Gelassenheit - Albert Kitzler - E-Book

Gelassenheit E-Book

Albert Kitzler

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Kunst der Gelassenheit Wie gehen wir entspannter mit der Welt, mit uns selbst und mit anderen um? Diese Grundfrage der Menschheit beantwortet der bekannte Philosophie-Berater und Autor Albert Kitzler, indem er uns den antiken Philosophen Seneca als Lehrer fürs Hier und Heute nahebringt. Als wohl bekanntester Vertreter des Stoizismus ist die Lehre Senecas auch nach fast 2000 Jahren noch aktuell. Kitzler stellt uns in dieser praktischen Anleitung zu einem gelasseneren Leben eine Philosophie vor, die uns ganz konkret in der Navigation des Alltags hilft. Dabei werden sowohl existenzielle Themen wie Schicksal, Vergänglichkeit und Tod oder Freiheit behandelt, aber es geht auch um Selbstsorge und den Weg zu innerer Seelenruhe. Albert Kitzlers Erkundungen der stoizistischen Lebensführung ist ein unerlässlicher Wegbegleiter für philosophisch interessierte Leserinnen und Leser und alle Menschen, die sich nach einem gelasseneren, sinnerfüllten Leben sehnen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 417

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Albert Kitzler

Gelassenheit

Eine philosophische Lebensschule

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Nichts ärgert das Schicksal mehr als Gelassenheit.« Seneca

 

Gelassenheit ist zum Inbegriff eines glücklichen Lebens geworden. Gerade in Krisenzeiten ist die Frage, wie wir entspannter mit uns, anderen und der Welt umgehen können, aktueller denn je. In dieser praktischen Anleitung erkundet Albert Kitzler die Lebensphilosophie des Stoikers Seneca und bringt sie uns für die heutige Zeit näher. Er zeigt, welche Bedeutung Senecas Weisheit in unserem Alltag hat, und wie seine Gedanken beim Umgang mit Schicksalsschlägen, Vergänglichkeit und Tod helfen.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Vorwort

Einführung

I. Vorschule

Philosophie und Weisheit

Umsetzung

Übung

II. Vom Umgang mit der Welt

Schicksal

Vergänglichkeit und Tod

Besitz

Freiheit

III. Vom Umgang mit sich selbst

Innere Sammlung

Seelenruhe

Selbstsorge

Selbstkultivierung

Selbsterkenntnis

Glück

Authentizität

IV. Vom Umgang mit anderen

Die anderen

Harmonie

Lehrer und Vorbild

Schluss

Literaturverzeichnis

Danksagung

Dieses Buch ist allen Teilnehmern meiner Seminare, Matineen und philosophischen Urlaube gewidmet. Ihren Fragen und Beiträgen verdanke ich viel.

»Nichts ärgert das Schicksal mehr als Gelassenheit.«1

 

»Wohl aber kann jeder, wenn er nur will, es sich selbst leichter machen. Und wie dies? Durch die gleichmütige Stimmung der Seele.«2

 

»Nichts ist ein sichererer Beweis von Geistesgröße, als wenn einem nichts begegnen kann, was einen in Aufregung zu setzen vermöchte.«3

 

»Glücklich ist nicht derjenige, … dem massenhaftes Geld zuströmt, sondern der, der sein ganzes Gut in seinem Innern hat, … der das Schlimme zum Guten wendet, … den das Schicksal, wenn es sein schädlichstes Geschoss auf ihn abschleudert, zwar ritzt, aber nicht verwundet, und selbst dies nur selten …«4

 

»Wer die Einsicht besitzt, ist auch maßvoll; wer maßvoll ist, auch gelassen; wer gelassen ist, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen; wer sich nicht aus der Ruhe bringen lässt, ist ohne Kummer; wer ohne Kummer ist, ist glücklich …!«5

 

»Lass dir also gesagt sein: erst dann bist du ein Mensch wie er sein soll, wenn du gelassen bist gegen jeden Lärm, wenn keine Stimme dich aus der gewohnten Fassung bringt.«6

Seneca

Vorwort

Gelassenheit ist heute mehr denn je gefragt. Kriege, Pandemien, eine höchst fragile weltpolitische Lage und die immer näher kommende Klimakatastrophe beunruhigen zutiefst. Die rasante Entwicklung technischer Neuerungen, Digitalisierung, Globalisierung, künstliche Intelligenz und die weltweite Vernetzung haben den Lebensrhythmus enorm beschleunigt. Die Möglichkeiten, etwas zu tun, zu konsumieren, sich unterhalten zu lassen, sich zu informieren, sich zu präsentieren und in Kontakt mit der Welt zu treten, haben sich vervielfacht. Dieser Zuwachs an Lebensmöglichkeiten hat die Idee, das Leben der Menschen durch technischen Fortschritt zu erleichtern und bequemer zu machen, ins Gegenteil verkehrt: Alles ist schneller, hektischer, komplizierter, unruhiger, konsumistischer und stressiger geworden. Zur Ruhe kommen wir immer seltener. So ist die Sehnsucht nach Gelassenheit für viele Menschen zum Inbegriff eines glücklichen Lebens geworden.

Genau das war schon die Vorstellung der antiken Philosophie und Weisheitslehre in Orient und Okzident. Sie erkannte, dass Lebensglück nicht in Reichtum, Ansehen oder Macht zu finden ist, sondern in der Seelenruhe, der Geborgenheit im Innern, im Einklang mit sich selbst, in einer Grundstimmung heiterer Gelassenheit. Dieses Glück fällt jedoch nicht vom Himmel, sondern setzt voraus, dass man mit sich ins Reine kommt, dass man ein gutes Verhältnis zu sich selbst, den anderen und der Welt gewinnt. Das aber will gelernt sein. Wenn wir als Heranwachsende damit beginnen, unser Leben in die eigene Hand zu nehmen, finden wir uns vorbelastet mit zahlreichen Prägungen, Affekten, Gewohnheiten und Charaktereigenschaften, die uns nicht guttun. Wenn wir mit uns ins Reine kommen, wir selbst werden und unser eigenes Leben führen wollen, dann müssen wir in unserem Inneren aufräumen. Wir müssen all das ablegen, überwinden und eindämmen, was nicht zu uns passt, das Fremde in uns, das uns belastet und unter dem wir auf vielfältige Art leiden. Dafür müssen wir unsere Lebensgewohnheiten im Denken, Fühlen, Wollen und Handeln prüfen, ändern, weiterentwickeln und gegebenenfalls ablegen, bis wir genauso leben, wie wir leben möchten. Je besser uns das gelingt, umso gelassener werden wir.

Wo aber lernen wir eine solche Selbstkultivierung, die uns in unsere Mitte bringt und uns zu einer ausgeglichenen und in sich stimmigen Persönlichkeit macht? Es gibt weder ein Schul- noch ein Universitätsfach »Lebenslehre« oder »praktische Lebensphilosophie«. Es wird Religionsunterricht oder ersatzweise »Ethik« angeboten. Aber lernen wir in diesen Fächern, wie wir unseren Lebensalltag bewältigen, sodass wir ihn lieben und zu einer Quelle der Freude und des Wohlergehens machen? Wird dort gelehrt, wie wir konkret mit Ängsten umgehen sollen, mit Sorgen, Stress, Zorn, Wut, Ärger, Neid, Gier, Eifersucht, Leidenschaften, Entfremdung, Trauer, Schicksal, Tod – mit all dem, was uns daran hindert, ein gutes Leben zu führen, ein Leben in Gelassenheit und Eintracht mit uns selbst? Wie sollen wir uns zu uns selbst, zu anderen und zur Welt verhalten? Wie funktioniert unser Seelenleben? Wie stärken wir unsere Resilienz und Widerstandsfähigkeit, unser Selbstvertrauen, unser Selbstwertgefühl und unsere Zuversicht? Mein Eindruck ist, dass es nirgendwo einen systematisch und methodisch fundierten Unterricht in praktischer Lebensbewältigung gibt. Bedauerlich ist dies vor allem für junge Menschen, für die ein solcher Unterricht besonders hilfreich und eine sinnvolle Ergänzung zu ihrer fachlichen Ausbildung wäre.

Für Erwachsene gibt es Coachings, die Hochkonjunktur haben. Dabei geht es aber meist um die Erreichung konkreter Ziele, etwa einen Job zu bekommen, Arbeitsanforderungen zu bewältigen oder als Führungskraft seine »personal skills« zu schulen, nicht aber um das Leben als Ganzes. Die verschiedenen Angebote von Psychotherapien werden wiederum in der Regel erst wahrgenommen, wenn sich ein Problem zu einer ernsthaften psychischen Störung entwickelt hat. Bleiben noch die zahlreichen Lebensratgeber in Buchform. Da mag sich unter sehr viel Oberflächlichem und Modischem auch Hilfreiches finden. Häufig aber werden nur einzelne Aspekte der Lebensbewältigung erörtert, seltener das Leben in seiner ganzen Breite und Tiefe.

Das vorliegende Buch möchte die aufgezeigte Lücke schließen. Es will eine Anleitung sein, wie die verschiedensten Herausforderungen des Lebens auf die beste Art bewältigt werden können, sodass wir stets eine Grundstimmung heiterer Gelassenheit bewahren oder nach einem Schicksalsschlag in angemessener Zeit wieder dahin zurückfinden. Dies geschieht vom Standpunkt der Philosophie aus, das heißt ganzheitlich auf der Grundlage eines angemessenen, tieferen Verständnisses der menschlichen Lebenswelt. Zu diesem Zweck wollen wir uns in die Schule des römischen Philosophen und Staatsmannes Seneca begeben, einem der großen Weisen der Menschheitsgeschichte, der eine faszinierende Lebenslehre hinterlassen hat. Nichts von dem, was Seneca zum gelingenden Leben geschrieben hat, ist veraltet. Niemand hat ihn an Lebensweisheit übertroffen. Die stoische Philosophie, die er vertritt, gilt noch heute als der Inbegriff einer Lehre der Gelassenheit. Dafür steht ihr Ideal der »Unerschütterlichkeit des Weisen«, der sprichwörtlich gewordenen »stoischen Ruhe«, die wir modern Resilienz nennen.

Aber sollten wir in unserer knappen Freizeit das Leben nicht einfach nur genießen, anstatt an einer Selbstkultivierung zu arbeiten? Gewiss, aber darum geht es ja gerade: das Leben nachhaltig und sinnvoll so zu gestalten, zu erfahren und zu verarbeiten, dass wir es an jedem Tag neu lieben und die angenehmen Geschehnisse der Welt trotz allem gelassen genießen können. Das ist nicht einfach, und nur wenige Menschen beherrschen diese Kunst wirklich gut. Häufig ist unsere Lebensfreude getrübt von Sorgen, inneren Konflikten, Ängsten, Unruhe, Rastlosigkeit, Enttäuschungen, Sinnzweifeln sowie unerfüllten Sehnsüchten und Wünschen. Gerade um solche Belastungen abzubauen, ist eine Weiterbildung in philosophischer Lebensbewältigung äußerst hilfreich. Wer regelmäßig Sport betreibt, hat gelernt, dass der Schweiß, der darauf verwendet wird, sich vielfach auszahlt. Genauso verhält es sich beim Grundkurs in philosophischer Lebensweisheit: Was wir hier mit wenig Mühe aufwenden, kommt als Energie, Lebensfreude und Gelassenheit vielfach zurück.

Einführung

Die Lebensschule

Ein paar Beispiele mögen verdeutlichen, was eine praktische Lebensschule für ein gelingendes Leben und die dazugehörige Grundstimmung heiterer Gelassenheit leisten kann. Der Philosoph Arthur Schopenhauer, der ein Buch über praktische Lebenskunde schreiben wollte, jedoch über ein Fragment nicht hinauskam, sagte einmal, die Voraussetzung, um glücklich zu sein, sei, sich täglich zwei Stunden an der frischen Luft zu bewegen.7 Wir haben alle gelernt und »wissen«, dass ein gesunder Geist einen gesunden Körper braucht. Viele haben auch davon gehört, dass der Körper beim Sport bestimmte Hormone produziert, die ein Gefühl des Wohlbefindens auslösen. Geringer, aber immer noch beträchtlich, ist die Zahl derer, die es sich deshalb zur festen Gewohnheit gemacht haben, regelmäßig Sport zu betreiben oder sich täglich ausreichend zu bewegen. Schon deutlich weniger Menschen nehmen aber die Treppe, wenn daneben eine Rolltreppe vorhanden ist. Verschwindend gering ist schließlich die Zahl derer, die vielleicht sogar Freude dabei empfinden, wenn es erforderlich ist, irgendeine Verrichtung zu erledigen, die körperliche Anstrengung verlangt. Viele von uns stöhnen und werden mürrisch, wenn sie einkaufen oder in den Keller gehen müssen, aufräumen oder sauber machen, Schnee schippen oder den Hauseingang fegen sollen. Sie geben viel Geld für Dienstleistungen aus, die ihnen solche alltäglichen Bewegungen ersparen.

Diesen Menschen könnte es helfen, wenn sie sich Schopenhauers Maxime bewusst machen würden, sie verinnerlichten und danach lebten. Dann würden sie vermutlich keinen Unmut mehr empfinden, wenn sie sich bewegen müssen. Sie würden, auf Dauer gesehen, die körperliche Fitness steigern, sich wohler fühlen, mehr Energie haben, weniger Krankheiten bekommen, langsamer altern und länger gesund leben. Die alten Griechen, die diese Erfahrung tatsächlich verinnerlicht hatten, betrieben jeden Tag mindestens ein bis zwei Stunden lang gymnastische Übungen und waren überwiegend zu Fuß unterwegs. Von nicht wenigen Philosophen heißt es, dass sie dabei recht alt wurden und nach 90 oder 100 Lebensjahren sogar freiwillig den Tod suchten, weil sie meinten, nun lange genug gelebt zu haben.8

Ein anderes Beispiel: Wenn etwas nicht so läuft, wie wir uns das vorstellen, ärgern wir uns manchmal tagelang. Sokrates bemerkte einmal spöttisch, niemand, der eine schöne Frau heirate, wisse, ob er sich damit mehr Glück oder mehr Unglück ins Haus hole. Es ist eine wichtige Lebenslehre zum Abbau von Ängsten und zur Förderung von Gelassenheit, sich bei allen Unternehmungen von vornherein darauf einzustellen, dass sie auch misslingen oder sich ganz anders entwickeln könnten, als wir es uns wünschen und vorstellen. Dies ist kein Grund, den Kopf hängen zu lassen oder es an der notwendigen Energie und Motivation fehlen zu lassen. Was auf den ersten Blick wie ein Unglück aussah, hat sich im Nachhinein oft als Glücksfall erwiesen. Solch einen »weisen« Ratschlag haben wir alle schon einmal gehört. Dass darin aber eine tiefe philosophische Wahrheit steckt, die es zu verstehen, zu verinnerlichen und dann auch anzuwenden gilt, scheint jedoch vielen verborgen geblieben zu sein. Sonst würden wir im Alltag auf deutlich mehr Gelassenheit und Unaufgeregtheit stoßen, als dies tatsächlich der Fall ist.

Ein letztes Beispiel: Wie oft ärgern wir uns über andere Menschen, wie oft werden wir deswegen missmutig, wütend, bekommen schlechte Laune oder können aus Ärger nicht schlafen. In einer philosophischen Lebensschule lernen wir bereits im Grundkurs zumindest dreierlei: Erstens, dass durch Ärger nichts besser wird. Zweitens, dass wir höchst unvollkommene Wesen sind und – wie umsichtige Fahrradfahrer in einer Großstadt – gut daran tun, mit den Fehlern und Rücksichtslosigkeiten anderer zu rechnen. Drittens, dass wir zwar selten das Verhalten der anderen ändern können, dass es aber an uns liegt, ob wir uns dadurch ärgern und aus der Ruhe bringen lassen oder nicht. Die Lehre, die dem zugrunde liegt, sei hier wie bei den vorhergehenden Beispielen nur angedeutet. Sie ist keineswegs so banal, wie es den Anschein hat. Dahinter verbergen sich wesentliche philosophische Erkenntnisse vom Wesen des Menschen und der Funktionsweise seiner Seele, von der Welt und den Gesetzmäßigkeiten des Lebens. Erst wenn wir den Kurs durchlaufen haben und uns die einfach scheinenden Erkenntnisse des Fachs »Lebenskunde« zu eigen gemacht haben, wird uns ihre weitreichende Bedeutung bewusst werden. Mehr noch: Wir werden das Lernziel der Schule erreichen und Einsichten der praktischen Philosophie in persönliche Charaktereigenschaften und innere Lebenshaltungen verwandelt haben. Erst eine solche innere Wandlung und Neuorientierung unseres Denkens, Wollens und Handelns wird uns in den Stand setzen, Leid zu verringern und das Leben auf die bestmögliche Art zu meistern, große Freude daran zu haben und stets gelassen zu bleiben.

Die Grundsätze für ein gelingendes Leben

Wer alles selbst ergründen will, hat viel zu tun. Leichter ist es, von anderen zu lernen. Das gilt besonders für das gute Leben und die Grundstimmung heiterer Gelassenheit. Darüber zerbrechen sich die Menschen den Kopf, seitdem sie anfingen, über sich selbst nachzudenken. Daraus den Schluss zu ziehen, dass niemand weiß, wie es geht, wäre falsch. Im Gegenteil! Schon sehr früh haben weise Menschen äußerst brauchbare Antworten auf die damit aufgeworfenen Fragen gefunden. Tatsächlich ist bereits in den Schriften des Altertums in Ost und West alles Notwendige dazu gesagt und niedergeschrieben worden. Seitdem ist darüber – abgesehen von einigen Ansätzen – nichts grundlegend Neues mehr gedacht worden. Dass wir uns trotzdem immer noch mit diesen Fragen herumschlagen, als hätten wir die richtigen Antworten noch nicht gefunden, hat im Wesentlichen drei Gründe:

Erstens ändern sich die Zeiten und Umstände. Das erfordert eine Anpassung der überlieferten Antworten an das Hier und Jetzt. »Was die Seele anlangt, so haben die Alten die Heilmittel gefunden«, meinte Seneca, »wie sie aber anzuwenden sind … das ist unsere Aufgabe, ausfindig zu machen. … Sie müssen den Zeitumständen angepasst werden.«9 Den Einfluss der Zeitumstände sollten wir allerdings nicht überschätzen. Die Frage nach dem gelingenden Leben knüpft an der Natur des Menschen an. Damit sich diese ändert, braucht es mehr als ein paar Tausend Jahre. Die Tiere und Pflanzen, die es heute gibt, sehen ziemlich ähnlich aus wie vor 3000 Jahren. Für den Menschen und seine seelisch-geistige Natur gilt dasselbe.

Zweitens ist jeder Mensch ein Individuum, ein Unikat. Deshalb muss jeder gute Ratschlag, jede Lebensregel und jede Weisheit an die individuellen Eigenheiten und konkreten Lebensumstände angepasst werden. Keine Weisheit ist immer, überall und unter allen Umständen wahr und zu befolgen. Damit wird das Arsenal an hilfreichen Lebensweisheiten keineswegs hinfällig oder relativiert. Es gibt lediglich keinerlei Automatismus. Freuen wir uns darüber, denn andernfalls könnte das Leben auf ein Computerprogramm reduziert werden und wäre seiner wichtigsten Werte beraubt: der Freiheit und Eigenverantwortlichkeit!

Drittens müssen wir uns dieses Weisheitswissen erst einmal aneignen, damit es in unserem Leben die ersehnten Früchte trägt. Das ist weit schwieriger, als wir gemeinhin denken. Viele glauben, es reiche aus, ein gutes Buch darüber zu lesen. Einige begnügen sich gar damit, das Buch zu kaufen und zu den anderen ungelesenen Büchern zu stellen. Dass es aber einer gewissen Anstrengung bedarf, aus den Erfahrungen anderer zu lernen und nicht immer die gleichen Fehler und Irrtümer zu begehen, das scheinen die wenigsten wahrhaben zu wollen. Deshalb soll in diesem Buch die Vermittlung der Lebenslehren und deren Umsetzung im Zentrum stehen.

Der Lehrer

Bei wem sollen wir in die Schule des Lebens gehen? Es gibt zahlreiche gute Lehrer, lebende und tote. Ich habe mich entschieden, auf Altbewährtes zurückzugreifen. Anders als bei den zeitgenössischen Büchern und Lehrern hat die Geschichte über das Alte bereits ihr Urteil gefällt. Was seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden immer wieder verlegt, übersetzt, studiert und gelehrt wird, darauf können wir uns getrost verlassen.

Unser Lehrer ist schon vor rund 2000 Jahren gestorben, aber noch heute ist er jedem wegen seiner Lebensweisheit bekannt: der Philosoph Seneca. Manche meinen, er sei der bedeutendste unter den römischen Philosophen gewesen.10 Dafür gibt es gute Gründe, die das vorliegende Buch hoffentlich deutlich machen wird. Für dessen Zweck, Wege zum Erlernen eines gelingenden Lebens mit mehr Gelassenheit aufzuzeigen, dürfte es keinen besseren Lehrer aus der abendländischen Antike geben. Zu dieser Überzeugung bin ich aus verschiedenen Gründen gekommen.

Zuerst ist darauf hinzuweisen, dass wir es bei Seneca mit einem eher seltenen Fall eines Philosophen zu tun haben, dessen Lebensschwerpunkt im Praktischen lag.11 Er war eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in der sehr bewegten Millionenmetropole Rom. Er war nicht nur der meistgelesene Schriftsteller seiner Zeit, sondern auch ein hoch angesehener Redner und Anwalt. Er absolvierte die übliche Beamtenlaufbahn bis zum Konsul. Schließlich wurde er Erzieher des römischen Kaisers Nero und leitete während dieser Zeit gemeinsam mit seinem Kollegen Burrus einige Jahre lang einen der größten und mächtigsten Vielvölkerstaaten, den die Welt je gesehen hat. Seneca konnte mithin seine philosophischen Studien am täglichen Leben bewähren, er musste sie anwenden, verfeinern, weiterentwickeln, bestätigen oder verwerfen. So machte er aus der stoischen Philosophie und anderen Denkrichtungen eine lebbare Weisheitslehre für jedermann.

Da mag sogleich der Einwand kommen, Seneca müsse als Lebensmeister ausscheiden, da er bei Nero doch offenkundig versagt habe. Bekanntlich entwickelte sich Nero bald zu einem grausamen und skrupellosen Diktator. Er schreckte nicht einmal davor zurück, seine eigene Mutter umbringen zu lassen und neben vielen anderen Unschuldigen schließlich auch seinen Erzieher Seneca in den Tod zu schicken.

Es wäre aber im hohen Maße ungerecht, diese Entwicklung seinem Lehrer Seneca oder dessen Lehren anzulasten. Während Seneca den minderjährigen Nero unterrichtete und die Staatsgeschäfte führte, soll Rom nach Meinung des späteren Kaisers Trajan eine seiner besten Epochen erlebt haben.12 Erst als Seneca immer mehr an Einfluss verlor, kamen bei Nero die schlechteren Charaktereigenschaften zum Vorschein. Weisheitslehren sind machtlos, wenn der Schüler sie nicht annimmt und sich nicht zu eigen macht.13 Wer kennt schon die Stärke und Macht der frühkindlichen Prägungen Neros, die er vielleicht nie aufgearbeitet hat und die deshalb wieder Gewalt über ihn erlangen konnten, als weit weniger weise Menschen als Seneca zunehmend Einfluss auf ihn gewannen? Wer kann sich den Druck, die vielfältigen Einflüsse und Verführungen vorstellen, denen ein jugendlicher Kaiser auf dem Thron eines weltumspannenden Reiches ausgesetzt ist? Neros spätere Entartung besagt demnach nichts über die Qualität von Senecas Lehren. Aus der späteren Geschichte lassen sich etliche Gegenbeispiele anführen von Menschen, die sich mit den Lehren Senecas zu bedeutenden Persönlichkeiten entwickelten.14

Es gibt aber noch weitere biografische Gründe, die Senecas praktische Philosophie so spannend machen und sie in einzigartiger Weise bereichert haben dürften. Da ist zum einen der Umstand, dass sich Seneca zu der überragenden Stellung im Staate, die er später einnahm, gleichsam von ganz unten hatte hocharbeiten müssen. Er gehörte nicht zum Hochadel oder zu einer der berühmten Familiengeschlechter, die die Geschicke Roms seit Jahrhunderten lenkten. Seneca kam aus dem spanischen Landadel und hatte einen langen, steinigen Weg zu beschreiten, um überhaupt in die Nähe von politisch bedeutsamen Ämtern zu gelangen. Wer den ganzen mühsamen Weg von »unten« nach »oben« überwiegend aus eigener Kraft bewältigt, der kann auf diesem Weg viel wertvolle Lebenserfahrung sammeln. Dabei hat Seneca die unterschiedlichsten sozialen Lebenswelten aus nächster Nähe beobachten können und war Teil von ihnen. Allein das höchst intrigante Klima am Kaiserhof von Rom, der Machtkampf der rivalisierenden Familienclans, die Spannungen zwischen Kaiser und Senat und der Parteienhader im Senat selbst – das alles bot für den, der überlebte, eine einzigartige Lebensschule.

Seneca hat sie durchlaufen mit allen Höhen und Tiefen. Auch das zeichnet ihn aus. Ihm blieb nichts erspart. Nicht der tiefe Sturz aus höchster gesellschaftlicher Stellung in den bitteren Abgrund der Ächtung und Verbannung. Acht Jahre seines Lebens brachte er auf der seinerzeit höchst unwirtlichen Insel Korsika zu, weitab von Frau, Familie, Freunden und jeglichem kulturellen Leben, unter Bergstämmen, die eine andere Sprache hatten.15 Verbannung war damals gleichbedeutend mit Tod, und häufig überließ man es den Verurteilten, ob sie das eine oder andere wählen wollten.16 Hätte man dem damaligen Kaiser Claudius nicht zugeflüstert, Seneca sei todkrank und würde ohnehin bald sterben, so wüssten wir vielleicht gar nichts von ihm, denn sein Todesurteil war schon unterzeichnet. Es wurde in Verbannung abgeändert.

Als sich die Machtverhältnisse in Rom wieder einmal verschoben, erinnerte man sich jenes großen Redners und klugen Kopfes. Seneca wurde zurückberufen und zum Erzieher von Claudius’ Nachfolger Nero ernannt. Bis zu dessen Volljährigkeit lenkte er als praktisch mächtigster Mann die Geschicke Roms. Als er erneut Opfer von Feindseligkeiten wurde, zog er sich zurück und schrieb seine großen Werke, aus denen die Menschheit seither seine Weisheiten zitiert. Seneca erlebte also Aufstieg und Absturz gleich zweimal.

Ein weiterer Aspekt mag dazu beigetragen haben, dass aus Seneca ein bedeutender Lebenslehrer wurde: Er kämpfte zeitlebens mit Asthma-Anfällen, begleitet von schwerster Atemnot, bei denen er nicht selten meinte, sterben zu müssen.17 Deshalb lebte er als Jüngling einige Jahre in Ägypten, da man glaubte, das Klima dort sei günstiger für ihn.18 Tatsächlich besserte sich sein gesundheitlicher Zustand. Schließlich gewöhnte er sich ein tägliches Programm sportlicher Ertüchtigung an, das er zeitlebens praktizierte und das Körper und Geist nachhaltig gestärkt und gefestigt haben dürfte.

Dass aus Seneca eine herausragende Persönlichkeit von außergewöhnlicher Lebensweisheit wurde, dafür waren seine grundlegende philosophische Ausbildung bei angesehenen Lehrern und seine lebenslange kontinuierliche Lektüre philosophischer Schriften besonders wichtig und prägend. Nach allem, was wir über seine philosophischen Lehrer wissen, genoss er eine herausragende Unterweisung. Noch in seinem Spätwerk zitiert Seneca ihre Aussprüche und Ansichten. Wenn er auch nicht ständig seine bedeutenden Vorgänger anführt, so lässt sich gleichwohl hinreichend belegen, dass er Schriften der großen griechischen Philosophen wie Platon, Aristoteles, Demokrit, Epikur und andere fleißig studiert und sehr gut gekannt hat.

Dieses Studium hat er bis zu seinem letzten Tag fortgesetzt. Er hielt sich an einen Grundsatz, den er selbst so ausdrückte: »Um leben zu lernen, braucht es das ganze Leben.«19 Er hatte schon die 60 überschritten, war einer der meistgelesenen philosophischen Schriftsteller und besuchte immer noch philosophische Vorlesungen.20

Der Unterricht

Es gibt demnach viele gewichtige Gründe, sich für Seneca als Lebenslehrer zu entscheiden. Seneca argumentiert konkret und problemorientiert, geht von bekannten Lebenssachverhalten aus und greift zurück auf das, was jedem einleuchtet. Dabei bleibt er jedoch keineswegs oberflächlich, spricht dem Leser nicht nach dem Munde oder belässt es bei Hinweisen auf anerkannte Philosophen. Nach allen Seiten hin ist er kritisch, undogmatisch und bildet sich eine eigene Meinung.

Am charakteristischsten aber ist die durchgängige Verwendung rhetorischer Mittel, die darauf abzielen, dass seine Thesen eindringlich sind und leicht behalten werden können. So bringt er beispielsweise seine Überzeugung, man müsse zu Tod und Vergänglichkeit ein gelassenes und angstfreies Verhältnis entwickeln, auf die zugespitzte Formel: »Dass ich dich liebe, mein Leben, verdanke ich dem Tod.« Aus dem Textzusammenhang wird deutlich, was er sagen will, doch ist es die Formulierung dieser Quintessenz, die seiner Lehre gleichsam die Krone aufsetzt. In der Antike in Ost und West dürfte ihn in dieser Kunst der einprägsamen Verdichtung keiner erreichen.

Senecas Schriften dienen nur zu einem Teil der Belehrung und Erkenntnis, zu einem großen Teil jedoch der Erziehung und Umformung der inneren Haltungen des Lesers. Kaum ein anderer Philosoph hat so deutlich wie Seneca darauf hingewiesen, dass Belehrung allein nicht ausreiche, sondern eine Verinnerlichung des Wissens hinzukommen müsse, damit der Mensch das auch umsetze, was er gelernt habe. Gelinge dies nicht, so seien Studium und aller Unterricht nutzlos.

Dieser Prozess der Verinnerlichung, so Seneca, setze ein kontinuierliches Einüben des Gelernten voraus. Dieses Einüben beginne mit der Art und Weise, wie der Wissensstoff der »Lebenskunde« vermittelt werde. Die Lehren müssen eindringlich sein und »ans Herz greifen«, sonst finde der Leser nicht die Kraft, sich selbst zu überwinden. Sie müssen prägnant formuliert und leicht erinnerbar sein, damit sie »zur Hand sind«, wenn sie gebraucht werden. Dies geschehe durch die kunstvolle Verwendung rhetorischer Mittel, etwa die direkte Ansprache des Lesers, die Ermahnung, die Wiederholung, die zusammenfassende Verdichtung in Spruchweisheiten, die scharfen Zuspitzungen. Seneca sprach von zwei Teilen der praktischen Philosophie. Der eine Teil leite die Maximen her und begründe sie; der zweite Teil betreffe die möglichst wirksame Vermittlung dieses Wissens sowie alle Techniken, mit deren Hilfe der Leser zu wohltuenden Lebenshaltungen und Charaktereigenschaften gelange, die in Fleisch und Blut übergegangen sind.

An diese Überlegungen wollen wir uns eng anschließen. Wir wollen nicht theoretisieren, sondern, soweit dies in einem Buch möglich ist, zur Lebenspraxis hinführen und Wege zum Einüben des Gelernten aufzeigen. Damit liegt ein Schwerpunkt des Buches auf der Frage, wie praktikable Lebensmaximen zu verinnerlichen sind. Häufig wird dabei Seneca selbst zu Wort kommen, denn er ist der unübertroffene Meister in der komprimierten und einprägsamen Formulierung. Zum anderen werden wir die Brücke schlagen von den Lebensumständen zur Zeit Senecas zu unserer heutigen Lebenswirklichkeit sowie von seiner Sprache und manch angestaubter Übersetzung zu einer modernen Ausdrucksweise.

Die Herausforderungen, Schwierigkeiten und Probleme bei der Lebensbewältigung können drei großen Bereichen zugeordnet werden. Der eine Bereich betrifft unser Verhältnis zu den äußeren Umständen, in die wir hineingeboren sind und die über uns hereinbrechen. Dieser Bereich könnte Schicksal oder Welt genannt werden. Ein zweiter Bereich betrifft unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen, sei es zu Bekannten, Freunden, Verwandten, Familienangehörigen, Lebenspartnern, zufälligen Begegnungen oder zur Menschheit als Ganzes. Der dritte Bereich schließlich behandelt unser Verhältnis zu uns selbst, nach Auffassung der Stoiker der wichtigste Teil der Lebensschule. Beherrschen wir diese drei Lebensbereiche, so werden wir das Beste aus allem machen, wie immer die äußeren Umstände und Entwicklungen sein mögen. Wir werden Leiden, Niederlagen, Krankheit und Unglück nicht vermeiden, aber wir werden gelernt haben, damit umzugehen. Das aber gibt uns Widerstandsfähigkeit, Selbstvertrauen, Zuversicht, Lebensfreude und innere Gelassenheit.

Zur Lektüre des Buches

Das Buch will eine philosophische Lebensschule und zugleich eine Art Kompendium zur praktischen Philosophie Senecas sein. Viele wesentliche Aussprüche und Passagen aus Senecas Werk werden zitiert und erläutert. Inhaltliche Wiederholungen sind dabei gewollt und dienen der Verinnerlichung. Die Unterschiede in den Formulierungen lassen den Gegenstand der Erörterung häufig in einem anderen Licht erscheinen oder betonen einen anderen Aspekt.21

Den meisten Nutzen von diesem Buch wird derjenige haben, der mit ihm arbeitet, d.h. immer wieder zu einzelnen Kapiteln zurückkehrt und sich insbesondere die einprägsamen und lebensnahen Zitate Senecas mehrmals durchliest, überdenkt und verinnerlicht. Weisheiten bedeutender Denker sind wie große Kunstwerke, mit denen wir uns immer wieder beschäftigen können und sollten, weil sie uns immer wieder etwas Neues sagen. Machen Sie dieses Buch und Seneca zu Ihrem Lebensbegleiter, den Sie jederzeit um Anregung und Rat fragen können. Mich selbst begleiten zahlreiche Aussprüche Senecas seit vielen Jahren und haben, neben den Gedanken anderer großer Philosophen, mein Denken, Wollen und Handeln in wichtigen Lebensbereichen bis in den Alltag hinein geprägt und mitbestimmt.

Es ist empfehlenswert, das Buch Abschnitt für Abschnitt zu lesen, Pausen zu machen und über das Gelesene nachzudenken oder eigene Gedanken dazu zu formulieren. Bei philosophischen Weisheiten kommt es nicht darauf an, was wir verschlingen, sondern was wir verdauen, wie sich ein antiker griechischer Arzt ausdrückte.22 Erläuternde Zusätze in den Zitaten habe ich mit »Verf.« gekennzeichnet, kursive Stellen sind Hervorhebungen von mir. Ich habe die benutzten Übersetzungen häufig unter Rückgriff auf das lateinische Original geringfügig abgewandelt, dabei jedoch nie den Sinn verändert. Die Rechtschreibung älterer Übersetzungen ist überwiegend angepasst. »Zentrale Lehrsätze« am Ende der Kapitel fassen die wichtigsten Auffassungen Senecas zusammen. Manche der sich daran anschließenden »Kernzitate« Senecas sind zur besseren Lesbarkeit geringfügig geändert, oder der Satzbau wurde umgestellt. Bisweilen wurden zwei Zitate zusammengezogen. Auch hier kommt es zu Überschneidungen und Wiederholungen, die bewusst in Kauf genommen wurden. Die Originalzitate finden sich jeweils im Text.

Zentrale Lehrsätze

Bloß zu wissen, wie man gut lebt, reicht nicht aus. Es kommt alles auf die Umsetzung an.

Damit wir auch umsetzen, was wir über das gute Leben gelernt haben, müssen wir das Gelernte durch kontinuierliches Üben verinnerlichen, sodass es in Fleisch und Blut übergeht.

Erst wenn das Gelernte ein fester Bestandteil unserer Persönlichkeit und unserer Lebensweise geworden ist, werden wir auch danach leben.

Kernzitat

»Um leben zu lernen, braucht es das ganze Leben.«

I.Vorschule

Philosophie und Weisheit

»Dass wir leben ist unzweifelhaft ein Geschenk der Götter, dass wir gut leben, ein Geschenk der Philosophie. … Die Weisheit ist die Lehrerin der Seele. … Die Gestaltung des Lebens selbst ist ihre Aufgabe und Kunst … Indes ist es nur das glückliche Leben, auf das sie zielt: dahin führt sie, dahin öffnet sie die Wege.«23

Bevor wir zu den einzelnen Fächern der Lebensschule kommen, wollen wir uns genauer anschauen, aus welcher Richtung sich Seneca dem Thema nähert. Nach ihm ist es die Philosophie – wörtlich die »Liebe zur Weisheit« –, die den Weg zu einem gelingenden Leben aufzeigen soll. Sie lehre, gut zu leben, ihr Ziel sei das glückliche Leben. Sie unterrichte die Seele und gestalte das Leben.

»Der Weise ist der Meister in der Kunst, die Übel zu bändigen. Schmerz, Armut, Schmach, Kerker, Verbannung, die sonst überall Schrecken erzeugen, sie wandeln sich ins Milde, wenn sie an ihn kommen.«24

Philosophie beschränkt sich nicht auf Einzelzwecke, sondern hat das Ganze des Lebens mit allen seinen Bezügen und Bedürfnissen im Sinn. Sie sieht ab von einzelnen Aspekten und fragt danach, worum es bei all unserem Tun letztendlich geht: um ein gutes und glückliches Leben.

Philosophie als Seelenheilkunde

Aber welche Kunst führt dahin? Es ist nicht jener Teil der Philosophie, der sich mit abstrakten Fragen wie nach dem Sein, der Wahrheit, dem Ursprung der Dinge, den Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis, dem Wesen der Sprache oder verwandten theoretischen Problemen beschäftigt. Häufig verstehen wir unter Philosophie ausschließlich ein solches Fragen. Dieses ist sinnvoll und hat am Ende auch Einfluss auf die Kunst der Lebensführung. Aber es birgt die Gefahr, sich darin zu verlieren und die Probleme der alltäglichen Lebensbewältigung zu vernachlässigen oder gar gänzlich auszusparen.

Seneca erkannte zwar das Recht und die Notwendigkeit dieses theoretischen Teils der Philosophie an, hielt sich aber in seinen Büchern nicht lange damit auf und konzentrierte sich stattdessen auf praktische Fragestellungen. So ging er gleich an das Ende und Ziel allen Philosophierens, das er darin erkannte, die Seele gesund, heil, ganz zu machen und dem Leser den Weg zu einem gelingenden, glücklichen und erfüllten Leben aufzuzeigen.

Er übernahm die in der Antike allgemein herrschende Auffassung, dass alle Menschen danach streben, ein glückliches Leben zu führen. Alle anderen Ziele, die sie verfolgen, seien nur Mittel zum Zweck und mündeten letztlich in diesem einen übergeordneten Streben.

Die praktische Philosophie dient direkt und unmittelbar unserem Leben selbst, alle anderen Disziplinen haben nur einzelne Aspekte im Blick. Jene beschäftigt sich mit der Substanz und dem Wesen des Lebens selbst, diese lediglich mit dem Beiwerk, Schmuck oder mit der Beschaffung seiner materiellen Grundlagen. Daher führt der Weg der praktischen Philosophie über die Ordnung des eigenen Seelenlebens. Hier, und nicht im Äußeren, liegen alle Gefährdungen, Stolpersteine, Feinde und Versuchungen, die verhindern, dass wir uns dem Ziel eines glücklichen und erfüllten Lebens annähern. Unsere eigenen ungelösten Konflikte, Fehler und seelischen Defizite wie Ängste, Sorgen, Überforderungen, Selbstverliebtheiten, Überheblichkeiten, Zorn, Ärger, Neid, Gier, Eifersucht halten uns davon ab. Sie waren für Seneca »Krankheiten«, die es zu heilen gelte, und die Philosophie daher vor allem Seelenheilkunde. Über seine Berufswahl sagte Seneca:

»Ich entschied mich … zum Studium der Philosophie, das die Seele heilt.«25

Die Weisheit überwinde die Leiden des Lebens und führe zu einer glücklichen Seelenverfassung, die dann erreicht sei, wenn sie von Gelassenheit und »beständiger Heiterkeit« geprägt werde. Darin bestehe eine erfolgreiche Lebensbewältigung:

»Der Weise, wie er uns vorschwebt, ist voller Freude, heiter, zufrieden, unerschüttert. Er führt ein göttergleiches Leben. … Des Weisen Gemüt gleicht der über dem Monde sich lagernden Weltenschicht: dort herrscht beständige Heiterkeit.«26

Kein Verlieren in bloßen Begriffen

Obgleich Seneca wusste, dass es bei dieser Art der Lebensbewältigung durch Philosophie auf Denken, Erkenntnis und begriffliches Erfassen der Wirklichkeit ankommt, warnte er davor, sich in dem Gestrüpp der Begriffe und formal-logischen Ableitungen zu verlieren. Nach Seneca deuten Begriffe nur auf die Sachen hin, die es zu verstehen gilt. Ob wir eine möglichst exakte, lexikalische Definition finden, das sei nur von relativem Wert. Wichtiger sei es, die Sache selbst zu begreifen und zu lernen, mit einem Problem umzugehen. Zu dem seit Langem schon bestehenden Streit zwischen der philosophischen Richtung der Epikureer und der Stoiker sagte er:

»Wer von beiden sich richtiger darüber ausdrückt, wird sich herausstellen … Es hat keinen Sinn, den Unterschied zwischen uns für bedeutend zu halten. Dasjenige, worum es sich handelt und was für euch (Epikureer, Verf.) allein Bedeutung hat, wird durch beide Beispiele uns ans Herz gelegt …«27

In seinem Buch über die Milde schrieb er:

»Über den Begriff (der Milde, Verf.), meine ich, besteht Meinungsverschiedenheit, über die Sache freilich ist man sich einig.«28

Er hielt sich mehr an die Erscheinungen, die Phänomene, denen die Ausdrücke sich anschmiegen sollten und die er immer wieder mit unterschiedlichen Worten und Bildern möglichst umfassend und genau um- und beschreiben wollte. Einer Philosophie, die ihre begrifflichen Definitionen verabsolutierte und den logischen Ableitungen daraus mehr vertraute als der genauen Beobachtung und vielfältigen Beschreibung der Phänomene, misstraute er. Die Worte sollen den Sachen folgen, nicht umgekehrt:

»Was die Studien anlangt, so meine ich, es sei wahrlich besser, die Dinge selbst scharf ins Auge zu fassen und um ihrer selbst willen zu reden, die Worte aber aus der Sache hervorwachsen zu lassen, dergestalt, dass der frei gestaltete Vortrag den Anforderungen der Sache folgt. … in einfacher Schreibart bringe man etwas zu Papier.«29

Dabei war er kein Feind der Worte, ganz im Gegenteil. Mehr Wert als auf ihren begrifflichen Gehalt legte Seneca aber darauf, dass sie wirken und ans Herz gehen.

Der Zuhörer oder Leser solle bewegt werden, sich tatsächlich aufraffen und Mut fassen, solle den inneren Feinden ins Auge sehen, ihnen die Stirn bieten, sie zurückdrängen und bekämpfen. Wo es nötig sei, solle er handeln und sich verändern. Andernfalls nutze keine Einsicht etwas. Es sei doch offensichtlich, dass die meisten Menschen noch lange nicht dort angekommen seien, wohin sie die Weisheit führen wolle, obwohl die wesentlichen Weisheiten schon lange bekannt seien.

Das Philosophieren im Sinne Senecas hatte daher vor allem eine therapeutische Funktion und sollte über das Verstehen zur Besserung führen, d.h. zur Befreiung von alltäglichen seelischen Leiden.

Wer zur Einsicht gelangt sei, der »ist ehrgeizig auf die Fassung der Worte bedacht, und seinem höheren Flug entspricht auch das Verlangen nach eindrucksvollem Ausdruck und nach einer der Würde der Sache angemessenen Darstellung. Dann setze ich mich über Vorschrift und beschränkende Regel hinweg, überlasse mich einem höheren Schwung und rede gleichsam eine höhere Sprache.«30

Diese »höhere Sprache« ist diejenige, die die begriffliche Klärung, die auch Seneca für unabdingbar hielt, hinter sich gelassen hat und nun zur Handlung und Veränderung aufruft. Sie sorgt dafür, dass die Einsicht bei dem Zuhörer tief in der Seele verankert und lebendig wird, und hilft damit, dass dieser sein Leben kontinuierlich besser beherrscht und es schließlich meistert.

Bedeutung der Philosophie

Seneca klagte darüber, dass diese Philosophie als Seelenheilkunde und Lebensgestaltung in Verfall geraten sei – und leider ist dies bis zum heutigen Tag so geblieben:

»Wer aber widmet sich der Philosophie? Wer achtet sie genug, um sie genauer als im Vorbeigehen zu studieren? Wer sieht sich nach der Philosophie oder überhaupt nach einer edlen Wissenschaft um, außer wenn keine Spiele stattfinden oder ein Regentag einfällt, den man totschlagen möchte? So kommt es, dass so viele Philosophenschulen ohne Nachfolger aussterben …«31

Wenn in der Einführung gesagt wurde, dass wir alles Mögliche lernen, jedoch nicht, wie man ein gelingendes Leben führt, so ist auch dies offenbar kein neues Phänomen. Tatsächlich gab es in der Antike nach Sokrates zahlreiche philosophische Schulen, in denen die Seelenheilkunde in dem oben genannten Sinne ein zentrales Thema war. Sie waren wesentlich auch Lebensschulen. Zu der Schule Epikurs hatten, was damals ein unerhörtes Novum darstellte, auch Frauen und Sklaven Zutritt. Schon dreihundert Jahre später, zur Zeit Senecas, führten viele Schulen nur noch ein Schattendasein. Die breiten Schichten gaben sich überwiegend der Vergnügungssucht hin, der Ablenkung oder dem Geschäftemachen.

Vielleicht hatte sich die Philosophie das selbst zuzuschreiben, denn Seneca stellte kritisch fest, dass sie sich nur allzu häufig in wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten verloren habe, aus denen niemand mehr einen praktischen Nutzen für sein Leben ziehen könne. Die Probleme werden zerredet, die begrifflichen Unterscheidungen werden maßlos übertrieben und realitätsfern. So verliere die Philosophie ihre Kraft, breitere Schichten zu überzeugen und auf sie zu wirken:

»Auch was die wissenschaftlichen Studien anlangt, so hat der Aufwand dafür, an sich gewiss lobwürdig, doch nur so lange Sinn und Verstand, als er Maß hält. Wozu die unzähligen Bücher und Bibliotheken, von denen der Besitzer in seinem ganzen Leben kaum die Kataloge durchgelesen hat? Es belastet die Masse den Lernenden, ohne ihn zu belehren, und es ist weit vernünftiger, sich an wenige Schriftsteller zu halten, als irrend umherzuschweifen von einem zum anderen.«32

Ein wichtiger Hinweis, den wir beim Studium des Lebens beherzigen sollten: Es ist keineswegs nötig, möglichst viel zu lesen, sondern sich an das Beste zu halten und zu diesem immer wieder zurückzukehren. Sprechen uns der Stil und der Inhalt eines Buches oder eines Schriftstellers an und finden wir dort eine Fülle an Lebensweisheit, dann kann es für ein erfolgreiches Studium ausreichen, bei diesem zu bleiben.

Häufig stieß sich Seneca an den Haarspaltereien in den philosophischen Auseinandersetzungen, den »übertriebenen Spitzfindigkeiten«33, in denen er Verfallsformen eines ursprünglicheren, lebensnahen Philosophierens sah:

»Mit überflüssigen Fragestellungen nutzt man den Scharfsinn ab: nicht gut macht derlei, sondern ›gebildet‹. Klarer und einfacher steht es um die Weisheit. Wenig Wissenschaft braucht man dafür, sein Seelenleben in Ordnung zu bringen, doch wir verzetteln uns ins Überflüssige, wie auch die Philosophie selbst sich darin verloren hat. Wie in allen Dingen, so auch in der Wissenschaft leiden wir an Maßlosigkeit: Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.«34

»… wie viel Überflüssiges schleppen sie (die Philosophen, Verf.) mit sich, wie vieles, was für das Leben nicht verwendbar ist … Der Erfolg ist schließlich der, dass sie besser zu reden als zu leben verstehen.«35

Er kritisierte die herrschende akademische Philosophie und deutete bisweilen an, man solle zu den Anfängen zurückkehren, als das Philosophieren seiner Ansicht nach noch einfacher, verständlicher und darum wesentlich ergreifender und wirksamer war. Hier sei einiges Wertvolle »in Vergessenheit geraten«.36 Von seinem Lehrer Fabianus sagte er, er gehörte »nicht zu den Kathederlehrern, sondern zu den echten und alten Philosophen«.37

»Die Weisheit der Altvordern beschränkte sich auf Vorschriften über das, was man zu tun und zu lassen habe, und damals waren die Menschen weit besser: Seitdem Gelehrte aufgetreten sind, fehlt es an Guten. Denn jene einfache und offenherzige Tugend (Weisheit, Verf.) hat sich in eine dunkle künstliche Wissenschaft verkehrt, und wir lernen zu disputieren, nicht aber zu leben.«38

Die Liebe zur Weisheit habe sich in eine Liebe zum Scharfsinn, zur bloßen Verstandesakrobatik verwandelt. Er beklagt die gegenwärtigen Lehrer, »die uns auf die Kunst der Streitrede, nicht auf das Leben einüben«. Die Schüler kommen zu ihnen »nicht mit dem Vorsatz, ihre Seele zu bilden, sondern ihren Scharfsinn. So ist es denn dahin gekommen, dass, was Philosophie war, Philologie geworden ist.«39

Die Anstrengungen als solche, die die Philosophie aufbringen sollte und auch zu Zeiten Senecas aufgebracht hat, wollte er damit nicht schmälern. Im Gegenteil meinte er, dass sie angesichts des Verfalls der allgemeinen Sitten ihre Anstrengungen verdoppeln solle. Tatsächlich hat in der Geschichte der Menschheit die praktische Philosophie ihre größten Geister immer dann hervorgebracht, wenn die Grundsätze für ein gutes Leben in Vergessenheit geraten waren und die seelische Lebensqualität auf einen Tiefpunkt zusteuerte. Wie heute, so lebten auch im Rom Senecas viele Menschen im materiellen Überfluss, gleichzeitig aber in seelischer Not, Bedürftigkeit und moralischer Haltlosigkeit. Ein solcher Zustand fordert von der Philosophie besondere Bemühungen:

»Dasselbe (wie bei der Medizin, Verf.), behaupte ich, gilt auch von der Philosophie. Ehedem war sie einfach unter Leuten, die sich nur geringerer Fehltritte schuldig machten und demgemäß zu ihrer Heilung auch nur geringerer Sorgfalt bedurften. Aber gegen einen so gewaltigen Sittenverfall (wie heute, Verf.) darf nichts unversucht bleiben. … Gegen eine so mächtige und weitverbreitete Geistesverirrung hat auch die Philosophie ihre Anstrengungen verdoppelt und einen Aufschwung an Kraft genommen, der dem Anwachsen dessen entspricht, wogegen sie ankämpfte.«40

Philosophie ist kein absolutes Wissen

Wenn wir Philosophie als Lehrerin für unser Leben wählen, so dürfen wir nicht erwarten, sie sage uns mit allgemeiner Gültigkeit, was zu tun und zu lassen ist. Das wäre nach Seneca ein großes Missverständnis. Zwar geht es ihr um Erkenntnis, Einsicht, Schärfung der Begriffe, Unterscheidung, um Wahrheit und Irrtum. Aber unser Leben, das wir zu bewältigen haben, ist immer einmalig, jeder von uns ist einmalig. Es ist noch eine Kluft zu überbrücken, die sich immer und unvermeidlich zwischen einer Erkenntnis und allgemeinen Weisheitsregel einerseits und den individuellen Umständen einer konkreten Lebenssituation andererseits auftut. Dies kann dazu führen, dass eine Weisheit modifiziert oder hinter einer anderen zurücktreten muss. Stets zu sagen, was wir denken, ist im Allgemeinen ein guter Ratschlag. Wenn wir jedoch einen anderen Menschen dadurch verletzen, kann es ein Fehler sein.

Seneca betont daher mehrfach, dass die praktische Philosophie keine Wahrheiten liefert, denen wir blind und losgelöst von der konkreten Situation folgen sollen. Gedankenlos Wohltaten zu erweisen, sagt er einmal, sei nicht immer eine gute Sache:

»Nichts nämlich ist an und für sich gut für einen Menschen; es kommt darauf an, wer gibt, wem, wann, aus welchem Grunde, bei welcher Gelegenheit, und auf weitere Gesichtspunkte, ohne die ein vernünftiges Urteil über eine Handlung nicht zustande kommen wird.«41

Die Weisungen, die wir von der praktischen Philosophie für unser Leben lernen können, »richten sich ja doch nach den Umständen. Diese aber sind in ständigem Fluss, oder, besser gesagt, in ständigem Wandel.«42

Wir werden noch sehen, dass eine Kernkompetenz der Philosophie als Lebensberaterin darin besteht, dass sie uns ständig auffordert, unsere Wertehierarchie, nach der wir bewusst oder unbewusst unser Denken und Handeln ausrichten, zu hinterfragen. Die praktische Philosophie der Antike wurde daher häufig als eine Lehre von Gütern und Werten und deren Abwägung angesehen: Wo setzen wir unsere Prioritäten? Beruf oder Familie, Geld oder Freizeit, Vergnügen oder Bildung? In welchem Maße bevorzugen wir das eine und stellen anderes zurück? Hier liegt der Schlüssel für ein gelingendes Leben. Dennoch warnt Seneca davor, mit den einmal gewählten Werten allzu starr und unabhängig von den jeweiligen Umständen zu verfahren:

»Was ist also das Gute? Das Wissen um die Dinge (um deren Wert für unser Leben, Verf.). Und was das Übel? Die Unkunde der Dinge. Er, der Einsichtsvolle und Kundige, wird die Dinge immer nach Maßgabe der Umstände verwerfen oder wählen.«43

Schließlich ist das Wesen der Philosophie eher ein Fragen als ein Antworten. Zwar deckt sie im Verlauf des Nachdenkens und Untersuchens Irrtümer, Fehlschlüsse und zweifelhafte Wertvorstellungen auf. Auch liefert sie tatsächlich viele Antworten auf wesentliche Lebensfragen. Aber seit dem berühmten Wort des Sokrates, »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, hat sie verstanden, dass alle ihre Antworten etwas Vorläufiges haben. Sie sind die besten Antworten, zu denen sie bei reiflicher Überlegung im Hier und Jetzt gekommen ist. Danach sollen wir unser Denken und Handeln ausrichten. Das gilt aber nur bis zu dem Moment, in dem wir zu einer tieferen Erkenntnis gelangen. Die Philosophie maßt sich nicht an, die Weisheit zu besitzen, doch sie strebt nach ihr mit unerschöpflicher Neugier und immer offen für ein besseres Verständnis. Sie ist bereit, in jedem Moment das Ruder herumzureißen und Denken und Handeln zu ändern, wenn sich die bisherige Haltung als Irrtum erweist. Wie das Leben selbst, das sie meistern will, ist sie bewegt und bewegend.

Für die Lebenslehre Senecas war die Philosophie nie Bremsklotz, sondern Antrieb. Sie verlange keineswegs, erst zu handeln, wenn wir die »Wahrheit« gefunden haben. Sie ist besonnen und abwägend, nicht zaudernd und grüblerisch:

»… niemals erwarten wir das sicherste Begreifen der Dinge, da die Wahrheit ja in steilem Gelände erforscht werde, sondern folgen der Wahrscheinlichkeit. Jede Tätigkeit kommt auf diesem Weg voran: so säen wir, so fahren wir zur See, so leisten wir Kriegsdienst, so führen wir die Gattin heim, so ziehen wir Kinder auf. Da der Ausgang all dieser Handlungen ungewiss ist, lassen wir uns auf das ein, was uns als das Beste erscheint. Denn wer garantiert dem Säenden Gedeihen, dem zur See Fahrenden einen Hafen, dem Kriegsdienst Leistenden Sieg, dem Ehemann eine gute Frau, dem Vater pflichttreue Kinder? Wir lassen uns leiten, wohin uns die vernünftige Überlegung, nicht die Wahrheit zieht (die vielleicht ungewiss ist, Verf.). Wenn du nur das tun willst, was mit Sicherheit gut ausgehen wird, und von dem du die ›Wahrheit‹ erkannt hast, dann wirst du in deinem Leben auf alles Handeln verzichten müssen.«44

Wir werden von der Lebensschule Senecas viel lernen können. Ihre Grundsätze und Weisheiten sind weder beliebig, noch verlieren sie sich in grauer Theorie. Für alle Lebensprobleme bietet sie brauchbare und effiziente Ratschläge und Weisungen. Aber in keinem Fall wird sie uns das eigenverantwortliche Entscheiden und Handeln im jeweiligen Augenblick abnehmen oder vorschreiben. Wie wir einem weisen Rat nur dann folgen sollen, wenn wir uns selbst durch eigenes Nachdenken davon überzeugt haben, so müssen wir diesen Rat auch auf die jeweilige Lebenssituation anwenden, und das heißt: anpassen, abwandeln, modifizieren, verstärken oder abschwächen. Da bleibt immer ein Spielraum, den jeder von uns selbstständig auszufüllen hat. Gerade dieser Spielraum garantiert unsere Freiheit und Würde, Autonomie und Verantwortlichkeit, hier entsteht unser ganz eigenes individuelles Leben.

Philosophie ist Wissen und Können

Als Abschluss dieses Kapitels kommen wir zu einem zentralen Punkt in Senecas Auffassung von der Philosophie als Lebenslehre. Wie kein anderer Denker in der abendländischen Antike, vergleichbar nur mit Konfuzius in China und Buddha in Indien, betonte Seneca, dass die von der Philosophie angestrebte und gelehrte Weisheit Wissen und Können ist. In der praktischen Philosophie geht es gleichermaßen um Wissen, Einsicht, Erkenntnis, Klarheit wie darum, dass dieses Wissen angewendet wird. Da die Philosophie anders als etwa Architektur, Rechtswissenschaft, Mathematik, Medizin, Physik und alle Einzelwissenschaften nicht ein spezielles Fachwissen zum Gegenstand hat, sondern das ganze Leben eines Menschen, kommt es darauf an, dass wir das Wissen in jedem Augenblick auch leben und umsetzen.

»Alle jene Künste haben es nur mit den Werkzeugen des Lebens zu tun, nicht mit dem ganzen Leben.«45

Wenn wir in unserem Beruf keine Meister sind, so können wir gleichwohl ein glückliches und erfülltes Leben führen. Wo wir aber in der Kunst des Lebens an unsere Grenzen stoßen, da erleiden wir Einbußen in unserem Wohlbefinden und unserer Lebensqualität. Wer also das Fach »praktische Lebenskunde« nur mäßig beherrscht, wird auch nur ein mäßig gutes Leben führen. Wer dieses Fach aber gut beherrscht, der wird ein gutes Leben führen.

Wer die praktische Philosophie Senecas studiert, absolviert eine Art Doppelstudium: Theorie und Praxis. Beide Teile sind gleichwertig, keiner wiegt schwerer als der andere. Keiner verdient weniger Zeit und Bemühungen als der andere. Das Besondere bei diesem Doppelstudium aber ist, dass die Endnote sich ausschließlich an der Note für die Praxis orientiert. Der Unterricht findet nur zur Hälfte in einem Klassenzimmer, in der Bibliothek, beim Lesen oder Zuhören statt. Der zweite Teil dagegen findet im Leben statt und soll in jeder Minute unseres Lebens gelernt und geübt werden.

Bei den alten Griechen gab es ein plastisches Bild für diesen Sachverhalt. Danach sollte der Lehrer der Philosophie seinen Unterricht auf dem Felde erteilen, während er das Land pflügt und beackert. Die Schüler sollten unmittelbar zusehen und erleben, wie er das, was er lehrte, praktisch in die Tat umsetzte. Die philosophischen Schulen der Antike waren daher häufig als Lebensgemeinschaften konzipiert, sodass der Kern der Lehre, die Anwendung des theoretischen Wissens, im täglichen Miteinander gelebt und weitergegeben wurde. Mehr als in jedem anderen Fach wurde der Unterricht durch das lebendige Vorbild und das vorbildhafte Leben erteilt.

Andererseits darf gegenüber der praktischen Anwendung der theoretische Unterricht nicht vernachlässigt werden. Beide sind untrennbar miteinander verbunden und notwendig aufeinander bezogen. So gilt es nach Seneca zunächst, die Dinge zu verstehen, die Gesetzlichkeiten in der Welt, der Natur und der menschlichen Seele zu erkennen, denn ohne zu wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen, kommen wir nicht weiter:

»Die Weisheit ist die vollkommene und aufs höchste und beste ausgebildete Einsicht, denn sie ist die Kunst des Lebens.«46

»Der Philosoph, mit anderen Worten der Weise, durchforscht die Ursachen der Naturvorgänge.«47

Seneca deutet an, dass nur in solcher Erkenntnis die vernünftige Natur des Menschen zur völligen Entfaltung kommt:

»Du fragst nach des Lebens reichlichster Entfaltung? Es erstrecke sich bis zur Erlangung der Weisheit! Wer zu ihr gelangt ist, der hat nicht die äußerste Grenze, aber die entscheidend wichtige erreicht … Haben wir uns doch der Erkenntnis des Alls erfreut, kennen wir doch den Gang der Natur von den Grundlagen auf, wie sie die Welt ordnet, wie sie die Wiederkehr der Jahreszeiten bewirkt, wie sie alles, was irgendwo war, in sich schließt und sich selbst zum letzten Zweck ihrer Tätigkeit macht.«48

Dies darf nicht als ein Plädoyer für ein rein theoretisches, betrachtendes Leben missverstanden werden. Seneca erkannte vielmehr, dass aus einem möglichst angemessenen Verständnis der natürlichen und menschlichen Dinge alles andere folge. Mit der zutreffenden Einsicht findet die Lebenspraxis nahezu von selbst die richtige Bahn. Psychologisch sehr feinsinnig spürte Seneca, dass schon die Einsicht als solche unsere Bedürfnisse, ja unsere Triebe und damit unser Handeln beeinflusst:

»Diese Weisheit, was ist sie? Ein wahres und unverrückbares Urteil. Denn dieses ist bestimmend für die Triebe der Seele, von ihm erhält jegliche Erscheinung, die einen Trieb rege gemacht, die erforderliche Klarheit.«49

Wenn wir beispielsweise klar erkannt haben, wie gut uns sportliche Ertüchtigung tut, wie wir dadurch negative Stimmungen abbauen und positive herbeiführen, dann werden wir einen starken Drang in uns verspüren, regelmäßig Sport zu treiben und unsere Bequemlichkeit zu überwinden. Groß ist nach Seneca die Macht der vernünftigen Überlegung und des trefflichen Urteils.

»Liebe die Vernunft! Diese Liebe wird dich wappnen auch gegen das Härteste.«50

Gleichwohl ist die Einsicht nur die eine Seite der Weisheit. Wir müssen sie auch umsetzen können. »Die Weisheit ist eine Kunst«51, »eine Kunst des Lebens«52, sagt Seneca. Kunst kommt von Können. Erst im Laufe der Zeit verfestigt sich die Weisheit durch kontinuierliches Üben, Praktizieren und durch Erfahrungen zu einer inneren Haltung und tatsächlichen Bewältigung des Lebens, die Freude und Erfüllung verschafft und Fehlverhalten weitgehend vermeidet:

»Die Weisheit wird nur einem wohl unterrichteten, durchgebildeten und durch anhaltende Übung zur Höhe gelangten Geiste zuteil.«53

»Du darfst nicht glauben, dass irgendein Alter geeigneter sei zur sittlichen Förderung als dasjenige, das durch viele Erfahrungen und lange und häufige Zeiten der Reue über begangene Fehler gelernt hat, sich zu beherrschen, und bei beruhigter Seelenstimmung den Weg zum wahren Heile gefunden hat. Dies ist die Zeit für dieses Gut. Wer als Greis zur Weisheit gelangt, gelangt durch seine Jahre zu ihr.«54

Durch anhaltendes Üben wird das Erlernte zu einer festen Lebenspraxis und zu einem Teil unseres Charakters. Erst die praktizierte Lehre formt und gestaltet unseren Charakter, indem sie Gewohnheiten schafft. Wir sind jedoch nichts anderes als unsere Denk-, Wollens- und Handlungsgewohnheiten. Daraus folgt: Wenn wir einmal gründlich und gut zu leben gelernt haben, werden wir nicht mehr zurückfallen in ein unweises, ungesundes und unglückliches Leben: