Die Wellen - Virginia Woolf - E-Book

Die Wellen E-Book

Virginia Woolf

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Beschreibung

Die Wellen‹, Virginia Woolfs sechster Roman, wurde 1931 veröffentlicht. Es ist das originellste und tiefgründigste all ihrer Bücher, vielleicht ein Meisterwerk, ein »Klassiker« (E. M. Forster). »Die Wellen«, schrieb Stephen Spender, »das mir als größtes Werk Virginia Woolfs erscheint, ist einer dieser Romane unserer Zeit, der seit dem Tag, an dem er veröffentlicht wurde - vor beinahe zwanzig Jahren -, eine immer größere Wirkung entfaltet hat.« In den ›Wellen‹ sind sechs Personen versammelt. Ihre Stimmen evozieren die Intensität der Kindheit, die Zuversicht und sinnliche Erfahrung der Jugend, das Losgelöstsein des mittleren Alters. Sinneswahrnehmungen, Emotionen, Reflexionen kommen und gehen im Voranschreiten des Erzählstroms wie die Jahreszeiten, wie Die Wellen, die Sonne. Virginia Woolfs farbig instrumentierte Beschwörung der Entwicklung von Bernard, Louis, Neville, Rhoda, Jinny und Susan - sechs ganz unterschiedliche Stimmen -, ihre kunstvolle Darstellung der Ebbe und Flut ihrer sinnlichen und intellektuellen Erfahrungen stellt eines der radikalsten Experimente der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts dar. ›Die Wellen‹ ist die höchst eigenwillige Antwort der Moderne auf das traditionsreiche Genre des Bildungsromans.

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Seitenzahl: 403

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Virginia Woolf

Die Wellen

Roman

Herausgegeben von Klaus Reichert

Übersetzt von Maria Bosse-Sporleder

FISCHER E-Books

Inhalt

Die WellenDie Wellen, Fortsetzung 1Die Wellen, Fortsetzung 2Die Wellen, Fortsetzung 3Nachbemerkung

Die Wellen

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Meer und Himmel ließen sich nicht unterscheiden, nur daß das Meer leicht gefältelt war wie ein zerknittertes Tuch. Allmählich, während der Himmel weiß wurde, erstreckte sich eine dunkle Linie am Horizont, die das Meer vom Himmel trennte, und das graue Tuch wurde von dicken Streifen durchzogen, die sich, einer nach dem anderen, unter der Oberfläche bewegten, einander folgend, einander jagend, immerzu.

Sowie sie sich der Küste näherten, hob sich ein Streifen nach dem anderen, schob sich hoch, brach und wischte einen dünnen Schleier weißen Wassers über den Sand. Die Welle hielt inne und zog sich dann wieder zurück, seufzend wie ein Schlafender, dessen Atem unbewußt kommt und geht. Allmählich wurde der dunkle Streif am Horizont klar, als hätte sich die Ablagerung in einer alten Weinflasche gesetzt und das Glas erschiene wieder grün. Dahinter klärte sich auch der Himmel, als hätte sich dort die weiße Ablagerung gesetzt, oder als höbe der Arm einer Frau, die hinterm Horizont ruhte, eine Lampe in die Höhe, und nun breiteten sich flache Streifen von Weiß, Grün und Gelb über den Himmel aus wie die Finger eines Fächers. Dann hob sie ihre Lampe höher, und die Luft schien auszufasern und sich von der grünen Oberfläche zu lösen, sie flackerte und flammte in roten und gelben Fasern wie rauchendes Feuer, das aus einem Freudenfeuer aufprasselt. Allmählich verschmolzen die Fasern des brennenden Freudenfeuers zu einem einzigen Dunst, einem weißen Glast, der das Gewicht des wollnen grauen Himmels emporhob und in eine Million hellblauer Atome verwandelte. Die Meeresoberfläche wurde langsam transparent und lag gekräuselt und glitzernd da, bis die dunklen Striche nahezu weggewischt waren. Langsam hob der Arm, der die Lampe hielt, sie höher und dann noch höher, bis eine breite Flamme sichtbar wurde; ein Feuerbogen loderte am Rande des Horizontes, und rund um ihn her lohte das Meer golden.

Das Licht traf die Bäume im Garten, machte erst ein Blatt transparent und dann ein zweites. Ein Vogel zwitscherte hoch oben; es gab eine Pause; ein anderer zwitscherte weiter unten. Die Sonne hob die Mauern des Hauses scharf hervor und ruhte wie die Spitze eines Fächers auf einem weißen Rouleau und machte einen blauen Schattenfingerabdruck unter das Blatt am Schlafzimmerfenster. Das Rouleau bewegte sich leicht, doch drinnen war alles gedämpft und gestaltlos. Die Vögel sangen draußen ihre ungereimte Melodie.

 

 

 

 

»Ich sehe einen Ring«, sagte Bernard, »der über mir hängt. Er bebt und hängt in einer Lichtschlaufe.«

»Ich sehe eine Tafel aus blassem Gelb«, sagte Susan, »die sich verbreitert, bis sie auf einen Purpurstreifen trifft.«

»Ich höre ein Geräusch«, sagte Rhoda, »tschirp, zirp; tschirp, zirp, das auf- und niedersteigt.«

»Ich sehe eine Kugel«, sagte Neville, »die als Tropfen an den riesigen Flanken eines Hügels hängt.«

»Ich sehe eine feuerrote Troddel«, sagte Jinny, »die mit Goldfäden durchwirkt ist.«

»Ich höre etwas stampfen«, sagte Louis. »Der Fuß eines großen Tieres ist angekettet. Es stampft und stampft und stampft.«

»Seht doch das Spinnennetz an der Balkonecke«, sagte Bernard. »Es ist von Wasserperlen überzogen, Tropfen weißen Lichts.«

»Die Blätter sind um das Fenster versammelt wie gespitzte Ohren«, sagte Susan.

»Ein Schatten fällt auf den Pfad«, sagte Louis, »wie ein angewinkelter Ellbogen.«

»Inseln von Licht schwimmen auf dem Gras«, sagte Rhoda. »Sie sind durch die Bäume gefallen.«

»Die Augen der Vögel leuchten in den Tunnels zwischen den Blättern«, sagte Neville.

»Die Stengel sind mit rauhen, kurzen Härchen bedeckt«, sagte Jinny, »und Wassertropfen sind an ihnen hängengeblieben.«

»Eine Raupe ist zu einem grünen Ring zusammengerollt«, sagte Susan, »eingekerbt, mit stumpfen Füßen.«

»Die Schnecke mit dem grauen Haus zieht über den Pfad und drückt die Grashalme hinter sich platt«, sagte Rhoda.

»Und glühende Lichter von den Fensterscheiben huschen hin und her auf den Gräsern«, sagte Louis.

»Die Steine fühlen sich kalt unter meinen Füßen an«, sagte Neville. »Ich spüre sie, rund oder spitz, jeden einzeln.«

»Mein Handrücken glüht«, sagte Jinny, »aber die Innenfläche ist klamm und feucht vom Tau.«

»Jetzt kräht der Hahn wie ein Strahl festen, roten Wassers in der weißen Flut«, sagte Bernard.

»Vögel singen auf und nieder und ein und aus rund um uns her«, sagte Susan.

»Das Tier stampft; der Elefant mit angekettetem Fuß; das große Untier auf dem Strande stampft«, sagte Louis.

»Seht doch das Haus«, sagte Jinny, »mit all den Fenstern, weiß vor Rouleaus.«

»Kaltes Wasser beginnt aus dem Hahn an der Spüle zu laufen«, sagte Rhoda, »über die Makrele in der Schüssel.«

»Die Wände sind von goldenen Rissen durchzogen«, sagte Bernard, »und unter den Fenstern sind blaue, fingerförmige Blätterschatten.«

»Jetzt zieht Mrs Constable ihre dicken schwarzen Strümpfe hoch«, sagte Susan.

»Wenn der Rauch aufsteigt, rollt sich der Schlaf vom Dach wie eine Nebelschwade«, sagte Louis.

»Die Vögel sangen erst im Chor«, sagte Rhoda. »Jetzt wird die Tür der Spülküche aufgeriegelt. Fort sind sie. Fort sind sie wie ein Wurf Saatkörner. Aber einer singt am Fenster des Schlafzimmers allein.«

»Blasen bilden sich am Boden des Kochtopfes«, sagte Jinny. »Dann steigen sie, immer schneller, in einer Silberkette an die Oberfläche.«

»Jetzt schabt Biddy die Fischschuppen mit einem gezackten Messer auf ein Holzbrett«, sagte Neville.

»Das Eßzimmerfenster ist jetzt dunkelblau«, sagte Bernard, »und die Luft vibriert über den Schornsteinen.«

»Eine Schwalbe sitzt auf dem Blitzableiter«, sagte Susan. »Und Biddy hat den Eimer auf die Küchenfliesen geknallt.«

»Das ist der erste Schlag der Kirchenglocke«, sagte Louis. »Dann folgen die anderen; eins, zwei; eins, zwei; eins, zwei.«

»Seht doch das Tischtuch, wie es weiß den Tisch entlangflattert«, sagte Rhoda. »Jetzt gibt es Kreise weißen Porzellans und Silberstreifen neben jedem Teller.«

»Plötzlich dröhnt eine Biene in meinem Ohr«, sagte Neville. »Sie ist hier; sie ist vorbei.«

»Ich glühe, ich zittere«, sagte Jinny, »aus dieser Sonne heraus, in diesen Schatten hinein.«

»Jetzt sind sie alle weg«, sagte Louis. »Ich bin allein. Sie sind zum Frühstück ins Haus gegangen, und ich bleibe hier stehen an der Mauer zwischen den Blumen. Es ist sehr früh, vor dem Unterricht. Blume um Blume wird auf die Tiefen des Grüns getüpfelt. Die Blütenblätter sind Harlekine. Stengel steigen auf aus den schwarzen Höhlen darunter. Die Blumen schwimmen wie Fische aus Licht auf den dunklen, grünen Wassern. Ich halte einen Stengel in der Hand. Ich bin der Stengel. Meine Wurzeln reichen hinab in die Tiefen der Welt, durch terracottatrockene Erde und feuchte Erde, durch Adern von Blei und Silber. Ich bin ganz Faser. Jedes Beben schüttelt mich, und das Gewicht der Erde preßt sich gegen meine Rippen. Hier oben sind meine Augen grüne Blätter, blicklos. Ich bin ein Junge in grauen Flanellhosen mit einem Gürtel, den eine Messingschlange schließt, hier oben. Dort unten sind meine Augen die lidlosen Augen einer steinernen Gestalt in einer Wüste am Nil. Ich sehe Frauen mit roten Krügen zum Fluß gehen; ich sehe Kamele hin- und herschaukeln und Männer mit Turbanen. Ich höre Getrampel, Gezitter, Geraschel um mich her.

Hier oben streifen Bernard, Neville, Jinny und Susan (aber nicht Rhoda) mit ihren Netzen über die Blumenbeete. Sie streifen die Schmetterlinge von den nickenden Blütenspitzen. Sie fegen über die Oberfläche der Welt. Ihre Netze sind voll von flatternden Flügeln. ›Louis! Louis! Louis!‹ rufen sie. Doch sie können mich nicht sehen. Ich bin auf der anderen Seite der Hecke. Es gibt nur kleine Gucklöcher zwischen den Blättern. O Gott, laß sie vorbeigehen. Lieber Gott, laß sie ihre Schmetterlinge auf einem Taschentuch auf dem Kies ausbreiten. Laß sie ihre kleinen Füchse, ihre roten Admirale und Kohlweißlinge nachzählen. Doch laß mich ungesehen bleiben. Ich bin grün wie eine Eibe im Schatten der Hecke. Mein Haar ist aus Blättern. Ich bin mit dem Mittelpunkt der Erde verwurzelt. Mein Körper ist ein Stengel. Ich quetsche den Stengel. Ein Tropfen sickert aus dem Loch des Stengelmundes und langsam, sämig, wird er immer größer und größer. Jetzt bewegt sich etwas Rosafarbenes am Guckloch vorbei. Jetzt schiebt sich ein Augenstrahl durch die Ritze. Der Strahl trifft mich. Ich bin ein Junge in grauem Flanell. Sie hat mich gefunden. Ich werde am Nacken getroffen. Sie hat mich geküßt. Alles ist zerbrochen.«

»Ich bin herumgerannt«, sagte Jinny, »nach dem Frühstück. Ich sah, wie sich die Blätter in einem Loch in der Hecke bewegten. Ich dachte, ›Das ist ein Vogel auf seinem Nest.‹ Ich zerteilte sie und guckte; aber da war kein Vogel auf einem Nest. Die Blätter bewegten sich immer noch weiter. Ich hatte Angst. Ich rannte an Susan vorbei, an Rhoda, und Neville und Bernard unterhielten sich im Geräteschuppen. Ich weinte, wie ich da rannte, schneller und schneller. Was bewegte die Blätter? Was bewegt mein Herz, meine Beine? Und ich stürzte hier herein und sah dich, grün wie ein Busch, wie ein Zweig, ganz still, Louis, mit starren Augen. ›Ist er tot?‹ dachte ich und küßte dich, während mein Herz unter meinem rosa Kleid hüpfte wie die Blätter, die sich immer noch bewegen, obwohl nichts da ist, was sie bewegt. Jetzt rieche ich Geranien; ich rieche Humus. Ich tanze. Ich vibriere. Es wirft mich über dich wie ein Netz aus Licht. Ich liege bebend über dich gebreitet.«

»Durch die Ritze in der Hecke«, sagte Susan, »sah ich, wie sie ihn küßte. Ich hob den Kopf von meinem Blumentopf und schaute durch eine Ritze in der Hecke. Ich sah, wie sie ihn küßte. Ich sah sie, Jinny und Louis, sich küssen. Jetzt werde ich meine Pein in mein Taschentuch wickeln. Sie soll zu einem festen Knäuel zusammengepreßt werden. Ich werde allein in den Buchenwald gehen, vor dem Unterricht. Ich will nicht an einem Tisch sitzen und Rechenaufgaben machen. Ich will nicht neben Jinny und neben Louis sitzen. Ich werde meine Seelenqual nehmen und sie auf die Wurzeln unter den Buchen legen. Ich werde sie untersuchen und zwischen die Fingerspitzen nehmen. Sie werden mich nicht finden. Ich werde Nüsse essen und im Dornengestrüpp nach Eiern Ausschau halten, und mein Haar wird verfilzen, und ich werde unter Hecken schlafen und Wasser aus Gräben trinken und dort sterben.«

»Susan ist an uns vorbeigekommen«, sagte Bernard. »Sie ist an der Tür des Geräteschuppens vorbeigekommen mit ihrem Taschentuch zu einem Knäuel zusammengepreßt. Sie weinte nicht, aber ihre Augen, die so schön sind, waren schmal wie die Augen von Katzen, bevor sie springen. Ich werde ihr nachgehen, Neville. Ich werde sacht hinter ihr hergehen, um zur Stelle zu sein, mit meiner Neugier, um sie zu trösten, wenn die Wut aus ihr herausbricht und sie denkt, ›ich bin allein‹.

Jetzt schlendert sie beschwingt über das Feld, nonchalant, um uns zu täuschen. Dann kommt sie zu der Stelle, wo der Weg bergab geht; sie glaubt, niemand sehe sie; sie beginnt zu laufen und ballt die Fäuste vor der Brust. Ihre Nägel treffen im Taschentuchknäuel aufeinander. Sie steuert auf den Buchenwald zu, fort aus dem Licht. Sie breitet ihre Arme aus, sowie sie ihn erreicht, und taucht in den Schatten wie eine Schwimmerin. Aber sie ist blind nach dem Licht und stolpert und wirft sich auf die Wurzeln unter den Bäumen, wo das Licht ein- und auszukeuchen scheint, ein und aus. Die Äste heben und senken sich. Aufruhr und Verstörtheit herrschen hier. Und Düsternis. Das Licht huscht unstet. Seelenqual herrscht hier. Die Wurzeln bilden ein Skelett auf dem Boden, mit toten Blättern, die sich in den Winkeln häufen. Susan hat ihre Seelenqual ausgebreitet. Ihr Taschentuch liegt auf den Wurzeln der Buchen, und sie schluchzt, in sich gekauert, dort, wo sie gefallen ist.«

»Ich sah, wie sie ihn küßte«, sagte Susan. »Ich guckte durch die Blätter und sah sie. Sie kam hereingetanzt, von Diamanten gesprenkelt, leicht wie Staub. Und ich bin plump, Bernard, ich bin klein. Ich habe Augen, die am Boden entlangtasten und Insekten im Gras sehen. Die gelbe Wärme in meiner Seite wurde zu Stein, als ich sah, wie Jinny Louis küßte. Ich werde Gras essen und in einem Graben im braunen Wasser sterben, in dem tote Blätter vermodert sind.«

»Ich sah dich vorbeigehen«, sagte Bernard. »Als du an der Tür des Geräteschuppens vorbeikamst, hörte ich dich schluchzen, ›ich bin unglücklich‹. Ich legte mein Messer beiseite. Ich machte gerade mit Neville Schiffchen aus Holzscheiten. Und mein Haar ist unordentlich, denn als Mrs Constable mir sagte, ich solle es bürsten, war da eine Fliege im Netz, und ich fragte, ›soll ich die Fliege befreien? Soll ich zulassen, daß die Fliege gefressen wird?‹ So komme ich immer zu spät. Mein Haar ist nicht gebürstet, und diese Holzspäne da hängen drin fest. Als ich dich weinen hörte, folgte ich dir und sah, wie du das Taschentuch hinlegtest, zusammengeknäuelt, mit der Wut, mit dem Haß darin verknotet. Aber das wird bald vorbei sein. Unsere Körper sind jetzt nahe beieinander. Du hörst meinen Atem. Du siehst auch den Käfer, der ein Blatt auf seinem Rücken davonträgt. Er läuft hierhin, dann dorthin, so daß sogar dein Verlangen, während du den Käfer beobachtest, etwas Bestimmtes zu besitzen (jetzt ist es Louis), hin- und herschwanken muß, wie das Licht, hin und her zwischen den Buchenblättern; und dann werden Wörter, die sich dunkel in den Tiefen deines Gemütes regen, diesen Knoten aus Härte aufbrechen, der in dein Taschentuch geknäuelt ist.«

»Ich liebe«, sagte Susan, »und ich hasse. Ich verlange nur nach einem. Meine Augen sind hart. Jinnys Augen sprühen in tausend Lichtern. Die von Rhoda sind wie jene blassen Blumen, zu denen die Falter abends kommen. Deine werden voll bis an den Rand und sprühen nie. Aber ich habe mein Ziel schon fest im Sinn. Ich sehe Insekten im Gras. Obwohl meine Mutter immer noch weiße Söckchen für mich strickt und Schürzenkleidchen säumt und ich ein Kind bin, liebe ich und hasse ich.«

»Aber wenn wir zusammensitzen, ganz nah«, sagte Bernard, »verschmelzen wir miteinander durch Sätze. Wir sind von Nebelschleiern eingefaßt. Wir bilden ein körperloses Gebiet.«

»Ich sehe den Käfer«, sagte Susan. »Er ist schwarz, das sehe ich; er ist grün, das sehe ich; einzelne Wörter binden mich fest. Aber du gehst weg; du stiehlst dich davon; du steigst empor, immer höher, mit Wörtern und Wörtern in Sätzen.«

»Jetzt«, sagte Bernard, »gehen wir auf Entdeckungsreise. Da liegt das weiße Haus zwischen den Bäumen. Es liegt so unendlich tief unter uns. Wir werden uns wie Schwimmer sinken lassen, die den Boden kaum mit den Zehenspitzen berühren. Wir werden durch die grüne Blätterluft sinken, Susan. Wir sinken, während wir laufen. Die Wellen schlagen über uns zusammen, die Buchenblätter schließen sich über unseren Köpfen. Da ist die Stalluhr mit ihren goldglänzenden Zeigern. Das da sind die Flächen und Firste der Dächer des Herrenhauses. Da ist der Stalljunge, der in Gummistiefeln im Hof herumklappert. Das ist Elvedon.

Jetzt sind wir durch die Baumwipfel auf die Erde gefallen. Die Luft läßt nicht mehr ihre langen, unglücklichen, purpurfarbenen Wellen über uns hinrollen. Wir berühren die Erde; wir treten auf Grund. Das ist die kurzgeschnittene Hecke des Damengartens. Dort spazieren sie zur Mittagszeit, mit Scheren, und schneiden die Rosen. Jetzt sind wir in dem eingehegten Wald, den die Mauer umgibt. Das ist Elvedon. Ich habe Wegweiser an den Kreuzungen gesehen, die mit einem Arm ›Nach Elvedon‹ wiesen. Niemand ist dort gewesen. Die Farnkräuter duften sehr stark, und unter ihnen, da wachsen rote Pilze. Jetzt wecken wir die schlafenden Dohlen, die noch nie eine menschliche Gestalt gesehen haben; jetzt treten wir auf verfaulte Galläpfel, altersrot und glitschig. Ein Mauerring umgibt diesen Wald; niemand kommt hierher. Horch! Das ist das Klatschen einer Riesenkröte im Unterholz; das ist das Rasseln eines urzeitlichen Tannenzapfens, der herabfällt und im Farnkraut vermodern wird.

Setz deinen Fuß auf diesen Ziegelstein. Schau über die Mauer. Das ist Elvedon. Die Dame sitzt zwischen den beiden hohen Fenstern und schreibt. Die Gärtner fegen den Rasen mit riesigen Besen. Wir sind die ersten, die hierherkommen. Wir sind die Entdecker eines unbekannten Landes. Rühr dich nicht; wenn uns die Gärtner sähen, würden sie uns totschießen. Wir würden wie Marder an die Stalltür genagelt. Sieh! Reg dich nicht. Halt dich an den Farnkräutern oben auf der Mauer fest.«

»Ich sehe die Dame schreiben. Ich sehe die Gärtner fegen«, sagte Susan. »Wenn wir hier stürben, es begrübe uns niemand.«

»Lauf!« sagte Bernard. »Lauf! Der Gärtner mit dem schwarzen Bart hat uns gesehen! Man wird uns totschießen! Man wird uns wie Häher abschießen und an die Wand nageln. Wir sind in Feindesland. Wir müssen in den Buchenwald entkommen. Wir müssen uns unter den Bäumen verstecken. Ich habe einen Zweig umgeknickt, als wir kamen. Es gibt einen Geheimpfad. Bück dich, so tief du kannst. Folg mir, ohne zurückzuschaun. Sie werden uns für Füchse halten. Lauf!

Jetzt sind wir in Sicherheit. Jetzt können wir uns wieder aufrichten. Jetzt können wir unsere Arme unter diesem hohen Baldachin ausstrecken, in diesem riesigen Wald. Ich höre nichts. Das ist nur das Murmeln der Wellen in der Luft. Das ist eine Holztaube, die aus ihrem Versteck in den Buchenwipfeln aufflattert. Die Taube schlägt die Luft; die Taube schlägt die Luft mit hölzernen Flügeln.«

»Jetzt verlierst du dich«, sagte Susan, »indem du Sätze bildest. Jetzt steigst du empor wie die Schnur eines Luftballons, höher und höher, durch die Blätterschichten, außer Reichweite. Jetzt bleibst du zurück. Jetzt zupfst du an meinen Röcken, schaust zurück, bildest Sätze. Du bist mir entkommen. Hier ist der Garten. Hier ist die Hecke. Hier auf dem Weg ist Rhoda, die Blütenblätter hin- und herschaukelt in ihrer braunen Schale.«

»Alle meine Schiffe sind weiß«, sagte Rhoda. »Ich will keine roten Blütenblätter von Stockrosen oder Geranien. Ich will weiße Blütenblätter, die schwimmen, wenn ich die Schale kippe. Ich habe jetzt eine Flotte, die von Küste zu Küste schwimmt. Ich werde einen Zweig hineinfallen lassen als Floß für einen ertrinkenden Matrosen. Ich werde einen Stein hineinfallen lassen und Blasen aus den Tiefen des Meeres aufsteigen sehen. Neville ist fort, und Susan ist fort; Jinny ist im Küchengarten und pflückt Johannisbeeren, vielleicht mit Louis. Ich habe eine kleine Weile für mich allein, während Miss Hudson unsere Hefte auf dem Tisch im Schulzimmer verteilt. Ich habe eine kurze Spanne Freiheit. Ich habe alle abgefallenen Blütenblätter aufgesammelt und sie schwimmen lassen. Ich habe Regentropfen in einige gesetzt. Ich werde hier einen Leuchtturm einpflanzen, den Kopf einer Butterblume. Und ich werde jetzt die braune Schale hin- und herschaukeln, damit meine Schiffe auf den Wellen reiten können. Manche werden sinken. Manche werden sich gegen die Klippen schmettern. Eines segelt allein. Das ist mein Schiff. Es segelt in eisige Höhlen, wo der Eisbär bellt und Stalaktiten grüne Ketten schwingen. Die Wellen steigen; ihre Kämme kräuseln sich; sieh die Lichter auf den Mastspitzen. Sie haben sich zerstreut, sie sind untergegangen, alle, außer meinem Schiff, das auf der Welle reitet und vor dem Sturm segelt und die Inseln erreicht, wo die Papageien plappern und die Lianen …«

»Wo ist Bernard?« sagte Neville. »Er hat mein Messer. Wir waren im Geräteschuppen und machten Schiffchen, und Susan kam an der Tür vorbei. Und Bernard ließ sein Schiffchen fallen und lief hinter ihr her und nahm mein Messer mit, das scharfe, mit dem man den Kiel schnitzt. Er ist wie ein baumelnder Draht, ein gerissener Klingelzug, ein ständiges Schwirren. Er ist wie der Seetang, der vors Fenster gehängt ist, mal feucht, mal trocken. Er läßt mich im Stich; er folgt Susan hinterher; und wenn Susan weint, wird er mein Messer nehmen und ihr Geschichten erzählen. Die große Klinge ist ein Kaiser; die zerbrochene Klinge ist ein Neger. Ich hasse Baumelndes; ich hasse Feuchtes. Ich hasse es, umherzuschweifen und alles miteinander zu vermischen. Jetzt läutet die Glocke und wir werden zu spät kommen. Jetzt müssen wir unser Spielzeug liegenlassen. Jetzt müssen wir zusammen hineingehen. Die Hefte liegen eines neben dem anderen auf dem mit grünem Filz bespannten Tisch.«

»Ich werde das Verb nicht konjugieren«, sagte Louis, »bevor Bernard es nicht aufgesagt hat. Mein Vater ist Bankier in Brisbane, und ich spreche mit einem australischen Akzent. Ich werde warten und es Bernard nachmachen. Er ist Engländer. Sie sind alle Engländer. Susans Vater ist Geistlicher. Rhoda hat keinen Vater. Bernard und Neville sind Söhne von Gentlemen. Jinny lebt bei ihrer Großmutter in London. Jetzt kauen sie an ihren Federhaltern. Jetzt drehen sie ihre Hefte in den Fingern und zählen, mit Seitenblicken auf Miss Hudson, die purpurfarbenen Knöpfe an ihrem Mieder. Bernard hat einen Holzspan im Haar. Susan hat etwas Rotes im Auge. Beide glühen. Aber ich bin blaß; ich bin adrett, und meine Knickerbocker werden von einem Gürtel mit einer Messingschlange gehalten. Ich kann die Lektion auswendig. Ich weiß mehr, als sie je wissen werden. Ich weiß meine Kasusendungen und Genera; ich könnte alles in der Welt wissen, wenn ich wollte. Aber ich habe nicht den Wunsch, nach vorne zu kommen und meine Lektion aufzusagen. Meine Wurzeln kringeln sich wie die Fasern in einem Blumentopf rund um die ganze Welt herum. Ich habe nicht den Wunsch, nach vorne zu kommen und im Licht dieser großen Uhr mit dem gelben Zifferblatt, die immerzu tickt, zu leben. Jinny und Susan, Bernard und Neville verflechten sich zu einem Strick, um mich damit zu peitschen. Sie machen sich lustig über mein adrettes Aussehen, über meinen australischen Akzent. Ich werde jetzt versuchen, Bernard nachzumachen, wie er leise Latein lispelt.«

»Das da sind weiße Wörter«, sagte Susan, »wie Steine, die man am Strand aufliest.«

»Sie schnellen ihre Schwänze nach rechts und links, wenn ich sie ausspreche«, sagte Bernard. »Sie wedeln mit ihren Schwänzen; sie schlagen mit ihren Schwänzen; sie ziehen in Schwärmen durch die Luft, jetzt hierhin, jetzt dorthin, bewegen sich alle zusammen, teilen sich jetzt, kommen jetzt wieder zusammen.«

»Das da sind gelbe Wörter, das sind feurige Wörter«, sagte Jinny. »Ich hätte gerne ein feuriges Kleid, ein gelbes Kleid, ein lohfarbenes Kleid, das ich am Abend anziehen könnte!«

»Jedes Tempus«, sagte Neville, »besagt etwas anderes. Es gibt eine Ordnung in dieser Welt; es gibt Unterscheidungen, es gibt Verschiedenheiten in dieser Welt, an deren Schwelle ich trete. Denn dies ist erst der Anfang.«

»Jetzt hat Miss Hudson«, sagte Rhoda, »ihr Buch zugeklappt. Jetzt beginnt das Entsetzliche. Jetzt nimmt sie ihr Stück Kreide und malt Zahlen, sechs, sieben, acht, und dann ein Kreuz und dann einen Strich an die Tafel. Wie heißt die Lösung? Die anderen schauen hin; sie schauen verständig. Louis schreibt; Susan schreibt; Neville schreibt; Jinny schreibt; sogar Bernard hat jetzt zu schreiben angefangen. Aber ich kann nicht schreiben. Ich sehe nichts als Zahlen. Die anderen geben ihre Lösungen ab, einer nach dem anderen. Jetzt bin ich dran. Aber ich habe keine Lösung. Die anderen dürfen gehen. Sie knallen die Tür zu. Miss Hudson geht. Sie haben mich allein gelassen, damit ich die Lösung finde. Die Zahlen bedeuten jetzt nichts. Die Bedeutung ist verschwunden. Die Uhr tickt. Die beiden Zeiger sind Konvois, die durch eine Wüste marschieren. Die schwarzen Striche auf dem Zifferblatt sind grüne Oasen. Der große Zeiger ist vorausmarschiert, um Wasser zu suchen. Der andere stolpert qualvoll zwischen den heißen Steinen in der Wüste weiter. Er wird in der Wüste sterben. Die Küchentür knallt zu. Wilde Hunde bellen weit weg. Schau, die Schlinge der Zahl beginnt, sich mit Zeit zu füllen; sie enthält die Welt. Ich fange an, eine Zahl zu malen, und die Welt ist in sie geschlungen, und ich bin außerhalb der Schlinge, die ich nun verknüpfe – so – und versiegle und vervollständige. Die Welt ist vollständig, und ich bin draußen und rufe, ›Oh rettet mich davor, auf immer aus der Schlinge der Zeit hinausgeweht zu werden!‹«

»Rhoda sitzt da und starrt auf die Tafel«, sagte Louis, »im Klassenzimmer, während wir uns davontrollen und hier ein wenig Thymian pflücken, dort ein Blatt Stabwurz abzupfen, derweil Bernard eine Geschichte erzählt. Rhodas Schulterblätter berühren sich auf ihrem Rücken wie die Flügel eines kleinen Schmetterlings. Und während sie auf die Kreidezahlen starrt, zieht ihr Geist in jene weißen Kreise ein; er tritt durch jene weißen Schlingen ins Leere, allein. Sie haben keine Bedeutung für sie. Sie hat keine Lösung für sie. Sie hat keinen Körper wie die anderen. Und ich, der mit australischem Akzent spricht, dessen Vater Bankier in Brisbane ist, fürchte mich vor ihr nicht so, wie ich mich vor den anderen fürchte.«

»Jetzt wollen wir«, sagte Bernard, »unter den Baldachin der Johannisbeersträucher kriechen und Geschichten erzählen. Wir wollen die Unterwelt bewohnen. Laß uns Besitz ergreifen von unserem geheimen Reich, das die herabhängenden Johannisbeeren wie Kronleuchter erhellen, rot schimmernd auf der einen Seite, schwarz auf der anderen. Hier, Jinny, können wir, wenn wir uns eng aneinanderschmiegen, unter dem Baldachin der Johannisbeerblätter sitzen und die Weihrauchkessel schwingen sehen. Dies ist unsere Welt. Die anderen gehen vorbei, die Wagenauffahrt hinunter. Miss Hudsons und Miss Currys Röcke fegen wie Kerzenlöscher vorüber. Das da sind Susans weiße Socken. Das sind Louis' zünftige Strandschuhe, die kräftige Abdrücke im Kies hinterlassen. Hier kommt in warmen Wolken der Geruch modernder Blätter, verfaulender Pflanzen. Wir sind jetzt in einem Sumpf; in einem Malariadschungel. Da ist ein Elefant, weiß vor Maden, von einem Pfeil getötet, der ihn genau ins Auge traf. Die glänzenden Augen hüpfender Vögel – Adler, Geier – stechen hervor. Sie halten uns für umgestürzte Bäume. Sie picken an einem Wurm – das ist eine Kobra – und lassen ihn mit einer eiternden brennenden Wunde liegen, daß die Löwen ihn zerreißen. Das hier ist unsere Welt, erhellt von leuchtenden Halbmonden und Sternen; und große halbdurchsichtige Blütenblätter verschließen die Öffnungen wie purpurfarbene Fenster. Alles ist seltsam fremd. Die Dinge sind riesengroß und winzig klein. Die Blumenstengel sind dick wie Eichen. Die Blätter sind hoch wie die Kuppeln gewaltiger Kathedralen. Wir sind Riesen, wie wir hier liegen, und können Wälder erzittern lassen.«

»Das ist das Hier«, sagte Jinny, »das ist das Jetzt. Aber bald werden wir aufbrechen. Bald wird Miss Curry in ihre Pfeife blasen. Wir werden den Weg entlanggehen. Wir werden uns trennen. Du wirst ins Internat kommen. Du wirst Lehrer haben, die Kreuze tragen auf weißen Schlipsen. Ich werde eine Lehrerin in einem Pensionat an der Ostküste haben, die unter einem Porträt von Königin Alexandra sitzt. Dort werde ich hinkommen, und Susan und Rhoda auch. Das ist nur das Hier, das ist nur das Jetzt. Jetzt liegen wir unter den Johannisbeerbüschen, und jedesmal, wenn ein Lüftchen sich regt, sind wir über und über gesprenkelt. Meine Hand ist wie eine Schlangenhaut. Meine Knie sind rosa schwimmende Inseln. Dein Gesicht ist wie ein Apfelbaum unter einem Netz.«

»Die Hitze weicht«, sagte Bernard, »aus dem Dschungel. Die Blätter klatschen mit ihren schwarzen Flügeln über uns. Miss Curry hat auf der Terrasse in ihre Pfeife geblasen. Wir müssen unter der Markise der Johannisbeerblätter hervorkriechen und uns aufrichten. Du hast Zweige im Haar, Jinny. Du hast eine grüne Raupe am Hals. Wir müssen uns in Zweierreihen aufstellen. Miss Curry wird einen zügigen Spaziergang mit uns machen, derweil Miss Hudson an ihrem Schreibtisch sitzt und die Abrechnungen erledigt.«

»Es ist langweilig«, sagte Jinny, »die Landstraße langzugehen, ohne Schaufenster zum Angucken, ohne die trüben Augen aus blauem Glas im Pflaster.«

»Wir müssen uns in Paaren aufstellen«, sagte Susan, »und in Reih und Glied gehen, nicht mit den Füßen schlurfen, nicht zurückbleiben, mit Louis an der Spitze, der uns anführt, denn Louis ist wachsam und kein Träumer.«

»Da ich angeblich«, sagte Neville, »zu zart bin, um mit ihnen mitzugehen, da ich so leicht ermüde und mir dann schlecht wird, werde ich diese Stunde des Alleinseins, diese Atempause zwischen Gesprächen nutzen, um durch die Jagdgründe des Hauses zu streifen und mir, wenn möglich, indem ich mich auf dieselbe Stufe auf halber Höhe der Treppe stelle, zu vergegenwärtigen, was ich empfand, als ich gestern abend durch die Schwingtür von dem toten Mann reden hörte, als die Köchin die Ofenklappe auf- und zuschob. Man habe ihn mit durchschnittener Kehle gefunden. Die Apfelbaumblätter erstarrten am Himmel; der Mond funkelte grell; ich konnte meinen Fuß nicht heben, um ihn auf die nächste Stufe zu setzen. Man habe ihn im Rinnstein gefunden. Sein Blut sei gurgelnd den Rinnstein hinabgelaufen. Seine Kinnbacken seien weiß wie ein toter Kabeljau gewesen. Ich werde diese plötzliche Beklemmung, diese Erstarrung, auf immer ›Tod bei den Apfelbäumen‹ nennen. Da waren die ziehenden, blaßgrauen Wolken; und der unerweichliche Baum; der unversöhnliche Baum mit seiner gerippten Silberrinde. Mein pulsierendes Leben half nichts. Ich konnte nicht vorbeigehen. Es gab da ein Hindernis. ›Ich kann dieses undefinierbare Hindernis nicht überwinden‹, sagte ich. Und die anderen gingen daran vorbei. Aber wir sind verurteilt, wir alle, durch die Apfelbäume, durch den unerweichlichen Baum, an dem wir nicht vorbei können.

Jetzt ist die Beklemmung und Erstarrung vorbei; und ich werde fortfahren, die Jagdgründe des Hauses zu erforschen, spätnachmittags, bei Sonnenuntergang, wenn die Sonne ölige Flecken auf das Linoleum malt und ein Lichtspalt an der Wand kniet, so daß die Stuhlbeine gebrochen aussehen.«

»Ich sah Florrie im Küchengarten«, sagte Susan, »als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, mit wehenden Wäschestücken um sie her, die Schlafanzüge, die Unterhosen, die Nachthemden strammgebläht. Und Ernest küßte sie. Er hatte seine grüne Filzschürze an und putzte das Silber; und sein Mund war gespitzt und gefältelt wie ein Geldbeutel, und er packte sie, und die Schlafanzüge waren steifgebläht zwischen ihnen. Er war blind wie ein Stier, und sie wurde fast ohnmächtig vor Schreck, bloß kleine Äderchen streiften ihre weißen Wangen rot. Auch wenn sie jetzt Teller mit Butterbroten und Tassen voll Milch zur Teezeit herumreichen, sehe ich doch einen Spalt in der Erde, aus dem heißer Dampf hervorzischt; und der Teekessel röhrt, so wie Ernest röhrte, und ich bin steifgebläht wie die Schlafanzüge, auch wenn gerade meine Zähne im weichen Butterbrot aufeinandertreffen und ich die süße Milch schlürfe. Ich fürchte keine Hitze, noch den eiskalten Winter. Rhoda träumt und lutscht an einer in Milch getunkten Brotrinde; Louis betrachtet die gegenüberliegende Wand mit schneckengrünen Augen; Bernard formt Kügelchen aus seinem Brot und nennt sie ›Menschen‹. Neville, in seiner ordentlichen, entschiedenen Art und Weise, ist schon fertig. Er hat seine Serviette zusammengerollt und durch den Silberring gezogen. Jinny trommelt mit den Fingern auf dem Tischtuch, als tanzten sie in der Sonne, Pirouetten drehend. Aber ich fürchte nicht die Hitze, noch den eiskalten Winter.«

»Jetzt«, sagte Louis, »erheben wir uns alle; wir stehen alle auf. Miss Curry schlägt das schwarze Buch auf dem Harmonium weit auf. Es ist schwer, nicht zu weinen, wenn wir singen, wenn wir beten, daß Gott uns behüten möge, während wir schlafen, und wir uns kleine Kinder nennen. Wenn wir traurig sind und voller Bangnis zittern, dann ist es tröstlich, gemeinsam zu singen, während wir uns leicht aneinander lehnen, ich an Susan, Susan an Bernard, uns an den Händen fassend, mit vielen Ängsten, ich wegen meines Akzents, Rhoda wegen der Zahlen; doch entschlossen zu siegen.«

»Wir poltern wie junge Pferde hinauf«, sagte Bernard, »stampfend, trappelnd, einer hinter dem anderen, um nacheinander ins Badezimmer zu gehen. Wir boxen uns, wir balgen, wir springen auf den harten, weißen Betten herum. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich komme jetzt dran.

Mrs Constable, mit einem Badehandtuch gewappnet, ergreift ihren zitronenfarbenen Schwamm und tunkt ihn ins Wasser; er wird schokoladenbraun; er tropft; und während sie ihn hoch über mich hält, der ich unter ihr zittere, drückt sie ihn aus. Wasser läuft meine Rückgratrinne hinunter. Mit blitzenden Pfeilen schießen die Empfindungen an beiden Seiten hinab. Ich bin von warmem Fleisch bedeckt. Meine trockenen Fugen werden benetzt; mein kalter Körper erwärmt sich; er ist glattgespült und glänzt. Wasser rinnt hinunter und überzieht mich wie einen Aal. Jetzt umhüllen mich warme Handtücher; sie sind so rauh, daß beim Abreiben mein Blut zu schnurren beginnt. Üppige und schwere Empfindungen bilden sich am Dach meines Geistes; nieder geht der Tag wie ein Schauer – der Wald; und Elvedon; Susan und die Taube. An den Wänden meines Geistes strömt der Tag hinab, fließt zusammen und läuft ab, üppig, prächtig. Jetzt binde ich meinen Schlafanzug locker zusammen und liege unter diesem dünnen Laken, treibe in dem seichten Licht, das zart ist wie ein Wasserfilm, den eine Welle mir über die Augen zieht. Da hindurch höre ich weit weg, in weiter Ferne, leise und fern, den Chor beginnen; Räder; Hunde; rufende Männer; Kirchenglocken; den einsetzenden Chor.«

»Wie ich mein Kleid und mein Hemd zusammenfalte«, sagte Rhoda, »so lege ich meinen hoffnungslosen Wunsch ab, Susan zu sein, oder Jinny. Aber ich will meine Zehen ausstrecken, damit sie die Stange am Bettende berühren; ich will mich durch das Berühren der Stange eines Festen versichern. Jetzt kann ich nicht versinken; jetzt kann ich nicht ganz und gar durch das dünne Laken hindurchfallen. Jetzt breite ich meinen Körper auf dieser zerbrechlichen Matratze aus und schwebe. Ich bin jetzt über der Erde. Ich stehe nicht mehr aufrecht, so daß ich herumgestoßen werden kann und beschädigt. Alles ist weich und nachgiebig. Wände und Schränke werden weiß und beugen ihre gelben Quadrate, auf denen ein blasses Glas schimmert. Jetzt kann mein Geist aus mir herausströmen. Ich kann an meine Armadas denken, die auf den hohen Wellen segeln. Ich bin befreit von harten Begegnungen und Zusammenstößen. Ich segle allein weiter unter den weißen Klippen. Oh, ich sinke ja, ich falle! Das da ist die Schrankecke; das ist der Kinderzimmerspiegel. Aber sie strecken sich, sie ziehen sich in die Länge. Ich sinke nieder auf den schwarzen Federn des Schlafes; seine dichten Flügel sind auf meine Augen gepreßt. Auf der Reise durch die Dunkelheit erblicke ich die ausgestreckten Blumenbeete, und Mrs Constable kommt hinter der Ecke mit dem Pampasgras hervorgelaufen, um mir zu sagen, daß meine Tante gekommen sei, um mich in einer Kutsche abzuholen. Ich steige ein; ich entkomme; ich erhebe mich auf Stiefeln mit federnden Absätzen über die Wipfel. Doch jetzt bin ich in die Kutsche vor der Eingangstür gefallen, in der sie mit wippenden gelben Federn sitzt, mit Augen so hart wie Glasmurmeln. Ach, könnte ich doch aus den Träumen aufwachen! Schau, da ist die Kommode. Ich will mich aus diesen Gewässern herausziehen. Aber sie türmen sich über mir auf; sie reißen mich zwischen ihren breiten Schultern mit; ich werde umhergewirbelt; ich werde herumgeschleudert; ich bin ausgestreckt zwischen diesen langen Lichterreihen, diesen langen Wellen, diesen endlosen Wegen voll von Menschen, die mich verfolgen, verfolgen.«

 

 

 

 

Die Sonne stieg höher. Blaue Wellen, grüne Wellen wischten mit einem raschen Fächer über den Strand, umkreisten den Sproß der Stranddistel und hinterließen flache Lichtpfützen hier und dort auf dem Sand. Ein feiner schwarzer Rand blieb zurück. Die Felsen, die dunstig und weich gewesen waren, erstarrten und wurden von roten Kerben durchzogen.

Scharfe Schattenstreifen lagen auf dem Gras, und der Tau, der auf den Spitzen der Blumen und Blätter tanzte, machte aus dem Garten ein Mosaik von einzelnen Funken, die noch nicht zu einem Ganzen zusammengeschlossen waren. Die Vögel, mit kanariengelb und rosa gesprenkelter Brust, sangen nun ein oder zwei Tonfolgen zusammen, wild, wie Schlittschuhläufer Arm in Arm dahertollend, und waren plötzlich still, stoben auseinander.

Die Sonne legte breitere Bänder über das Haus. Das Licht berührte etwas Grünes in der Fensterecke und machte daraus einen Smaragdbrocken, eine Höhle reinen Grüns, wie eine kernlose Frucht. Es verschärfte die Konturen der Stühle und Tische und wirkte in weiße Tischtücher feine Goldfäden. Als das Licht zunahm, platzte hier und da eine Knospe und schüttelte Blüten hervor, grüngeädert und bebend, als hätte die Anstrengung des Aufgehens sie ins Schaukeln versetzt, und ein feines Glockenspiel ertönte, wie sie mit ihren zarten Klöppeln gegen ihre weißen Wände schlugen. Alles wurde sanft und formlos, als zerrönne das Porzellan des Tellers und der Stahl des Messers wäre flüssig. Derweil traf der Anprall der brechenden Wellen mit dumpfem Aufschlag, wie von stürzenden Stämmen, den Strand.

 

 

 

 

»Jetzt«, sagte Bernard, »ist die Zeit gekommen. Der Tag ist gekommen. Die Droschke steht vor der Tür. Mein riesiger Koffer drückt Georges O-Beine noch weiter auseinander. Die entsetzliche Zeremonie ist vorbei, die Ratschläge und das Abschiednehmen in der Halle. Jetzt kommt diese herzerweichende Zeremonie mit meiner Mutter, diese händeschüttelnde Zeremonie mit meinem Vater; jetzt muß ich noch weiterwinken, ich muß noch weiterwinken, bis wir um die Ecke sind. Jetzt ist diese Zeremonie vorbei. Gott sei Dank sind alle Zeremonien vorbei. Ich bin allein; ich fahre zum ersten Mal weg ins Internat.

Alle scheinen das, was sie tun, nur für diesen Augenblick zu tun; jetzt und nie wieder. Nie wieder. Das Dringende des Ganzen ist fürchterlich. Alle wissen es, daß ich ins Internat fahre, zum ersten Mal wegfahre ins Internat. ›Dieser Junge fährt zum ersten Mal weg ins Internat‹, sagt das Dienstmädchen, während es die Treppe putzt. Ich darf nicht weinen. Ich muß sie gleichgültig ansehen. Jetzt gähnen die gräßlichen Portale des Bahnhofs; ›die Uhr mit dem Mondgesicht schaut mich an‹. Ich muß einen Satz nach dem anderen bilden und so etwas Hartes zwischen mich und das Starren von Dienstmädchen stellen, das Starren von Uhren, starrende Gesichter, gleichgültige Gesichter, oder ich werde weinen. Da ist Louis, da ist Neville, in langen Mänteln, die Reisetaschen in der Hand, beim Fahrkartenschalter. Sie sind gefaßt. Aber sie sehen anders aus.«

»Hier ist Bernard«, sagte Louis. »Er ist gefaßt; er ist entspannt. Er läßt seine Reisetasche beim Gehen schaukeln. Ich werde mich an Bernard halten, denn der hat keine Angst. Wir werden durch die Schalterhalle auf den Bahnsteig geschoben, wie ein Fluß, der Zweige und Stroh um die Pfeiler einer Brücke schiebt. Da steht die mächtige, flaschengrüne Lokomotive ohne Hals, ganz Rücken und Schenkel, und atmet Dampf aus. Der Schaffner bläst in seine Pfeife; die Fahne wird gesenkt; ohne Anstrengung, aus eigener Schubkraft, wie eine Lawine, die durch einen sanften Stoß in Bewegung gesetzt wird, fahren wir an. Bernard breitet ein Tuch aus und fängt an zu würfeln. Neville liest. London zerbröselt. London wogt und brandet. Da ist ein Gestachel von Schornsteinen und Türmen. Da ist eine weiße Kirche; da ein Mast zwischen den Kirchtürmen. Da ein Kanal. Jetzt sind da weite Flächen mit Asphaltwegen, auf denen die Spaziergänger jetzt befremdlich wirken. Da ist ein Hügel rotgestreift von Häusern. Ein Mann überquert eine Brücke mit einem Hund hinter sich. Jetzt fängt der rote Junge an, auf einen Fasan zu schießen. Der blaue Junge schubst ihn beiseite. ›Mein Onkel ist der beste Schütze in ganz England. Mein Cousin ist der Vorsteher der Fuchsjagdmeute.‹ Das Prahlen beginnt. Und ich kann nicht prahlen, denn mein Vater ist Bankier in Brisbane, und ich spreche mit einem australischen Akzent.«

»Nach all diesem Getöse«, sagte Neville, »all diesem Getriebe und Getöse, sind wir angekommen. Dies ist in der Tat ein Augenblick – dies ist in der Tat ein feierlicher Augenblick. Ich komme wie ein Gebieter, der in die ihm bestimmten Hallen einzieht. Das dort ist unser Stiftervater; unser ruhmreicher Stiftervater, der da im Innenhof steht, mit einem leicht angewinkelten Fuß. Ich grüße unseren Stifter. Eine noble römische Atmosphäre schwebt über diesen nüchternen Höfen. Schon brennen die Lampen in den Klassenzimmern. Das dort könnten Laborräume sein; und das ist eine Bibliothek, in der ich die Präzision der lateinischen Sprache erforschen und sicheren Schrittes auf den wohlkonstruierten Sätzen schreiten und die klaren, die wohlklingenden Hexameter des Vergil, des Lukrez sprechen werde; und mit einer Leidenschaft, die nie dunkel oder formlos ist, Catulls Liebesgedichte rezitieren werde, aus einem großen Buch, einem Quartband mit Randglossen. Ich werde auch in den Feldern liegen zwischen den kitzeligen Gräsern. Ich werde mit meinen Freunden unter den hochragenden Ulmen liegen.

Siehe da, der Direktor. Oh weh, warum muß er so lächerlich auf mich wirken. Er ist zu geschniegelt; er ist allzu glänzend und schwarz, wie ein Standbild in einem Park. Und an der linken Seite seiner Weste, seiner prallen, seiner trommelartigen Weste, hängt ein Kruzifix.«

»Der alte Crane«, sagte Bernard, »erhebt sich jetzt, um uns eine Ansprache zu halten. Der alte Crane, der Direktor, hat eine Nase wie ein Bergzinken bei Sonnenuntergang, und eine blaue Kerbe im Kinn, wie eine bewaldete Schlucht, die ein Ausflügler angekohlt hat; wie eine bewaldete Schlucht von einem Zugfenster aus gesehen. Er wankt leicht, während er seine gewaltigen und klangvollen Worte mit den Lippen formt. Ich liebe gewaltige und klangvolle Worte. Doch seine Worte sind zu herzlich, um aufrichtig zu sein. Aber er ist bereits restlos überzeugt von ihrer Aufrichtigkeit. Und wenn er den Raum verläßt, ziemlich schwer von einer Seite zur andern wankend, und durch die Flügeltür stürzt, dann stürzen alle Lehrer, ziemlich schwer von einer Seite zur andern wankend, ebenfalls durch die Flügeltür. Dies ist unsere erste Nacht im Internat, getrennt von unseren Schwestern.«

 

 

 

 

»Dies ist meine erste Nacht im Internat«, sagte Susan, »fern von meinem Vater, fern von zu Hause. Meine Augen schwellen; meine Augen stechen vor Tränen. Ich hasse den Geruch von Tannenholz und Linoleum. Ich hasse die windzerzausten Büsche und die hygienischen Fliesen. Ich hasse die aufmunternden Witze und den glasigen Ausdruck von allen. Ich habe mein Eichhörnchen und meine Tauben bei dem Jungen gelassen, damit er sie versorgt. Die Küchentür knallt zu, und der Schuß knattert zwischen den Blättern, wenn Percy auf die Krähen schießt. Alles hier ist unecht; alles ist aufgesetzt. Rhoda und Jinny sitzen weit weg in braunem Köper und schauen auf Miss Lambert, die unter einem Bild von Königin Alexandra sitzt und aus einem vor ihr liegenden Buch vorliest. Da ist auch ein blaues Band mit einem Sinnspruch, den eine frühere Schülerin gestickt hat. Wenn ich mir nicht auf die Lippen beiße, wenn ich nicht mein Taschentuch fest zusammenknülle, werde ich weinen müssen.«

»Das purpurfarbene Licht«, sagte Rhoda, »in Miss Lamberts Ring springt hin und her über den schwarzen Fleck auf der weißen Seite des Gebetbuches. Es ist ein weinrotes, es ist ein liebkosendes Licht. Jetzt, nachdem unsere Koffer in den Schlafsälen ausgepackt sind, sitzen wir zusammengeschart unter den Landkarten der ganzen Welt. Es gibt Pulte mit Tintenfässern. Wir werden unsere Aufgaben hier mit Tinte schreiben. Aber hier bin ich niemand. Ich habe kein Gesicht. Diese große Gesellschaft, alle in braunen Köper gekleidet, hat mich meiner Identität beraubt. Wir sind alle fühllos, freudlos. Ich werde mir ein Gesicht aussuchen, ein gefaßtes, ein monumentales Gesicht und es mit Allwissenheit ausstatten und es unter meinem Kleid wie einen Talisman tragen, und dann (das verspreche ich) werde ich mir eine Lichtung im Walde suchen, wo ich meine Sammlung merkwürdiger Schätze ausbreiten kann. Das verspreche ich mir. So werde ich nicht weinen müssen.«

»Diese dunkle Frau«, sagte Jinny, »mit den hohen Backenknochen hat ein glänzendes Kleid, wie eine Muschel, gerippt, für den Abend. Das ist schön im Sommer, aber für den Winter hätte ich lieber ein dünnes Kleid, durchwirkt mit roten Fäden, die beim Licht des Feuers glänzten. Dann würde ich, wenn die Lampen angezündet sind, mein rotes Kleid anziehen, und es wäre dünn wie ein Schleier und würde meinen Körper umschmiegen und sich bauschen, wenn ich mit einer Pirouette ins Zimmer träte. Es würde sich zu einer Blume formen, wenn ich, mitten im Zimmer, auf einen goldenen Stuhl niedersänke. Doch Miss Lambert trägt ein undurchsichtiges Kleid, das wie eine Kaskade von der schneeweißen Rüsche herabfällt, wie sie da unter einem Bild von Königin Alexandra sitzt und einen weißen Finger fest auf die Seite drückt. Und wir beten.«

»Jetzt marschieren wir in Zweierreihen«, sagte Louis, »geordnet, wie eine Prozession, in die Kapelle. Mir gefällt das Dämmerlicht, das sich niedersenkt, wenn wir das geweihte Gebäude betreten. Mir gefällt das geordnete Voranschreiten. Wir defilieren hinein; wir setzen uns. Wir legen unsere Besonderheiten ab, indem wir hier eintreten. Es gefällt mir, wenn Dr. Crane jetzt leicht hin- und herwankend, doch nur wegen seiner Wuchtigkeit, die Kanzel emporsteigt und den Text aus einer Bibel vorliest, die aufgeschlagen auf dem Rücken eines Messingadlers liegt. Ich frohlocke; mein Herz weitet sich im Bann seiner massigen Gestalt, seiner Autorität. Er besänftigt die wirbelnden Staubwolken in meinem bebenden, meinem schandhaft erregten Gemüt – wie wir um den Weihnachtsbaum tanzten, und als die Päckchen ausgeteilt wurden, hatte man mich vergessen, und die dicke Frau sagte, ›Dieser kleine Junge hat kein Geschenk‹, und gab mir einen schimmernden Union Jack von der Baumspitze, und ich weinte vor Wut – aus Mitleid bedacht zu werden. Jetzt ist alles besänftigt durch seine Autorität, sein Kruzifix, und mich überkommt ein Gespür für die Erde unter mir, und wie meine Wurzeln immer tiefer reichen, bis sie sich um etwas Hartes im Mittelpunkt schlingen. Ich gewinne meine Kontinuität zurück, während er liest. Ich werde zu einer Gestalt in der Prozession, einer Speiche im riesigen Rad, das in seiner Drehung mich endlich aufrichtet, hier und jetzt. Ich bin im Dunkeln gewesen; ich bin verborgen gewesen; aber wenn das Rad sich dreht (während er liest), steige ich in dieses dämmerige Licht auf, in dem ich gerade noch, aber fast schon nicht mehr, kniende Jungen wahrnehmen kann, Pfeiler und messingne Gedenktafeln. Hier gibt es nichts Grobes, keine plötzlichen Küsse.«

»Der primitive Kerl bedroht meine Freiheit«, sagte Neville, »wenn er betet. Von keinerlei Phantasie erwärmt, fallen seine Worte mir kalt wie Pflastersteine auf den Kopf, während das goldene Kreuz sich auf seiner Weste hebt und senkt. Worte von großer Autorität werden von denen korrumpiert, die sie aussprechen. Ich habe nur Spott und Hohn für diese traurige Religion, für diese zitterigen, gramgebeugten Gestalten, die leichenblaß und verwundet auf einer weißen Straße dahinziehen, überschattet von Feigenbäumen, unter denen Jungen sich im Staube räkeln – nackte Jungen; und Ziegenhäute prall von Wein an der Tavernentür hängen. Ich war zu Ostern in Rom, auf Reisen mit meinem Vater; und die zitternde Gestalt der Mutter Christi wurde wackelnd durch die Straßen getragen; auch die Leidensgestalt Christi in einem Glaskasten kam vorbei.

Jetzt werde ich mich zur Seite beugen, als wollte ich mich am Schenkel kratzen. So kann ich Percival sehen. Da sitzt er, aufrecht zwischen dem kleinen Volk. Er atmet ziemlich schwer durch seine gerade Nase. Seine blauen und merkwürdig ausdruckslosen Augen sind in heidnischer Gleichgültigkeit auf den gegenüberliegenden Pfeiler gerichtet. Er würde einen bewundernswerten Kirchenvorsteher abgeben. Er sollte eine Birkenrute haben und kleine Jungen wegen Missetaten züchtigen. Er steht mit den lateinischen Sätzen auf den Messingtafeln im Bunde. Er sieht nichts; er hört nichts. Er ist weit weg von uns allen in einem heidnischen Universum. Aber schau – er fährt sich schnell mit der Hand ins Genick. Wegen solcher Gesten kann man sich hoffnungslos für den Rest des Lebens verlieben. Dalton, Jones, Edgar und Bateman fahren sich in derselben Weise schnell mit der Hand ins Genick. Aber ihnen gelingt es nicht.«

»Endlich«, sagte Bernard, »hört das Grollen auf. Die Predigt ist zu Ende. Er hat den Tanz der weißen Schmetterlinge an der Tür zu Staub zerstampft. Seine rauhe, haarige Stimme ist wie ein unrasiertes Kinn. Jetzt wankt er an seinen Platz zurück wie ein betrunkener Matrose. Dieses Gebaren werden alle anderen Lehrer nachzuahmen versuchen; aber da sie schmächtig, da sie schlapp sind und graue Hosen tragen, werden sie sich höchstens lächerlich machen. Ich verachte sie nicht. Ihre Verrenkungen sind in meinen Augen bedauernswert. Ich halte das Faktum zu künftiger Verwendung neben vielen anderen in meinem Notizbuch fest. Wenn ich erwachsen bin, werde ich ein Notizbuch mit mir führen – eine dicke Kladde mit vielen Seiten, alphabetisch mit Buchstaben versehen. Ich werde meine Sätze eintragen. Unter S wird ›Schmetterlingsstaub‹ stehen. Wollte ich in meinem Roman die Sonne auf dem Fensterbrett beschreiben, würde ich unter S nachschlagen und Schmetterlingsstaub finden. Das wird von Nutzen sein. Der Baum ›überschattet das Fenster mit grünen Fingern‹. Das wird von Nutzen sein. Ach je! Ich lasse mich so schnell ablenken – von einem Haar, das wie eine gezwirbelte Bonbonstange aussieht, von Celias Gebetbuch mit Elfenbeindeckel. Louis kann sich, ohne ein Lid zu bewegen, stundenlang in die Natur versenken. Ich scheitere schnell, es sei denn, man spricht mit mir. ›Der See meines Geistes, von keinem Ruder aufgerührt, schaukelt sanft und versinkt bald in ölige Schläfrigkeit.‹ Das wird von Nutzen sein.«

»Jetzt bewegen wir uns aus diesem kühlen Tempel hinaus auf die gelben Spielfelder«, sagte Louis. »Und da wir heute nachmittag frei haben (Geburtstag des Herzogs), werden wir uns im hohen Gras niederlassen, während die anderen Kricket spielen. Könnte ich ›die anderen‹ sein, würde ich mich dafür entscheiden; ich würde meine Knieschützer anschnallen und an der Spitze der Schlagmänner quer übers Spielfeld staksen. Sieh doch, wie alle hinter Percival hergehen. Er ist schwerfällig. Er geht ungelenk über das Feld, durch das hohe Gras, dorthin, wo die großen Ulmen stehen. Seine Herrlichkeit ist die eines mittelalterlichen Heerführers. Ein Lichtstreif scheint sich hinter ihm durchs Gras zu ziehen. Sieh, wie wir hinter ihm hermarschieren, seine getreuen Lehnsmänner, um wie die Schafe gemetzelt zu werden, denn er wird mit Sicherheit irgendein hoffnungsloses Unternehmen anführen und im Kampf fallen. Mein Herz wird rauh; es schabt in meiner Seite wie eine Feile mit zwei Kanten: die eine, daß ich seine Herrlichkeit anbete; die andere, daß ich seine schlampige Aussprache verachte – ich, der ich ihm haushoch überlegen bin – und eifersüchtig bin.«