Malchus’, die Zorans. Alle. Manche Leute behaupten ja, dass es auch heute abseits des normalen Sommerfestes noch immer ziemlich schlimm zuginge. Unbestrittene Tatsache ist, das können Sie auch in den Zeitungen nachlesen, dass zur Zeit des Sommerfestes immer wieder Kinder verschwanden. Spurlos. Die Einheimischen behaupten, sie hätten sich im Sumpf verlaufen und seien ertrunken, aber es gibt auch Leute, die anderer Meinung sind. Und man fragt sich ja: Warum verschwinden ausgerechnet immer zur Zeit des Sommerfestes Kinder?“

Kathy lauschte mit wachsendem Entsetzen. „Aber es ist doch undenkbar, dass heute noch jemand Kinder opfert!“

„So, meinen Sie? Das mag sein, wie es will; ich jedenfalls habe meine Frau und meine Kinder schon vorige Woche nach Boston geschickt, und morgen bin ich auch weg, da kann der Boss toben, wie er will.“

„Sie haben ernstlich Angst um Ihre Kinder?“

Der Fahrer schien jedoch zu denken, dass er bereits zu viel gesagt hatte. Er grunzte nur und tat, als müsse er sich völlig auf den Verkehr konzentrieren, obwohl die Straßen fast leer waren.

An der Einmündung eines Kanals, der wohl die Marschen entwässern sollte, stießen sie auf eine Gruppe von verwahrlosten alten Häusern, um deren Fundamente das Wasser gurgelte. Es waren sechs oder acht Gebäude, unter der summarischen Bezeichnung „Im Luch“ zusammengefasst, die die Künstlerkolonie des Städtchens beherbergten. Kathy wusste davon aus den gelegentlichen innerfamiliären Berichten über Onkel Adrians Tun und Treiben, denn so sehr man ihn auch verabscheute, waren seine Verwandten doch neugierig gewesen, und er hatte ihren Wissensdurst bereitwillig gestillt, schon um sie zu schockieren. Freilich war Kathy überzeugt, dass er ihnen alles andere als die ganze Wahrheit gesagt hatte, denn die Wahrheit über das Städtchen lag im Schoß der Familie Rogamer und ihrer Konsorten verborgen. Warum sonst hätte er in die verfluchte Sippe, die seit Jahrhunderten als Schwarzmagier verschrien waren, eingeheiratet! Nur ein zutiefst verdorbener Mensch konnte es wagen, sich in diese Familie zu drängen, die im übelsten Ruf stand. Als sie an dem quer über eine Gasse gespannten Transparent vorbeikamen, auf dem die Worte THRULE MALCHUS KUNST-ZENTRUM in halbmeterhohen Lettern zu lesen standen, überlief sie ein Schauder des Widerwillens, als hätte etwas Glitschiges ihren Nacken berührt.

Kunst-Zentrum!, dachte sie sarkastisch. Ein Zentrum der schwarzen Kunst war es. Hier, so behauptete Adrian Petri, hatte er die Antworten gefunden, die er suchte, hier hatte er die letzten Geheimnisse des Daseins enträtselt und das Elixier der Unsterblichkeit entdeckt. Was nichts daran änderte, dachte Kathy nicht ohne Häme, dass er jetzt kalt und steif in der Kühlhalle eines Bestattungsinstituts lag oder überhaupt schon unter der Erde.

Als sie sich dem Zentrum näherten, wurden die Straßen zusehends heller, obwohl sie immer noch nicht sehr vertrauenerweckend aussahen. Vor die Fassaden schoben sich, von Ziergittern eingerahmt, schmale Vorgärtchen, in denen „Brennende Liebe“ und „weißer Phlox“ blühten. In den Häuserreihen tauchten die Neonschilder von chinesischen Restaurants und die bunten Fenster von Selbstbedienungscafés auf. Das Schaufenster eines kleines düsteren Ladens war von zuckenden Lichtern erleuchtet. Darin hing eine graue Pappmaske neben der anderen, manche golden beflittert, manche mit langen spitzen Nasen wie Schneemänner, manche mit geringelten Papierlöckchen an den Seiten.

Kathy zog plötzlich die Nase kraus. Die Luft war eben noch von den Gerüchen einer Kleinstadt erfüllt gewesen, Gerüchen nach Blumen und Abendessen und von der Sommersonne überhitztem Asphalt. Das änderte sich mit einem Schlag. Ein scharfer chemischer Dunst hing in der Luft, so dicht, dass er bis ins Innere des Wagens drang. Sie rätselte noch, was es sein mochte, als der Fahrer ausrief: „Waren die Rotzmäuler schon wieder mit Stinkbomben unterwegs!“

Im selben Augenblick segelte von einem der dunklen Häuser etwas herunter, schnellte in hohen Froschsprüngen über die Straße und zerplatzte, Schwaden von gelblich schillerndem Rauch ausstoßend, wie ein riesiges Knallbonbon.

Der Fahrer stieg aufs Gas und schoss durch die Schwaden davon, bevor der würgende Gestank sie einhüllen konnte. Der Wagen quietschte, schlitterte und verschwand gerade noch rechtzeitig in einer der Seitengassen, als hinter ihnen schon das nächste „Knallbonbon“ explodierte.

Als er Kathys verdutztes Gesicht im Rückspiegel sah, wandte er sich halb um und bemerkte entschuldigend: „Ich sagte Ihnen doch, in drei Tagen ist das große Sommerfest, und ... na ja, Sie wissen, wie die jungen Leute sind.“ Die Einwohner des Städtchens, sagte er, hätten traditionell ein Faible für allen erdenklichen Mummenschanz, und es gäbe kaum ein Fest von der Kindstaufe bis zum Begräbnis, zu dem sie nicht in irgendeiner Verkleidung erschienen. Leute, die Masken-, Kostüm- und Zauberläden betrieben, konnten hier reich werden. Ihre Kunden zeigten ein nie erlahmendes Interesse an Juxartikeln jeder Art, ob es nun Gummispinnen waren, bengalisches Feuer, Zerrspiegel oder die winzige schwarze Dracula-Bank, aus der sich ein grünes Skelettchen erhob und die angebotene Münze entgegennahm. Sie liebten alles, was glitzerte, funkelte, krachte und unsinnigen Lärm erzeugte, mit einer Leidenschaft, dass man an jedem halbwegs bedeutsamen Feiertag die Knallfrösche heulen und Springteufel knattern hörte und Leute in Karnevalsmasken herumlaufen sah.

Sie nickte nur, zu müde, um das geringste Interesse an den Belustigungen der Stadt zu empfinden.

 

 

„Also, wie steht´s?“, fragte der Fahrer. „Soll ich Sie jetzt in ein Hotel bringen?“

Am liebsten wäre Kathy sofort in einem Hotelzimmer verschwunden, aber natürlich mussten sie sich als Erstes um Cyril kümmern. „Nein, fahren Sie in die Moorgasse, Nummer sieben. Wir müssen das Kind abholen.“

Der Fahrer drehte sich alarmiert mit einem Ruck um. „Ein Kind?“

„Ja, ein kleiner Junge. Deswegen sind wir hierhergekommen. Wir holen ihn zu uns nach Hause.“

Der Fahrer runzelte die Stirn. „Lady“, sagte er ernsthaft, „dann sollten Sie aber zusehen, dass Sie möglichst bald wieder abreisen. Wenn der Junge nämlich ... also wenn gewisse Leute Interesse an ihm haben, kann das für Sie ziemlich unangenehm werden. Die lassen sich hier nicht gern etwas wegnehmen.“

Als er ihr entsetztes Gesicht im Rückspiegel sah, fügte er lahm hinzu: „War nu so ´ne Redensart.“

Sie stiegen an der angegebenen Adresse aus. Jerome dehnte und reckte sich. Er hatte die gesamte Autofahrt verschlafen.

Der Notar hatte ihnen geschrieben, Cyril erwarte sie im Haus des Verstorbenen. Selbstverständlich hatten die beiden Belhams erwartet, ihn dort unter der Aufsicht von Verwandten vorzufinden, aber das Haus am Rande der Marschen, in dem Adrian Petri gewohnt hatte, war dunkel und machte einen völlig verlassenen Eindruck. Auf der Türschwelle lagen ein paar schmutzige Prospekte. Ein Fenster war eingeschlagen. Sie dachten schon, sie hätten die Anweisungen des Notars falsch verstanden, da tauchte ein mürrisch aussehender Mann mit einem Schlüsselbund auf und ließ sie ins Haus.

Es musste einmal ein prächtiges Gebäude gewesen sein, mit hohen luftigen Räumen und Verzierungen aus vergoldeter Stuckatur, aber es wirkte unsauber und verlassen. Obwohl Adrian Petri erst vor einer Woche verstorben war, herrschte in seinem Haus eine gruftartige Atmosphäre, als stünde es schon seit Jahren leer. Die Möbel wirkten verloren in den großen Räumen. Ein Schimmelgeruch hing darin, der verriet, wie vollgesogen mit dem schlammigen Salzwasser die Keller und Fundamente sein mussten.

Der Hausmeister drückte den Lichtschalter neben der Tür, aber mit erstaunlich dürftigem Resultat. Die meisten Glühbirnen waren aus ihren Fassungen geschraubt worden, sodass das Licht wie ein schwach fluoreszierender gelber Nebel in den Zimmern schwebte und kaum Einzelheiten enthüllte.

Der Hausmeister folgte ihnen auf Schritt und Tritt durch die Wohnung. Kathy ärgerte sich, dass sich niemand mit mehr Kompetenzen bereitgefunden hatte, sie zu erwarten, jemand wie eine Haushälterin oder Dr. Morlar, der Notar, von dem der Brief mit der Todesnachricht gekommen war. Der Hausmeister wusste nicht das Geringste über Adrian Petris Ende oder den Stand seiner Angelegenheiten, oder er wollte nichts sagen. Er hatte sich darauf beschränkt, auf Anweisung des Notars die Schlüssel in Verwahrung zu nehmen, das war alles, was sie aus ihm herausbekamen.

Kathy trat ans Fenster und blickte auf die Gasse hinaus. Einige Müßiggänger hatten sich vor dem Haus versammelt. Die junge Frau fühlte sich daran erinnert, dass sie sich in einer Kleinstadt befand, in der die winzigste Kleinigkeit, wie die Ankunft von Fremden, schon lebhaftes Interesse erweckte.

---ENDE DER LESEPROBE---