»Die Welt möge Zeuge sein« - Dovid Bergelson - E-Book

»Die Welt möge Zeuge sein« E-Book

Dovid Bergelson

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Beschreibung

Dovid Bergelson, 1882 in Ochrimowo in der heutigen Ukraine geboren, prägte über vier Jahrzehnte die moderne jiddische Literatur. Ob in Kiew, Berlin, New York oder Moskau – Bergelsons literarische Stimme wurde gehört. Er gilt als Erneuerer der jiddischen Prosa zwischen Moderne und Sozialistischem Realismus, bis mit dem Zweiten Weltkrieg und der versuchten Judenvernichtung Bergelsons Schreiben schließlich eine neue, existenzielle Dimension erreichte. Am 12. August 1952 wurde Dovid Bergelson in der sogenannten »Nacht der ermordeten Dichter« in Moskau hingerichtet.

Der vorliegende Band versammelt erstmalig ausgewählte Prosa sowie einen Dramenausschnitt aus Dovid Bergelsons umfänglichem Schaffen. Ergänzt sind die Texte um einen Anmerkungsapparat, ein Glossar und ein ausführliches Nachwort zum Leben und Werk Dovid Bergelsons.

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Cover

Titel

Dovid Bergelson

Die Welt möge Zeuge sein

Erzählungen

Herausgegeben von Sabine Koller und Alexandra Polyan

Aus dem Jiddischen von Peter Comans, Susanne Klingenstein, Sabine Koller, Janina Wurbs

Impressum

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eBook Jüdischer Verlag Berlin 2023

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: David Bergelson mit seinem Sohn Lev, mit freundlicher Genehmigung von Marina Bergelson-Raskin

eISBN 978-3-633-77627-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Bergelsons frühe Jahre

Der Taube

Jojssef Schor

Die Getaufte

Revolution. Bürgerkrieg. Emigration

Der Moppel

Anfang Kislev

5679

(Onhejb Kislev Tar’at)

Alexandrovka

An der

101

. Werst

Das Loch, durch das jemandem alles abhandenkam

Blindheit

Sowjetunion. Die

1920

er-

1930

er Jahre

Probleme der jiddischen Literatur

In einem roten Winkel

Birobidshaner. Kapitel Fünf

Selik Broder

Zweiter Weltkrieg. Schoa

»Die Welt möge Zeuge sein«

»Gedenkt!«

Loj omus ki echje – Ich werde nicht sterben, ich werde leben!

Jahrzeitlicht

Ein Zeuge

Prinz Reubejni – Vierter Akt

Epilog

Nachwort: Dovid Bergelson – Ein Leben für die jiddische Literatur

Dank

ANMERKUNGEN

Bergelsons frühe Jahre

Der Taube

Jojssef Schor

Die Getaufte

Der Moppel

Onhejb Kislev Tar’at (Anfang Kislev 5679)

Alexandrovka

An der 101. Werst

Das Loch, durch das jemandem alles abhandenkam

Blindheit

Probleme der jiddischen Literatur

In einem roten Winkel

Birobidshaner

Selik Broder

»Die Welt möge Zeuge sein«. »Gedenkt«

»Die Welt möge Zeuge sein«

»Gedenkt«

Loj omus ki echje – Ich werde nicht sterben, ich werde leben!

Jahrzeitlicht

Ein Zeuge

Prinz Reubejni  – Vierter Akt

Epilog. Ich war dem Jiddischen …

Glossar

Ausgewählte Literatur

Fußnoten

Informationen zum Buch

Bergelsons frühe Jahre

»So also schreibe ich: Zuerst wird die Stimmung der Erzählung mit dem Haupthelden geboren (Letzterer ist so gut wie immer nicht ganz klar) und wirkt derart auf die Seele, dass es einfach nicht auszuhalten ist. Mit dieser Stimmung wird eine solch eigenartige Sehnsucht nach dem besonderen Kolorit der Welt geboren, die den Haupthelden umgibt und in die Stimmung hineinwirkt. Mein ganzes Ziel besteht dann nur noch darin, diese Stimmung, verflochten mit dem Leben und den Ereignissen, die um ihn herum und (wenn man das so sagen kann) in ihm passieren, zum Ausdruck zu bringen.«

»Bergelsons Schreibtisch war wie eine offene Werkstatt. Auf dem Tisch waren verschiedene Blätter Papier, sowie die ›Werkzeuge‹ – eine Feder und noch eine Feder, dazu ein Gummiarabikum und eine Schere, hingelegt und hingeworfen … Und mehr noch – es lag dort auch ein Stück Schokolade, und wenn er eine Seite geschrieben hatte, mit der er zufrieden war, machte er sich ein Geschenk: Nimm, du hast es dir redlich verdient … Und kniff sich dabei in die eigene Wange … Bist ein guter Kerl, hast eine feine Sache geschrieben! Auch stand ein Aschenbecher mit vielen ausgerauchten Zigaretten da. Oft konnte man dort einige Anfänge eines Kapitels finden, die er verfasste und weglegte und erneut verfasste. In diesem Sinne war er Mendele nicht unähnlich: Er schleifte und drechselte und schrieb es noch einmal und polierte es. Und mehr noch – in seinen jungen Jahren konnte er nicht weiterschreiben, bis er das vorher Geschriebene nicht noch einmal durchlas und von seinen Angehörigen Zustimmung dafür bekam.«

Übersetzt von Eduard Demund, Caroline Emig, Sabine Koller und Alexandra Polyan

Der Taube

1

Anfang Herbst spielte sich wieder etwas ab zwischen Mendel, dem großen, schönen Sohn Vove Biks, und Esther, der zweiundzwanzigjährigen Tochter des Tauben, die bei Bik Köchin war. Man redete darüber in der Stadt bei den Marktbuden und bei Vove Bik in der großen Getreidemühle, wo der Taube überall seine angestrengten verstopften Ohren hinhielt und jeden misstrauisch ansah, der in seiner Umgebung lächelte, und trotzdem gelang es ihm lange Zeit nicht, ein Wort aufzufangen.

Mendel schwatzte auch weiter fröhlich mit den jungen Getreidehändlern, die Weizen in die Mühle brachten, und stippte sie mit dem Ellenbogen leicht in die Seite:

– Hör mal, weißt du, was Max Nordau1 sagt?

Damit meinte er wie immer:

Weißt du, wie viele Kopeken in einem Rubel sind?

Man merkte ihm überhaupt nichts an.

Kürzlich kam er in neuen glänzenden Stiefeln aus der Kreisstadt zurück, und wenn er im Mühlhof umherging, spiegelte er sich in ihnen. Immer wieder hielt er den jungen Müller Schulz an und zwinkerte ihm zu:

– Nun, wie gefallen dir meine Stiefel?

Und Schulz, ein ernster Deutscher, wurde es nicht leid, jedes Mal in die Knie zu gehen, um die neuen Stiefel an Mendels Füßen zu streicheln.

Große Lust erregten die glänzenden Stiefel in Schulz und eiserne Besitzgier wuchs in ihm von Tag zu Tag.

Einmal machte er sich sogar die Mühe, Mendel auf der Stelle einen der Stiefel abzuziehen und ihn selbst anzuprobieren.

Das alles sah der Taube durch das Fenster im obersten Stockwerk der Mühle, wo er damals den Lastenaufzug bediente, er beobachtete heimlich und sah sich ständig um, ob nicht ein Mitarbeiter ihn bemerkte.

Esther brachte Mendel jeden Tag Essen aus der Stadt. Danach begleiteten Schulz und Mendel sie mit den Augen aus dem Mühlhof; Mendel schwieg und lächelte verklärt, und Schulz, der Müller, zeigte mit dem Finger auf Esthers Rücken und kitzelte Mendel gar an einer obszönen Stelle. Und sahen es Mühlarbeiter von irgendwo, so hingen sie schon bald alle in den Fenstern der Mühle:

– Lass mich, lass mich auch …

Ihn, den ungeschlachten Tauben, mit dem erschrockenen, angestrengten Gesicht, peinigte das enorm und es drängte ihn sehr, zu erfahren, weshalb die Arbeiter lachten. Er war aber furchtbar taub und schämte sich vor allen Menschen und vor sich selbst, konnte niemandem in die Augen sehen, und dachte ständig an das gemeinsame schwere Vergehen von Mendel und Schulz an einem schwangeren Bauernmädchen aus dem nahen Dorf Rybnize2.

Sie hatten doch damals das Bauernmädchen wirklich für eine Weile weggeschickt.

Danach kam einmal in einer stillen Ecke Jossele Babzis auf ihn zu, der dürre gebeugte Aufseher der Mühle, und schrie lange in sein taubes Ohr. Er hörte nur jedes zehnte Wort, und doch nickte er Jossele immerfort zu.

– Ja, ja, er höre.

So verschämt war er, der Taube, in seinem Wesen schon geworden, dass er den Menschen zunickte und ihnen versicherte:

– Ja, was denn, er höre nicht?

Zwei Wochen lang behielt er Josseles Wortfetzen in seinem tauben Kopf und erst dann begann er, die ganze Geschichte zu begreifen:

Eine Geschichte von zwei entlassenen Mühlarbeitern, die Mendel verprügeln wollten und an dunklen Abenden um Biks Haus herumschlichen. Und da hatten die beiden Arbeiter also etwas gesehen … Er wusste noch immer nicht, was die Arbeiter gesehen hatten, also hielt er Jossele vor der Mühle an und winkte ihn heran:

– Was bedeutet sie eigentlich, diese Geschichte von Mendel und Esther?

Das Herz klopfte damals so heftig in seiner breiten Brust und er atmete langsam und schwer. Er schämte sich vor Jossele.

– Sie hat ihn lieb, schrie Jossele in sein taubes Ohr, sie, Esther, hat ihn, Biks Sohn, lieb.

– Sie hat ihn lieb? fragte er bei Jossele leise nach.

Er glaubte, der dürre, gebeugte Jossele mache Spaß, er öffnete den Mund und lachte:

– He, he, he …

Aber man vernahm keine Stimme, nur ein seltsam wildes Brummen entkam seinem aufgerissenen Mund. Seine bleifarbenen Augen blickten spöttisch und absonderlich. Erst als er merkte, dass Jossele im Ernst gesprochen hatte, begann er auf seine taube, zerrissene Art zu reden, indem er mit rund gebogenem Arm eine vage Bewegung machte und gewaltsam einzelne Wörter aus seiner breiten, kräftigen Brust hervorstieß:

– Da solle sie sich zuerst bei ihm, dem Tauben, erkundigen … Er kenne sie doch in- und auswendig, den Bik und seinen Sohn … Ein Spielchen? Seit zwanzig Jahren arbeite er schon bei ihnen in der Mühle.

– Und Jossele solle selbst sagen, er wisse doch, ja?

Jossele nickte mit seinem boshaften Kopf:

– Er wisse. Warum sollte er nicht wissen?

Und er, der Taube, wollte unbedingt wissen, was gesunde Menschen, jene, die nicht taub waren, dazu sagten. Er ging von der Mühle weg und redete unterwegs zu sich mit den Händen.

– Nun, wenn zu beiden Seiten seines großen Kopfes nicht wie zwei Fetzen diese großen tauben Ohren hingen, könnte er hier und dort ein Wort aufschnappen.

Er hatte vor, einmal zu ihr zu gehen, sie in Biks Küche aufzusuchen, um ihr dort ein notwendiges Wort zu sagen. Doch gerade in jener Zeit stieß ihm das böse Unglück zu. Es war ihm wohl, scheint es, gerade so bestimmt.

2

Lang verweilten damals die kurzen, tränenreichen Cheschvan3-Tage.

Närrisch verdüsterte Himmel zogen Fratzen, sahen auf die nasse, schwarze Erde hinunter und weinten, als betrauerten sie einen Sterbenden:

– Oh weh, … was ist aus dir geworden? …

Und dort, im einsamen Tal, außerhalb der Stadt, in Biks Mühle brannten nun schon den ganzen Tag lang die elektrischen Lampen, leuchteten Tag und Nacht in die Tiefe des grauen Nebels und blinzelten wie ermattete, gelbe Augen hinüber zur nahen, schon dem Cheschvan verfallenen Stadt.

– Wir mahlen Mehl … Wir mahlen Mehl …

Die vierstöckige Mühle war in feuchten Nebel gehüllt. Ruhig und wie verklärt brummte sie ihr uraltes, monotones Gebrumm und bebte im Einklang mit ihren vierzig menschlichen Arbeitern. Im Lärm und Tumult arbeiteten Menschen mechanisch und ernst schweigend wie die Maschinen und Räder, die sich um sie herum drehten, ohne zu sprechen und zu denken, als stünden in ihren Hirnen die großen, mit Weizen angefüllten Mühlschuppen und brachten sie um den Verstand.

– Die Schuppen sind so vollgepackt mit Weizen … Haben sie eine Wahl? Man muss mahlen.

Doch von Zeit zu Zeit erzitterte plötzlich der Mühlenlärm und eine traurige himmlische Stimme durchschnitt ihn:

– Halt! … Halt! …

Aber niemand reagierte darauf und es schien, als käme die verlorene himmlische Stimme von weit her und hatte sich nur hierher verirrt, in eine fremde unbekannte Welt, suchte jemanden und konnte ihn nicht finden.

Barfuß und mit gleichgültigem, staubigem Gesicht saß der Taube im voll beladenen Lastenaufzug und ließ sich vom dritten Stock herab. Jemand bemerkte im Vorbeilaufen etwas am Lastenaufzug und erhob ein furchtbares, wildes Geschrei:

– Abstellen! Abstellen!

Im Herz des Tauben brach etwa los, schoss rasend schnell in sein Gehirn und blitzte auf im Schreckensgedanken:

– Das Seil … Das Seil ist gerissen.

In panischer Hast klammerte er sich mit beiden Händen an das andere unversehrte Seil. Er begann, sich bass erstaunt zu fragen:

– Würde er wirklich aus dieser Höhe hinunterfallen?

Doch schon im selben Moment wurde er mit Wucht zur Seite geschleudert. Er fühlte, wie er fiel, und doch kam es ihm vor, als bedauerte ihn jemand und flüsterte in eines seiner tauben Ohren:

– Zu spät … Zu spät …

Noch nie hatte er, der Taube, eine so leise Stimme gehört. Er erschrak und schloss die großen bleifarbenen Augen.

Später, als er die Augen wieder öffnete, standen schon viele staubbedeckte Arbeiter um ihn, beugten sich zu ihm herab und schrien in seine tauben Ohren.

– Wo, wo tut es weh?

Mit blassem, fast totem Gesicht lag er auf dem Boden und hatte nicht einmal die Kraft, auf das zerschmetterte Schulterblatt zu zeigen und etwas höher, auf die Seite.

Danach trug man ihn in sein kleines Häuschen im engen Synagogengässchen4. Der Lumpenhändler und die Lumpenhändlerin, die bei ihm die beiden Zimmer bewohnten, ließen nicht zu, dass man ihn bei ihnen hinlegte; so legte man ihn auf ein altes hölzernes Bett, das in der Küche stand.

***

Dem zweigesichtigen Jossele Babzis gingen dazu allerlei heuchlerische Einfälle durch den boshaften Kopf.

In Mendels Gegenwart kratzte er sich abschätzig und redete die Geschichte mit dem Tauben klein:

– Ein großes Unglück … Der Teufel wird ihn schon nicht holen, den Tauben.

Danach ging er zum Tauben in die Küche und schrie ihm in die Ohren:

– Was denn? Hatte er vielleicht gedacht, er entkäme heil den Händen von Bik?

Und was nutzte ihm dieser doppelzüngige Schmeichelgang?

Bik hatte ihn doch einmal persönlich eines üblen Diebstahls verdächtigt. Einmal zur Winterzeit hatte er ihn mit ganzer Kraft die steinerne Mühltreppe hinuntergeworfen, so dass er, der dürre Jossele, zu Tode erschrocken war, sich die spitze, blutige Nase gehalten und weibisch geflennt hatte:

– Oh … mein Kopf … er hat mir den Kopf eingeschlagen …

Vielleicht war er des heuchlerischen Lebens schon selbst überdrüssig und wäre liebend gern anständiger und ehrlicher, aber er brachte es nicht fertig und hielt es trotz allem für nötig, dem Tauben gut zuzureden:

– Nichts würde mit ihm sein, absolut gar nichts. Er müsse nur ein Weilchen liegen, das Schulterblatt und die Rippe schön warmhalten.

Der Taube aber verstand feine Sprüche nicht und nickte trübsinnig:

– Gut, gut. Er würde eine Weile liegen bleiben.

Von sich aus dachte er über nichts mehr nach, so schien es, weder über das Leben und noch über den Tod, mit gleichgültigem und blassem Gesicht lag er im Bett und schaffte es nicht, sich dem trostlosen Gedanken zu entziehen:

– Gefallen … vom dritten Stock heruntergefallen.

Es war ihm schon gleichgültig, so schien es, ob er je wieder vom Bett aufstünde oder nicht.

Danach kam Esther einmal zu ihm, kam schlank und frisch in einer neuen schwarzen Herbstjacke und mit neueren und schwärzeren ernsten Augen. Eine Weile stand sie erstaunt und gedankenverloren neben seinem Bett, legte sogar einen Finger an ihr Kinn und bedauerte ihn nachdenklich.

– Ein Ende, ein schönes Ende hat es mit dir genommen.

Sie beugte sich zu ihm hinunter und wollte ihm offensichtlich etwas in sein taubes Ohr schreien, aber sie konnte nicht an sich halten und brach in lautes Weinen aus. Sie vergrub ihren Kopf tiefer und tiefer in die Lumpen neben seiner Brust, schluchzte und weinte. Man konnte nicht wissen, wessen Unglück sie beweinte: seines, das des gefallenen, bettlägerigen Tauben, oder gar ihr eigenes, geheim und unbekannt, wie jene finstere Herbstnacht, in der die beiden entlassenen Arbeiter um Biks Haus herumschlichen und etwas sahen.

Der Taube betrachtete sie mit seinen großen bleifarbenen Augen, wollte ein notwendiges, sehr notwendiges Wort sagen. Neblig und formlos schwebte das Wort lang durch seinen Kopf:

– Ja, die Hauptsache: Sie solle nicht den Kopf verlieren. Ja!

Er hatte sogar schon den Mund geöffnet und eine Hand ausgestreckt. Aber Esther war bereits vom Bett aufgestanden und hatte begonnen, die Herbstjacke zuzuknöpfen. Sie schüttelte langsam und betrübt den Kopf, seufzte traurig und schmatzte resigniert mit den Lippen, als wolle sie mit diesem Schmatzen sagen:

– Ein schöner Vater … meine Güte … was könnte er ihr schon raten.

***

Danach ging Tag und Nacht der Regen nieder, gleichmäßig und einfach stur ging er nieder, als hätte ihn jemand gebeten aufzuhören und er wollte nicht gehorchen und trommelte nun aus purer Bosheit:

Ich will es so … Ich will es so … Ich will es so …

Schmutzige Herbsttränen rannen an den nassen, farblosen Scheiben hinunter, schlängelten sich langsam und faul und versickerten schließlich in den buckligen, feuchten Küchenwänden.

Wer brauchte diese Tränen?

Alles war schlecht gelaunt und böse, sogar der krumme und abgenutzte Backofen, der dem Tauben Tag und Nacht ins Gesicht starrte.

Es war so stumm um ihn herum. Der Taube war selbst erstaunt:

– Er hatte doch sonst beim Lumpenhändler die Nähmaschine klappern hören.

Stundenlang saß er bedrückt und stumm auf dem Bett, ließ die Beine baumeln und warf bittende Blicke auf die Lumpenhändlerin, die immer wieder in die Küche kam und sich am Backofen mit dem nassen Holz plagte.

Nur um eine Kleinigkeit wollte er sie bitten und doch verzog sich sein blasses, erschöpftes Gesicht wie das eines Bettlers:

– Wenn sie ihm nur ein paar Worte in sein taubes Ohr schreien wollte, würde er hören, wie viel tauber er geworden war.

Doch die Lumpenhändlerin war eine verfluchte Schlange. Stets ging sie an seinem Bett vorbei, berührte sogar seine baumelnden Beine, würdigte ihn aber nie auch nur eines einzigen Blickes. So garstig war sie schon, die verdorrte Lumpenhändlerin. Es gelang ihm schon nicht mehr, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht einmal mit seinem bettlerhaft verzogenen Gesicht.

Wenn er ihr aber ein Bein stellte und sie an seinem Bett anhielt, würde sie schon zittern vor Schreck und staunen:

– Sieh an, er lebt noch, der Taube?!

Die Lumpenhändlerin ärgerte ihn und er sah sie böse an und brummte wütend etwas in sich hinein. Genau so böse pflegte er seine Frau Leah5 anzusehen und zu brummen. Sie legte sich damals ihm zum Trotz in ihren Kleidern schlafen, und er schnappte sich darum die Schüssel mit dem warmen Essen vom Tisch und warf sie mit einem Mal auf den Boden.

Esther kam einmal und stritt sich wegen ihm lange mit der Lumpenhändlerin, und er lag im Bett, hörte nichts und dachte schon wieder an jenes ernste und wichtige Wort, das er seiner Esther sagen musste. Das Wort drehte sich lange in seinem tauben Kopf und kam endlich heraus, weich und närrisch, aber nicht als das, das er gedacht hatte.

– O, siehst du, wenn sie, deine Mutter, sie ruhe in Frieden, lebte …

Hart und schwer brachte er es heraus, und doch schämten sich seine Augen gleich darauf vor sich selbst und vor ihr, der Schlanken und Aufgeregten, die sich schon nicht mehr erinnern konnte, wie ihre vor Jahren verstorbene Mutter aussah. Sie sah ihn so verwundert an, als wollte sie ihn fragen:

– Was nützt sie ihr jetzt, die verstorbene Mutter auf dem alten Friedhof?

Sie holte ein Stück Buttergebäck aus der Tasche und gab es ihm. Er probierte es, empfand den köstlichen Geschmack und betrachtete es genau:

– Der Bik weiß, was gut ist.

Und plötzlich formte sich das notwendige Wort, das er schon so lange suchte, in einem Gedanken:

– Es ist ein krummes Ding … das, was die Arbeiter damals in der Nacht gesehen haben …

– Und was noch? Er traut ihnen nicht, nicht dem Bik und nicht seinem Sohn. Er traut ihnen überhaupt nicht.

3

Mit dem ersten Frost ließen die Schmerzen in seiner Seite und in der Schulter nach. Die Küchenfenster waren schon vom Schnee zugeweht und im Backofen der Lumpenhändlerin war das Holz noch feuchter. Ihm war kalt, und so zwängte er sich in die Stiefel, zog die wattierte Jacke an, zurrte den roten Gürtel fest und stülpte sogar die geflickte Lammfellmütze über die tauben Ohren. Die Lumpenhändlerin staunte nicht schlecht:

– Wohin? Wohin geht er denn, der Taube?

– Ins Bethaus – ließ er sie düster und leise wissen. Er geht sich aufwärmen … im Bethaus.

Die Lumpenhändlerin bewegte ihren Mund sehr schnell. Vielleicht beschimpfte sie ihn. Er wusste es nicht und ging seines Wegs.

Im Bethaus beim heißen Ofen fand ihn einmal Jossele, der Aufseher, und begann, ihm ins Ohr zu schreien:

– Der Bik … Bik!

Er schrie davon, dass der Bik ihn, Jossele, den Aufseher, grundlos entlassen habe, und ließ dann noch etwas heraus wegen ihm, dem Tauben.

– Ja, ja. Er, der Taube, muss den Bik verklagen …

– Verklagen? wunderte sich der Taube.

Er verstand nicht, hob die Hand weit in die Höhe, um Bik zu bezeichnen, dann ließ er die Hand sinken bis fast zum Boden des Bethauses und wies auf sich.

– Der Bik – hieß das – ist so groß, so groß und er, der Taube, ist so klein … so winzig. Sicher wird der Große den Kleinen besiegen.

Jossele legte die Stirn in Falten, wurde nachdenklich und griff sogar nach seinem Bärtchen. Und dem Tauben kam es nun so vor, als habe er etwas Kluges und Tiefes von sich gegeben. Er dachte darum auch nach und fügte hinzu:

– Der Bik sollte ihn, den Tauben, einfach nur in Ruhe lassen …

Er meinte damit nicht sich selbst und den Bik, sondern Esther und Biks braunen, großen Sohn, dachte, er wollte ihn, Jossele, den Aufseher, deswegen etwas fragen, wusste aber nicht, wie er es anstellen sollte.

Dann kam ein kalter, verschneiter Abend. Gedankenversunken ging er zu Esther in der Absicht, sie etwas Notwendiges zu fragen, und er trug sich den ganzen Weg lang mit dieser Absicht und übte sogar, wie er anfangen würde:

– Ein Mensch muss wissen … ein Mensch muss verstehen …

Aber als er die äußere Tür zu Biks Küche öffnete, sah er, wie der große, flinke Mendel plötzlich in einer Küchenecke aufsprang und rasch durch eine zweite weiße Tür verschwand, die in Biks Wohnstuben führte. Er erschrak, fühlte seltsames Herzklopfen und verlor wieder das notwendige Wort. Durch seinen tauben Kopf irrte ein Verdacht:

– Mendel ist ein mieser Kerl … ein ganz mieser Kerl.

Aber Esther saß schon neben ihm, drückte ihm eine gebackene Kartoffel in die Hand und schrie:

– War da, er, Bote der Heiratsvermittler.

Das Gesicht des Tauben heiterte sich gleich auf und seine bleifarbenen Augen fragten mit dem Anflug eines Lächelns:

Ist das wahr? … Du schwindelst mich nicht an?

Sie schrie ihm wieder etwas zu:

– Joelke, der Sohn Pinis des Färbers.

Der Taube biss ein Stück von der heißen Kartoffel ab und hielt es im Mund. Sein breitbackiges Gesicht verzog sich, als bäte er jemanden um Erbarmen:

– Das ist aber doch eine ganz miese Partie …

Sie schrie in sein taubes Ohr:

– Jolik ist ein Gauner … ein Gauner aus Odessa …

Er kaute die Kartoffel und nickte wie sie:

– Ja, ja, ein Gauner … gewiss ein Gauner.

4

Damals herrschte Frost in der Nacht.

Dem Tauben träumte, er sähe aus dem obersten Fenster der Mühle und beobachte, wie Mendel der Nichtjüdin nachsetzt, die das Kontor putzt. Die Nichtjüdin flieht erschrocken, stürzt auf dem blanken Eis und hat Angst: Jetzt gleich wird Mendel sich ihrer bemächtigen. Und dort auf der Seite steht der Müller Schulz, hält sich den Bauch, lacht und schreit: Schnapp sie dir! … Schnapp, schnapp …

Und plötzlich sieht er, der Taube, dass Mendel nicht der Nichtjüdin nachjagt, die das Kontor putzt, sondern seiner Esther. Ein Schauder überlief ihn. Esther flieht, streckt die Hände aus und schreit vor Angst. Wäre er nicht taub, vernähme er einen herzzerreißenden schrillen Schrei.

Die dürre, böse Lumpenhändlerin verfluchte ihn danach den ganzen Vormittag lang:

– Die Cholera soll ihn holen … Da kennt sich doch keiner aus, wie er in der Nacht losbrüllte.

Sie ging sogar zu ihm und zog ihn am Ärmel:

– Warum? Warum hatte er so gebrüllt in der Nacht?

Er war überrascht und zuckte mit den Achseln:

– Er hatte gebrüllt? Er hatte nicht gebrüllt.

Er selbst erinnerte sich schon nicht mehr, weder an den Traum, noch an Mendel, noch an die Nichtjüdin. Während er die alten Stiefel anzog, betrachtete er sie von allen Seiten und dachte, man müsste sie mit etwas Fettigem einschmieren, und ging ins Bethaus. Dort saß er lange am heißen Ofen und dachte, dass er, der Taube, Wärme liebte und dass er den Kopf eines Fisches liebte, heiße und frische Challe und ein Stück fettes Fleisch, das gleiche fette Fleisch wie das, das der Bik einmal vor seinen Augen aß.

– Der Bik weiß, was gut ist.

Das Bethaus füllte sich allmählich mit Menschen. Juden gehen herum und reden miteinander. Wunderlich, dass man nicht betet. Jede Minute kommen weitere Menschen an; sie laufen merkwürdig schnell herein und mischen sich unter die Menge, und die Menge verschlingt sie und wächst und mehrt sich. Der Taube beobachtet mit seinen bleifarbenen Augen und merkt: Jene, die zum zweiten Mal ins Bethaus laufen, haben erschrockene Gesichter, ihre Münder sind offen und ihre Augen groß vor Angst. Sie fragen, so scheint es, jene, die schon im Bethaus sind: Wirklich? Ist das wahr? Wenn jene nicken, bleiben sie wie versteinert und erschlagen stehen und schmatzen mit den Lippen.

– Sehr bedauerlich …

Man sieht ihn an, so scheint es. Leute tuscheln in kleinen Gruppen miteinander und werfen ihm sonderbare Blicke zu, und er bewegt sich zwischen ihnen und dreht seinen tauben Kopf in alle Richtungen. Man nähert sich ihm. Jemand weist mit einem Finger auf ihn, er sieht an sich hinunter und betrachtet seine Kleider: Er fragt sich, ob er vielleicht die Hose nicht richtig zugeknöpft hat. Man geht auf ihn zu und schreit ihm ins Ohr, er solle hingehen, zum Vove Bik, er aber sieht sie verwundert an und versteht nicht: Was wird die Menge davon haben, wenn er zum Vove Bik geht? Ein angesehener Mann geht auf ihn zu und schreit ihm ins Ohr, er solle zum Bik gehen. Er zeigt mit dem Finger auf seine Brust:

– Ich? Ich soll gehen?

Er versteht überhaupt nichts und geht trotzdem hin, zum Bik, zuckt mit den Achseln und geht.

Aber dort, vor Biks Haus, stehen auch viele Menschen. Es kommt ihm vor, als seien es dieselben, die er im Bethaus zurückließ. Sie drängen sich in Biks Wohnräume und von den Wohnräumen in die Küche, und er drängt sich zusammen mit ihnen – der Taube. Er will sich nicht drängen, er weiß nicht, aus welchem Grund er sich drängt, und drängt sich trotzdem. Die Küche ist schon voller Menschen, es ist dort sehr dunkel – alles dreht sich ihm vor den Augen, alles zittert und bebt schnell wie die Siebe in Biks Mühle. Es zittern und beben die Küche, die Menschen und sogar die hölzerne Bettstatt mit dem steifen, bläulichen Leichnam, zu dem er sich endlich vorgedrängt hat. Augenblicklich erkennt er den Leichnam:

– Ja, es ist Esther, gewiss Esther.

Er beginnt gar nicht erst, sich darüber zu wundern. Im Gegenteil, es kommt ihm vor, als sei er schon einmal an derselben Bettstatt mit derselben Toten gestanden. Das war schon lange her, sehr lange, aber es war doch gewesen. Sogar dieselbe Schar von Menschen stand dort herum und draußen war damals wie jetzt ein düsterer Wintervormittag.

Jemand zieht ihn am Ärmel und zeigt an die Decke. Er sieht hinauf: Ein Strick hängt dort noch von einem Haken. Er versteht jetzt, dass sie sich erhängte, er will fragen »warum?«, fragt nicht und wirft einen Blick auf die alte Frau, die am Kopfende des Leichnams steht, sie hat eine Grimasse gezogen, die alte Frau dort, hat sich vorgebeugt, den zahnlosen Mund geöffnet, heftig den Kopf mit den geschlossenen Augen in den Nacken geworfen und das Gesicht verzogen. Sie weint, anscheinend mit herzzerreißender Stimme, aber er ist taub und hört nichts. Auch er verzieht das Gesicht, will auch weinen und kann nicht. Wirbel entsteht, man treibt die Leute auseinander, der alte Gehilfe der Chevre Kadische schreit unter der Tür:

– Also genug jetzt, genug. Macht, dass ihr wegkommt.

Die Küche leert sich. Auch ihn treibt man fort, aber er will nicht gehen. Man zerrt ihn an den Schultern, er sieht sich mit bösen Augen um und hält sich mit beiden Händen an der Bettstatt fest, auf der die Tote liegt. Man will ihn mit Gewalt losreißen, aber er zieht die Bettstatt mit der Toten mit. Die Leute werden müde und lassen ihn in Ruhe. Aber er sieht jemanden in der Tür zur Küche und erinnert sich an den Traum, an den Mühlhof, an Mendel, an die Nichtjüdin und an Esther. Er lässt die Bettstatt los und flieht. Aber sogleich vergisst er, wohin er laufen will, doch er stürzt auf die Straße und läuft schnell, läuft mit allen Kräften. Die Stiefel versinken tief, tief im angewehten Schnee und er atmet schwer, fühlt, wie ihn die Lebenskräfte verlassen, und läuft.

5

Das war so seltsam und wild.

Beim Bik vergaß man, die Kuh über Nacht in den Stall zu treiben, daraufhin fand man sie in aller Frühe mit abgeschnittenem Schwanz draußen vor dem Hoftor stehen. Alle Hausbewohner mit Bik an der Spitze rannten hinaus. Man führte die Kuh in den Hof, scharte sich um sie, betrachtete sie und schaute sich erstaunt in die Augen.

– Was soll das bedeuten?

Der Schwanz war mit einem scharfen Gegenstand weit oben am Rücken abgetrennt worden. Aus der Wunde tropfte noch Blut. Trübsinnig und unglücklich stand die Kuh unter den vertrauten Menschen, stand da und ließ den Kopf hängen, funkelte traurig mit ihren großen Kuhaugen und schien zu denken:

Ja, schaut her: ewig, ewig werde ich schwanzlos sein … Weh ist mir zumute …

Einige Tage lang zerbrach man sich in Biks Haus die Köpfe:

– Wessen Werk sollte das sein?

Man nahm Jossele, den entlassenen Aufseher, von allen Seiten in den Blick, verdächtigte die beiden Arbeiter, die Mendel hatten verprügeln wollten; sie wurden sogar zum Polizisten6 gerufen und dort verhört. Erst nach ein paar Wochen verfiel man auf eine andere Idee.

– Hört mal, ist das vielleicht gar das Werk des Tauben?

Einer sagte das einfach so in die Welt hinein und alle schnappten die Idee auf. Es war so haarsträubend und eigentlich unglaublich für ihn, den großen, ungeschlachten Tauben mit der festgezurrten Jacke, der übergestülpten Lammfellmütze und dem düsteren, gleichgültigen Gesicht, und doch hat man es geglaubt, sich gewundert, nicht verstanden und geglaubt:

– Wer kennt sich mit dem Tauben schon aus? Er ist ja nicht ganz richtig im Kopf.

Als die dürre Lumpenhändlerin ihn einmal erzürnte, warf er ihr einen abgelegten Stiefel an den Kopf, schnappte sich ihre Betten, Tische und Bänke und warf sie wütend auf die Straße.

Damals lief das ganze Städtchen zusammen, schaute von weitem zu und hatte Angst einzugreifen. Einer sagte zum anderen:

– Dem Tauben ist das »Geblüt« zu Kopf gestiegen.

Die dürre Lumpenhändlerin tanzte um ihn herum, schlug sich mit beiden Fäusten auf den Kopf und reckte ihren dünnen und heiseren Hals:

– Leute, seht euch das an: Er veranstaltet bei mir ein Pogrom … ein Pogrom!

Und die Leute standen dabei und sahen zu. Es hätten sich schon gutherzige, kräftige Kinder gefunden, die bereit gewesen wären, sich auf den Tauben zu werfen, aber die Lumpenhändlerin hatte Feinde, sie blitzten sie mit bösen Augen an und flüsterten hinter ihrem Rücken:

– Macht nichts, macht überhaupt nichts. Sie hat dem Tauben genug zugesetzt.

Und dort in der Wohnung warf der Taube noch etwas nach draußen und fluchte mit ersticktem Stöhnen:

– Derr – rrr – Teufel …

Man rief ihn dann wirklich zum Polizisten und begann ihn zu verhören:

– Kennst du sie, die Kuh von Bik?7

Er aber schnappte das Wort »Bik« auf und konnte es nicht vergessen:

– Ja, ja, Vove Bik.

Der »Polizist« hatte das schnell satt und er wollte dieses ungeschlachte Prachtstück lieber früher als später wieder loswerden, das ihn mit großen, geweiteten Augen anglotzte und mit Mühe immer nur ein einziges Wort stammelte. Der Taube aber wollte ihn nicht verlassen, er rückte immer näher an ihn heran und fuchtelte sogar mit der Hand:

– Vove Bik … o …

Er wollte ihm etwas erzählen, von einer Getreidemühle, die unaufhörlich bebt, von einer Bettstatt mit einem Leichnam und von einem Haken mit Strick, er wollte erzählen und vermochte es nicht. Er verfing sich schon im ersten Gedanken über Bik wie in einem Netz und hatte nicht die Kraft sich daraus loszureißen.

Der »Polizist« warf ihn schließlich hinaus und verriegelte die Tür, und noch lange stand er dort und begann, aus unerfindlichen Gründen, die Hose neu zu binden. Als ein Mann aus der Stadt vorbeiging, vergaß er die Hose, ging auf ihn zu, streckte sogar eine Hand nach vorn und begann, ihm zu erzählen, was er eben dem Polizisten hatte erzählen wollen:

– O! … Der Bik …

Der Mann erschrak und entfloh mit starkem Herzklopfen, und er ging weiter der Stadt zu und streckte jedem Menschen, den er traf, die Hand entgegen. Die Leute bekamen Angst und wichen ihm aus, doch er blieb immer stehen, eine Hand ausgestreckt und ein unvollendetes Wort auf den Lippen:

– O! … Der Bik …

Jeder Gedanke, so schien es, begann mit diesem Wort in seinem übervollen Hirn, aber niemand wollte diesen Gedanken hören, darum blieb er beim ersten Wort, als hoffte und wartete er mit diesem Gedanken auf jemanden, und wenn er schließlich käme, jener Mensch, der ihn aushörte, würde er das erste Wort auslassen und ihm alle Gedanken entdecken, die in seinem vollen tauben und übervollen Kopf waren.

So gelangte er langsam zum Bethaus, öffnete die Tür und streckte seinen tauben Kopf hinein. Niemand war im Bethaus, und er setzte sich an den heißen Ofen. Um ihn herum war es so still und ruhig. Die Fensterscheiben – milchig angefroren, die Betpulte verlassen, wie die Grabsteine von Märtyrern, die mit dem Antlitz Richtung Osten stehen und auf Ihn blicken, auf Gott, Er sei gepriesen.

Dem heißen Ofen irgendwo gegenüber schnarcht ein Bettler, der zu Fuß von weither gekommen war, schnarcht tief in einem köstlichen Nickerchen und träumt von einem großen Haufen einzelner Kopeken.

Und der Taube sitzt düster beim Ofen und hört nichts, weiß nicht einmal, dass dort, dem Ofen gegenüber, ein Mensch liegt. Sein Hirn ist übervoll und kalt und erinnert sich nur schwach und nebelhaft an ein trauriges Geschehnis mit seinem verletzten Schulterblatt, mit einer Bettstatt, mit einem Leichnam und mit einem eisernen »Haken«, an den ein Strick gebunden war. Und um all das dreht sich ein angefangener Gedanke mit einem unbeendeten Wort:

– Der Bik – O! …

Jossele, der Aufseher, kommt herein, zieht den Schafspelz aus und setzt sich neben ihn an den Ofen. Langsam und verträumt streicht er sich über den spitz zulaufenden Bart. Und es scheint durchaus, als denke er seine stets boshaften Gedanken, die Gedanken eines Mannes, der eine Last zu tragen hat, eines Mannes, der dasitzt ohne Einkommen. Aber Jossele hat eine Seele, die von Zeit zu Zeit von wildfremden Angelegenheiten berührt wird. Er schreit dem Tauben etwas ins verstopfte Ohr, und der Taube neigt den vollen Kopf ihm zu und nickt.

– Gestorben? … Was denn sonst? Gewiss, gestorben.

Er will etwas sagen, aber Jossele lacht. Josseles gestutzter Schnurrbart verzieht sich mit der Oberlippe und es erscheinen gelbe, rauchverfärbte Zähne. Jossele schreit wieder und sieht ihm in die Augen. Sein Gesicht ist düster, die bleiernen Augen sind glasig und glotzen, doch schnappen sie von Jossele abgerissene Wörter auf und geben sie weiter an das volle Hirn:

– Der Bik ist ein Schwein … ein reiches Schwein, wirklich.

Es kommt ihm vor, als necke ihn Jossele, und es ärgert ihn. Aber bald vergisst er, dass es ihn ärgert und was ihn ärgert, und er erinnert sich an Biks hohes und weiß getünchtes Haus mit den breit ausgewachsenen Akazienbäumen vor den Fenstern und dem rein blauen, wie gerade abgewaschenen Zaun.

Die blumig zugefrorenen Fensterscheiben werden dunkel. Als Menschen ins Bethaus kommen, bewegt er sich langsam nach draußen, steckt die Hände in die Ärmel und macht sich auf den Weg. Er geht bedächtig langsam mit gesenktem Kopf, aber bald vergisst er, wohin er geht, fühlt nicht einmal, dass er geht, weiß nicht, ob draußen Sommer ist oder Winter. Kleine Jungen unterbrechen für eine Weile das Schlittern auf dem Eis und laufen ihm nach. Sie schreien ihm etwas zu, aber er hört nicht, er geht zwischen zwei Reihen hölzerner Marktbuden und sieht nicht zu ihnen hin, Menschen gehen ihm aus dem Weg, und er bemerkt sie nicht. Hinter ihm fährt ein Schlitten. Der Bauer friert, er ist zu faul, die Zügel in die Hand zu nehmen und auszuweichen, schreit er ihm zu: »Beregis’!«[1]  Und er hört nicht. Die »Deichsel« stößt ihn in den gebeugten breiten Rücken, mit der Hand betastet er die verwundete Stelle, sieht sich nicht um und geht weiter.

Im dunklen Flur von Biks Haus bleibt er stehen und weiß nicht, wohin er jetzt gehen soll. Die rechte Tür, die ins Esszimmer führt, ist unbeweglich zu, als sei sie von innen verschlossen worden. Die linke Tür, die zur Küche führt, steht ein wenig offen. Ein langer und schmaler Streifen Licht aus der Küche fällt durch die Öffnung auf den Boden des dunklen Korridors und rührt sich nicht. Er stellt sich in einen Winkel gegenüber der Tür und rührt sich auch nicht, man geht schnell durch mit einer Lampe und bemerkt mit Schreck ein paar abgewetzte Stiefelspitzen. Aufregung, und schon stehen alle Hausbewohner neben ihm. Der Bik selbst schreit etwas in sein taubes Ohr, aber er hört nicht und denkt:

– Der Bik ist ein Schwein … ein reiches Schwein … wirklich.

***

Und als er wieder sein Häuschen betritt und sich neben den Lumpenhändler an den Ofen stellt, denkt er noch immer darüber nach.

Jetzt erinnert er sich allerdings schon, dass er beim Bik in der Wohnung gewesen ist und ihn aus nächster Nähe vor sich gesehen hat.

Und weiter erinnert er sich: Er ist ein Tauber, ein jüdischer Träger, der einmal eine Frau Leah gehabt hat und eine Tochter – Esther.

Er verzieht das Gesicht und zum Lumpenhändler gewendet, zeigt er auf seine Brust:

– Essen … Es drückt ihm das Herz ab.

Und der Lumpenhändler sitzt ruhig neben ihm, hält ein kleines, schmutziges Kind auf dem Schoß und streichelt mit der Hand sein dreckiges Köpfchen, seine Stimme ist schwach und monoton wie die einer Frau. Er hat keinen Bart. Einzelne Härchen stecken in seinem Kinn und über der Oberlippe und wippen, wenn er spricht. Er gähnt ausgiebig, steht auf und schreit dem Tauben ins Ohr:

– Er zahlt kein Krankengeld, der Bik …

Das schmuddelige Kind verzieht das Gesicht, öffnet einen kleinen zahnlosen Mund und heult, und der Lumpenhändler hört nicht und schreit noch immer zum Tauben:

– Der Teufel soll in Biks Vater fahren!

Die Lumpenhändlerin läuft von der Straße herein, schnappt sich das weinende Kind mit ihren kalten, dürren Händen und reckt ihren dünnen Hals:

– Für so eine Geschichte sollte er ordentlich bezahlen, der Bik … Aber er wusste, wen er hier ausnehmen konnte.

Sie zieht ihn an der Hand und schreit:

– Taube Nuss! … Warum schweigst du?

Aber beim Tauben haben sich die Gedanken schon wieder verwirrt. Er sieht der Lumpenhändlerin direkt ins Gesicht und rührt sich nicht.

Ein Nachbar, ein Schneider mit weichem, hellem Bart, kommt in die Wohnung des Lumpenhändlers, betrachtet lange den Tauben und zieht ihn am Ärmel:

– Tauber, was ist heute für ein Tag?

Er ist so sanft und gut, der junge Schneider mit dem langen, weichen Bart. Er will erforschen, wie verwirrt der Taube ist, und ihm selbst schlägt das Herz bis zum Hals, und sein vornehmes Gesicht ist schon rot und seine Augen schämen sich schon, funkeln und schämen sich: Wer weiß? Vielleicht hat er etwas Dummes getan …

Aber der Taube weiß nicht, wer ihn da am Ärmel zieht, weiß nicht, warum man an ihm zieht, weiß nicht, ob bei dem, der ihn zieht, heute Schabbes ist oder ein Wochentag. Gebeugt, die Hände in den Ärmeln, verlässt er das Haus, geht und weiß nicht wohin, treibt sich vor dem Bethaus herum und auf dem Markt zwischen den Buden und sieht plötzlich, dass er wieder beim Bik im Haus steht. Der Bik steht ihm gegenüber und schreit in einen seiner Ohrfetzen:

– Was willst du, Tauber?

Man öffnet die Tür und bedeutet ihm, dass er gehen soll, er steckt wieder die Hände in die Ärmel und gehorcht, schweigend und still.

6

Und die endlose Winternebelzeit gähnte und gebar kurze, frostige Tage. Es waren eigentlich keine Tage, sondern dunkle und gefährlich kalte Abenddämmerungen.

Es fiel dichter Schnee.

In aller Frühe begab sich der Lumpenhändler, eingehüllt in den Schal seiner Frau über dem großen Schafspelz, auf den Markt und kam schnell wieder mit blauer Nase und von Schnee überschüttet. Er rieb sich die erfrorenen Ohren mit den erstarrten Fingerspitzen und erzählte seiner Frau von drei Erfrorenen, die man irgendwo in der Nähe unter einem zugewehten Dorf gefunden habe.

– Ja und was noch? Juden brachen in aller Frühe auf, um zu einem Markt zu fahren, und schleppten sich halbtot aus der Gegend vor der Stadt zurück.

Er war sehr zufrieden damit, dass er sich mit Heizmaterial versehen hatte, saß mit einer Arbeit am heißen Ofen, sah auf die schneeverwehten Scheiben und redete vor lauter Freude sogar mit dem Tauben:

– Bleib zu Hause, Tauber … hörst du, was man dir sagt?

Doch der Taube hörte nicht und tat das Seine: Er schlüpfte in die grobe, kurze Jacke, zog den Gürtel fest, stülpte sich die Mütze bis über die Ohren und zog sogar die Lumpenhändlerin von unten an ihrer Hausjacke: – Da soll sie sehen: Er geht … in die Mühle geht er … zum Bik in die Mühle.

Die Lumpenhändlerin sah ihn giftig an:

– Geh … geh zur Hölle … komm nie wieder …

Und er nickte ihr immerfort zu:

– Ja, ja, zum Bik in die Mühle.

Langsam ging er durch die Stadt, bog nach links ab und schritt rasch durch das einsame Tal, wo der Schneesturm sich mit Rauch vermischte und wild um die Mühle wirbelte.

Der pelzvermummte Torwächter sah ihn, stellte sich vors Tor und wollte ihn nicht in die Mühle lassen; da schlug er sich mit dem Wächter; er prügelte den Wächter und der Wächter prügelte ihn. Schließlich brachte man den Polizisten herbei, der ihn zwei Nichtjuden übergab.

Es folgte eine frost-stille und sternenklare Nacht.

Vor Tagesanbruch ist ganz ruhig ein Schlitten voll schlummernder Juden unterwegs, ist unterwegs zu einem Markt in irgendeinem nahgelegenen Städtchen. Die Welt um sie herum ist still. Rechts träumt der Friedhof der Bauern; links schläft Vove Biks weißes Haus mit seinem großen Garten – und über allem ein reiner Frühmorgenhimmel voll erloschener Sterne, die sich noch irgendwo ein nächtliches Geheimnis zuzwinkern.

Die Juden verlieren stets den Kopf vor Müdigkeit und schlafen ein mit frommen Gedanken des Gottvertrauens.

– Möge Gott einen guten Markt geben …

Plötzlich: Das Schnauben eines erschrockenen Pferdes, das Schleudern des Schlittens zur Seite, das erschrockene Schreien des Bauern:

– Brrr!!

Die Juden erwachen mit panischem Schreck; allen klopft das Herz.

– Was ist passiert?

Der Bauer steht schon vor den Pferden und verströmt die unflätigsten Flüche.

– A schtschob tobi … tschut, tschut, tschilovika ni perejichali …[2] 

Die Juden eilen zum Bauer, beugen sich vor und erkennen den Tauben:

Er liegt zusammengerollt in der festgezurrten wattierten Jacke und der übergestülpten Lammfellmütze und hat eine Axt in der festgeschlossenen rechten Hand.

Er ist noch warm, man legt ihn auf den Schlitten und fährt ihn nach Hause. Hatte man eine Wahl?

Die Juden, die zum Jahrmarkt wollen, sind unglücklich, sehen die Blässe im Osten und klagen:

– Zu spät – der Markt ist hin, so wahr ich Jude bin.

***

Und in der Stadt begann sofort das Gerede:

– Wen soll das überraschen? Der Taube hatte vor, den Bik zu erschlagen.

Bald fand sich ein Zeuge, der Biks Angst weiter schürte.

Wann genau war das? Spätnachts war er an Biks Haus vorbeigegangen und hatte gesehen: Ein Mensch erklomm den hohen Zaun, kletterte an ihm hinauf. Angst überfiel ihn und er rannte davon.

– Und was sonst: Wer wüsste nicht, dass der Lumpenhändler jeden Morgen ganz in der Frühe seine Tür verriegelt findet?

Beim Bik stellte man daraufhin geschwind einen kräftigen Nichtjuden als Wächter ein, der die ganze Nacht an den hohen Zaun klopfte; und der halb erfrorene Taube war danach zwei Wochen lang krank, wälzte sich dumpf im Bett, das in seiner nassen Küche stand.

Jemand erbarmte sich seiner und rief einen Arzt, einen jungen, ausgeruhten, gutherzigen Doktor mit einem kleinen Schnurrbart und schwarzen klugen Augen. Er saß lange neben ihm, dieser gutherzige, ausgeruhte Doktor, sah lange in das gleichgültige Gesicht des Tauben und hörte sich lange die Geschichte an, die die verdorrte Lumpenhändlerin, ihren dünnen und heiseren Hals reckend, ihm erzählte. Alles, was er sah und hörte, so schien es, kam ihm schrecklich wichtig und interessant vor. Darum blieb er sitzen, still, nachdenklich und mit großem Anstand.

Ein paar Tage später kam er wieder, derselbe junge und ausgeruhte Doktor mit demselben kleinen Schnurrbart und den schwarz-klugen Augen, und saß wieder lange am Bett des Tauben.

Er sah in das Gesicht des Tauben und dachte nach; der Taube blickte in sein Gesicht und dachte sich auch etwas.

Und doch verstand einer den anderen nicht. So weit auseinander und verschieden waren sie schon, die beiden Wesen, die einander auf Augenhöhe betrachteten.

Der Taube entschied sich schließlich und wurde von selbst gesund, ohne jegliche Hilfe eines anderen Menschen, über den er schon nicht mehr nachdenken konnte.

Es war wirklich sonderbar:

Auf sich gestellt, war er vielleicht noch kräftiger und gesünder geworden, als er vor der Krankheit gewesen war, und doch blieb ihm ein übler Missstand:

Er konnte nachts nicht mehr schlafen.

Groß, ungeschlacht und gleichgültig ging er in seiner Wohnung herum und schwieg zusammen mit den stillen und finsteren Nächten.

So lang und finster waren die Nächte und hüllten in ihre tiefe Dunkelheit die ganze träumende Welt und ließen alles in Schlaf sinken, was lebte und dachte, nur ihn nicht, den einzigen Welt-Puls, der nicht ruhen durfte, nicht einmal an Ruhe denken durfte.

Er wanderte in seinem kleinen Zimmer stetig auf und ab, tickte wie die Unruh einer Uhr und trug auf seinen Schultern die Sorgen und Trübsal der Schlafenden. Er selbst war nicht müde und dachte nicht an Ruhe. Hätte ihn jemand bei der Hand genommen und zum Stehen gebracht, hätte er sich, ohne hinzusehen, losgerissen und wäre weitergegangen.

Manchmal erwacht mitten in der Nacht das kleine Kind der Lumpenhändlerin, stöhnt erst ein wenig und weint schließlich.

Die Lumpenhändlerin erwacht mit schwer verschlafenem Gesicht in ihrem Bett, hebt ein wenig den schlaftrunkenen Kopf und beruhigt das Kind:

– Nun schlafe, schlafe.

Sie spricht mit belegter Stimme, hört, wie der Taube dort im anderen Zimmer umhergeht, und verflucht ihn:

– Die Cholera soll ihn … Nichts kriegt den unter.

Aber der Taube hört nichts und geht wieder, so hart und fest sind seine Tritte, und die Nacht ist so still und verschlingt sie still und sachte, diese harten und festen Tritte, und wartet auf neue. Und bald kommen sie, diese neuen schweren Tritte, und hämmern im verschlafenen Hirn. Vielleicht weil die Nacht still ist und keiner außer dem Tauben umhergeht, sieht es aus, als gehe der Taube ewig, ewig umher und die Nacht ziehe sich ewig, ewig. Die Lumpenhändlerin erschrickt vor diesem Gedanken, zieht die Decke über den Kopf und schläft ein mit einer altbekannten, kindlichen Furcht. Alles schläft schon in ihr, aber in ihrem träumenden Hirn wirbelt noch ein Fetzen eines schalen Fluchs:

– Eine Heimsuchung! … Eine Cholera …

***

In einer blassen Nacht erwachte der Lumpenhändler, hörte die Schritte des Tauben nicht und dachte sofort:

– Vielleicht hat ihn endlich der Teufel geholt?

Doch der Taube lag in seinem Bett und tappte mit den Füßen leise und unaufhörlich gegen die Bettwand. Er war nicht schläfrig, wusste nicht, ob es vor der Nacht einen Tag gegeben hatte und ob auf die Nacht noch etwas folgte.

Etwas sah von draußen durch das Fenster herein, der Taube richtete sich auf den Knien auf und sah aus dem Fenster. Eine Kuh stand dort, trübsinnig und unglücklich, und sah hinein. Sogleich erkannte er die Kuh.

– Vove Biks Kuh …

Schnell schnappte er die Axt und rannte nach draußen. Eine Kuh stand dort, zog nasses Stroh aus dem Dach und kaute es gemach, gemach mit ebenmäßigen, abgenutzten Zähnen. Sie sah ihn, die Kuh, ließ ab vom Strohdach und ging weg, er folgte ihr gemach, ohne Hast. Still und leer war es um sie herum, ein nasser Wind fegte durch die blasse Nacht und vollführte Kunststückchen; aus dem Dach eines nahen gebückten Häuschens riss er einzelne Strohhalme und wehte sie über die schmutzigen Schneereste; er erfasste die Bäume vor dem Haus eines reichen Mannes und pochte mit ihren Wipfeln auf das eiserne Dach. In einer anderen Straße kam ein jüdischer Händler spät von einer Reise nach Hause und klopfte herzhaft an ein Fenster seines schlafenden Hauses. Ein Rudel Hunde sah sich unter einem nahen Haus freundlich in die Augen und wedelte werbend mit den Schwänzen. Ein Hund löste sich vom Rudel und folgte der Kuh und dem Tauben und schon liefen auch alle anderen Hunde ihnen nach. Die Kuh begann zu traben; der Taube warf die Axt über die Schulter und setzte ihr nach. Der Wind vergaß die Baumwipfel und folgte dem Pulk. Bald verlor sich der Pulk in der blassen Nachtschwärze in seiner Jagd über Stadtgräben, kleine Senken und Misthaufen.

***

Und in der Frühe fanden Juden die Leiche des Tauben und neben ihm – die erschlagene Kuh der Milchhändlerin Pessi.

Sie weinte sehr, diese Pessi:

Sollen die Leute ihr doch wirklich sagen, was ihre Schuld sei …

Sie konnte nicht zu Ende sprechen und verlor sich überwältigt vom Schmerz im Schluchzen. Und die Leute standen nachdenklich dabei und schwiegen.

1906/1910

Übersetzt von Susanne Klingenstein

Jojssef Schor

1

Anfang Frühjahr schrieb Jankev-Nossn Viderpoljer, Gmore-Lehrer aus Grojs-Ssetreniz1, einen Brief in hebräischer Sprache an Mocher-Tov2 in Braschek3.

In dem Brief hieß es:

– Kann mir mein Freund und Vertrauter vielleicht in Ausführlichkeit schreiben, was es mit Jeschue-Heschel Rappoports Schwiegersohn Mojschele Levin auf sich hatte, jenem Mojschele Levin, der zusammen mit Jeschue-Heschels reichem Sohn die große Brascheker Zuckerfabrik geerbt hat und der vor einem Jahr gestorben ist?

Und weiter hieß es in dem Brief:

– Es ist mir nicht verborgen geblieben, dass mein werter Herr Mocher-Tov in Mojschele Levins Haus ein- und ausgegangen ist, doch ich verlasse mich ganz auf die Redlichkeit meines geschätzten Freundes und glaube, dass er mich, Gott bewahre, nicht in die Irre leiten, sondern mir freimütig die ganze Wahrheit offenbaren wird.

Auf diesen Brief hin traf bei Jankev-Nossn nach knapp zwei Wochen eine Karte ein, bedeckt mit winzig geschriebenem Hebräisch. Einen Teil der Karte nahm die langwierige, ehrerbietige Anrede ein, und überhaupt, abgefasst war das Ganze in jenem geradezu gekünstelten Tonfall4, in welchem Rabschake, der Kriegsherr von Assyrien, vor ein paar tausend Jahren die Juden auf den Mauern von Jerusalem mit Worten anging5.

– Warum sollte ich mir denn nicht die ganze Wahrheit von der Seele reden? Könnte ich denn vor einem Freund, um dessen Wertschätzung ich weiß, irgendetwas verheimlichen? Und gibt es denn überhaupt irgendetwas zu verleugnen, einen beliebten und rührigen Mann betreffend, dessen Pfade nichts als Wahrheit und Rechtschaffenheit waren?

Doch war Mocher-Tov seit je ein waschechter Maskil gewesen, und er verstand sich durchaus darauf, eine Sache in schönem Hebräisch auszumalen6. Die zweite Hälfte der Karte stellte nicht nur Mojschele Levins Leben anschaulich vor Augen, sondern auch sein hübsches, helles Gesicht mit dem blonden Bart, der ihm nicht auf den Wangen spross, sondern in einem akkuraten Streifen genau da wuchs, wo das Gesicht in den vollen, weißen Hals überging. Auf der Karte war ausgemalt, wie Mojschele Levin seinerzeit ausgesehen hatte, als Jeschue-Heschel ihn vom Ausland als Schwiegersohn7 mitgebracht hatte.

– Damals war sein Name in aller Munde. »Ein Goldstück«, hatte es geheißen, »und ein Verstand wie ein Rabbiner«, er selbst freilich hatte zu all dem nur gelächelt, glaubte er doch in bedenklich freisinniger Weise an eine »göttliche Vorsehung« und konnte eine stattliche Anzahl deutscher Poeten auswendig8.

– Und, – so erzählte die Karte weiter, – die Wahrheit ist, dass er sehr rasch sein Vermögen verschwendete und dass seine Frau fortan im Krieg mit ihm lebte, wohlgemerkt des Geldes wegen, das er verschwendete, und nicht, Gott bewahre, wie alle Welt behauptete, weil sie immer noch insgeheim verliebt war in ihren Jungmädchenschwarm, jemanden aus Riga. Nun, damals lebte noch Jeschue-Heschel aus Brisk9, ein Vater, wie er sein soll, mit einer großzügigen, offenen Hand, und der ging alles am liebsten hochherzig und zügig an. Er gab dem Schwiegersohn eine zweite Mitgift und baute ihm in Braschek neben der Zuckerfabrik das schöne Anwesen und ließ ihn dort wohnen, unter der Bedingung, sein Geld müsse in der Zuckerfabrik festgelegt bleiben und die Aufwendungen für seinen Lebensunterhalt werde man ihm vom Kontor ausbezahlen.

Diese Karte erreichte Jankev-Nossn gerade noch vor Pejssech.

Jankev-Nossn hatte damals reichlich freie Zeit. Er schrieb einen zweiten, ausführlicheren Brief an Mocher-Tov und äußerte sich höchst verwundert.

– Ich bin doch außerordentlich erstaunt über den werten Herrn, meinen Freund Mocher-Tov, den alle Welt als einen Talmud-Kenner ansieht. Unsere Weisen, gesegnet sei ihr Andenken10, haben doch gesagt: »Einem Verständigen genügt ein Wink.«11 Nun, wie kommt es dann, dass er nicht verstanden hat, worauf die Sache hinausläuft, und mir kein Wort schreibt über Mojschele Levins einzige Tochter, für die ich ein ehrenwertes Anliegen habe?

Und auf diesen Brief erhielt Jankev-Nossn schon keine Antwort mehr. Was besagte, dass Mocher-Tov, der Maskil, nun wirklich nicht zur Einfalt neigte. Einem Jankev-Nossn, den alle Reichen in Grojs-Ssetreniz umschmeicheln, kann er wohl mit einer schmucken Karte in altertümlichem Hebräisch seine Reverenz erweisen, doch an dessen wichtige Angelegenheiten glaubt er nicht, und Nichtigkeiten auszuplaudern über ein Haus, in dem er jahrelang ein- und ausgegangen ist, dazu fühlt er sich nicht veranlasst.

Jankev-Nossn seinerseits hüllt sich diesbezüglich ebenfalls in Schweigen. Gerade jetzt, unmittelbar nach Pejssech, wenn die Tage schon trocken bleiben und warm, überkommt ihn mit einem Mal der Wunsch, eine Reise nach Skvire12 zu unternehmen, zum Rebbe.

– Einiger Angelegenheiten wegen, sagt er, muss er eine Reise nach Skvire unternehmen, zum Rebbe.

Und vor der Abfahrt besteht er nachdrücklich darauf, es lohne sich keinesfalls, mit der Eisenbahn dorthin zu fahren.

– Wer nicht – so sagt er, – mit dem Gespann von Grojs-Ssetreniz nach Skvire reist, der ist schlichtweg verrückt, mit der Bahn nämlich zieht sich der Weg endlos, und man fährt kreuz und quer.

***

Und der Weg nach Skvire, der sich aus der hübschen, hügeligen Stadt Grojs-Ssetreniz nach Süden windet, ist lange schon schmal und überwachsen. Einsam und vernachlässigt kreuzt er die munteren Schienenstränge der Eisenbahn und verläuft anschließend eine Zeitlang zwischen den drei gepflasterten Überlandstraßen, die das muntere Gemurmel der Stadt hinaus in alle Richtungen tragen. Erschöpft, wie ein verarmter Mensch, der zu Fuß unterwegs ist, steigt er dann hinunter in ein ödes Tal, wo um eine alte Ziegelfabrik herum, eine Ruine, allerlei Knochen verstreut liegen von verendeten und erschossenen Hunden. Und ab da begleiten ihn nur noch die eintönigen Steppenfelder, ausgedehnte, verdorrte Felder, die ihre gräulich-grünen Farben in die Ferne ausdehnen und allzu gerne bereit sind zu schwören – bei diesem einzelnen Baum, der drüben am Horizont steht, gebeugt über einen Brunnen, ist Stille in der Welt.

Die ersten dreißig Werst13 auf diesem Weg fährt Jankev-Nossn bei einem Grojs-Ssetrenizer Fuhrmann mit und kommt in Koslove an, einem kleinen, traurig abgelegenen Schtetl, das Jahr um Jahr mit dem Rücken zu dem Tongrubenberg dasteht und nur auf das Schabbesrüsten wartet, auf den Montagsmarkt und auf eine Nachricht vom Kommen des Messias14.

Von Koslove fährt er weiter zu dem hübschen und wohlhabenderen Schtetl Braschek, das in der Nähe eine Zuckerfabrik, eine große Wassermühle und eine polnische15 Kirche hat. Weil er aber in Braschek erst tags darauf kurz nach Mittag ankommt und keinen einzigen Skvirer Fuhrmann antrifft und weil außerdem Mocher-Tov ausgerechnet an diesem Morgen von zu Hause weggefahren ist, steigt er in dem einzigen annehmbaren Gasthof ab, der überdies Mocher-Tov gehört und in der Gegend »Mocher-Tovs Gasthof« genannt wird. Er bestellt sich ein gutes Mittagessen, nimmt noch beim Essen einen dem Pejssech durchaus angemessenen Tropfen Wein16 und schickt sich danach an, einen Mittagsschlaf zu halten, mit einer so beiläufigen Art, als ob er für all das nicht mit den Fünfundzwanzigern17 aus den Almosen bezahlen würde, die er vor der Abreise bei Grojs-Ssetrenizer Reichen »lockergemacht« hat18, sondern mit Kupons19, die er von seinen eigenen Zweihunderttausend abgeschnitten hätte.

Während des Segensspruches nach dem Mahl spielt sich etwas ab, ohne Worte20, zwischen ihm, dem breitschultrigen Mann mittleren Alters, und Mocher-Tovs Schwiegertochter, die bei ihm im Zimmer den Tisch abserviert. Jedes Mal, wenn er sie mit seinen brennenden schwarzen Augen mustert, spürt sie einen merkwürdig kalten Schauder in der Brust; sie ist beinahe willens zu sagen, dass er ihr irgendwie unangenehm ist, dieser Mann mit dem tiefschwarzen, gekämmten Bart und der feinen chassidischen Kleidung21. Doch läuft sie zu oft in das Zimmer, viel zu oft, bis ihr klar wird, dass sie einen Fehler gemacht hat … und zwar nur allzu auffällig.

So liegt er vor dem Einschlafen auf dem Tagesbett, dieser Jankev-Nossn, mit einer starken Papirossa22 im Mund, und sinniert, dass der warme Tag draußen bereits schön ist, ja sommerlich, und dass beide, Koslove und Braschek, seit einiger Zeit wahrhaftig öde und leer geworden sind. Weit und breit kein einziger Skvirer Chassid mehr, dem man einen Besuch abstatten könnte. Aus Koslove, zum Beispiel, ist schon vor vielen Jahren Chajml Vajntrojb fortgegangen nach Palästina. Sein stattliches, weiß gekalktes Haus hat irgendein wohlhabender Händler aufgekauft, und sein blonder, magerer Sohn, derjenige, der einmal von zu Hause weggelaufen war, ist jetzt, heißt es, ein berühmter Maler irgendwo in Paris oder in Berlin. Und hier in Braschek haben Jeschue-Heschels Kinder die geerbte große Zuckerfabrik umgebaut und haben sie vollgepackt mit allerhand Buchhaltern und Ingenieuren, glattrasierten23.

Und kaum hat er diese Gedanken-Papirossa zur letzten Glut geraucht, dreht er sich auf die Seite; das Glas starken Weins sowie die gestrige, allzu kurze Nacht bestehen auf einem tüchtigen Schlaf, und der Leib gehorcht. Im Tiefschlaf ist ihm fast, als ob sich draußen, jenseits der herabgelassenen Vorhänge und der dünnen Mauern der Herberge, irgendetwas abspiele; man hätte schwören können, ganz Braschek feiere in ganz großem Stil eine Hochzeit, und diese Hochzeit sei besonders aufwändig, eine von reichen Leuten. Aber ein paar Stunden später wacht er auf und merkt: Braschek ist ruhig, wie vorher, und nichts von alldem hat sich unterdessen ereignet. Nichts weiter als dass, während er schlief, Mocher-Tov, der Herbergsbesitzer, mit Pferd und Wagen seines Sohnes zurückgekehrt ist von einem Gutsherrn, dem er einen Käufer für Wald vermittelt hat. Bei der Einfahrt in den Gasthof waren die Räder geräuschvoll über die abgenutzten Holzplanken gepoltert24. Und später, als Mocher-Tov ein paar Mal hier an die Tür gepocht hatte, war ihm im Schlaf, als schlage jemand irgendwo seltsam feierlich auf eine Pauke.

***