Die Wiege des Dämons – 4 unheimliche Erzählungen - Malte S. Sembten - E-Book

Die Wiege des Dämons – 4 unheimliche Erzählungen E-Book

Malte S. Sembten

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Beschreibung

Vier Geschichten, die am Abgrund des Grauens entlangtaumeln; vier Meisterstücke von Malte S. Sembten. Es geht um Flüche, teuflischen Spaß auf der Kirmes und um Kinder, die an Weihnachten nicht wirklich brav sind.
ZU »KINDERBESCHERUNG«:
»Weihnachtsmann« Jörg, ein jobbender Student, gerät in eine absolut verkehrte Welt, als er versucht, den lieben Kleinen in einem abgelegenen Heim das Fest zu verschönern. Seine bittere Erfahrung: Es kann buchstäblich ALLES passieren, wenn willensstarke Kinder die Lügen der Erwachsenen durchschauen …
ZU »DIE WIEGE DES DÄMONS«
Sheila Reed, die junge Schauspielerin, kann es kaum glauben: Ihr Casting war erfolgreich und sie spielt in einem Horrorfilm mit berühmten Größen des Genres. Doch schon bald häufen sich auf Ashwood Manor, wo die Dreharbeiten stattfinden, seltsame, ja unheimliche Vorfälle, und immer scheint Sheila das Ziel dieser Merkwürdigkeiten zu sein. Greift ein uralter Fluch nach ihr? Oder hat sie Halluzinationen, weil sie sich zu sehr in ihre Rolle hineinsteigert? Oder ist alles doch vollkommen anders?

Folgende unheimliche Geschichten sind enthalten:
› Kinderbescherung
› Der Spiegeleimann
› Die Wiege des Dämons
› Der Jumbee

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Ähnliche


 

 

 

Malte S. Sembten

 

 

 

Die Wiege des Dämons

 

 

 

 

 

 

Vier unheimliche Erzählungen 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv 

Cover: © Steve Mayer nach Motiven, 2023 

Korrektorat: Antje Ippensen

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Die Wiege des Dämons 

Kinderbescherung 

Der Spiegeleimann 

Die Wiege des Dämons 

Der Jumbee 

 

Das Buch

 

 

 

Vier Geschichten, die am Abgrund des Grauens entlangtaumeln; vier Meisterstücke von Malte S. Sembten. Es geht um Flüche, teuflischen Spaß auf der Kirmes und um Kinder, die an Weihnachten nicht wirklich brav sind.

ZU »KINDERBESCHERUNG«:

»Weihnachtsmann« Jörg, ein jobbender Student, gerät in eine absolut verkehrte Welt, als er versucht, den lieben Kleinen in einem abgelegenen Heim das Fest zu verschönern. Seine bittere Erfahrung: Es kann buchstäblich ALLES passieren, wenn willensstarke Kinder die Lügen der Erwachsenen durchschauen …

ZU »DIE WIEGE DES DÄMONS«

Sheila Reed, die junge Schauspielerin, kann es kaum glauben: Ihr Casting war erfolgreich und sie spielt in einem Horrorfilm mit berühmten Größen des Genres. Doch schon bald häufen sich auf Ashwood Manor, wo die Dreharbeiten stattfinden, seltsame, ja unheimliche Vorfälle, und immer scheint Sheila das Ziel dieser Merkwürdigkeiten zu sein. Greift ein uralter Fluch nach ihr? Oder hat sie Halluzinationen, weil sie sich zu sehr in ihre Rolle hineinsteigert? Oder ist alles doch vollkommen anders?

Folgende unheimliche Geschichten sind enthalten:

› Kinderbescherung

› Der Spiegeleimann

› Die Wiege des Dämons

› Der Jumbee

 

 

***

Die Wiege des Dämons

 

4 unheimliche Erzählungen

 

Kinderbescherung

 

 

Die Hinterräder des rostigen VW-Käfers schoben den Wagen Meter um Meter durch die Schneedecke. Diese ließ den Saum des schmalen Waldwegs nur erahnen und verlangte dem Fahrer trotz des Ballasts aus Alteisen, den er vorn im Kofferraum verstaut hatte, um die Lenksicherheit seines Fahrzeugs auf den winterglatten Straßen zu verbessern, alle Vorsicht ab. So war das, wenn man kein Geld für Winterreifen hatte – geschweige denn für ein zeitgemäßes Vehikel.

Die Angst, den Käfer festzufahren und die Heilige Nacht einsam im frosterstarrten Wald zu verbringen, ließ ihn entnervt das Radio ausdrehen, das süßliche Weihnachtslieder dudelte.

Umsonst die Hoffnung, sich mit Kinderchören und Glöckchenklingeling in die passende Stimmung für seinen Job zu versetzen.

Ein Glück immerhin, dass es eine sternhelle Nacht war. Das Firmament erinnerte ihn an ein Backblech, übersät mit den Krümeln von Weihnachtskeksen. Weit entfernt zogen die Positionslichter eines Flugzeugs ihre Bahn. Die Sterne von Bethlehem …

Es gab Fälle, da war eine Prise Ironie das einzig wirksame Gegengift, fand Jörg Köhler, Student der Pädagogik im zwölften Semester mit jahrelanger Berufserfahrung in saisonalen Aushilfejobs.

Wenigstens passte ihm diesmal das Weihnachtsmann-Kostüm, das ihm die Agentur – der ›Weihnachtsmann-Verleih‹, wie er sie nannte – zur Verfügung gestellt hatte. Diesmal würde er nicht mit Blasen an den Füßen ins neue Jahr humpeln, weil die Stiefel drei Nummern zu eng waren, und in den Familienalben der Kunden würden keine Fotos kleben, auf denen ihm zur Gaudi der Bälger die Mütze auf die Nase rutschte. Der Wattebart roch diesmal nicht nach den eingetrockneten Niesern seines Vorgängers, er juckte nur. Und die Weidenrute lag dieses Weihnachten äußerst gut in der Hand. Aber sie war nur ein Attribut, von dem er – was er in gewissen Fällen bedauerte – keinen zweckgerechten Gebrauch machen durfte.

Jeweils vier bis acht Adressen gab ihm die Agentur an Heiligabend und den ersten beiden Weihnachtsfeiertagen gewöhnlich auf. Auf den Türschwellen der Wohnungen erwarteten ihn die Geschenke, die er den Kleinen überreichen sollte und die er in seinen Jutesack stopfte, während er den Merkzettel an der Tür las und sich einprägte, was er an Lob, Ermahnungen und Schelte auf den Nachwuchs loslassen sollte. Er durfte nicht vergessen, den verräterischen Zettel abzunehmen und in der Tasche seines roten Mantels zu entsorgen. Vor allem durfte er nicht auf die elektrische Klingel drücken. Vielmehr galt es, mit dem Filzhandschuh in bedeutungsschweren Abständen dreimal an die Tür zu pochen, während er seine Lungen mit Luft für das sonore, basstiefe »Ho-ho-ho!« füllte, dessen Wirkung entscheidend für den Verlauf seiner Show war.

Den heutigen Abend allerdings nahm ein einziger Job in Anspruch, der so gut bezahlt war wie sonst deren fünf. Denn das ›St. Johannis Waisenstift für Problemkinder‹ lag fernab jeder menschlichen Behausung tief abgeschieden im Wald.

Jörg Köhler bemerkte, dass er einen Wegweiser verpasst hatte. Instinktiv brachte er den VW zum Stehen – und fluchte sofort auf sich selbst. Jetzt steckte er wahrscheinlich endgültig fest. Er legte den Rückwärtsgang ein und streichelte mit dem Fuß das Gaspedal. Der kleine Motor jaulte, die Antriebsräder drehten durch. Dann jedoch setzte sich der Käfer schlitternd in Bewegung.

Während er in die Dunkelheit zurücksetzte, um das Hinweisschild wiederzufinden, dachte Köhler ängstlich daran, dass ihn genauso der nächste Stopp lahmlegen konnte, wenn er zurück in den Vorwärtsgang wechselte. Er konnte nur sein Glück beschwören.

Es war ihm noch einmal hold, bald tauchte der beschriftete Richtungspfeil im Doppelkegel seiner Scheinwerfer auf, das Abbiegemanöver gelang, und Köhler lenkte sein Auto wieder voran über den schmalen, vereisten Pfad, der ihn ans Ziel bringen sollte.

Sobald ihn eine bucklige Steinbrücke über einen totenstarren Bach im Leichenhemd aus Neuschnee geführt hatte, wurde der Waldpfad wegsamer. Bald mündete er in eine breite, ummauerte Einfahrt, die sich in ein weites Rondell öffnete, an dessen Kopfende der Bau aufragte, der das Waisenstift beherbergen musste. Wie eine zu Stein erstarrte Lavaeruption mutete die schwarze Masse des Gemäuers im Dunkel der Nacht an und verriet dennoch durch ihre Kontur die protzige Neugotik aus dem neunzehnten Jahrhundert, die an diesem Ort, tief inmitten des winterlichen Waldes, geradezu surreal wirkte.

Köhler wunderte sich, dass er weit und breit kein parkendes Auto sah. Sein eigenes brachte er dicht am Mauerwerk unter dem Schutz eines vorspringenden Erkers zum Stehen, der den Schneefall abgehalten hatte, sodass er später ohne Panne fortzukommen hoffte.

Er legte den falschen Bart an und setzte die Zipfelmütze auf; dann stieg er aus. Er klappte den Fahrersitz nach vorn und klaubte den Jutesack von der Rückbank, in den er die Weidenrute stopfte. Seine Instruktionen lauteten, am Hauptportal zu klingeln. So stapfte er durch den knirschenden Schnee zur Freitreppe an der Stirnseite des Gebäudes. Mehrere Stockwerke über ihm leuchtete eine Fensterreihe in warmem, einladendem Schein, der, verstärkt durch die weltabgeschiedene Lage des Stifts inmitten weißgepuderter Tannen, sogar in einem Christfestzyniker wie Jörg Köhler Dickenssche Weihnachtsromantik anklingen ließ. Vorsichtig erklomm er die vereisten Stufen.

Ein erschrockener Blick auf seine Jelly Swatch, die er unter dem falschen Pelzsaum seines Ärmels hervorpulte: Er war noch später dran, als er befürchtet hatte.

Während sein Blick die verwitterte Steintafel mit der Aufschrift ›St. Johannis Waisenstift. Anno 1902‹ streifte, zögerte er unwillkürlich, den altmodischen Klingelzug zu betätigen und sich den ›Problemkindern‹ (welch weit interpretierbarer Begriff …) zu stellen. Allzu gegenwärtig war ihm in diesem Augenblick sein Weihnachtsmann-Auftritt in einem Behindertenheim zwei Jahre zuvor. Auch als Anhänger fortschrittlicher Pädagogik hatte er nie Gewissenbisse gespürt, Vorschulkindern den Weihnachtsmann vorzulügen. Aber im Behindertenheim hatte es ihn schockiert, nicht den gewohnten Kleinen, sondern Vierzehn-, Sechzehnjährigen gegenüberzutreten. In diesem Augenblick hätte er vor Scham über seinen lachhaften Aufzug in den Boden sinken mögen. Doch sie hatten ihn nicht durchschaut. Diese Kleinkinder in den Körpern von Jugendlichen hatten den Weihnachtsmann so ernst genommen wie der Papst die unbefleckte Empfängnis. Es war ihm gelungen, seine Show routiniert durchzuziehen. Und er hätte sich damit beruhigen können, seinem ungewöhnlichen Publikum die Weihnachtsfeier verschönt zu haben. Doch allzu deutlich hatte er gerade vor diesem Publikum die Entmündigung begriffen, der er mit seiner Kostümscharade Vorschub leistete. Wozu gab es den Weihnachtsmann, Knecht Ruprecht, den Osterhasen und ihre Komplizen? Weil Kinder, die an sie glaubten, sich ebenso leicht manipulieren ließen wie Abergläubige, die sich vor Zauberkräften fürchten, oder Religionsangehörige, die von den Dogmen ihrer Kirche überzeugt sind.

Der Flügel des Eingangsportals verursachte kein Geräusch. Das Mädchen, das unerwartet wie eine Erscheinung in der Türöffnung stand, war nicht älter als fünf oder sechs Jahre und blickte mit dem Antlitz eines leibhaftigen Weihnachtsengels zu Köhler empor, goldgerahmt von einem Gespinst schimmernder Locken. Die Kleine hätte besser in kitschigen Rauschgoldflitter gepasst als in die strenge Schülerinnenuniform, die sie trug.

Zunächst fehlten Köhler die Worte. Dann entwich es seinem Munde:

»Ho-ho-ho! Weit reiste ich im eisigen Wind zu euch Menschen als Bote vom Christuskind und habe zur Feier dieser Heiligen Nacht über der Schulter einen Sack voll mit Gaben gebra…«

Ihm war eingefallen, dass sein Geschenkesack bisher nur die Rute enthielt.

Doch der schlaffe Jutestoff in seiner Hand blieb unbeachtet. Ein Engelslächeln erstrahlte in ihrem Gesicht: »Tritt ein, lieber Weihnachtsmann, freiwillig und ungezwungen. Fühl dich willkommen und lass etwas von den Geschenken hier, die du mit dir bringst!« Ein verlegenes, helles Kichern folgte diesen ungewöhnlichen Worten –, die Kleine war ebenso seltsam wie süß. Bezaubert ließ Köhler sich über die Schwelle locken – keinen Augenblick zu früh, denn ohne Warnung setzte draußen wieder heftiger Schneefall ein, durchstoben von einem Wind, der eine wirbelnde Wolke von Eisflocken durch den Spalt des zufallenden Türflügels in die Eingangshalle trieb. Ob dies der Grund war oder fehlende Beheizung, Jörg Köhler fror innerhalb der düsteren Mauern genauso wie außerhalb.

Das nur spärlich aus den Schatten sich schälende Mauerwerk ließ die karge Weiträumigkeit der Halle lediglich erahnen. Künstliche Beleuchtung fehlte, und das blasse, blondumlockte Gesicht des Mädchens war wie ein Lichtschein in stofflicher Finsternis: »Folge mir, alle freu'n sich schon auf dich!«, forderte sie ihn mit ihrer lieblichen Stimme auf.

Halbblind in der Düsternis, blieb ihm nichts übrig, als dem Kind wie einem Lichtstrahl zu folgen. Auf ihren Fersen stolperte er eine gewundene Steintreppe hinauf, durchquerte einen kalten, zugigen Flur und gelangte schließlich vor eine Tür, durch deren Ritzen warmes Leuchten drang. Dahinter vermutete er die Räume, deren erhellte Fensterflucht ihm draußen auf dem Hof das Herz gewärmt hatte.

Wieder öffnete sich die Türe lautlos und wie von allein. »Er ist angekommen!«, rief das Mädchen. Ihn bei der Hand fassend, trat sie mit ihm ein.

Hallend fiel die Tür zurück ins Schloss.

Nach diesem plötzlichen Laut wirkte die Stille umso tiefer. Eine Vielzahl von Gesichtern wandte sich den Ankömmlingen zu. Fünfzehn, zwanzig Kinder füllten den gestreckten Saal, die Mädchen in himmelblauer, die Knaben in marineblauer Zöglingsuniform. Der Saal selbst war wie ein altertümliches Schulzimmer ausgestattet. An seiner unteren Schmalseite hing eine große schwarze Tafel, an der oberen brannte ein Kamin, ohne spürbare Wärme zu spenden. An den Längswänden hingen Schautafeln und Landkarten, die auch oberflächlich betrachtet nicht auf dem jüngsten Stand schienen.

Das Lehrerpult und die altmodischen Bänke waren platzschaffend an die Wände gerückt.

Mehr Wärme als von dem kläglichen Kamin strahlte von dem Christbaum in der Mitte des Saales aus, dessen Kerzen den Raum mit ihrem warmen Schein ausfüllten, den Köhler schon von draußen wahrgenommen hatte. Um ihn herum saßen die Kinder auf ihren Klassenstühlen.

Der Neuankömmling war der einzige Erwachsene.

Eine tumultuöse Begrüßung beendete die Stille nach seinem Eintreten. Rufe, Klatschen, Pfiffe, die seine Verunsicherung bis zur völligen Verwirrung steigerten. Er befeuchtete sich die Lippen. Ein Barthaar aus Watte blieb an seiner Zunge kleben. »Ho-ho-ho!«, klang seine Stimme so dünn durch den Saal, dass sie im Kinderlärm beinahe unterging. Er mühte sich, es klang etwas schrill: »Weit reiste ich im eisigen Wind zu euch Menschen als Bote … Wo ist denn euer Lehrer?«

Abruptes, fast betretenes Schweigen.

Es wurde von einem Jungen unterbrochen, der aufstand und erklärte: »Wir haben uns von der Vormundschaft der Erwachsenen befreit. Zunächst mussten wir natürlich ihre Hauptkomplizen ausschalten.« Damit schritt er wichtig nach vorn, ergriff ein Stück Kreide und ließ es über die Tafel quietschen. Anschließend nahm er den Zeigestock, wies auf die Schönschrift und blickte fordernd in die Runde.

Die Kinder lasen im Chor.

»Es taugt die dumme Ammenmär für schlaue Kinder nimmermehr, und Christkindlein und Osterhas beißen unbeweint ins Gras.«

Dieser Inszenierung folgte ein erneuter fröhlicher Ausbruch.

Er legte sich, als sich am gegenüberliegenden Ende des Saales der nächste Junge erhob. Er winkte Köhler heran.

Dieser hatte längst das Gefühl, in einen beginnenden Albtraum geschlittert zu sein. Da ihm die Fäustlinge verwehrten, sich unauffällig zu kneifen, biss er sich auf die Zunge. Er schmeckte Blut, doch seine Umgebung veränderte sich nicht.

Schon stand er, dem Geheiß des Kindes folgend, am Kamin. Ein Fell … ein Eisbärenfell … Doch Köhlers Augen sahen etwas anderes, als sein Verstand zu glauben bereit war. Nur die Größe des Kaminvorlegers passte zum Eisbären, seine Konturen und die Form des augenlosen Schädels hingegen widerlegten Köhlers Assoziation. Aus dem aufgerissenen Rachen ragten zwei riesige, messerscharfe Nagezähne. Der ganze schmutziggraue Balg war verdreckt und blutverkrustet. Auf den Vorderläufen leuchtete bunt eine Schicht getrockneter Malfarben.

»Ja, der Osterhase«, sagte der Junge. »Oder was von ihm übrigblieb. Hab ihn selber kaltgemacht. Scheußliches Gemetzel.« Er blickte indigniert auf das monströse Hasenfell.

»Zeig ihm den Schrank!«, forderte eine helle Mädchenstimme.

»Das soll der Anselm machen«, erwiderte der Osterhasenmörder.

Anselm war sehr klein geraten. Als er aufstand, überragte er seine sitzenden Kameraden um kaum mehr als Kopfeslänge. Seine roten Segelohren standen wie Stoppschilder von seinem schmalen Kopf ab. Aber der Tonfall seiner Piepsstimme war selbstsicher, als er die willenlose Figur in der Weihnachtsmannverkleidung zu einem niedrigen Holzspind neben der Tür dirigierte.

Aus der Nähe bemerkte Köhler eine schimmernde Naht aus Dutzenden von Nagelköpfen, die die Tür des Schranks dauerhafter verschloss als einen Sargdeckel.

Anselm stieß mit dem Fuß gegen die Füße des Spinds. Ein Gurgeln, kraftlos und gequält, drang aus dem Inneren des Möbels gleich einem Echo aus abgründiger Tiefe. Nur die Resonanzwirkung des Holzkörpers schien es überhaupt hörbar zu machen. Dann sickerte aus der Türritze dünner schwarzer Schleim und tropfte zäh wie das Ticken einer ablaufenden Uhr auf den Steinboden.

»Der Schwarze Mann – der Butzemann – der Kinderschreck …« raunte Anselm. »Lauerte mir hier drin auf. Hab den Schlüssel umgedreht, Hammer und Nägel geholt. Ist schon 'ne Weile her – zäher Bursche. Aber lang macht er's nicht mehr.«

Jörg Köhler starrte die spiegelnde Pfütze auf dem Boden an, dann die zugenagelte Schranktür. Plötzlich verharrte sein emporwandernder Blick. Auf dem niedrigen Schrankdach stand ein Blumentopf mit einem Kaktus … einem Kaktus?

Den Blumentopf hatte er richtig erkannt. Das andere …

»Das war mal das Sandmännchen«, erklärte Anselm beiläufig.

Aus dem Sand in dem Tontopf ragte ein Gebilde, das aussah wie der abgrundtief hässliche Schrumpfkopf eines Pygmäen. Die Züge grotesk verzerrt, die leeren Augenhöhlen umkrustet von gestocktem Blut.

Während Köhler gegen seinen Ekel ankämpfte, trat das blonde Engelchen heran, das ihn empfangen und hierhergeführt hatte. Blaue Puppenaugen blickten zu ihm auf.

Der Engelmund sagte: »Es wollte mir sein Pulver auf die Linsen pusten.

---ENDE DER LESEPROBE---