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Alan Watts ist Kult
Der Buddhismus verdankt seine Popularität in der westlichen Welt unter anderem Lehrern wie dem britischen Religionsphilosophen Alan Watts. Vor allem mit seinen Radiosendungen über fernöstliche Weisheit wurde Watts in den 1960er-Jahren zur Ikone der Beat- und Hippie-Bewegung. »Die Weisheit der Berge« versammelt sechs brillante Essays, in denen Watts die indischen Wurzeln des Buddhismus beleuchtet, die Unterschiede zwischen buddhistischem Denken und anderen Religionen skizziert und einen Überblick über die Vier Edlen Wahrheiten und den Achtfachen Pfad gibt.
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Seitenzahl: 160
Veröffentlichungsjahr: 2025
Alan Watts
Die Weisheit der Berge
Ursprung und Grundlagendes Buddhismus
Aus dem Englischen von Felix Mayer
Anaconda
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Original English version published by Tuttle Publishing
under the title Buddhism: The Religion of No-Religion
Copyright © 1996 by Mark Watts
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung
© 2025 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten.
(Vorstehende Angaben sind zugleichPflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt am Main
Umschlagmotiv: Adobe Stock, © bombomtea (Berge und Himmel),Shutterstock, © CHARTGRAPHIC (Buddha)
Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K.
ISBN 978-3-641-33676-9V001
www.anacondaverlag.de
Gewidmet Shunryu Suzuki, Roshi,und seiner lebendigen Lehre
Inhalt
Einleitung
1Aufbruch aus Indien
2Der Mittlere Weg
3Die Religion der Nicht-Religion
4Buddhismus als Dialog
5Die Weisheit der Berge
6Die Überwindung der Dualität
Einleitung
Dass der Buddhismus heute weltweit so großen Einfluss hat, liegt auch daran, dass dieser Weg der Befreiung, der ursprünglich im antiken Indien gelehrt wurde, von seinen Lehrern weiterentwickelt wurde und so auch für Menschen aus anderen Kulturen zugänglich wurde. Alan Watts erläuterte das einmal in den späten Sechzigerjahren während eines Seminars auf seinem Hausboot im kalifornischen Sausalito:
Anders als wir machen Hindus, Buddhisten und viele andere alte Völker keinen Unterschied zwischen der Religion und allem anderen. Religion ist nicht einfach nur einer von vielen Bereichen des Lebens, sondern hat eine allumfassende Bedeutung. Und wenn eine Religion mit der Kultur, zu der sie gehört, unzertrennlich verbunden ist, ist es sehr schwer, sie zu exportieren, weil sie leicht in Konflikt mit althergebrachten Traditionen, Verhaltensweisen und Gewohnheiten anderer Völker gerät.
Also stellt sich die Frage: Welche wesentlichen Aspekte des Hinduismus gibt es, die exportiert werden können? Und wenn man diese Frage beantwortet, gelangt man zum Buddhismus. Wie ich bereits erläutert habe, ist die Essenz des Hinduismus, die tiefste seiner Wurzeln, weder eine Doktrin noch eine bestimmte Fachdisziplin, obwohl er natürlich mehrere Disziplinen beinhaltet. Der Kern des Hinduismus ist die moksha, die Erfahrung von Befreiung: Die Illusion, dass alle Menschen voneinander getrennt sind, in einer Welt, die nur eine Ansammlung von voneinander getrennten Dingen ist, löst sich auf, und man erkennt, dass man in gewisser Hinsicht selbst eine Illusion ist, in anderer Hinsicht aber das, was der Hinduismus das Selbst nennt, das eine Selbst, und dass dieses Selbst alles ist, was existiert.
Alan Watts’ Interesse am fernöstlichen Denken entwickelte sich schon während seiner Kindheit, in der er von fernöstlicher Kunst umgeben war. Seine Mutter war Lehrerin und unterrichtete die Kinder von Missionaren, die im Ausland tätig waren, und wenn diese aus China zurückkehrten, brachten sie ihr oft Geschenke mit, Stickereien und Landschaftsmalereien im Stil der großen klassischen asiatischen Künstler. Als Alan Watts viele Jahre später mit einer kleinen Gruppe von Schülern durch Japan reiste, berichtete er von den Anfängen seiner Begeisterung für fernöstliche Kunst und Philosophie:
Die säkulare Malerei aus China und Japan faszinierte mich – wie dort Landschaften dargestellt wurden, Blumen, Gräser, Bambuspflanzen. Diese Art der Darstellung verblüffte mich, obwohl die Motive durch und durch alltäglich waren. Und obwohl ich noch ein Kind war, wollte ich unbedingt herausfinden, warum diese Bambusrohre und Grasbüschel so seltsam wirkten. Natürlich lehrten mich diese Maler, Gras zu sehen, aber in ihren Werken lag noch etwas anderes, das ich einfach nicht zu fassen bekam. Dieses »andere« will ich die Religion der Nicht-Religion nennen. Es ist das Höchste, was ein Buddha erreichen kann, es kann nicht erfasst werden, es hinterlässt keine Spuren.
Alans Watts wuchs in Kent auf, und als jungen Mann trieb ihn seine Neugier bezüglich der fernöstlichen Lehren zunächst in die Buchhandlungen von Cambridge und schließlich in die Buddhist Lodge in London. Dort besuchte er Treffen unter der Leitung von Christmas Humphreys und lernte schon bald den Zen-Meister D. T. Suzuki kennen. Watts’ wegweisende Aufsätze über den Buddhismus finden sich in seinen gesammelten frühen Schriften, und in ihnen kommt ein für die damalige Zeit äußerst fortschrittliches Verständnis des Buddhismus zum Ausdruck. Die beiden Bücher über Zen-Buddhismus, die er anschließend schrieb, wurden große Erfolge, und Anfang der 1960er-Jahre zog Watts nach Kalifornien, publizierte zahlreiche Schriften über das fernöstliche Denken und unternahm regelmäßige Vortragsreisen durch die USA und Europa. In dieser Zeit reiste er zweimal nach Japan, 1963 und 1965. Während der zweiten dieser Reisen wurden etliche Vorträge aufgezeichnet. Diese stellen eine der verständlichsten Einführungen in den Buddhismus dar, die derzeit vorliegen. Watts erläutert darin die wichtigsten Grundlagen des Buddhismus, auf prägnante Weise, begleitet von zahlreichen veranschaulichenden Geschichten und erfüllt von dem Geist, in dem sich diese bedeutende Tradition entwickelt hat. Der vorliegende Band enthält vier Vorträge, die er während seiner Japanreise gehalten hat – Aufbruch aus Indien, Der Mittlere Weg, Die Religion der Nicht-Religion und Buddhismus als Dialog –, sowie zwei Vorträge über den tibetischen Buddhismus, die 1969 auf Watts’ Hausboot in Sausalito aufgezeichnet wurden, Die Weisheit der Berge und Die Überwindung der Dualität. Diese Auswahl gibt einen tiefen Einblick in die Entwicklung des buddhistischen Denkens sowie eine Einführung in einen der faszinierendsten Wege der Befreiung, die unsere Welt kennt.
Mark Watts
August 1995
1
Aufbruch aus Indien
Wenn man sich mit dem Buddhismus vertraut machen will, muss man sich die indische Weltsicht vor Augen halten, die die Grundlage für diese Religion bildet, und man muss mit der indischen Kosmologie vertraut sein, so wie man etwa mit der ptolemäischen Kosmologie und der damit verbundenen Weltsicht vertraut sein muss, wenn man Dante und das Christentum des Mittelalters verstehen will. Die hinduistische Kosmologie und ihre Sicht auf das Universum kamen durch den Buddhismus in die japanische Lebenswelt, aber sie sind älter als der Buddhismus. Der Buddhismus hat sie einfach als selbstverständliche Gegebenheiten übernommen, so wie man heute vermutlich die Kosmologie der modernen Astronomie übernehmen würde, wenn man eine neue Religion stiften würde.
Die Geschichte der Menschheit kennt drei bedeutende Sichtweisen auf die Welt. Zum einen die westliche, die die Welt als Konstrukt oder Artefakt betrachtet, wie ein Stück Keramik oder ein Werkstück aus Holz. Dann die hinduistische, die im Weltgeschehen ein Schauspiel sieht, wie etwa ein Theaterstück. Und schließlich die chinesische, eine organische Sichtweise, die die Welt als Organismus sieht, als Körper. Der hinduistische Blick sieht die Welt also als Schauspiel; er sieht nur das, was ist, was immer war und immer sein wird, das sogenannte Selbst, das auf Sanskrit atman heißt. Das Atman wird auch Brahman genannt; diese Bezeichnung enthält die Wurzel bri, die soviel bedeutet wie wachsen, sich ausdehnen, anschwellen. Das Brahman, das Selbst in der hinduistischen Weltsicht, spielt mit sich selbst ein fortwährendes Versteckspiel. Wie weit kann man sich entfernen? Wie sehr kann man sich verlieren? Gemäß der hinduistischen Vorstellung sind wir alle göttliche Wesen und verlieren uns mit Absicht, einfach aus Spaß an der Freud. Und wie furchtbar kann das sein! Aber wird es nicht herrlich sein, wenn wir einmal aufwachen? Das ist der grundlegende Gedanke, und meiner Erfahrung nach verstehen ihn auch Kinder. Er ist äußerst schlicht und elegant.
Diese Kosmologie, diese Auffassung vom Wesen des Universums, hat zahlreiche Aspekte. Einer sind etwa die kalpas, lange Zeiträume, die das Universum durchläuft. Ein weiterer sind die sechs Welten oder Pfade des Lebens. Diese Vorstellung kommt zwar aus dem Hinduismus, spielt aber auch im Buddhismus eine wichtige Rolle. Repräsentiert wird sie durch das sogenannte phava chakra. Phava bedeutet »Werden«, chakra bedeutet »Rad«. Das Rad des Werdens (auch Rad des Lebens genannt), das Rad von Geburt und Tod, hat sechs Stufen. Die Menschen, die oben sind, heißen deva, jene, die unten sind, naraka. Devas sind Engel, Menschen, die größtmöglichen weltlichen Erfolg haben. Die Narakas befinden sich in der Hölle und leiden dort schreckliche Qualen, sie haben in weltlicher Hinsicht größtmöglich versagt. Dies sind die beiden Pole: die glücklichsten Menschen und die traurigsten Menschen. Dazwischen liegt die Welt der preta, der Hungergeister. Sie befinden sich den Narakas in der Hölle am nächsten. Die Pretas sind frustrierte Geister mit kleinen Mündern und gewaltigen Bäuchen; sie haben also riesigen Hunger, aber nur sehr beschränkte Möglichkeiten, ihn zu stillen. Die nächste Stufe über den Pretas sind die Menschen. Sie besetzen die mittlere Position in der Gesamtheit der sechs Welten. Von der Stufe der Menschen gelangt man hinauf zu den Devas, und dann geht es wieder hinab. Die nächste Stufe heißt asura. Dort hausen die zornigen Geister, Verkörperungen der Verachtung und all der Wut und der Gewalt, die in der Natur herrschen. Unter ihnen, zwischen der Asura und dem Reich der Hölle, stehen die Tiere.
All das darf man nicht wörtlich nehmen; die einzelnen Stufen stehen für verschiedene Zustände des menschlichen Geistes. Wenn wir frustriert sind und dazu auch noch leiden, befinden wir uns in der Welt der Narakas. Wenn wir nur fortwährend frustriert sind, befinden wir uns in der Welt der Pretas. Wenn wir uns in einem Zustand der Gleichmut und der Gelassenheit befinden, sind wir in der menschlichen Welt. Wenn wir trunken vor Glück sind, befinden wir uns in der Welt der Devas. Wenn wir wütend sind, sind wir in der Asura. Und wenn wir stumpfsinnig sind, befinden wir uns in der Welt der Tiere. All das sind Zustände unseres Geistes, und es ist von höchster Bedeutung, zu verstehen, dass man nach buddhistischer Anschauung umso höher hinauf zur Welt der Devas gelangt, je besser man ist, und umso tiefer zur Welt der Narakas hinabsinkt, je schlechter man ist. Alles, was hinaufgelangt, muss wieder sinken – man kann nicht auf ewig besser werden. Wenn man besser wird und dabei eine gewisse Grenze überschreitet, wird man nur wieder schlechter. So, wie wenn man ein Messer zu scharf schleift und es sich deswegen abnutzt. Die Buddhaschaft, also der Zustand der Befreiung oder der Erleuchtung, liegt auf keiner Stufe des Rades, außer vielleicht in seiner Mitte. Wenn wir hinaufsteigen, indem wir besser werden, binden wir uns mit goldenen Ketten an das Rad. Wenn wir hinabsinken und schlechter werden, binden wir uns mit eisernen Ketten an das Rad. Ein Buddha dagegen befreit sich von sämtlichen Ketten.
Dies erklärt, warum im Buddhismus – anders als im Judentum oder im christlichen Glauben – das höchste Ziel nicht darin besteht, gut zu sein. Das Ziel besteht vielmehr darin, Weisheit zu erlangen sowie Mitgefühl zu empfinden – was in gewisser Hinsicht etwas anderes ist, als gut zu sein – und eine umfassende Anteilnahme, Verständnis und Respekt für all jene unwissenden Menschen zu entwickeln, die nicht wissen, dass sie unwissend sind, sondern dieses äußerst seltsame Spiel von »ich und du« spielen. Daher begrüßen Hindus einander nicht, indem sie sich die Hände geben, sondern die Handflächen aneinanderlegen und sich verneigen. Auch die Japaner verbeugen sich eigentlich aus diesem Grund voreinander, und deshalb sind auch buddhistische Rituale reich an Gesten der Verbeugung: Man würdigt das Selbst, das die Rollen all der Menschen um einen herum spielt. Und umso mehr Ehrerbietung ist angebracht, je mehr das Selbst vergessen hat, was es tut, und daher in einer reichlich seltsamen Lage ist. Dies ist in wenigen Worten die hinduistische Sicht auf die Welt und die Kosmologie, auf der der Buddhismus gründet.
Je nach Geschmack, Temperament, Tradition, volkstümlichem Glauben und so fort existiert noch eine zusätzliche Vorstellung: Wenn der Herr – das Selbst – so tut, als sei er jeder und jede von uns, tut er zunächst so, als sei er eine individuelle Seele, ein jivatman. Das Jivatman inkarniert in einer Reihe von Körpern, Leben auf Leben. Gemäß der Vorstellung vom Karma – wörtlich: »das Handeln« oder »das Gesetz des Handelns« – geschehen Taten nacheinander und bilden eine nicht zu durchtrennende Kette. Das Karma eines Menschen ist der Lebensweg, den er gehen wird, vielleicht durch zahllose Lebenszyklen. Aber das will ich hier nicht weiter vertiefen, denn viele Buddhisten glauben nicht daran.
Zen-Buddhisten etwa sehen das anders; sie glauben nicht an eine Reinkarnation im materiellen Sinn, dass man also nach dem eigenen Begräbnis plötzlich jemand anders wird und anderswo lebt. Ihrer Ansicht nach bedeutet Reinkarnation: Wenn ihr jetzt hier sitzt und vollauf davon überzeugt seid, dass ihr noch dieselbe Person seid, die diesen Raum vor einer halben Stunde betreten hat, dann seid ihr reinkarniert. Wenn ihr jedoch Befreiung erfahren habt, werdet ihr begreifen, dass ihr das nicht seid. Die Vergangenheit existiert nicht, die Zukunft existiert nicht. Es gibt nur die Gegenwart. Und auch wir existieren nur in der Gegenwart. Der Zen-Meister Dogen hat das so ausgedrückt: »Der Frühling wird nicht zum Sommer. Erst ist Frühling, dann ist Sommer. Jede Jahreszeit bleibt an ihrem Platz.« Auf gleiche Weise werden auch wir nicht von dem, der wir gestern waren, zu dem, der wir heute sind. T. S. Eliot bringt in seinem Gedichtband Vier Quartette denselben Gedanken zum Ausdruck. Er sagt darin, dass wir, wenn wir uns im Zug auf einen Platz setzen und die Zeitung aufschlagen, nicht mehr dieselbe Person sind wie die, die kurz zuvor auf dem Bahnsteig stand. Wer das glaubt, verbindet die Momente seines Lebens zu einer Kette. Und dadurch fesseln wir uns an das Rad von Geburt und Tod, anders als wenn wir uns bewusst sind, dass jeder Augenblick, in dem wir existieren, der einzige ist. Ein Zen-Meister sagt zu einem Schüler: »Steh auf und geh durch den Raum.« Als der Schüler zurückkommt, fragt der Meister: »Wo sind deine Fußspuren?« Sie sind verschwunden.
Wo bist du? Wer bist du? Wenn wir gefragt werden, wer wir seien, sagen wir in der Regel eine Geschichte auf. »Ich bin Der-und-der. Diesen Namen haben mir meine Eltern gegeben. Ich war auf der-und-der Universität. Während meiner beruflichen Laufbahn habe ich diese und jene Dinge getan.« Und so stellen wir eine kleine Biografie zusammen. Ein Buddhist würde darauf entgegnen: »Vergiss es. Das bist nicht du. Das ist eine Geschichte, die längst vergangen ist. Ich will dein wahres Ich sehen, das Ich, das du jetzt bist.« Niemand weiß, wer das ist, denn wir kennen uns selbst nur durch die Echos, die wir hervorrufen, und durch den Blick in unsere Erinnerungen. Aber das wahre Ich führt uns zurück zu der Frage. Wer ist das wahre Ich? Wir werden später sehen, wie der Zen-Buddhismus in Koans mit dieser Frage spielt, um uns aus der Reserve zu locken, sodass wir herausfinden, wer wir wirklich sind.
In Indien ist diese Weltsicht mit der ganzen Kultur verwoben und betrifft sämtliche Aspekte des Lebens, aber Hinduismus ist keine Religion in dem Sinn, wie der Anglikanismus oder der römisch-katholische Glaube Religionen sind. Hinduismus ist keine Religion, sondern eine Kultur. In dieser Hinsicht ähnelt er eher dem Judentum als dem Christentum, denn ein Jude ist auch dann noch als solcher erkennbar, wenn er nicht in die Synagoge geht. Manche Juden mit jüdischen Eltern und Vorfahren, die praktizierende Juden waren, behalten bestimmte kulturell geprägte Verhaltensweisen bei, bestimmte Eigenheiten und Gesinnungen, und sind sozusagen kulturelle Juden und keine religiösen. Mit dem Hinduismus verhält es sich ähnlich, er ist eine religiöse Kultur. Wer Hindu sein will, muss in Indien leben. Aufgrund der Unterschiede hinsichtlich des Klimas, der Künste, der handwerklichen Traditionen und der Technisierung kann man nicht im vollumfänglichen Sinne Hindu sein, wenn man in Japan oder den Vereinigten Staaten lebt.
Der Buddhismus ist ein Hinduismus, der sozusagen für den Export verschlankt wurde. Buddha war ein Reformer im wahrsten Sinn; er wollte zur ursprünglichen Form zurück, wollte den Hinduismus, angepasst an die Bedürfnisse einer bestimmten Epoche, re-formieren. Die Bezeichnung Buddha ist ein Titel, kein Eigenname, so wie Christus »der Gesalbte« bedeutet und nicht der Nachname von Jesus ist. Buddha ist nicht der Nachname von Gautama, sondern bedeutet »der Erwachte« (aus der Sanskritwurzel budh, »wissen«). Buddha ist derjenige, der erwacht ist, der erkannt hat, wer er wirklich ist.
Der entscheidende Unterschied zwischen Buddhismus und Hinduismus besteht darin, dass der Buddhismus euch nicht sagt, wer ihr seid; er hat keine Vorstellung, keinen Begriff davon. Ich betone hier ausdrücklich die Worte Vorstellung und Begriff. Der Buddhismus hat keine Vorstellung und keinen Begriff von Gott, weil ihn Begriffe nicht interessieren. Ihn interessiert nur die unmittelbare Erfahrung. Vom buddhistischen Standpunkt aus sind sämtliche Begriffe falsch, so wie nichts das ist, was es unserer Behauptung nach ist. Ist das hier ein Hocker? Ich kann ihn umdrehen, und dann ist er ein Papierkorb. Wenn ich auf ihn schlage, ist er eine Trommel. Dieser Gegenstand ist also das, wozu ich ihn verwende. Er ist all das, wozu ich ihn verwenden kann. Wenn wir eine starre Vorstellung davon haben, dass das hier ein Hocker ist und darauf zu sitzen das Einzige ist, was man damit tun kann, dann stecken wir fest. Aber wenn wir genauso all die anderen Möglichkeiten sehen, erkennen wir plötzlich, dass jeder Gegenstand alles sein kann. In gleicher Weise sagt der Buddhismus nicht, dass unser wahres Ich eindeutig zu definieren ist; denn wer das glaubt, steckt in einer Vorstellung fest und klammert sich daran, um spirituelle Gewissheit zu erlangen.
Viele Menschen sagen, sie brauchen ihre Religion, um sich daran festzuhalten. Ein Buddhist würde sagen: Lass das. Solange man sich an etwas festhält, kann von Religion keine Rede sein. Du bist erst wirklich da, wenn du alles loslässt und nicht des seelischen Heils oder des Glücks wegen einer festen Vorstellung oder einem Glauben anhängst. Man könnte den Buddhismus nun für destruktiv halten, weil er nicht an einen Gott glaubt oder die Vorstellung von einem Gott negiert. Ebenso wenig glaubt er an eine unsterbliche Seele oder sucht Trost in der Vorstellung von einem Leben nach dem Tod. Er stellt sich schonungslos der Tatsache, dass alles Leben vergänglich ist. Es gibt nichts, woran du dich festhalten kannst – also lass los. Niemand kann sich an irgendetwas festhalten. Der Buddhismus ist die Lehre davon, sich so zu verhalten. Und wenn man sich so verhält, entdeckt man etwas, das weitaus besser ist als jeder Glaube, weil man den Kern allen Daseins erfasst hat. Nur kann man ihn nicht benennen.
Im Zen heißt es, wer erleuchtet ist, ist wie ein stummer Mensch, der einen wunderbaren Traum hatte. Wer einen wunderbaren Traum hatte, will allen davon erzählen, aber wer stumm ist und nicht sprechen kann, der kann das nicht. Der Kern allen Daseins ist im Buddhismus das Nirwana, das vergleichbar ist mit der Moksha, der Befreiung. Nirwana bedeutet »ausströmen« – wie ein Seufzer der Erleichterung –, denn wenn man den Atem anhält, verliert man ihn. Wer an sich selbst festhält, hält am Leben fest, dem Atem, dem Geist; und er hält auch an Gott fest. Dann ist alles tot, wird zu Stein, zu einem Götzenbild. Wer dagegen loslässt und ausatmet, bekommt seinen Atem zurück. Das ist das Nirwana.
Die buddhistische Lehre ist größtmöglicher Negativismus. Die höchste Stufe der Wirklichkeit ist shunyata, Leerheit. Das japanische Wort hierfür ist ku, das Schriftzeichen ist jenes, das für Himmel oder Luft steht. Das zweite Zeichen auf japanischen Luftpostumschlägen ist ku, Luft, was auch Leere bedeutet. Dieses Zeichen wird verwendet, um shunyata
