Die Welt des Xi Jinping - Kerry Brown - E-Book

Die Welt des Xi Jinping E-Book

Kerry Brown

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Xi Jinping – der mächtigste Mann in China seit Mao – höchste Zeit zu wissen, was er denkt! Er ist der mächtigste Mann der Welt: Chinas Staatschef hat eine Machtfülle erreicht wie vor ihm nur Mao Zedong, er ist Staatschef auf Lebenszeit. Sein »Gedankengut für das neue Zeitalter des Sozialismus chinesischer Prägung« ist die neue Leitlinie, Kritik an Xi gilt als verfassungswidrig. Sicher ist: Xi Jinping wird nicht nur China in den nächsten Dekaden lenken und leiten, er wird unser aller Zukunft bestimmen. Höchste Zeit also, uns mit seiner Sicht auf die Welt vertraut zu machen! Der langjährige China-Experte Kerry Brown erklärt kompakt auf 160 Seiten, was und wie Xi Jinping denkt: wie er die Armut bekämpfen, den Klimawandel abwenden, mittels Big Data, die Überwachung vervollständigen will, und was er von China erwartet – und wie weit er gehen würde, um dieses zu verteidigen. Kurz: alles, was wir über das neue China und seinen Herrscher Xi Jinping wissen müssen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 170

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kerry Brown

Die Welt des Xi Jinping

Alles, was man über das neue China wissen muss

Aus dem Englischen von Brigitte Höhenrieder

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]DanksagungEinleitung1 Die Geschichte Xi2 Xi Jinping als Parteimann3 Xi Jinpings Werte4 Xi Jinping und das globale China5 Xi und politische Reformen6 Die Xi-Jinping-IdeenPostskript: Was geschieht mit glücklichen Menschen, wenn sie das Glück verlässt?Nachwort für die deutsche AusgabeEmpfohlene Lektüre

Für Rana Mitter,

mit Bewunderung und Dank

Danksagung

Als Erstes möchte ich Tomasz Hoskins und seinen Kollegen bei I.B. Tauris für ihre stetige Unterstützung danken.

Dieses Buch wäre nicht, was es ist, ohne die Verantwortlichen für die praktischen Details auf seinem Weg zur Publikation, deshalb bin ich Sarah Terry sehr dankbar für ihr sorgfältiges Lektorat und ihre Liebe zum Detail, Alex Billington bei Tetragon für den hochwertigen Satz und eine ebensolche Produktion sowie Alex Middleton für seine Korrekturen.

Einleitung

Am 18. Oktober 2017 stand Xi Jinping in der Großen Halle des Volkes in Beijing als Parteisekretär der Kommunistischen Partei Chinas auf, um den Delegierten des 19. Parteikongresses den politischen Bericht im Namen des Zentralkomitees zu präsentieren. Der Saal war vollbesetzt. Zu seiner Linken bzw. zu seiner Rechten saßen Jiang Zemin und Hu Jintao, die früheren Inhaber der Position, die er jetzt ausfüllte.

Seine Rede dauerte drei Stunden und 23 Minuten. Das war selbst für eine Nation, die von ihren hochrangigen Funktionären nicht erwartet, dass sie beim Reden auf die Zeit achten, eine Mammutrede. In seiner Ansprache nahm er Bezug auf die große Aufgabe, die sein Land in Angriff genommen hatte: wiederhergestellt zu werden als Großmacht – vielleicht als die Großmacht – der Moderne. Es war in vielerlei Hinsicht ein angebrachtes In-Erinnerung-Rufen der bemerkenswerten Wiederauferstehung eines Landes, das, soweit die lebendige Erinnerung zurückreicht, Hungersnot, Krieg und Bürgerkrieg, Revolution und endlose politische Machtkämpfe und Zerrüttungen erlebt hat. Am Ende würde das Versprechen, das der Gründungsvorsitzende der Kommunistischen Partei bei der Gründung der Volksrepublik 1949 gegeben hatte – China nach einem Jahrhundert der Schikanen durch andere wieder zu seiner Würde zu verhelfen und das chinesische Volk aufzurichten –, eingelöst werden. Und die Verwirklichung dieses Versprechens würde unter den Augen Xis stattfinden.

Weltweit war man sich einig, dass dieser Kongress schlussendlich Xis Macht gefestigt hat. Er war nun der Herr über alles, was in seinem Einflussbereich lag. Seit seiner Ernennung 2012 hatte er es geschafft, die Partei durch ihren Antikorruptionskampf und eine Reihe von Personalverschiebungen, die er auf den Weg brachte, zu dominieren. Aber seine Reichweite schien darüber noch deutlich hinauszugehen. Seine Auslandsbesuche in 50 Ländern, seit er an der Macht ist, haben gezeigt, dass er nicht nur China anspricht, sondern die ganze Welt. Während des Kongresses im Oktober 2017 zierte das Cover der Zeitschrift The Economist nichts als ein Bild Xis mit dem Statement: »Der mächtigste Mann der Welt«.

Xis Macht ist zu einer verbreiteten fixen Idee geworden. Der frühere US-Präsident Barack Obama stellte unbekümmert fest, dass Xi seine Macht schneller und umfassender gefestigt habe als wohl irgendjemand sonst seit Deng Xiaoping. Andere fielen geradezu eifrig in das Lob ein, wobei manch einer sogar meinte, nur Mao sei mit ihm auf Augenhöhe. Ein Kommentator in Beijing überbot schließlich selbst das, als er mir kurz vor dem Kongress erklärte, Xi übertreffe den Gründungsvater noch an Macht und Ehrgeiz, und schlicht konstatierte, Xi wolle die ganze Welt regieren.

Das erscheint übertrieben. Für Außenstehende ist es interessant festzustellen, wie gern wir chinesische Führer derart eng mit Macht in Verbindung bringen. Dagegen ist unsere Beurteilung demokratischer Führer viel nuancierter: Auch sie haben Macht, aber nur in einem gewissen Umfang. Ihrem Handlungsspielraum sind Grenzen gesetzt, und ihr Einfluss unterliegt einem natürlichen Auf und Ab. Heutzutage kann der Mächtige nach jeder Panne gestürzt werden, wie David Cameron 2016 erfahren musste. Nachdem er im Jahr zuvor die britische Wahl gewonnen hatte, wurde er als Ergebnis des Brexit-Referendums, das gegen seine Erwartungen ausging, ins Abseits gestellt und zog sich dann einfach von der Macht zurück, und zwar innerhalb von nur wenigen Wochen.

In China sprechen wir von den chinesischen Führern, als hätten sie eine Art chinesischer Macht. Sie halten keine Wahlen ab. Ihre Macht sieht echter und stärker aus. Aber wer auch nur über das oberflächlichste Wissen über die moderne chinesische Geschichte seit 1949 verfügt, dürfte wissen, dass das China von Xi ein vollkommen anderes als das von Deng oder Mao ist. Mao Zedong, der eine marginalisierte und gespaltene Guerilla-Truppe angeführt hatte, wurde zum Herrscher über das drittgrößte Land der Welt – bezogen auf die Fläche – und war zwei Jahrzehnte lang maßgeblich an Kampagnen und Kriegshandlungen beteiligt. Er war mit etwa einem Dutzend anderen beim allerersten Kongress 1921 dabei. Maos Aufstieg fand auf dem Rücken von Gewalt, Blutvergießen und Unfrieden statt, in einer durch Bürgerkrieg und Krieg dezimierten Gesellschaft. Von 1949 bis 1976 erhielt er seine politische Dominanz trotz vieler Aufs und Abs aufrecht, niemals ernsthaft durch irgendeinen Rivalen gefährdet, schlicht und einfach, weil er den Status hatte, der Sieger vergangener Kämpfe zu sein. Deng Xiaoping kennzeichnet eine ganz andere Reihe von Attributen, doch seine Wirkung wird von Historikern vielleicht einmal als noch bedeutender eingestuft werden. Als Deng die Kontrolle über ein China übernahm, das in die Knie gezwungen war durch Maos ökonomischen Analphabetismus und seine Liebe zum Klassenkampf und zu Massenkampagnen, brachte er das gesamte Land auf wundersame Weise auf einen guten Weg, indem er Ideen wie ausländische Kapitalanlagen, einen inländischen Markt und inländisches Unternehmertum aufgriff – alles Tabuthemen unter Mao. Seinen Einfluss übte er dabei niemals über formelle Machtpositionen aus. Deng war beispielsweise nach 1978 weder Staatspräsident noch Parteisekretär, wenn er auch die Leitung des Militärs bis 1989 behielt. Er hatte einfach die politischen Mittel und die Glaubwürdigkeit, um sicherzustellen, dass andere seiner Führung folgten. Selbst bis in seine achtziger Jahre hinein, als seine einzige Position nur noch der Vorsitz des chinesischen Kontrakt-Bridge-Verbands war, vermochte er, Ereignisse zu beeinflussen.

Das China von heute ist in vielerlei Hinsicht die Schöpfung von Mao und Deng: Mao, der durch die brutale Anwendung von Gewalt und Zwang für die Kommunisten die Macht errang; und Deng, der das Land und die Parteistrategie so umgestaltete, dass China zukunftsfähig wurde. Diese beiden Führer verlegten die Schienen, auf denen das Land nun reist. Was sie bei all ihren vielfältigen Unterschieden verbindet, ist, dass beide Nationalisten waren, Führer, die an ein starkes, modernisiertes, mächtiges China glaubten, das nie wieder Opfer ausländischer Aggression und Erniedrigung sein würde. Gravierende Unterschiede gab es dabei, auf welche Weise sie dieses Ziel erreichen wollten. Das Bekenntnis zur nationalen Größe jedoch ist für das heutige China noch immer wichtig.

Xi Jinpings Macht kann in diesem nationalistischen Kontext am besten als in einem Kontinuum mit der Macht seiner Vorgänger gesehen werden. Er folgt einer Tradition, die sie begründeten, indem er die von Mao versprochene große Nation herbeiführt, und zwar im Wesentlichen auf die Art, die Deng als die erfolgreichste aufgezeigt hat: durch einen Fokus auf materielle Kraft. In seinen eigenen Äußerungen gibt Xi sich große Mühe, diese Kontinuität hervorzuheben und dabei anzuerkennen, dass er schlicht so etwas wie die neueste Manifestation in dieser bedeutenden Tradition sei. Seine Macht ist die Macht dieser Tradition, die sich herleitet von der erstmals 1949 erzählten Geschichte über die Mission, dem chinesischen Volk seine Stimme zurückzugeben und niemals wieder zuzulassen, dass es zum Schweigen gezwungen sein werde. Am schwierigsten in diesem Kontext ist zu verstehen, dass diese Macht die Eigenschaft eines Systems ist, nicht einer Person. Die Person spielt die Melodie, aber andere haben jeweils ihren Anteil an der Komposition geleistet. Gäbe es die Melodie nicht, gäbe es nichts zu spielen. Gäbe es die Partei nicht oder hätte es keinen Mao oder Deng gegeben, dann wäre Xi nichts. Wie ich darlegen werde, hat die Macht, die Xi zugesprochen wurde und die er ausübt, außerhalb dieses Kontextes weder Hand noch Fuß.

Allgemein wird angenommen, dass Xi 2017 seine Zeit an der Macht zur Hälfte hinter sich hat. Es gibt Gründe zu denken, dass er länger bleiben könnte; diese werden wir uns später ansehen. Trotzdem möchte ich mit diesem Buch einen »Halbzeitbericht« geben. Ich werde versuchen, einiges von dem herauszuarbeiten, was Xi bemerkenswert macht. Wichtig ist, seinen Hintergrund zu verstehen – nicht nur seinen individuellen Hintergrund, sondern auch den des Milieus, in dem er aufwuchs. Ebenso entscheidend ist es, seine politische Haltung und Ideologie zu verstehen bzw. die politische Haltung und Ideologie der Partei unter ihm. Ich hoffe, in den nächsten Kapiteln möglichst klar und verständlich darzulegen, wer dieser Politiker ist, was er zu tun versucht, vor welchen Herausforderungen er steht und wie erfolgreich er bislang war. Wie auch immer Xis Macht am besten zu verstehen ist, er ist eine bedeutende Persönlichkeit, weil er ein immens wichtiges Land führt. Schon allein deshalb sollten wir uns mit ihm beschäftigen und versuchen, ihn zu verstehen. Dieses Buch wird hierbei, so hoffe ich, ein wenig helfen.

1Die Geschichte Xi

Ein Buch, das im Juli 2017 in Beijing publiziert wurde, trug den schlichten Titel Xi Jinping erzählt Geschichten. In zwei Abschnitte eingeteilt, Geschichten über die Welt draußen und über Chinas innere Situation, begann es mit einer Erzählung, die Mao Zedong entliehen war – es ging darin um einen törichten alten Mann und einen Berg. Die Geschichte, die in der maoistischen Zeit bis zum Gehtnichtmehr erzählt worden war, handelt von einem alten Mann, der versuchte, einen Berg zu versetzen, um von seinem Haus aus eine bessere Sicht zu haben. Er tat das allein mit Hilfe von Eimern. Die, die ihn dabei sahen, lachten über ihn und sagten, so werde er mit Sicherheit scheitern. Er jedoch antwortete nur, wenn er die Erde nicht versetzen könne, dann würden es seine Kinder, Kindeskinder und deren Kinder tun.

Diese Art von Ausdauer suchte die Partei mit ihrem Kodex der Selbstlosigkeit unter Mao Zedong der Gesellschaft einzutrichtern. Das Großprojekt der Modernisierung eines Landes, das so viel erlitten hatte und so weit zurückgefallen war, war von Anfang an die größte Aufgabe. Es war die Mission, die all die verschiedenen Phasen der Parteiführung seit 1949 miteinander verbunden hat. Für die anderen Erzählungen in Xi Jinping erzählt Geschichten nutzte Xi Quellen aus dem Ausland und aus dem reichhaltigen und unerschöpflichen Erbe der klassischen chinesischen Literatur. Als oberster Geschichtenerzähler des Landes versuchte Xi, mit Mao in der Kunst gleichzuziehen, komplexe Geschichten einfach aufzubereiten. Die Pointe der Geschichte vom alten Mann und dem Berg ist moralisch erhebend. Gott erschien, bewegt von der Geduld, dem Glauben und der Ausdauer des alten Mannes. Die Berge wurden versetzt. Die Gerechtigkeit setzte sich durch.

Zu den eindringlichsten Geschichten, die Xi erzählt hat, seit er an die Macht kam, gehört seine eigene. Ein ebenfalls 2017 erschienenes Buch beschreibt die Zeit, in der er in einer Höhle im abgelegenen Gebiet von Yan’an in der Provinz Shaanxi lebte – eine weitere Parallele zu Maos Leben. Die Botschaft war einfach: Da ist jemand, der wirklich mit den Menschen gelebt hat, der seine Erfahrungen mit dem Elend gemacht und sich dadurch das Recht erworben hat, über Dinge zu sprechen, die jeden Chinesen betreffen. Xi wurde als »Bauernkaiser« bezeichnet, denn er kommt zwar aus einer elitären Familie, war während der Kulturrevolution jedoch aufs Land verschickt worden und hatte dort Entbehrungen und Elend kennengelernt. Lee Kuan Yew, ehemaliges Staatsoberhaupt von Singapur, ging sogar so weit, ihn als den »Nelson Mandela Asiens« zu bezeichnen, während die ausländische Presse ihn mit Blick auf die Zeit der frühen 1970er Jahre recht dramatisch als Schweinebauern bezeichnete. All das vermittelte die Vorstellung, dass er irgendwie das Recht erworben hat, das hohe Amt einzunehmen, das er jetzt innehat.

Die offizielle Anerkennung der Vorgeschichte Xis war eine radikale Kehrtwende für die Partei. Sein unmittelbarer Vorgänger Hu Jintao war der Mann von nirgendwo, der niemals auch nur im Entferntesten in der Öffentlichkeit auf etwas wie eine persönliche Geschichte angespielt hatte. Selbst sein genauer Geburtsort war unklar. Mit Xi kam es zu einem bewussten Bemühen der Partei, etwas aus seiner Geschichte zu machen, mit ihrer Hilfe eine eher emotionale Bindung zwischen dem obersten Führer und dem chinesischen Volk zu schaffen.

Die Geschichte, die Xi über sich selbst erzählt hat, beinhaltet zwei Komponenten: ein Narrativ über seine Person und eines über die Epoche der chinesischen Geschichte, die er durchlebt hat. Xis frühe Jahre spielten sich unter ungewöhnlichen Umständen ab, während des Auftaktes sowie während der Nachwehen der befremdlichen, deformierenden Zeit der Kulturrevolution. Diese ein Jahrzehnt andauernde komplexe Bewegung ist noch immer eine unerschöpfliche Quelle der Faszination für die Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb Chinas. Über 50 Jahre später gibt es noch keinen klaren Interpretationsrahmen, in den sie passt; selbst die, die sie erlebt haben, sind oft nicht in der Lage, genau zu verstehen, was geschehen ist. Die Kulturrevolution wird entweder gesehen als ein Klassenkampf zwischen Eliten, der schrecklich schieflief, eine Marotte Maos, die außer Kontrolle geriet, oder als eine elementar bedeutungsvolle geistige Massenvernichtung für das chinesische Volk, die zum Zusammenbruch aller Werte und Weltanschauungen führte. Es ist wohl am zutreffendsten, dass es eine Mischung aus alledem ist.

Xis eigene Erfahrungen in dieser Zeit wurden dominiert von einem Machtkampf zwischen den Eliten – mit dem er wegen seines familiären Hintergrundes direkte Verbindung hatte. Er ist 1953 geboren, als Sohn von Xi Zhongxun, einem Militärführer und Verbündeten Mao Zedongs seit den 1930er Jahren. Zhongxun war stellvertretender Ministerpräsident mit der Zuständigkeit für Kultur bis 1961, als er in eine Auseinandersetzung über unerwünschte Interpretationen eines Romans verwickelt wurde, der in jenem Jahr erschienen war. Auf der falschen Seite des politischen Streits erwischt, wurde er unter Hausarrest gestellt, eine Inhaftierung allerdings blieb ihm erspart, angeblich wegen eines direkten Eingreifens Maos. Für nahezu die nächsten zwei Jahrzehnte blieb er ohne Macht und im Grunde genommen eingesperrt. Während jener Zeit soll sein Sohn ihn nur selten gesehen haben.

Für Xi, den zweitältesten Jungen von sieben Kindern, war die Jugendzeit die übliche Mischung aus Unsicherheit und verwirrenden persönlichen Veränderungen. 1966 war er noch auf einer Eliteschule nahe des Regierungsviertels Zhongnanhai gewesen, und plötzlich wurde er ohne viel Federlesens in das Gebiet von Yan’an in der nördlichen Provinz Shaanxi verfrachtet, wo er in eine Produktionsbrigade kam. Offenbar hatte er während dieser Zeit Kontakt mit einer Person, die später einer der Eliteführer an seiner Seite werden sollte – Wang Qishan. Im Großen und Ganzen jedoch wird dieser Abschnitt seines Lebens in seiner heutigen Geschichtenerzählung verklärt: Sowohl historische als auch zeitgenössische Aussagen anderer, die diese Zeit durchgemacht haben, dokumentieren eine traumatisierende und entfremdende Epoche. Stadtkinder, ohne jede Erfahrung mit dem Leben auf dem Land und ohne hilfreiche Netzwerke vor Ort, wurden in Gegenden geschickt, wo man sich meist nicht einmal gut um sich selbst zu kümmern wusste. Missbrauch und Schikanen waren weitverbreitet. Geschichten von missgünstigen Bauern und Landbewohnern, die nur widerwillig auf eine große Zahl von Menschen aufpassten, die ihrer Ansicht nach verhätschelt und zumeist nutzlos waren, gibt es im Überfluss. Es gibt eine eigene Literaturgattung, die aus Zeugnissen über diesen beispiellosen Abschnitt der modernen chinesischen Geschichte besteht, in dem der Urbanisierungsprozess umgekehrt wurde und Städte schrumpften statt wuchsen. Sie wird als »Narben«- oder »Wunden«-Literatur bezeichnet.

Die heutige Hagiographie von Xis Landleben berichtet uns, dass er erfolgreich war, sich den Respekt und die Bewunderung der Bauern verdiente, unter denen er lebte, und sich ein tiefes Wissen über die Bedingungen in einem der rückständigsten Gebiete des Landes aneignete. Ob dies nun richtig ist oder nicht, auf jeden Fall dürfte dieser Zeitraum eine enorme Wirkung auf ihn gehabt haben. Selbst auf Deng Xiaoping, der etwa um dieselbe Zeit, aber bereits in einem deutlich fortgeschritteneren Abschnitt seines Leben stehend, in das ländliche Jiangxi verbannt war, um in einer Traktorenfabrik zu arbeiten, übten die Erfahrungen in dieser Art von Gemeinschaft tiefgreifende Veränderungen aus. Für Deng war die Armut, die er in seinem sechsten Lebensjahrzehnt, nach mehr als 40 Jahren Arbeit für die Partei, dort sah, ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass der Kommunismus in China gescheitert war bei der Realisierung des Ziels, das Leben der Arbeiter auf dem Land zu verbessern. Fast drei Jahrzehnte, nachdem der Sozialismus erstmals zum Regierungssystem im Land geworden war, litten die Leute in den ländlichen Gebieten verbreitet unter Mangelernährung, ihre Lebensverhältnisse waren extrem einfach und das Ausmaß ihrer Rückständigkeit war schockierend. Das war der Moment eines tiefgreifenden Umdenkens für Deng, die Erfahrungen jener Zeit brachten ihn dazu, umfassende Veränderungen einzuleiten, als er nach dem Tod Maos 1976 in der Position dazu war.

Auf Xi, der jünger und unerfahrener war, wirkte das, was er in Shaanxi sah, anders. Aber es hat augenscheinlich fortgewirkt. 2017 stellte Xi, während er die voranschreitende nationale Wiederherstellung überreichlich pries, gleichzeitig fest, dass Armut in China 2020 endlich der Vergangenheit angehören werde. Auch schlossen seine inländischen Reisen die mehrfache Rückkehr in die Gegend ein, die sein ländlicher Standort in den 1970ern war, sowie Besuche ähnlicher Dörfer. Es ist bezeichnend, dass die Zeit, die er in dieser Gemeinschaft verbracht hatte, in den offiziellen Darstellungen seines Lebens eine so bedeutende Rolle spielt. Unter den vergangenen Führern Chinas seit Deng ist Xi in vielerlei Hinsicht derjenige mit den authentischsten, am besten bekannten Verbindungen zu den ländlichen Gebieten, und diesen Erfahrungsschatz wendet er an, um genau das zu vermitteln.

Wie bei vielen der landverschickten Jugendlichen in der Zeit der Kulturrevolution endete Xis Phase auf dem Land fast so abrupt, wie sie begonnen hatte: Mitte der 1970er Jahre kehrte er in die Hauptstadt zurück, um an der Universität Tsinghua Ingenieurswissenschaften zu studieren. Das Bildungssystem lag durch die zerstörerischen Kämpfe und politischen Tumulte jener Zeit weitgehend darnieder. Die Universitäten in Beijing waren Brutstätten für linksgerichteten Aktivismus und Rebellion gewesen. 2012 gab es nach Xis finaler Beförderung eine Kontroverse darüber, wie glaubwürdig sein Eintritt in die Beijinger Eliteuniversität eigentlich gewesen sei. Für junge Leute wie ihn, die in die ländlichen Gebiete geschickt worden waren, gab es ein Quotensystem; sein elitärer Background dürfte ironischerweise selbst in einer Zeit geholfen haben, in der das eher als Stigma galt. Dass Xi Ingenieurswissenschaften studierte, macht ihn nominell zum Technokraten.

Es lohnt sich, noch ein wenig ausführlicher über die Bedeutung der Kulturrevolution für jene Menschen nachzudenken, die wie Xi erwachsen wurden, als die Massenbewegung ihren Höhepunkt erreichte, deren Entwicklungsjahre also von den Ereignissen, die zu ihr führten, genauso überschattet wurden wie von den Entwicklungen, die daraus folgten. 2016 war zum 50. Jahrestag der »Bekanntmachung vom 16. Juli« – die weithin als offizieller Beginn dessen gilt, was im innerchinesischen Diskurs noch immer »zehn Jahre Aufruhr« genannt wird – das einzige Ereignis, das auf diesen Anlass einging, ein Leitartikel in der Renmin Ribao (Volkszeitung), der Tageszeitung der Partei. Der Artikel prangerte in der üblichen Redeweise den Verlust an Zeit und die Zerstörungen an, welche die Bewegung mit sich gebracht hatte. Das ist die Standardhaltung, seit 1981 der Parteibeschluss zur Geschichte dieser Zeitspanne herausgegeben wurde. Bei Xi selbst sind die seltenen und kurzen Erwähnungen dieses Jahrzehnts immer negativ. Für einen Führer, der oft bezichtigt wird, Maoist zu sein und einen ähnlichen Persönlichkeitskult um sich zu betreiben, ist es eigentlich auffällig, wie wenig er und die Parteipropagandisten über seine direkte persönliche Erfahrung mit dem Maoismus sprechen. Xi hat bisher nicht ansatzweise Nostalgie für diese Zeit gezeigt, und doch dürfte sie in vielerlei Hinsicht mit ihrer Massenverehrung einer politischen Figur, ihrer außerordentlichen Mobilisierung weiter Teile der Gesellschaft und der kurzen, aber heftigen und berauschenden Leidenschaft, die sie weckte, allergrößte Wirkung auf ihn gehabt haben.

Eines der großen Dilemmata für die Partei heute ist, so wie sie auf diese Zeit zurückschaut, die einfache, aber ungute Tatsache, dass die Kulturrevolution – zumindest während sie sich ereignete – eine Volksbewegung war, und zwar eine, die sich die aktive Mitwirkung von Millionen junger Chinesen zunutze machte. Zugleich war sie eine Zeitspanne, in der China das einzige Mal in seiner langen Geschichte durch einen Glauben geeint war – den an die Mao-Zedong-Ideen. Allerdings scheiterte dieser Glaube am Ende. Dadurch hinterließ er einen tiefen Makel in den Erinnerungen der Menschen. Bei Xi beispielsweise entstand so die Weltsicht eines Opfers statt die eines Täters. Das hat sich als Vorzug erwiesen. Es bedeutet, dass seine Rolle komplexer ist: Er ist mehr ein Überlebender Maos denn ein eingefleischter Gefolgsmann. Sein spätes Bekenntnis zu Mao ergibt mehr Sinn, wenn man es als Treue zu einer symbolischen Figur und zum Schöpfer von Ideen rund um einen sinisierten Marxismus sieht, die noch immer als relevant gelten. Was hingegen Mao als Person angeht, sind die Dinge komplizierter. Eine weithin bekannte Tatsache ist, dass Xis Vater die Kulturrevolution zumindest überlebt hat und ihm in den späten 1970