Die Weisheit der Liebe - Albert Kitzler - E-Book

Die Weisheit der Liebe E-Book

Albert Kitzler

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Beschreibung

Liebe als Lebenshaltung - ein philosophischer Weg zu mehr Lebens-Freude: Das verspricht das neue Sachbuch des philosophischen Lebens-Beraters Albert Kitzler. Geliebt zu werden, getragen zu werden, geborgen zu sein - das ist das Ziel eines erfüllten Lebens. Das Ergebnis ist die Fähigkeit, selbst zu lieben. Dieser Zusammenhang wird in unterschiedlicher Ausprägung in allen westlichen und östlichen Weisheits-Lehren beschrieben, in der indischen wie der chinesischen, in der griechischen wie der römischen Philosophie. Die Kernbotschaft all dieser Lehren: Der Mensch kann die Zugewandtheit, die Liebe zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und der Welt lernen. Albert Kitzler macht dieses Lernen mit der Weisheit der großen Philosophen konkret. Er beschreibt die Ursachen der menschlichen Sehnsucht nach Liebe und zeigt für alle Lebens-Bereiche, wie die Liebe zu einem Partner, zu anderen Menschen, zu unserer Arbeit, zur Natur, zur Kunst, kurz: zu allem, was wir tun, unsere Lebens-Freude mehrt, indem sie unsere Persönlichkeit zum Positiven hin verändert:  Albert Kitzler weiß: Dank der LIebe werden wir eins mit uns selbst und unserer Umwelt und finden so den "guten Fluss des Lebens". Seine Philosophie ist ebenso zeitlos wie lebenspraktisch.

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Seitenzahl: 360

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Albert Kitzler

Die Weisheit der Liebe

Eine Philosophie der Lebensfreude

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Geliebt und getragen zu werden, geborgen zu sein – das ist das Ziel eines erfüllten Lebens. Daraus erwächst die Fähigkeit, selbst zu lieben. Dieser Zusammenhang wird in allen westlichen und östlichen Weisheitslehren beschrieben und von aktuellen Forschungsergebnissen bestätigt. Die Kernbotschaft all dieser Lehren: Der Mensch kann die Zugewandtheit zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zur Welt lernen. Albert Kitzler macht dieses Lernen-können konkret und beschreibt, wie die Liebe zu einem Partner, zu anderen Menschen, zu unserer Arbeit, zur Natur, zur Kunst, kurz: zu allem, was wir tun, unsere Lebensfreude mehrt und unser Leben gelingen lässt. 

Inhaltsübersicht

In memoriam

Widmung

Motti

Vorwort

Woher kommt die Sehnsucht nach Liebe?

Liebe als Wunsch zur Vereinigung

Griechenland

China

Indien

Neuzeit

Liebe als gelingendes Miteinander

Liebe als Erfüllung

Liebe als Lebensfreude

Liebe als Lebensglück

Liebe zu sich selbst

Liebe zu anderen Menschen

Liebe zum Lebenspartner

Verbindung von Seelischem und Körperlichem

Lebenspartnerschaft als Erfüllung und Ideal gelingender Resonanz

Hingabe – Selbstsein und Distanz

Persönliche Integrität als Voraussetzung für gelingende Partnerschaft

Liebe als aktives Tun

Liebe und Leiden

Liebe zu den Dingen

Liebe zu dem, was wir tun

Liebe zur Natur

Liebe zur Kunst, Musik und Kultur

Liebe zu Gott

Liebe zur Welt, zum Schicksal und zum Leben

Liebe zur Weisheit

Praktische Übungen zur Entfaltung der Liebe

I. Das Verhältnis zu sich selbst

1. Sich regelmäßig zurückziehen und sammeln

2. Innere Ausgeglichenheit herstellen

3. Sich so annehmen, wie man ist, und sich gleichzeitig weiterentwickeln

4. Sich selbst erkennen

5. In die eigene Mitte kommen

6. Authentisch und stimmig leben

7. Sich in Dankbarkeit, Demut und Bescheidenheit üben

II. Das Verhältnis zu anderen Menschen

1. Liebe- und verständnisvoll miteinander umgehen

2. Nicht über Menschen urteilen

3. Sich für den anderen interessieren und achtsam zuhören

4. Nichts persönlich nehmen

5. Fürsorge, Rücksicht, Respekt und uneigennütziges Tun

III. Das Verhältnis zur Welt und zum Schicksal

1. Die innere Mitte wahren und die Resilienz stärken

2. Eine innere Burg bauen

3. Sich von seinen äußeren Zielen und Tätigkeiten nicht verstricken lassen

4. Vergänglichkeit und Tod annehmen

5. Das Unverfügbare annehmen

6. Unser Wollen, Planen, Wünschen und Begehren begrenzen

Danksagung

Literaturverzeichnis

In memoriam

Thich Nhat Hanh (1926–2022)

Für

Klaus und Alicia

Gaia und Chiara

»Liebe ist die universellste, erstaunlichsteund mysteriöseste aller kosmischen Kräfte.«1

Pierre Teilhard de Chardin

 

 

»So ist es die allmächtige Liebe,

die alles bildet, alles hegt,

die göttliche Kraft,

von der man nicht aufhört zu singenund zu sagen.«2

Goethe

 

 

»Es treibt ihr Spiel die Göttin der Liebe

Unwiderstehlich.«3

Sophokles

 

 

»Wenn der Weise den Rechten Weg studiert,

so lernt er die Menschen lieben.«4

Konfuzius

Vorwort

Über die Liebe sind schon viele Bücher geschrieben worden. Wie sollte es auch anders sein, geht es doch um das stärkste Gefühl des Menschen und – wie gezeigt werden soll – um etwas, das für ein gelingendes Leben von entscheidender Bedeutung ist. Wenn hiermit ein weiteres Buch hinzukommt, dann im Hinblick auf ein Wort Senecas, wonach »nie zu oft gesagt ist, was nicht gründlich genug gelernt wurde«. Ja, lieben kann man lernen. Wie das geht, gehört keineswegs zum Allgemeinwissen. Wäre dem so, würden wir in einer anderen Welt leben.

Die Kunst der Liebe und der Lebensfreude ist kein Unterrichtsgegenstand in unserem Bildungssystem. Das ist bedauerlich und wird der Bedeutung nicht gerecht, die dieser Kunst für unser Lebensglück, für das gelingende Miteinander, den Frieden in der Welt und für unsere Umwelt zukommt. Hätten wir beispielsweise die Natur stets so hegend und pflegend geliebt, wie sie es verdient, würden wir uns jetzt nicht mit einer gewaltigen menschengemachten Klimakrise konfrontiert sehen. Vielleicht würde es auch die Kriege nicht geben, die zurzeit die Welt erschüttern.

Wenn in diesem Buch von Liebe gesprochen wird, dann ist wesentlich mehr gemeint als die partnerschaftliche Liebe. Unter Liebe soll hier jede Art von starker Sehnsucht nach etwas verstanden werden. So sprechen wir auch davon, dass wir Kinder lieben, Geschwister, Freunde, Gott, unsere Arbeit, Haustiere, Hobbys, ein gutes Essen, einen edlen Wein etc. Alles kann Sehnsucht auslösen, und immer ist ihre Erfüllung eine Art von Liebe, nämlich eine Vereinigung mit dem Ersehnten, die in uns Gefühle von Freude und Glück auslöst. Wie nachhaltig und tief die Freude ist, das hängt von dem Objekt unserer Sehnsucht ab und dem Grad der Verbundenheit.

In diesem Buch soll aufgezeigt werden, dass jede Lebensfreude ihren Grund in Formen erfüllter Liebe im weitesten Sinne hat. Es soll ferner dargelegt werden, dass wir lieben lernen können. Wir haben es daher selbst in der Hand, immer wieder Liebe zu erfahren und uns dadurch am Leben zu erfreuen. Schließlich soll deutlich werden, dass die Fähigkeit zu lieben im hohen Maße davon abhängt, inwieweit wir durch die Entwicklung unserer Persönlichkeit gelernt haben, ein gutes Leben zu führen, d.h. mit uns selbst, unseren Mitmenschen und der Welt so umzugehen, dass wir uns wohlfühlen in unserer Haut und mit uns im Reinen sind. Die Fähigkeit zu lieben wächst in dem Maße, in dem wir unsere Mitte finden und aus ihr heraus leben. Lernen, gut zu leben und zu lieben, ist dasselbe. Aus beidem erwächst die Freude am Leben.

Es soll nicht geleugnet werden, dass es in der Welt auch unendlich viel Unglück, Leid und Schrecken gibt. Viele Menschen leben in bedrückenden äußeren Umständen, die den Spielraum für Liebe und Lebensfreude erheblich einengen. Aber wo Leben ist, da hat der Mensch auch unter schwierigsten Bedingungen die Möglichkeit, das Beste aus den Umständen zu machen und Momente von Freude, Liebe und Sinn zu finden, sei es auch in noch so bescheidenem Maß.

Das Buch möchte den inneren Zusammenhang von Liebe und Lebensfreude erhellen und zu einem vertieften Verständnis dieses Verhältnisses beitragen. Es werden ausgiebig Quellen aus unterschiedlichen Kulturen und geschichtlichen Epochen angeführt, um die vielen Facetten der Liebe sowie die Zeitlosigkeit und Universalität der damit zusammenhängenden Fragen und Einsichten aufzuzeigen. Der Leser soll dadurch angeregt werden, sich selbst ein Bild über das Wesen und die Bedeutung der Liebe für die Lebensfreude zu machen. Wie über alle Lebensweisheit, so lässt sich auch über die Liebe nichts grundsätzlich Neues sagen. Alles ist bereits gedacht und gesagt worden, einiges davon aber wieder in Vergessenheit geraten. Es kommt darauf an, sich wiederzuerinnern, die vorhandenen Erkenntnisse zu sichten und erneut zu durchdenken, sie in das Hier und Jetzt zu stellen, in unserer heutigen Sprache neu zu formulieren und mit unseren eigenen Erfahrungen zu verknüpfen, damit sie uns Orientierung geben. Sie sollen für unsere tägliche Lebenspraxis wieder fruchtbar werden.

Das Buch möchte den Leser in den Stand setzen, sich selbst daraufhin zu prüfen, ob er seine Fähigkeit und sein Potenzial zu tiefer Liebe und Lebensfreude ausschöpft oder ob er diese Fähigkeit noch ausbauen kann. Das Buch beschränkt sich nicht auf die Theorie. Es wird vielmehr dargestellt, wie wir durch unser Denken, Wollen, Fühlen und Handeln dazu beitragen können, unsere Sensibilität und Fähigkeit, zu lieben und uns am Leben zu erfreuen, ausbilden und wachsen lassen können. Je mehr uns das gelingt, umso mehr wird sich unsere tiefste Sehnsucht erfüllen, die nach einem glücklichen, sinnvollen und gelingenden Leben.

Weil unser Lebensglück entscheidend von der Fähigkeit abhängt, zu lieben und Liebe zu empfangen, hatte die Liebe in allen Weisheitslehren der Antike in Orient und Okzident eine herausgehobene Stellung. Ihre Verwirklichung galt als letztes Ziel aller Lebensweisheit. Im Lieben und Geliebtwerden vollendet sich der Mensch, erfüllt seine Bestimmung und erlebt die tiefsten und nachhaltigsten Freuden.

Das Buch will deutlich machen, dass alle Weisheitslehren und ethischen Konzepte letztlich auf Einsichten, Übungen und Praktiken in gelebter Liebe hinauslaufen: Liebe zu sich selbst, den Mitmenschen, der Welt, der Natur und vielem anderen. Im letzten Kapitel soll gezeigt werden, wie wir durch konkrete Übungen und geänderte Lebens- und Verhaltensweisen unserem Denken, Wollen, Fühlen und Handeln Anstöße geben können, überall dort und immer dann zu lieben und Freude zu empfinden, wenn das Leben uns die Möglichkeit dazu bietet und das heißt im Grunde: immer und überall. Dieser Weg ist nicht immer einfach. Vielleicht gehört er sogar zum Schwierigsten, was es zu lernen gilt, soll unser Leben gelingen. Lieben ist eine Kunst, die ständig praktiziert und vertieft werden will. Sie ist eine lebenslange Herausforderung. Aber nur stetiges Wachsen und Entwickeln ist wahre Lebendigkeit, alles andere ist Stillstand.

Das Buch versteht sich als Beitrag zur praktischen Lebensphilosophie und setzt insofern die Bereitschaft voraus, sich tiefer mit dem Wesen der Liebe und dem Zusammenhang von Liebe, Lebensfreude und einem gelingenden Leben zu beschäftigen. Es ist daher kein Buch, das man schnell überfliegen kann, sondern das Zeit zum Nachdenken braucht. Dann sollte es aber für jeden klar und gut verständlich sein.

Wenn hier häufig auf die Antike zurückgegriffen wird, so deshalb, weil damals bereits alles Wesentliche erkannt und ausgesprochen wurde. Nirgendwo erscheinen die Dinge klarer und reiner als in ihrem Ursprung, wo sie noch nicht durch eine über Jahrhunderte anhaltende Diskussion zerredet und nicht selten auch verdunkelt worden sind. Es ist ein Irrtum, wenn wir glauben, mit dem Fortschritt der Wissenschaften und der Technik wären grundlegende Einsichten aus den alten Weisheitslehren zum gelingenden Leben überholt. Neben älteren Quellen sollen aber auch moderne Autoren zu Wort kommen, die die Diskussion um wichtige Aspekte bereichern und neuere wissenschaftliche Erkenntnisse einbezogen haben. Da die Wirkungsweise der Liebe in unterschiedlichen Lebensbereichen dargestellt wird, kommt es notwendig zu Überschneidungen und Wiederholungen. Dies wurde bewusst in Kauf genommen, weil es der Vertiefung dient.

Kursive Hervorhebungen in den Zitaten sind, wenn nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Die Schreibweise älterer Zitate wurde in der Regel der heutigen angepasst. Gelegentlich ist der Text eines Zitats geringfügig geändert worden, wodurch aber in keinem Fall der Sinn entstellt worden ist. Auf die Änderung wird in der Fußnote hingewiesen.

Woher kommt die Sehnsucht nach Liebe?

»Wen wahre Liebe band, den wird sie wieder binden.«5

Seneca

 

»Selig, welchen die Götter, die gnädigen, vor der Geburt schon

Liebten, welchen als Kind Venus im Arme gewiegt (…)«6

Schiller

Das Denken, Wollen, Fühlen und Handeln des Menschen hat seine Wurzeln in den natürlichen Trieben und Bedürfnissen. Diese aber werden maßgeblich geformt, umgestaltet und kanalisiert durch unsere Erfahrungen, Erlebnisse, Prägungen, Gewohnheiten, Erziehung und das soziale Umfeld, ferner durch unsere Haltungen und Werte, durch unser Denken und Entscheiden. Dabei kommt unseren intellektuellen Fähigkeiten eine wesentlich geringere Bedeutung zu, als unser Selbstbild von einem vernunftbegabten Wesen es nahelegt. Ganz überwiegend werden wir von verinnerlichten Denk-, Wollens- und Verhaltensmustern geleitet und nur zu einem geringen Teil von vernünftigen Überlegungen und rationalen Entscheidungen. Wir mögen bedauern, dass es nicht der Geist, die Vernunft, der Philosoph in uns oder die Weisheit sind, die unser Leben steuern, sondern der endliche und mit Fehlern und Defiziten behaftete, unvollkommene Mensch, der nur mit größter Mühe seine Triebe und Begierden zügeln kann und häufig nicht »Herr im eigenen Haus« ist. Aber der Mensch ist nichts anderes als die Summe seiner Denk-, Wollens- und Verhaltensgewohnheiten, die sich aufgrund seiner Erfahrungen und Prägungen gebildet haben und leider viel zu selten aufgrund gewonnener Einsichten oder einem Prozess vernunftgesteuerter Persönlichkeitsentwicklung und Selbstkultivierung. Auf unsere natürlichen Instinkte können wir uns aber schon lange nicht mehr verlassen. Wir sind ein Mangelwesen, sagt die Anthropologie, dessen Instinkte nicht mehr so funktionieren, wie sie sollten. Die Dominanz und ein fehlgeleiteter, einseitiger Gebrauch unseres berechnenden Verstandes haben sie weitgehend denaturiert. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen und dadurch die Einheit mit der Natur verloren, sodass der unverstellte Zugang zu unseren natürlichen Instinkten beeinträchtigt ist.

Eine der ersten, sicher aber die stärkste Prägung, die jeder Mensch erfährt und die ihn sein ganzes Leben begleitet, ist die Erfahrung, die er während der Schwangerschaft als Embryo im Mutterleib macht. Während dieser Zeit entwickeln sich nicht nur der Körper und die Organe, sondern auch das Gehirn, der Wahrnehmungsapparat, die Empfindungen und Gefühle. Unabhängig von der Frage, was und wie viel bereits genetisch vorgeprägt ist, bleibt das, was in dieser Entwicklungsphase erlebt wird und sich festsetzt, bestimmend für das ganze Leben. Es ist das Gefühl von Wärme, Geborgenheit, Getragenwerden, Genährtwerden, Fürsorge, Sicherheit, körperlicher Nähe, Einssein mit der Mutter, Einssein mit der Natur.7 »Die Mutter ist Wärme, die Mutter ist Nahrung, die Mutter ist der euphorische Zustand von Befriedigung und Sicherheit«, schreibt der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm.8 Auch das Ende dieses Zustands bleibt als prägende Erinnerung tief in uns verankert: Unter größten Schmerzen werden wir mit der Geburt aus diesem paradiesischen Zustand gewaltsam herausgestoßen. Das Erste, was das unter heftigen Wehen herausgepresste Neugeborene tut, ist, verzweifelt zu schreien und zu weinen. Denn es spürt, dass es die Geborgenheit und schützende Hülle der Mutter verloren hat, die zugleich seine Nahrungsquelle war. Es wird aus dem wohligen, warmen Einssein mit der Mutter ausgestoßen in ein grelles, kaltes Getrenntsein, abgeschnitten von seinem lebendigen Ursprung. Nackt und ungeschützt wird es hineingeworfen in die Welt, einen unbekannten Raum, in dem sich »hart die Dinge stoßen« (Schiller). Sein erster Schrei ist Ausdruck von Verlust, Trennung, Vereinzelung und Todesangst.

Der Psychoanalytiker Otto Rank hat in diesem »Trauma der Geburt« den Verlust einer embryonalen »Urlust« und die Wurzel aller Ängste gesehen, die der Mensch in seinem späteren Leben entwickelt. Es sei eine »unzweifelhafte analytische Tatsache (…) daß ganz wie jeder Angst die Geburtsangst zugrunde liegt, jede Lust letzten Endes zur Wiederherstellung der intrauterinen (vorgeburtlichen, Verf.) Urlust tendiert.«9 Erst wenn die Hebamme das Neugeborene auf den Bauch der Mutter legt, hört es auf zu weinen, weil es wiedervereinigt ist mit dem, woher es kommt.10 Den ganzen Vorgang scheint bereits der Vorsokratiker Empedokles zu beschreiben:

»Aus welch herrlicher Fülle der Ehre und Seligkeit stürzt ich

So auf die Erde herab und schweife nun unter den Menschen! (…)

Königin war die Liebe allein (im goldenen Alter). (…)

Zahm war damals alles Getier und den Menschen befreundet,

Vögel und Wild im Walde und alles erglühte in Liebe.«11

Viele Impulse, Regungen und Empfindungen hat der Fötus über die Blutbahn der Mutter, ihre Bewegungen und Gefühle und über das gemeinsame Netzwerk des Hormon-, Nerven- und Immunsystems erhalten und gespeichert. Hier kann es auch zu ersten Irritationen und Beunruhigungen kommen, insbesondere bei problematischen Schwangerschaften entsprechend der jeweiligen psychischen und körperlichen Verfassung der Mutter und ihrem Verhältnis zum Vater und zu ihrer Umwelt. Aber nichts davon dürfte auch nur annähernd heranreichen an die Prägungen, die einerseits der neunmonatige Zustand der wohligen Geborgenheit, des Getragen- und Geschütztseins im Mutterleib, andererseits die als qualvoll empfundenen Stunden der Geburt in die Seele des werdenden Menschen für immer eingeschrieben haben. Diese Erfahrung dürfte mehr oder weniger jeder Mensch gemacht haben. In einem gemeinsamen Buch schreiben der Gehirnforscher Gerald Hüther und die Psychotherapeutin Inge Krens: »Sie (die Menschen) gleichen sich auch deshalb, weil sie alle aus einer für alle Menschen typischen intrauterinen Welt kommen. In dieser Welt haben sie alle ähnliche Bedingungen vorgefunden und prinzipiell ähnliche Erfahrungen gemacht. Deshalb ist auch ihr Gehirn, wenn sie zur Welt kommen, entsprechend ähnlich strukturiert.«12

In dieser fundamentalen Grunderfahrung liegt der Ursprung unserer Sehnsucht nach Liebe. Bei jeder Art von Liebesregung erwacht immer wieder aufs Neue der unbewusste Wunsch, jene Gefühle der Geborgenheit, des Genährtwerdens, des Schutzes, der Wärme und des Getragenseins und alle damit zusammenhängenden Gefühlsschattierungen wieder zu erleben, bildlich gesprochen: in den Mutterleib zurückzukehren. Otto Rank spricht von einer »Urtendenz der Libido«, einem »Streben nach Wiederherstellung der lustvollen Ursituation im Mutterleib, das (sic) wir als Ausdruck der höchsten Lustmöglichkeit überhaupt ansehen müssen«.13 Wo sich im Leben eines Menschen diese oder verwandte Gefühle einstellen und befriedigt werden, da erleben wir Freude und Erfüllung, Momente des Glücks. In jeder dieser Emotionen erlebt unsere Seele, sei es auch in noch so schwacher Form, eine Art Wiedervereinigung mit ihrem Ursprung, mit der Mutter, mit der Natur, von der wir ein Teil sind und nach deren Gesetzen unser und alles Leben geboren wird, sich entwickelt, wächst, erblüht und vergeht.

Nicht nur die genannten Gefühle lassen sich auf eine embryonale Urerfahrung und die dadurch hervorgerufene Sehnsucht nach Liebe zurückführen. Es ist darüber hinaus gezeigt worden, dass alle »spezifisch menschlichen Gefühle und Potentiale – ob Einfühlungsvermögen und Mitgefühl, Sprachlichkeit und Erkenntnisfreude, Sinnsehnsucht und weitere – in gewisser Weise kulturanthropologische Erweiterungen von Liebe sind«.14 So ist unser ganzes Leben und Streben, Wollen und Fühlen entscheidend geprägt von der Sehnsucht nach Liebe als eine Art Rückkehr und Wiedervereinigung mit unserem Ursprung.

»Ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel,

Rückkehr zur Wurzel heißt Stille.

Stille heißt Wendung zum Schicksal.«15

Der chinesische Philosoph Laotse, von dem dieses Zitat stammt, wollte zum Ausdruck bringen, dass jedes Wesen seine Bestimmung erfüllt und zur Ruhe kommt, wenn es in seinen Ursprung zurückkehrt. Wenn der Mensch einen Seelenzustand erreicht, der dem gleichkommt, den er vor der Geburt erlebt hat, ist er an sein Ziel gekommen (»Schicksal«), hat er vollkommene Seelenruhe erlangt (»Stille«) und ist glücklich. In diesem Sinn beschreibt Laotse an anderer Stelle seinen Zustand mit den Worten: »(…) dem Kinde gleich, der Mutterbrust noch nicht entwöhnt, ein Heimatloser (…) schätze (ich) die Nahrung an der Mutterbrust.«16 Nie entwöhnen wir uns, meint Laotse, von der Liebe zu der uns gebärenden Mutter, der pränatalen Lebenswelt und der physischen und seelischen Nahrung, die wir in der frühesten Phase unserer Entwicklung von ihr erhalten haben.

Nach Nietzsche ist der neugeborene Mensch in eine kalte abweisende Welt geworfen, sodass er sich stets nach der verlorenen Heimat zurücksehnt. In seinem Gedicht »Abschied« lesen wir:

»Die Welt – ein Thor 

Zu tausend Wüsten stumm und kalt! 

Wer Das verlor, 

Was du verlorst, macht nirgends Halt. 

Nun stehst du bleich, 

Zur Winter-Wanderschaft verflucht, 

Dem Rauche gleich, (…)

Weh dem, der keine Heimat hat!«17

Die Heimat, sagt Erich Fromm, ist »die Mutter (…) aus der wir kommen, sie ist die Natur, die Erde, das Meer.«18 Für C. G. Jung ist die Suche nach der verlorenen Mutter die Suche nach dem Paradies, nicht als Regression, nicht als Wunsch zur Rückkehr in den Mutterleib, sondern als Sehnsucht nach dem Erlebnis zwischenmenschlicher Geborgenheit in der Welt.19

Die Ansicht ist häufig und sehr früh schon vertreten worden, dass unsere Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit außer in dem natürlichen Fortpflanzungstrieb vor allem in dem pränatalen und frühkindlichen Lebensabschnitt seinen emotional-seelischen wie auch körperlichen Ursprung hat. Die Liebe als Gefühl der Einheit und Verbundenheit ist die erste Erfahrung, die der werdende Mensch macht. Die Liebe ist »Grund, Quelle und Sinn des Seins«, sagt Anselm Grün. Nach dem französischen Philosophen Gabriel Marcel sind Liebe und Sein identisch.20 Bei den Griechen war Eros der älteste Gott, dem selbst die Götter machtlos ausgeliefert sind. In der Antigone des Sophokles heißt es:

»Dich, Eros, schlägt

Keiner (…)

Von Göttern, sie leben ohne Ende,

von Menschen, sie fristen ihr Dasein,

Entrinnt dir keiner. Wen du befällst, den

bringst du zum Rasen.«21

 

Auch sein indischer Bruder Kama erhob sich »als erste der göttlichen Gewalten (…) aus der undurchdringlichen Flut des Anfangs«, die »dunkel in Dunkel bei sich selber glühte und über sich hinaus zur Weltgeburt drängte«22. »Da war das Nichtsein (…)«, heißt es in den altindischen Veden, »daraus erhob zuvörderst sich die Liebe, sie, die des Geistes erste Samenskraft war.«23

In einem der bedeutendsten Weisheitsbücher der Chinesen, das weit in die Epoche vor unserer Zeitrechnung zurückreicht, dem Liji (Buch der Riten), wird die Bedeutung der vorgeburtlichen Prägung betont. Dort wird das noch ältere I Ging zitiert: »Im Buch der Wandlungen (I Ging) heißt es: Wenn man die Wurzel richtig macht, so kommen alle Dinge in Ordnung (…) Der Vogel Phönix hat gleich von seiner Geburt an Gedanken der Liebe und Gerechtigkeit, ein Tiger oder Wolf hat gleich von seiner Geburt an ein gieriges und grausames Herz. Die beiden Wesen haben einen verschiedenen Ruf (Charakter) durch ihre Mütter. Ach, wie vorsichtig muss man sein, dass man nicht einen Tiger großsäugt, der einst die Welt verletzt! Darum heißt es: Die Art der Überlieferung der Erziehung im Mutterleib ist in kostbaren Urkunden aufgezeichnet (…) um künftigen Geschlechtern zur Mahnung zu dienen. (…) Als die Königin Jen von Dschou (die Gemahlin des Königs Wu) den König Tschong in ihrem Leibe trug, da lehnte sie sich beim Stehen nicht an, beim Sitzen saß sie nicht unregelmäßig. Wenn sie allein war, so war sie nicht hochmütig; auch wenn sie zornig war, schalt sie nicht. Das ist es, was man unter Erziehung im Mutterleib versteht.«24 »Wenn man die Wurzel richtig macht« steht für die ersten Prägungen, die wir im Mutterleib und in den Monaten nach der Geburt erhalten. Die erste gelebte und erfahrene Liebe zu einer intimen Bezugsperson, insbesondere zur Mutter während der Schwangerschaft, weckt in uns eine lebenslange Sehnsucht nach Liebe im Sinne von Bezogenheit, Vereinigung, Mitsein, Gemeinschaft. Die »lustvolle Ursituation im Mutterleib«, die »wir als Ausdruck der höchsten Lustmöglichkeit überhaupt ansehen müssen«, schreibt Otto Rank, wird »durch den Akt der Geburt … in unerwünschter Weise unterbrochen«. Das »ganze Leben besteht dann darin, dieses verlorene Paradies (…) zu ersetzen, da es tatsächlich nicht mehr zu erlangen ist«.25

»Obwohl wir uns nicht bewusst an vorgeburtliche Erlebnisse erinnern können«, schreiben Hüther und Krens, »scheinen sie dennoch tief in unseren Körpern und Seelen verwurzelt zu sein. Bei den Naturvölkern kommt dies in vielen überlieferten Mythen und Ritualen zum Ausdruck. Im Kongo haben schwangere Frauen z.B. die Gewohnheit, ihrem Kind im Bauch immer wieder dasselbe Lied vorzusingen. Nach der Geburt erinnert es sich daran. Die vertrauten Töne beruhigen es und geben ihm Sicherheit. In Thailand geht man davon aus, dass das ungeborene Kind alles miterlebt, was in der Mutter vor sich geht. Deshalb sorgt man dafür, dass die Mutter während der Schwangerschaft vor allem positive Erfahrungen macht. Bei den Quiché in Guatemala wird im siebten Monat eine Zeremonie begangen, bei der die Mutter ihrem Kind im Bauch mit lauter Stimme erzählt, wie die Wälder, Berge und Flüsse, also die Landschaft und die Umgebung, aussehen, in die es bald hineingeboren wird. Es wird auf diese Weise willkommen geheißen und auf sein zukünftiges Leben vorbereitet.«26

Menzius, ein bedeutender Nachfolger des Konfuzius, stellte die Menschenliebe in das Zentrum seiner Ethik. Darin kommt die traditionell überragende Bedeutung der Kindes- und Elternliebe in der chinesischen Kultur zum Ausdruck. »Höchste Kindlichkeit hängt lebenslang an den Eltern. Mit fünfzig Jahren noch ganz an seinen Eltern zu hängen – das ist es, was ich an Schun, dem Großen, geschaut (gelernt) habe«, sagt Menzius. »Diese leidenschaftliche Liebe zu den Eltern«, schreibt Richard Wilhelm, der Übersetzer dieser Stelle und bedeutender Kenner der altchinesischen Philosophie und Kultur, »ist eine Eigentümlichkeit des chinesischen Geistes. Durch sie erst gewinnt die kindliche Ehrfurcht Wärme und Farbe. (…) Das Motiv der Liebe wird durch diese Zusammenhänge beziehungsreicher als in der europäischen Poesie.«27 Die Liebe zu den Menschen ist ihnen »ins Herz geschrieben« (Konfuzius).28 Damit soll nicht geleugnet werden, dass Kinder sich von ihren Eltern auch loslösen und unabhängig machen können und müssen. Aber in der tiefsten Schicht ihrer Persönlichkeit bleiben sie mit den Eltern auf ewig verbunden.

Ganz in diesem Sinne lesen wir bei dem griechischen Philosophen Plutarch: »Den Menschen hingegen, ein vernünftiges, zum bürgerlichen Leben gemachtes Wesen, führt die Natur zu Gerechtigkeit und Gesetz, zur Verehrung der Götter, zur Gründung von Städten und freundschaftlicher Vereinigung, sie hat ihm daher einen edlen, herrlichen, alle diese Tugenden zur Reife bringenden Samen in der Liebe und Zärtlichkeit gegen die Kinder gegeben, dabei sich aber an die ersten Grundstoffe gehalten, welche in den ersten Anlagen der Körper liegen.«29 Die Liebe gehört danach zu den »ersten Anlagen der Körper«, wird genährt und reift in »der Liebe zu den Kindern« und ist grundlegend für jede gelingende Gemeinschaft von der Partnerschaft über die Familie, das Dorf, die Stadt bis hin zum Staat und der Weltgemeinschaft. »Wen wahre Liebe band, den wird sie wieder binden«, heißt es in einer Tragödie Senecas.30 Dass diese Liebe etwas mit der pränatalen Erfahrung und der Bindung an die Mutter zu tun hat, drückt sich wohl auch im Mythos des Ödipus aus, der, als er glaubt, eine fremde Frau zu lieben, sich in Wahrheit mit der Mutter vereinigt.

In der jüdisch-christlichen Tradition finden wir das Bild von der Vertreibung aus dem Paradies, das wir in vielen alten Kulturen antreffen. Es kann als Metapher für die Geburt des Menschen, für den Verlust der Einheit mit der Mutter und der Natur verstanden werden. Ein weiterer Mythos aus dem Alten Testament besagt, die Frau als Lebenspartnerin des Mannes sei ihm »aus der Rippe« geschnitten. In der Liebe zum Partner sehnen wir uns danach, den verlorenen Körperteil wiederzuerlangen, um wieder »ganz« und »heil« zu werden. Stets kommt es dem Menschen so vor, als wenn »in seiner Brust etwas fehlt, wenn er es nicht in einem anderen Menschen findet«, interpretiert der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann und fährt fort: »es gibt in jedem Menschen etwas, das er in sich vermisst, etwas, das ihm fehlt und doch zu ihm gehört, und er kann es nur von außen wiedererlangen. Das Gegenüber der Liebe ist immer – zufolge dieses alten Mythems (sic) – geformt aus dem eigenen Mangel; die Geliebte ist stets die vollendete Erfüllungsgestalt der eigenen Wunde.«31

Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber betont, dass die naturhafte Verbundenheit mit der Mutter gleichzeitig eine Verbundenheit mit der ganzen Welt und dem Kosmos einschließe: »Das vorgeburtliche Leben des Kindes ist eine reine naturhafte Verbundenheit, Zueinanderfließen, leibliche Wechselwirkung; wobei der Lebenshorizont des werdenden Wesens in einzigartiger Weise in den des tragenden eingezeichnet (…) erscheint; denn es ruht nicht im Schoß der Menschenmutter allein. Diese Verbundenheit ist so welthaft, dass es wie das unvollkommene Ablesen einer urzeitlichen Inschrift anmutet, wenn es in der jüdischen Mythensprache heißt, im Mutterleib wisse der Mensch das All, in der Geburt vergesse er es. Und sie bleibt ihm eher als geheimes Wunschbild eingetan. (…) Jedes werdende Menschenkind ruht, wie alles werdende Wesen, im Schoß der großen Mutter: der ungeschieden vorgestaltigen Urwelt.«32 Er fügt hinzu, es sei die Bestimmung des Menschen, diese naturhafte Verbundenheit, die mit der Geburt und Ichwerdung ende, durch tiefe, emotionale, nährende (»geistige«) Bindungen zu anderen Menschen zu kompensieren: »Es ist dem Menschenkind Frist gewährt, für die verlorengehende naturhafte Verbundenheit mit der Welt geisthafte, das ist Beziehung, einzutauschen (sic).«33

Für die antiken Weisheitslehren in Ost und West war Sehnsucht nach Liebe ein derart fundamentales und beherrschendes Lebensprinzip, dass sie es als eine kosmische Kraft ansahen, die alles Lebendige wie Unlebendige einschließlich der Götter selbst beherrscht. Bei den Griechen ist Eros eine »lebenschaffende kosmische Urkraft« von »unermesslicher philosophischer Fruchtbarkeit«. »Die zeugende Macht des Eros« gilt »als Prinzip des Werdens der gesamten körperlichen Welt, als die schöpferische Potenz jener Urliebe«, zugleich als »das Prinzip alles Wohlseins und aller wahren Harmonie«.34 Der römische Dichter Lukrez schreibt in seinem Lehrgedicht »Über die Natur der Dinge«, in dem er der Philosophie Epikurs von der Lust und Freude am Leben ein Denkmal setzt:

»Kurz: In den Bergen, zur See, in den machtvoll sprudelnden Flüssen,

laubüberschatteten Nestern der Vögel, auf grünenden Fluren

bewegst du (Venus) in jedem Geschöpf ein willkommenes Liebesverlangen,

spornst es zu eifrigem Fortpflanzen an, zur Erhaltung der Arten.

Derart beherrschst du den Gang der Natur als einzige Herrin.«35

Die Idee, dass die Liebe die Sehnsucht nach Rückkehr und Wiedervereinigung mit der Natur und ihren schöpferischen Kräften ist, zieht sich durch die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit bis zum heutigen Tag und wird von den Erkenntnissen der Psychologie, Soziologie und modernen Biomedizin bestätigt. »Die Geschichte des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens begann damit«, schreibt Erich Fromm, »dass er aus einem Zustand des Einsseins mit der Natur heraustrat und sich seiner selbst als einer von der ihn umgebenden Natur und seinen Mitmenschen abgesonderten Größe bewusst wurde.«36 Herbert Marcuse entwickelt eine ähnliche Idee, wonach sich der Mensch auf die Suche nach den »Spuren einer andersartigen verlorenen Wirklichkeit oder einer verlorenen Beziehung zwischen Ich und Wirklichkeit« macht, in der gleichsam ein anderes als das väterliche Realitätsprinzip herrsche, nämlich eine tendenziell »mütterliche Wirklichkeit« der innigen und sogar libidinösen Verbundenheit.37

In einem Vortrag führt der Neurobiologe Gerald Hüther aus: »Aus der pränatalen Erfahrung erwachsen dem Menschen zwei grundlegende Bedürfnisse: der nach Geborgenheit und der, in Geborgenheit wachsen zu können. Deshalb ist der Mensch einerseits auf Integration in eine Gemeinschaft, andererseits auf freie Entfaltung seiner Begabungen angewiesen. Bekommt er das nicht, beginnt er zu leiden und sucht Ersatzbefriedigungen. Jedes Kind hofft, dass da draußen jemand ist, der ihm Geborgenheit, Schutz, das Gefühl der Zugehörigkeit gibt.« Er spricht von der notwendigen Wiederbelebung und Wiederfindung dessen, was irgendwann in der frühkindlichen Phase verloren gegangen ist: »to reconnect the disconnected«.38

Beim Dalai Lama lesen wir schließlich: »Als Folge dieser hochgradigen Abhängigkeit von anderen in unserer frühkindlichen Entwicklung ist die Bereitschaft zur liebevollen Zuwendung in unserer biologischen Natur angelegt. (…) für uns Menschen, die wir so lange genährt werden müssen, sind die Fürsorge und liebevolle Zuwendung anderer zweifellos lebensnotwendig und für unser Wohlergehen unverzichtbar. (…) Erkenntnisse auf dem Gebiet der Psychologie bestätigen, dass die Fürsorge, die wir als Säuglinge und Kinder erfahren, einen entscheidenden Einfluss auf unsere emotionale und psychische Entwicklung hat.«39

Die Zitate ließen sich beliebig fortführen. Das Gesagte soll genügen, um den Ursprung der Liebe als der stärksten Sehnsucht des Menschen, ohne die Leben gar nicht möglich ist, zu veranschaulichen. Es sollte zudem deutlich geworden sein, dass die Sehnsucht nach Liebe viel weiter reicht als die erotische Liebe und fundamental unser ganzes Sein bestimmt. Die erotische Liebe mag zu heftigsten Leidenschaften führen, die nicht selten stärker sind als unser Verstand und großes Leid verursachen können. Ein tief verwurzelter genetischer Fortpflanzungstrieb lädt diese Form der Liebe zusätzlich auf. Aber tiefer und nachhaltiger werden unsere Existenz und unser Lebensglück ergriffen, wenn sich die »Schmetterlinge im Bauch« beruhigt haben und aus dem Sturzbach der Verliebtheit der breite und mächtige Strom der Liebe geworden ist. Das ist dann der Fall, wenn sich das Gefühl der leidenschaftlichen Zuneigung in Gefühle von Geborgenheit, Sicherheit, Fürsorge, Wärme, Vertrautheit, seelisch-geistigem Einssein verwandelt hat. Eben in jene Gefühle, die uns im Mutterleib und als Kleinkind genährt, getragen und erfüllt haben und die keineswegs immer mit erotischer Liebe in Verbindung stehen müssen. Die Liebe zu den Kindern, zu Freunden, zu uns selbst, zu unserem Tun, zur Kunst, zu einem Göttlichen etc. können ebenso starke und tragende Gefühle erzeugen, unter Umständen sogar tiefere. Aphrodite verkörperte bei den Griechen die leidenschaftliche Verliebtheit, die alles vergisst, aber auch die gereifte Liebe, die »Göttin des stillen Meeres«, den »Zauber des Meeresfriedens«.40 Der Liebesgott Eros scheint eine ähnliche Ambivalenz aufzuweisen, denn die frühen Griechen stellten ihn auch als eine geflügelte ›Bosheit‹ dar, »da unbezähmte Leidenschaft einen störenden Einfluß auf eine geordnete Gesellschaft haben könnte«.41

Schließlich klang in dem Gesagten an, wie maßgeblich gelebte und empfangende Liebe unsere Lebensfreude und unser Glück beeinflusst, wie die Liebe im weitesten Sinne der Nährboden für jede Art von Freude und Glück ist. Jede befriedigte Sehnsucht löst Freude und Glücksgefühle aus. Je mehr solche Befriedigungen jene Gefühle wieder wachrufen, die uns als Embryo und Kleinkind geprägt haben, umso tiefer, nachhaltiger und erfüllender erleben wir Lebensglück. Viele Momente der täglichen kleinen Freuden berühren diese Schichten unseres emotionalen Seins nur oberflächlich. Manche dieser Freuden sind bloße Formen von Ersatzbefriedigung, zu denen wir in dem Maße Zuflucht suchen, wie es uns nicht gelingt, unsere tieferen Sehnsüchte zu stillen. Etwa, wenn wir konsumieren, kaufen, Genussmittel zu uns nehmen, guten Geschäften und beruflichen Erfolgen nachjagen, Kicks suchen oder extreme sportliche Herausforderungen bewältigen. So befriedigend und freudvoll solche Momente auch sein können, sie währen nur für eine kurze Zeit und sind keine Quelle anhaltender Lebensfreude und eines gelingenden Lebens. Anhaltende Lebensfreude ist eingebettet in eine körperlich-seelisch-geistige Gesamtverfassung, in der Gefühle wiedererlebt werden, die uns vor- und nachgeburtlich emotional geprägt haben: Geborgenheit, Wärme, Sicherheit, Vertrauen, Fürsorge, Getragen- und Geliebtsein, Verbundenheit, Mitsein, Einssein, zwischenmenschliche Resonanz.

Die Unterscheidung von flüchtiger und nachhaltiger Freude erinnert an die doppelte Bedeutung des Wortes »Glück«. Zum einen bezeichnet es ein von außen kommendes, zufälliges Glück (»ich habe Glück gehabt«); dann aber auch einen dauerhaften Seelenzustand (»ich bin glücklich«, »ich führe ein glückliches Leben«). Nur das zweite, das Glücklichsein, ist das, wonach wir uns am stärksten sehnen. Dieses Glück aber hat nichts mit Konsum, momenthafter Lustbefriedigung, vorteilhaften Ereignissen oder freudigen Zufällen zu tun, sondern wurzelt in unserer Sehnsucht nach Bezogenheit, Geborgenheit, dem Gefühl von Einssein und einer tiefen Verbundenheit mit einem anderen Menschen, mit uns selbst oder mit der Welt. So ist auch die Liebe, von der hier die Rede ist, kein flüchtiges Gefühl, sondern eine unsere ganze Existenz ergreifende und durchwaltende Grundstimmung, die viel zu tun hat mit einer ausgeglichenen, gesunden Seelenverfassung. Das soll in den folgenden Kapiteln vertieft und verdeutlicht werden.

»In unaufhörlichem Wechsel tritt bald in Liebe vereint alles in Eines zusammen,

Bald strebt jegliches vom Hasse entzweit wieder nach Trennung.«42

Empedokles

Liebe als Wunsch zur Vereinigung

»Sich mit anderen Lebewesen zu vereinigen, zu ihnen in Beziehung zu treten, ist ein gebieterisches Bedürfnis, von dessen Befriedigung die seelische Gesundheit des Menschen abhängt. Dieses Bedürfnis steht hinter allen Erscheinungen, welche die gesamte Skala der intimen menschlichen Beziehungen ausmachen, hinter allen Leidenschaften, die man im weitesten Sinne des Wortes als Liebe bezeichnet.«43

Erich Fromm

 

»In Liebe sehen wir, dass es keinen Unterschied,keine Trennung gibt.

Du bist ich, ich bin Du.

Du bist Teil von mir.

Ich bin Teil von Dir.

Diese Einheit zu fühlen, ist Liebe.«44

Sri Sri Ravi Shankar

Unsere tiefste und stärkste Sehnsucht im Leben ist die nach dem Erlebnis einer liebevollen Vereinigung, insbesondere mit anderen Menschen, sei es in körperlicher, geistiger oder seelischer Hinsicht oder in allen drei gleichzeitig. Sie rührt her von der Erfahrung der Liebe, Geborgenheit und Einheit mit der Mutter im vor- und nachgeburtlichen Lebensstadium. Im nachgeburtlichen Stadium kann anstelle der Mutter auch eine andere Bezugsperson treten, zu der das Kind eine tiefe emotionale Bindung aufbaut und starke Resonanz erlebt. Vereinigung meint jede Form des erlebten körperlichen, seelischen und geistigen Mit-, Bezogen- oder Zusammenseins mit einem Menschen, aber auch mit einem Gegenstand, einer Tätigkeit, einem Verhältnis, einer Idee, einer Vorstellung oder eines sonstigen immateriellen Objekts.

Wenn wir mit einem geliebten Menschen zusammen sind oder uns einem Menschen nahe fühlen, ein Einvernehmen mit ihm herstellen, ihn verstehen, mit- und nachfühlen, was er erlebt, wenn wir uns verstanden fühlen; oder wenn wir zusammen spielen, lachen, gemeinsam meditieren, singen, Musik oder Sport machen; oder wenn wir uns selbst besser verstehen, uns finden, innere Konflikte lösen, in unsere Mitte kommen, uns wohl in unserer Haut fühlen, in uns Harmonie und innere Ausgeglichenheit herstellen, zu innerem Frieden kommen, gelassen und geborgen in uns ruhen; oder wenn wir Zusammenhänge erkennen, zu neuen Einsichten kommen, etwas lernen, Werke des Geistes oder der Kunst verstehen; oder wenn wir uns an der Natur erfreuen und spüren, dass wir ein Teil von ihr sind; oder wenn wir in den Besitz eines gewünschten Gegenstands kommen: ein Kleidungsstück, ein Möbel, eine Wohnung, ein gutes Essen, ein guter Wein; oder wenn wir die gewünschte Arbeitsstelle bekommen, Lob und Anerkennung erhalten, eine ersehnte Reise machen – in all diesen Erlebnissen und Beziehungen ist das Freudvolle und Beglückende eine Art Vereinigung, Erfüllung einer Sehnsucht, ein Mitsein, Mitfühlen, Mitdenken, ein gemeinsames Erleben und Bezogensein, seelisch, emotional, geistig oder körperlich oder alles zusammen.

In alldem findet eine mehr oder weniger starke Aufhebung unserer Vereinzelung statt, wir spüren und erkennen unser Bezogensein auf die Welt, die anderen oder uns selbst und fühlen uns aufgenommen, akzeptiert und integriert. Wir durchbrechen unsere Isolation, werden größer, wachsen über uns hinaus und erfahren uns als ein Teil von etwas Umfassenderem. Wir erleben Resonanz, Anerkennung und Selbstwirksamkeit. In der erfüllenden Begegnung mit etwas oder einem anderen Menschen werden wir uns selbst gewahr. Wir bewegen und berühren etwas, werden bewegt und angerührt. Wir werden uns in dem anderen, in dem Verhältnis, in dem Ding, in der Idee selbst gewahr oder spüren uns in der Erfüllung eines Wunsches, im Erreichen, Herstellen oder Denken von etwas. In der Handlung, im Bewirken, im Gestalten, im Erschaffen, im Denken begegnen wir uns selbst. Stark ausgeprägt ist dies im zwischenmenschlichen Bereich: Im Du erkennen wir unser Ich. In der Spiegelung der anderen erfahren wir uns selbst. »Ich werde am Du«, schreibt der Religionsphilosoph Martin Buber, »alles wirkliche Leben ist Begegnung. (…) Im Anfang ist die Beziehung.«45

Erfüllte Liebe ist immer eine Form der Vereinigung. Wonach wir uns sehnten, ist bei uns angekommen. Der Mensch ist bei und mit uns, körperlich, seelisch, geistig oder in allen drei Hinsichten zugleich. Eine Idee, ein Plan, ein Entwurf, der zunächst nur im Kopf war, ist umgesetzt, verwirklicht und Bestandteil unserer körperlichen oder geistigen Lebenswelt geworden. Stets kommt dabei etwas überein (Idee und Wirklichkeit), fällt zusammen, wird erfüllt und stimmig. Was vorher getrennt war, ist nun zusammen. Dieses Einswerden findet vor allem im Bewusstsein statt, weshalb es weniger darauf ankommt, ob eine physische Nähe oder körperliche Vereinigung hergestellt wird. Wenn wir die ersehnte Arbeitsstelle bekommen oder eine Prüfung bestehen, hat sich räumlich nichts verändert. Aber in unserem Bewusstsein ist eine Sehnsucht oder ein Wunsch in Erfüllung gegangen. Wo eine Leerstelle war, ist nun ein neues Verhältnis getreten, das unser Denken und Leben verändert. Wir haben etwas erreicht und sind ans Ziel gekommen. In alldem erleben wir eine Form der Vereinigung im Hinblick auf das Ersehnte, des Eins- und Ganzwerdens, von Gelingen und Erfüllung, von Harmonie. Dass ein Einssein mit etwas Ersehntem gleichbedeutend ist mit Glück, Freude, Befriedigung, wie umgekehrt Getrenntsein gleichbedeutend ist mit Leid, Einsamkeit oder Verlassenheit, ist als ein Urerlebnis unauslöschlich tief in unseren Genen, Sinnen und Erfahrungsmustern eingeprägt. In dem Erlebnis des Einsseins, insbesondere mit einem anderen Menschen, schwingt ein Gefühl von Geborgenheit, Getragenheit, Geschütztsein und Genährtsein mit. Dieses Erlebnis aber ist eine Form erfüllter Liebe. Aus ihr erwächst die Lebensfreude. Daher hat jede Freude etwas mit gelebter Liebe zu tun. So ist die Fähigkeit zu lieben und geliebt zu werden der Schlüssel für ein gelingendes, freudvolles Leben.

In den folgenden Kapiteln soll erläutert werden, was Lieben in diesem Sinn konkret bedeutet, welche Schlussfolgerungen daraus für unsere Lebensführung zu ziehen sind; ob wir die Fähigkeit des Liebens lernen und steigern können, welche Bedeutung den Objekten unserer Liebe zukommt, wie wir »richtig« lieben, sodass unsere Freude am Leben nicht an der Oberfläche bleibt, sondern uns tief ergreift und wir unser Leben als sinnvoll und gut erleben; wie wir den Fallstricken der Liebe entgehen, wie und worin wir uns üben müssen, wenn wir unsere Fähigkeit zu lieben kultivieren wollen, und was die Voraussetzungen dafür sind, erfüllend und freudvoll zu lieben.

Das alles ist nicht selbstverständlich. Wir verkennen das Wesen der Liebe, wenn wir meinen, dies sei nichts weiter als ein Gefühl, das sich einstellt oder nicht und auf das wir wenig Einfluss haben. Lieben ist eine Kunst, die keineswegs jeder Mensch von Natur aus beherrscht, sondern von den meisten gelernt werden muss, soll ihr Leben gelingen. Würden die Menschen die Kunst des Liebens beherrschen und praktizieren, würden wir in einer anderen Welt leben. Wir würden uns nicht gegenseitig persönlich angreifen und verletzen, sondern miteinander respektvoll, mitfühlend und verständnisvoll umgehen. Die Völker würden sich nicht bekriegen, ausbeuten und unterdrücken, Gläubige würden Andersgläubige nicht verfolgen, ausgrenzen und töten. Wir würden uns nicht nur den anderen Menschen, sondern auch der Natur gegenüber anders verhalten, den Einklang mit ihr suchen und sie weder schädigen noch zerstören. Wir würden mit mehr Energie und Engagement global und effektiv den Hunger auf der Welt bekämpfen und schließlich besiegen. Wir würden uns persönlich und gesellschaftlich kontinuierlich weiterentwickeln auf dem Weg zur Erfüllung unserer tiefsten Sehnsucht: die nach einem gelingenden Miteinander, nach gelebter Liebe, die nach Harmonie, Vereinigung, Einssein und Einsfühlen, die nach Geborgenheit und Seelenfrieden im Äußeren wie in der eigenen Seele.

Leider ist das ein schwieriger Weg. Das lehrt die Geschichte der Menschheit, die in Hinsicht auf zwischenmenschliche Beziehungen eher eine zirkelhafte Bewegung der ewigen Wiederkehr des Gleichen als eine echte Weiterentwicklung erkennen lässt. In manchen Dingen können wir Fortschritte feststellen, wie bei den Rechten der Frauen, den Menschenrechten, der freien Meinungsäußerung und politischen Betätigung etc.

Das vergangene Jahrhundert und leider auch die Gegenwart haben jedoch auch gezeigt, zu welch unvorstellbarem und nie da gewesenem Ausmaß an Hass, Aggression und Gewalt gegen ganze Völker und Nationen Menschen immer noch fähig sind. Doch damit nicht genug, wir sind gegenwärtig auf dem besten Weg, uns selbst und unsere Existenzgrundlage zu zerstören. So können wir nicht feststellen, dass die Menschen im Laufe der Jahrtausende wirklich Fortschritte auf dem Weg zu einem glücklichen Leben gemacht haben. Was die rein äußerlichen Lebensumstände angeht, ist ein Fortschritt für einen Großteil der Weltbevölkerung nicht zu leugnen, allerdings auf Kosten der natürlichen Umwelt und eines immer größer werdenden Teils der Weltbevölkerung, der von jeglichem Wohlstand abgeschnitten ist. Und hat der erreichte Wohlstand in den Industrienationen wirklich zu einer Verbesserung des seelisch-emotionalen Zustands seiner Menschen geführt?

Für den privilegierten Teil der Weltbevölkerung spiegelt das äußere Wohlergehen keinesfalls den innerseelischen Zustand wider. Blickt man auf die bisherige Kulturgeschichte der Menschheit, so bestehen erhebliche Zweifel daran, den heutigen Durchschnittsmenschen für glücklicher zu halten als den Menschen in irgendeinem anderen Zeitalter. Die Menschen scheinen unter denselben seelischen Problemen zu leiden wie vor 2000 Jahren, obwohl die Einsichten, die notwendig sind, damit ihr Leben gelingt, schon seinerzeit bekannt waren. Aber damals wie heute scheitern viele Menschen an der Anwendung und Umsetzung dieser Einsichten im täglichen Leben. Einzelnen mag es gelingen, in ihrem Leben Fortschritte zu erzielen, belastende Prägungen und leidvolle Affekte und Emotionen abzubauen, freudvoller zu leben und liebevoller miteinander umzugehen. Für die Allgemeinheit kann dies leider nicht gesagt werden.

Wenn es aber dem Einzelnen gelingen kann, sich weiterzuentwickeln, weil er neugierig ist, der Welt und den anderen offen und zugewandt begegnet, kontinuierlich dazulernt und an sich arbeitet, dann ist es sinnvoll, sich an längst bekannte Einsichten zu erinnern, die uns sagen, wie wir friedlich und liebevoll zusammenleben können. Das soll hier geschehen, unter Berücksichtigung der Umstände und Lebensbedingungen, wie sie heute sind, und im Hinblick auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die wir heute besitzen. Vieles ist bekannt, anderes in Vergessenheit geraten. Häufig erschöpft sich die philosophische Reflexion darin, wie Aristoteles meinte, vergessene Weisheiten wiederzuentdecken oder, wie sich Konfuzius ausdrückte, Altes neu zu überdenken und es mit den eigenen Erfahrungen zu verschmelzen, um dadurch Veränderungsprozesse anzustoßen. Denn, wie er sagt, »wer nicht in den Spuren anderer wandelt, kommt nicht ans Ziel«, oder, wie es Epikur formulierte: »Mühselig ist es, das Leben immer wieder neu zu beginnen.«46

Bevor dazu übergegangen wird, sollen einige Stimmen zu Wort kommen, die untermauern, dass alles, so auch der Mensch, nach Formen der Vereinigung strebt, nach Harmonie, nach Ganzheit. Die Fülle des Materials, die dieses Thema behandelt, ist unerschöpflich. Die hier angeführten Stellen sollen einerseits verschiedene Aspekte dieser These benennen, andererseits die Dimension und Bedeutung des Gesagten für ein gelingendes Leben verdeutlichen. Zunächst soll dabei auf die drei großen Weisheitstraditionen der Antike eingegangen werden: Griechenland, China und Indien, und sodann der Bezug zur Neuzeit hergestellt werden.

Griechenland

Der griechische Mythos nennt den Liebesgott Eros den »Erstgeborenen« unter den Göttern (griechisch »Protogonos«), der aus einem Ei entsprang, das im Schoß der Dunkelheit geborgen war. Nachdem er entschlüpft war, brachte er alles ans Licht, was dann die Welt war, und setzte sogleich das All in Bewegung.47 Die Liebe ist danach die lebenschaffende, welterzeugende, schöpferische Kraft in allem. Die Anklänge an einen pränatalen Ursprung der Liebe drängen sich in diesem Mythos auf.