Die Wildpferdpaten - Cornelia Dunker - E-Book

Die Wildpferdpaten E-Book

Cornelia Dunker

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Beschreibung

Janne freut sich. Bald schon werden sie und ihre beste Freundin Ines Wildpferdpaten sein. Leider bleibt diese Freude nicht lange ungetrübt. In der Naturschutzstation müssen sie erfahren, dass es in der Nacht zuvor einen Angriff auf die Wildpferde gegeben hat, bei dem das Fohlen Aurora schwer verletzt wurde. Janne ahnt, wer die Täter sein könnten. Aber ist das wirklich so einfach? Gemeinsam mit Ines und ihren Freunden Felix, Max und Tim gründen sie den Klub der flinken Hufe, um herauszufinden, wer tatsächlich hinter dem Angriff steckt. Ein spannender Pferdekrimi mit echten Sorraia-Wildpferden! Übrigens, Wildpferdpate kannst du wirklich werden. Wie? Auch das erfährst du in diesem Buch.

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Die Wildpferdpaten

Cornelia Dunker

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.papierfresserchen.de

© 2022 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2022.

Lektorat: CAT creativ - www.cat-creativ.at

Alle Fotos: © NFV/ Max Jung

ISBN: 978-3-96074-530-3 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-553-2 - E-Book

*

Inhalt

Wildpferdpate werden ...

Prolog

Beim Schrei des Roten Milan

Hugo

Ein interessanter Besucher

Die beste Freundin

Wildpferde in der Heide

Der Wald brennt

Nur eine Kippe

Die Freiwillige Feuerwehr

Der Verdacht

Eine gemeine Idee

Felix

Audacia

Julius ärgert sich

Eine Operation

Alvorada

Wildpferdpaten

Tim

Gewaltige Sorgen

Erneute Begegnung

Max

Amendoa

Maik

Vinda

Fünf Freunde

Der erste Schultag

Der Gejagte

Tentacao

Der Sturm

Obdachlos

Amara

Der Verräter

Aurora

Der falsche Wildpferdpate

Ein Feind

Amora

Klub der flinken Hufe

Die Entscheidung

Der Plan

Fertig für den Transport

Wo ist Felix?

Wo ist Amendoa?

Wieder zu Hause

Danksagung

Buchtipp

*

Wildpferdpate werden ...

... kann man wirklich: Und zwar jede mündige Person von 18 Jahren an. Für Kinder müssen die Eltern den Vertrag abschließen. Näheres unter über www.doeberitzerheide.de. Auch wenn ihr Wildpferde in der Döberitzer Heide googelt, bekommt ihr alle Informationen über die Sorraia-Wildpferde.

Das Team des Naturschutz-Fördervereins Döberitzer Heide e. V., das sich seit 1992 für den Schutz von Natur und Landschaft der Döberitzer Heide einsetzt und mit seinen Wildpferden, Rindern, Wasserbüffeln und Ziegen eine Gesamtfläche von über 350 Hektar pflegt, ist dankbar für jede Spende. Sollte dieser Roman dazu beitragen, würde uns das sehr freuen.

*

Prolog

Hallo,

ich bin ein Sorraia-Wildpferd und heiße Audacia (sprich: Audaßia). Dieser Name bedeutet Wagemut. Meine Vorfahren stammen aus Portugal. Doch seit einer Weile gibt es uns Sorraias auch in Deutschland. Einige Menschen sorgen sich darum, dass unsere Rasse aussterben könnte, denn weltweit gibt es nur noch sehr, sehr wenige von uns.

Meine Eltern, Geschwister und ich leben in der Döberitzer Heide zwischen Potsdam und Berlin. Gemeinsam mit einer Rinderherde haben wir eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Wir verhindern, dass das ehemalige militärische Übungsgebiet, das jetzt ein großes Naturschutzgebiet ist, vollständig von Büschen überwuchert wird. Verschiedene Vögel und Insekten, die in dieser vielfältigen Heidelandschaft heimisch sind, würden dann keinen Lebensraum mehr finden. Das wäre schade. Der Wiedehopf beispielsweise ist ein drolliger Vogel, der mir besonders gut gefällt.

Also halten wir die Vegetation kurz, gestalten die Landschaft und düngen mit unseren Äpfeln fleißig den Boden, was wiederum verschiedenen Krabbeltieren zugutekommt, die es sonst ebenfalls nicht mehr geben würde.

Nun wird es Zeit, dass ich euch meine Familie, also meine Herde, vorstelle. Der Chef, mein Vater, ist der Hengst Tentacao (sprich: Tentatschau) und meine Mutter die Stute Amara. Außerdem gibt es noch meine Schwestern Amendoa und Aurora mit ihren Müttern Amora und Alvorada. Die Stute Vinda hat kein Fohlen, aber ein Halsband mit einem Sender, damit mein Freund Max und seine Kollegen jederzeit wissen, wo sie uns auf der riesigen Fläche finden können. Das ist wichtig, denn es kann passieren, dass eines von uns krank wird oder sich verletzt.

So erging es meiner ältesten Schwester Aurora, deren Vorderlauf sogar operiert werden musste. Danach wohnte sie mit ihrer Mutter eine Weile im Stall. Das ist für ein Wildpferd ganz schön anstrengend und klappt nur, weil wir an unsere Menschen gewöhnt sind. Aber wir akzeptieren nicht jede Person, sondern unser Vertrauen muss erst errungen werden.

Ich vertraue meinem Freund Max sehr, denn hätte er nicht gemeinsam mit seinen Kollegen stundenlang bei strömendem Regen auf der riesigen Weide nach mir gesucht, hätte es schlecht für mich ausgehen können. Und das kam so:

Ich bin die jüngste der drei Schwestern. Lange schon erwartete man meine Geburt, denn ich hatte mir viel Zeit gelassen. Jeden Tag kam einer gucken, ob ich nicht endlich das Licht der Welt erblicken möchte. Eines besonders regnerischen Tages sah man meiner Mutter an, dass sie ein Fohlen geboren hatte. Ihr kugelrunder Bauch war deutlich schmaler geworden. Aber wo war das Pferdekind? Nirgendwo war es zu sehen. Lebte es? War es tot? Unmöglich, dass ein Pferd, auch ein sehr kleines, einfach verschwindet!

Immer wieder liefen die Menschen in die Richtung, in die meine aufgeregte Mutter blickte und hätten die Suche doch beinahe aufgegeben. Niemandem kam in den Sinn, dass ein gerade geborenes Fohlen außerhalb der Umzäunung liegen könnte.

Trotzdem begann Max in seiner Verzweiflung, dort zu suchen, und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Zwei kleine Ohren ragten aus dem hohen Gras einer Senke, weit entfernt vom Weidezaun. Meine Ohren! Da lag ich und schlief tief und zufrieden. Wie ich dahin geraten war, wird auf ewig mein Geheimnis bleiben. Max aber hatte mich gefunden, war glücklich wie lange nicht und brachte mich zu meiner Mama. Nun erhielt ich den Namen Audacia. Mein Freund Max sagt, der passt zu mir, denn ich mache gerne Blödsinn und bin neugieriger, als ich es als kleines Fohlen wohl sein sollte.

Sowohl mich als auch alle Pferde meiner Familie gibt es also wirklich. Ich bin sogar eine der Hauptpersonen dieses Romans. In dieser Geschichte will mich jemand stehlen. Da muss ich aber laut wie-hi-hi-hiern. Meine Mutter und mein Vater würden das nie im Leben zulassen, der Dieb erlebte sein blaues Wunder!

Aber ich will nicht zu viel verraten. Wie in jedem Roman mischen sich Fantasie und Wirklichkeit. Ähnlichkeiten mit jeglichen Personen, seien sie lebendig oder nicht, sind rein zufällig und nicht gewollt.

*

Beim Schrei des Roten Milan

Ein heißer Wind strich über die ausgedehnte Heidefläche. Die schweren Maschinen, die den Ginster gerodet und die alten Schützengräben zugeschoben hatten, waren längst abgezogen. Lediglich der grüne Bauwagen des Kampfmittelbeseitigungsdienstes stand noch etwas abseits. Auch diese mühevolle, gefährliche Arbeit war inzwischen erledigt.

Die riesige Grasfläche begann zu grünen und wartete auf ihre neuen Bewohner. Sorraia-Wildpferde würden in Kürze die steppenartige Landschaft in Besitz nehmen.

Davon wusste Janne nichts. Sie wartete darauf, dass die Herde der grauen Konik-Ponys, die sie sehr mochte und die in den letzten Jahren auf dieser Fläche gegrast hatten, zurückkamen. Damals war das Terrain voller Gräben und Löcher gewesen. Meterhoch stand der Ginster, sodass die Pferdchen mitunter völlig darin verschwanden. Jetzt würde das anders sein. Eine Steppenlandschaft breitete sich jetzt hier aus, kilometerweit einsehbar.

Nichts schien auf die Pferde hinzudeuten und Janne, die mit ihrer Hündin Kira unterwegs war, bummelte enttäuscht zurück zum alten Wildkirschenbaum auf der buckligen Wiese in der Nähe ihres Elternhauses.

Den Kopf weit in den Nacken zurückgelegt, versuchte sie, den vibrierenden Ruf des über dem verwahrlosten Acker kreisenden Raubvogels nachzuahmen: „Püi jir, püi jir.“ Immer ähnlicher wurde der Laut, gelang immer besser. Ja, das wäre was! So ein Raubvogel auf ihrem Arm, den sie jetzt ausstreckte, als ob sie den Milan heranlocken könnte.

„Ohne Lederhandschuh ist das nicht empfehlenswert“, hörte sie eine Männerstimme sagen.

Erschrocken fuhr Janne herum. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Wieso war der hier? Seit wann war er schon raus aus dem Knast? Sie hatte gewusst, dass er irgendwann wiederkommen würde. Aber schon so bald?

Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er spöttisch lächelnd: „Tja, so sieht man sich wieder. Auf Bewährung entlassen ... Wegen guter Führung. Entlassen, aber nichts vergessen!“ Bisher hatten auch die dunklen Augen des Schwarzen Julius den Flug des Milans verfolgt. Jetzt blickte er Janne ins Gesicht. Eine Sekunde schauten sie sich in die Augen, bevor Janne rasch zur Seite guckte. Pfeifend und grinsend schritt Julius mit seinen langen Beinen davon.

Janne blieb zurück mit ihrem Schrecken und einer Angst, die mit kalten Fingern in ihren Nacken griff. Vorbei die Freude am eleganten Vogelflug, der mit einem Sturz in die Tiefe unterbrochen und raketengleich in die Höhe mit der Maus im Schnabel wieder aufgenommen wurde.

„Püi jir“, flüsterte Janne und setzte sich auf den umgebrochenen Kirschbaum am Feldrain. Wer ist der Raubvogel, wer die Maus? Sie zog die Beine an und legte ihren Kopf auf die Knie.

Die flirrende Sommerhitze über dem Feld schien sich zu verwandeln in die kalten Tropfen des Eisregens zur vergangenen Weihnachtszeit. Damals war der Regen, begleitet durch pfeifenden Nordwind, über Jannes Haar in den Nacken gelaufen, hatte ihre Jacke und die Jeans durchnässt, sie langsam erstarren lassen. Damals, als der Schwarze Julius und seine Kumpane Fred und Maik sie festgebunden hatten in dem alten Unterstand im Wald auf dem wackeligen Stuhl. Ihre Freunde hatte sie verraten sollen. Aber keinen einzigen Namen hatte sie preisgegeben.

Schließlich fuhren die drei zu einem Bier und zum Aufwärmen in die Dorfkneipe. Da waren Tim, Max, Tobias und Felix mit dem Hund Hades bereits unterwegs, um sie zu suchen.

Hades hatte sie gefunden, gerade noch rechtzeitig, bevor die Bande wieder zurückkam. Hades, der schwarze Hund, den Janne und ihre Freunde vorm Verrecken bewahrt hatten, nachdem Maik Kanix und sein Großvater ihn in einem Sack im Wald wie Unrat weggeworfen hatten.

Jannes trübe Erinnerungen wurden unterbrochen. Ihre Hündin Kira kam gehechelt mit erdverklebtem Hundegesicht und Dreck auf der Zunge. Auch sie hatte im Feld nach Mäusen gejagt wie der Rote Milan, den Janne beobachtet hatte. Die Hündin hatte gebuddelt, dass die Erdklumpen flogen. Jetzt setzte sie sich neben Janne und lehnte sich schwer gegen ihr Knie. Janne rutschte vom Ast des Kirschbaums, hockte sich neben ihren Hund und legte ihre Wange auf den warmen Samtscheitel. „Wir müssen aufpassen, wir beide. Der Schurke ist zurück und will sich rächen.“

Der Hund gähnte gelangweilt. Mit einem Plumps ließ er sich nieder. Nee, diese Menschen mit ihren ständig wechselnden Gefühlen! Fröhlich war Janne mit ihr von zu Hause aufgebrochen. Jetzt hockte sie bedrückt neben ihr. Eine Schmutzspur hinterlassend, leckte Kira Jannes Hand. Wenn sie jetzt einen kleinen Schubs bekäme und Janne: „Ih, du Schwein!“, sagen würde, wäre alles gut.

Aber Janne betrachtete nur nachdenklich ihren verschmierten Handrücken und wischte ihn an ihren dunkelblauen Hotpants ab.

„Huh!“ Ein leichter Schlag auf die Schulter ließ sie zusammenzucken. Erschrocken schrie sie auf und sprang auf die Füße. Im Nu war auch ihr Hund auf den Beinen. Die beiden Jungen hatten sich so geschickt angeschlichen, dass selbst Kira sie erst im letzten Moment bemerkt hatte. Kläffend sprang sie jetzt dem vorderen der beiden Jungen gegen die Brust. Der ruderte mit den Armen und hatte Mühe, die Balance zu halten.

„He, ist ja gut, ist ja gut!“ Lachend hielt Tim sich an Felix fest. Begütigend hoben die Jungs die Arme. So schreckhaft kannten sie Janne gar nicht. Hades stand neben ihnen, wedelte aufgeregt und zerrte an der Leine.

„Ihr seid zurück? Seid wann?“ Froh wurde Janne. So froh, dass sie die beiden umarmte und Hades, der an ihr hochhopste, einen Kuss auf die schwarze Hundenase gab. Dabei gab sie sich Mühe, die aufsteigenden Tränen der Erleichterung zu unterdrücken.

Etwas verlegen wegen der überschwänglichen Begrüßung bückte sich Felix und ließ Hades von der Leine. Der sauste aufs Feld, hob zuerst sein Bein und begrüßte dann Kira. Die drei Kinder schauten den tobenden Hunden zu und schwiegen. Tim wollte schon einen seiner heiteren, saloppen Sprüche von sich geben, unterließ es aber.

„Was ist los, Janne?“ Dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte, war nicht zu übersehen. Zwar waren sie seit Weihnachten dicke Freunde, aber eine stürmische Umarmung zur Begrüßung? Und das, wo sie sich gerade mal zwei Wochen nicht gesehen hatten!

„Der Julius Schwarzbach ist wieder da.“

„Jetzt schon?“ Felix guckte Janne ins Gesicht. „Woher weißt du das?“

„Er war gerade hier, vor etwa zehn Minuten.“

„Na ja ...“ Tim zuckte mit den Schultern. „Wir wussten doch, dass er irgendwann wiederkommt.“

„Ja“, sagte Janne tonlos, „und dass er nichts vergessen würde.“

„Ach komm, Janne“, Tim zog sie kurz an sich, „er wird dir nichts tun. So blöd ist der nicht. Er weiß doch, dass man ihn sofort verdächtigen würde.“

„Genau! Und außerdem sind wir ja schließlich wieder da, zurück aus dem Urlaub!“ Felix streckte die Brust vor und machte einen Muskelarm, klang jedoch ein bisschen wehmütig.

Es war toll gewesen mit Tims Familie und Hades an der Ostsee.

Sein Vater hatte sich lange gesträubt. Bis Tims Mutter ihm auf den Kopf zugesagt hatte, er solle seinen blöden Stolz an den Nagel hängen. Er könne schließlich nichts für seine lange Arbeitslosigkeit. Das Ferienhaus wäre für sieben Leute angelegt und sie müssten das Haus bezahlen. So oder so, ob er nun mitkäme oder nicht. Seinem Sohn die Ferien verderben, indem er in Posdorf hocken blieb den ganzen Sommer lang, würde er doch nicht wollen, oder? Sommer, Sonne und See genießen, hieß die Devise. Also los!

Da wurden schließlich die Reisetaschen gepackt und ab ging’s in den Stau der Autobahn, an dessen Ende zwei wunderbare Wochen mit Baden, Grillen und Sonnenbad warteten.

Hades flitzte den Möwen hinterher, dass die Wellen nur so spritzten. Täglich aufs Neue, obwohl er natürlich keine fangen konnte. Wie ein Verrückter buddelte er im Sand, bis eine kleine Seepfütze heraufstieg und ihm die Nase umspülte. War das geschafft, schnappte er nach der salzigen Suppe und kläffte sie, die Vorderbeine durchgedrückt, den Hintern hochgereckt, an. Doch obwohl sich das Wasser vorher so beweglich gezeigt hatte, kam es nicht heraus aus seinem Minibett, um mit ihm zu spielen. Da kreiselte er schließlich um seine eigene Achse und preschte davon zu neuem Spiel.

Sogar der Vater musste über diese tollkühnen Sprünge lachen. So wie früher schwamm und tauchte er mit Felix um die Wette und sah braun und gesund aus, wie schon lange nicht.

Nur diese Beate passte Felix nicht, passte ihm ganz und gar nicht. Das hätte noch gefehlt, dass die hier in Posdorf aufkreuzte! Dass Papa sich mit ihr im Urlaub amüsiert hatte, war okay. Schließlich war sein Vater noch nicht alt. Na ja, für Felix war er alt. Aber sooo alt eben doch nicht. Sollte er ruhig eine Freundin haben, aber keine, die eine neue Mutter mimte! Nein, nur das nicht!

Nun waren sie gerade zu Hause eingetroffen und wollten eigentlich nur mit dem Hund eine Runde drehen, damit der sich nach der langen Autofahrt ein bisschen austoben konnte.

Und schon hatte die erste schlechte Nachricht sie eingeholt.

*

Hugo

Julius Schwarzbach, von allen Schwarzer Julius genannt, pfiff vergnügt und feixte sich eins. Die Überraschung war ihm geglückt. Ein Gesicht hatte die kleine Ratte gezogen, als wäre ein Gespenst aufgetaucht. Sie hatte Schiss und das freute ihn, freute ihn ungemein. Dabei hatte er gar nicht vor, etwas gegen sie zu unternehmen, noch nicht. Irgendwann, wenn niemand ihn mehr verdächtigen würde, wenn Gras über die Sache gewachsen schien, würde man sehen. Während er über den Acker davonschritt, musste er daran denken, was im Winter alles geschehen war.

Janne hatte ihm in der Silvesternacht gründlich den Spaß verdorben, zu gründlich! Dabei war mit seinen Freunden Fred Schädlich und Maik Kanix alles so toll vorbereitet worden. Dieser Stiftung zu Wiederansiedlung des Wolfes wollten sie gründlich eins auswischen. Die sollten ihre Viecher sonst wo ansiedeln, aber nicht hier in der Nähe ihres Heimatortes Posdorf.

Am PC hatte er sich in deren Dienstpläne eingeloggt und herausgefunden, dass der Elektro-Sicherheitszaun des Wolfsgeheges zu Silvester gegen Mitternacht für zwei Stunden abgeschaltet wurde. Also hatten sie eines der Zaunfelder ausgehoben und die Wölfe mit Silvesterraketen auf die Lücke zugetrieben.

Wie diese Janne und ihre Freunde Wind von der Sache bekommen hatten, konnte er sich bis heute nicht erklären. Ein benzingetränktes Seil hatten sie in die Zaunlücke gelegt und angezündet. Das hielt die Wölfe vom Ausbrechen ab. Dummerweise wurde Janne dabei ertappt und von der Stiftung angezeigt. Nur sie allein. Auch das konnte er bis heute nicht verstehen. Es war einfach unmöglich, dass sie ohne Hilfe gearbeitet hatte.

Ein gewisser Kriminalkommissar Brieger hatte die Ermittlungen geleitet und Jannes Unschuld festgestellt. Stattdessen hatte er ihn und seine Freunde festgenommen. Drei Monate hatte er gesessen deswegen. Oh, er hätte noch eine weit höhere Strafe absitzen müssen, wenn Janne ihn außerdem wegen Freiheitsberaubung angezeigt hätte. Aber über die Sache im Wald hatte sie geschwiegen – geschwiegen wie die alten Schützengräben.

Warum?

Sie wollte ihre Freunde schützen. Klarer Fall! Also kein Grund für ihn, die kleine Ratte zu verschonen.

Bis heute wusste niemand im Dorf, wer alles mit ihr unter einer Decke steckte. Auch wer den von einigen Dorfbewohnern ins Naturschutzgebiet gekippten Müll fein säuberlich aufgesammelt und in der Silvesternacht vor das Gemeindehaus geschüttet hatte, wusste niemand. Er würde das alles herausfinden. Irgendwann würde diese Janne ihm alles haargenau erzählen, würde die Namen ihrer Freunde ausspucken. Und wenn er sie ihr aus dem Hals ziehen müsste.

Allerdings war da noch etwas, was ihm seit der wilden Hatz durch den Eisregen jener Nacht im Wald Albträume bescherte. Schweißgebadet fuhr er dann aus dem Schlaf, vor seinem Auge den knochigen Schädel, der ihn durch leere Augenhöhlen anglotzte und mit frei liegenden, ungleichmäßigen Zähnen angrinste. Sie waren von einem der Freunde Jannes in jener Nacht fotografiert worden und hatten ihn deshalb quer durch den eisigen Winterwald verfolgt.

Das Mädchen dagegen war verschwunden. Unerklärlich! Der Junge schien nach einer unendlich erscheinenden Verfolgungsjagd plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Sicher, ihn in einem der alten Schützengräben in die Enge getrieben zu haben, hatten sie mit der Taschenlampe in eine Erdspalte geleuchtet. Doch anstelle des erwarteten Jungen stand da ein Gerippe.

Sein Freund Fred grinste später beim Bier: „Ist dir wohl peinlich, dass du vor einem Gerippe erschrocken warst? Musst du dir keine Birne machen! Ging mir doch genau so!“

Julius musste sich bemühen, verständnisinnig zurückzugrinsen.

Fred, Maik und er waren unzertrennlich, hatten manches Ding gedreht und waren nie erwischt worden. Bis diese Janne hier auftauchte mit ihren Freunden. Seitdem war alles schiefgelaufen. Doch das würde sich ändern, so wahr er der Schwarze Julius hieß.

Vorerst hieß es allerdings schön brav alle Bewährungsauflagen erfüllen. Außerdem hatte er im Moment Wichtigeres vor, als sich an ihr zu rächen. Er rieb sich die Hände. Wenn das klappen würde, gäbe es richtig viel Kohle.

Interessante Leute hatte er kennengelernt im Knast. Hugo zum Beispiel! Der würde ihn heute besuchen. Der war schon einen Monat draußen und hatte nur darauf gewartet, dass auch er endlich rauskäme. Als der hörte, wo Julius zu Hause war, nämlich direkt neben einem riesigen Naturschutzgebiet und ehemaligen Militärgelände, hatte er ihn interessiert gemustert und gefragt, ob dort viele Raubvögel zu sehen wären.

„Sicher“, hatte Julius geantwortet, „jedenfalls jammern die Hühnerbesitzer ganz schön. Die Habichte sind schnell dabei, sich auch mal am Federvieh zu bedienen.“

Hugo hatte sein fettes Lachen gelacht und gemeint, dass diese Leute bestimmt froh wären, wenn es ein paar der gefiederten Räuber weniger gäbe. Julius hatte nichts geantwortet, sondern nur zustimmend gelächelt. Er wusste, worauf Hugo Bayerlein hinauswollte.

Jeder im Gefängnis wusste, dass der kugelrunde Hugo, der so gemütlich aussah, seltene Tiere aus Afrika nach Deutschland geschmuggelt hatte, bis ihn der Zoll erwischte. Das war also vorbei für ihn. Doch Hugo lächelte nur still in sich hinein. Es gab noch andere Möglichkeiten für einen findigen Kerl wie ihn. Und es gab immer wieder Leute, Leute mit viel Geld, die seine Dienste zu schätzen wussten. Kein Zoll würde ihn behelligen, wenn er denen zu einem Objekt ihrer Begierde verhalf. Allerdings konnte er das nicht bei sich zu Hause machen. Dazu war er dort zu bekannt.

Im Osten Deutschlands, wo riesige Flächen Weideland und Felder brachlagen, wo Heide, Sand und Moor die Landschaft prägten, kreisten sie in elegantem Flug. Sie hatten so scharfe Augen, dass sie aus hundert Metern Höhe eine Maus huschen sahen und besaßen messerscharfe Krallen. Bestimmt wäre da niemand, dem es auffallen würde, tummelte sich ein Greifvogel weniger am Himmel.

Einen ungeduldigen Blick nach dem anderen warf der Schwarze Julius aufs Zifferblatt seiner Uhr. Wo der Dicke bloß blieb? Vor einer Stunde hatte er angerufen und sein Kommen angekündigt.

Na endlich!

Ein schwarzer Mercedes hielt vor dem Gartentor. Gemütlich stieg Hugo Bayerlein aus seinem Wagen. Julius ging ihm durch seinen Garten mit den riesigen, Schatten spendenden Fichten entgegen.

„Alle Wetter! Du bist ja kaum wiederzuerkennen!“

Hugo trug einen eleganten hellgrauen Sommeranzug. Trotz der Hitze und der dicken Schweißperlen, die ihm in den fetten Nacken kullerten, kaum, dass er einen Fuß aus dem klimatisierten Wagen gesetzt hatte, behielt er das Sakko an. Seine Hemdbrust stand ein wenig offen, ließ ein paar Haare und eine dicke goldene Kette sehen. Zur Begrüßung klopfte er dem Schwarzen Julius mit seiner kleinen, fleischigen Pranke kumpelhaft gegen den Oberarm, bevor er ihm die Hand reichte. Eine Rolex schaute aus dem zurückgleitenden Ärmel des Sakkos. Er schob die Sonnenbrille über die feuchte Stirn und lächelte Julius an.

„Mann, ist das eine Affenhitze! Ich hoffe, du hast ein schönes, kühles Bier im Haus.“

„Na klar, komm rein! Oder wollen wir uns lieber in den Garten unter den Apfelbaum setzen? Da ist es kühl und gemütlich.“

„Mach, wie du meinst! Hauptsache, ich krieg was zu trinken.“

Julius lachte. Erfreut, Hugo endlich bei sich zu haben, geleitete er seinen Gast zu einem kleinen Tisch mit vier Gartenstühlen.

„Erwartest du noch jemanden?“ Hugo klang ein wenig misstrauisch. „Ich dachte, wir besprechen die Angelegenheit unter uns.“

Beruhigend legte Julius ihm die Hand auf die Schulter „Keine Bange! Meine Kumpel sind verschwiegen und treu wie Gold. Außerdem brauchen wir sie sowieso für deine Aktionen.“

Hugo schwieg. Ihm war anzusehen, dass ihm Mitwisser nicht behagten. Seufzend ließ er sich in einen der Kunststoffsessel mit den bunten Kissen fallen. Der Schwarze Julius verließ seinen Gast, um Bier aus dem Keller zu holen und seinen Freunden mitzuteilen, dass sie sich einfinden sollten.

*

Ein interessanter Besucher

Tim trommelte mit den Fingern auf dem Fensterbrett seines Zimmers den Rhythmus eines Hits. Janne gegenüber hatte er gelassen getan. Dabei ließ auch ihn das Auftauchen des Schwarzen Julius keineswegs kalt. Nun hieß es wieder aufpassen, wann und wo er sich mit seinen Freunden sehen ließ. Noch hatten Julius und seine Kumpane keine Ahnung, wer alles dazugehörte, die ihm im vergangenen Winter die Tour mit den Wölfen vermasselt hatten.

Zugegeben, dass sie einen großen Berg Müll in der Silvesternacht vor das Gemeindehaus gekippt hatten, war ein bisschen weit gegangen. Aber weil das schöne Bild zwei Tage später in der Lokalpresse erschien, musste der Bürgermeister sich nun endlich darum kümmern, dass die illegale Müllentsorgung im Naturschutzgebiet aufhörte. Das wurde auch Zeit nach so vielen Jahren!

Ihr heimlicher Treffpunkt, der alte Bunker, hatte damit ausgedient. Tim seufzte ein bisschen wehmütig. Den Bunker gab es nicht mehr. Kommissar Brieger hatte dafür gesorgt, ihn in einen schwarzen, rauchenden Krater zu verwandeln. Gerne hätte Tim Ines einmal heimlich dorthin entführt und geküsst. Bestimmt würde ihr das gefallen, so ein bisschen wilde Romantik. Ach ja, Ines! In zwei Tagen würde auch sie wieder zu Hause sein. Hoffentlich liebte sie ihn noch und hatte sich keinen Tiroler zugelegt in den Bergen, in denen sie mit ihren Eltern wandern ging.

Tim hörte auf zu trommeln und wickelte sich in Gedanken eine rotblonde Strähne seiner Freundin um den Zeigefinger. Dabei starrte er nachdenklich vom Fenster seines Zimmers auf das kleine Nachbarhaus. Dort drüben wohnte er, der Schwarze Julius. Sein Garten lag direkt neben seinem. Und er hielt Tim noch immer für einen Kumpel, den man um Rat fragen konnte, wenn mal mit dem Computer etwas nicht klappte. Nicht die geringste Ahnung hatte Julius davon, dass Tim der Junge war, den er durch den Wald gejagt hatte bis zur Erschöpfung. Keinen blassen Dunst davon, dass er, Tim, schweißgebadet an der eiskalten Wand des Schützengrabens neben dem Gerippe gelehnt hatte, nachdem er den Toten so vor der Öffnung platziert hatte, dass der Taschenlampenstrahl direkt darauf fallen und Julius davor zurückschrecken musste. Tim schüttelte diese Erinnerungen ab. Ob Julius schon einen neuen PC hatte? Seinen alten hatte die Kripo damals als wichtigstes Beweisstück konfisziert.

Noch heute lief Tim ein Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte, wie er sich in das Häuschen eingeschlichen hatte, während Julius unter der Dusche vergnügt ein Liedchen pfiff. Unter der Kellertreppe hatte er gewartet, bis sein Nachbar das Haus verließ, um zur Weihnachtsdisco zu gehen. Einfach einschließen hatte er sich lassen. Im Wohnzimmer probierte er so lange am PC herum, bis er sich einloggen und die Pläne der Bande herausfinden konnte. Dabei wurde er immer unvorsichtiger und – peng – wäre beinahe erwischt worden.

Bestimmt war es nur noch eine Frage der Zeit und Julius würde wissen, dass er das damals gewesen sein musste, der ihm auf die Schliche gekommen war. Denn Tims bester Freund war Felix. Der hatte Hades behalten dürfen, als Schluss war mit ihrem Versteck im Wald. Hades, den schwarzen Hund, den Maik Kanix mit der Wäscheleine fast erwürgt und in den Wald geschmissen hatte zusammen mit einem Haufen Müll. Der würde den Hund irgendwann erkennen, hundertpro! Denn schließlich war Hades einmal auf seinem Hof gewesen. Von Hades führte also die Spur zu Felix, von Felix zu ihm. Von Hades führte sie aber auch zu Janne und Tobias. Die beiden hatten den Hund damals gefunden und sich blöderweise von Maik erwischen lassen. Von den beiden führte die Spur zu Max. Mit anderen Worten, sie saßen in der Tinte, alle fünf.

Tim hatte, während er darüber nachdachte, an allen Fingern der rechten Hand das Dilemma abgezählt. Oder hatten sie vielleicht Glück? Schließlich war der Hund nicht wiederzuerkennen, so gesund, fröhlich und gehorsam wie er jetzt war. Nicht zu vergleichen mit dem todkranken, struppigen Gerippe von damals.

Aber blöd war der Julius Schwarzbach nicht. Also war es doch nur eine Frage der Zeit?

Während Tim die Situation überdachte und dabei nachdenklich in den Nachbargarten starrte, konnte ihm unmöglich der schwarze Mercedes entgehen, aus dem ein kleiner Dicker ausstieg.

Aha! Der Julius bekam Besuch. Tim beobachtete, wie freudig Julius Schwarzbach ihn empfing.

Als sich kurze Zeit später auch Fred Schädlich und Maik Kanix einstellten, wurde Tims Neugier grenzenlos. „Sieh an“, dachte er, „die ganze Bande sitzt da beisammen unter dem Apfelbaum, dessen kleine grüne Früchte durch das Laub in der Sonne schimmern. Fehlen bloß noch Kuchen und Kaffee auf dem Tisch, dann wäre das Idyll perfekt. Stattdessen labt sich der Dicke an einem Bier und sieht dabei recht gemütlich aus. Aber das will nichts heißen.“ Tim musterte die Versammlung, während er fieberhaft überlegte, wie er näher herankommen könnte, um zu verstehen, was geredet wurde.

„Woher mochte Julius den wohl kennen, den Dicken? Bestimmt aus dem Knast, denn vorher war der noch nie hier, jedenfalls nicht, dass ich wüsste“, ging es ihm weiter durch den Kopf. Tim sauste die Treppe hinunter und umstrich das Nachbargrundstück wie ein verliebter Kater. Aber kein Sterbenswörtchen von dem, was unter dem Apfelbaum gesprochen wurde, drang an sein Ohr. Er schnurrte um den Mercedes und blickte durch die getönten Seitenfenster.

„Mein lieber Scholli! War das ein Wägelchen der S-Klasse!“ Fast hätte Tim vergessen, was er eigentlich vorhatte. Aber das war sinnlos. Er hätte hineinspazieren müssen mitten in die Versammlung. „Hallo, da bin ich! Verratet ihr mir, was ihr als Nächstes plant?“ Er musste grienen. Dabei studierte er das Nummernschild des Autos und prägte es sich ein.

„Toller Schlitten, was?“ Julius haute Tim auf die Schulter. Der hatte sie kommen hören, aber so getan, als interessiere er sich ausschließlich für den Pkw.

„Das kannst du laut sagen! Gehört der Ihnen?“, wandte sich Tim an den kleinen Dicken, der schon wieder schwitzte. Dabei musste er, was die Begeisterung für das Auto betraf, nicht einmal heucheln.

Hugo gab gelassen Auskunft über Leistung, Ausstattung, Verbrauch und Spitzengeschwindigkeit. Dabei zwängte er sich an Tim vorbei, um bloß aus dieser Affenhitze herauszukommen und die Klimaanlage einzuschalten. Grüßend hob er die Hand, knallte die Tür zu und verschwand, alle vier in einer Staubwolke zurücklassend.

*

Die beste Freundin

„Wo willst du denn schon wieder hin?“ Jannes große Schwester Tanja zog ein mürrisches Gesicht. „Wir sollen noch Kirschen pflücken, schon vergessen?“

„Dieses eine Körbchen voll schaffst du auch ohne mich. Erdbeeren habe ich heute schon geerntet. Da hast du noch geschlafen. Ines kommt in zehn Minuten mit dem Regionalzug aus dem Urlaub zurück. Ich habe versprochen, sie abzuholen. Ihre Eltern haben sich schon in Berlin von ihr verabschiedet, weil sie gleich die nächste Dienstreise antreten. Und für ihre Oma ist es zu weit zum Bahnhof.“

„Nimm wenigstens den Hund mit. Dann hat Kira ihren Spaziergang absolviert.“

Janne gab keine Antwort, schnappte sich die Hundeleine und machte, dass sie wegkam. Tanja konnte in der Verteilung von Arbeit äußerst großzügig sein. Da war es besser, wortlos zu verschwinden.

Kira freute sich, als ihr Frauchen den Weg zum Bahnhof einschlug. Als nur Ines aus dem Zug stieg, war sie enttäuscht. Sie hatte geglaubt, dass Janne ihre Oma abholen würde, die in ihrer schwarzen Handtasche immer ein Leckerchen für sie mitbrachte. Kein Verlass war auf diese Menschen!

Janne und Ines fielen sich in die Arme, als hätten sie sich ein halbes Jahr nicht gesehen. Dann machten sie sich lachend und schwatzend auf den Weg. Die Sonne schien auf Ines rotblonden Lockenschopf, die Schläfenkringel wehten im warmen Wind.

„Hast du Tim schon gesehen? Er hat mir vorhin eine Nachricht geschickt, dass er zu Hause ist und auf mich wartet.“

„Vorgestern hab ich ihn gemeinsam mit Felix getroffen. Aber heute gehörst du mir“, lachte Janne. „Wir bringen deine Tasche nach Hause und dann kommst du mit zu uns. Es gibt Erdbeertorte.“

„Janne, das geht nicht. Ich kann nicht einfach meine Klamotten abladen und wieder verschwinden. Meine Oma hat ebenfalls einen Kuchen gebacken und erwartet, dass ich ihr vom Urlaub erzähle.“

„Tja, da ist nichts zu machen.“ Janne hatte Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ines guckte ihre Freundin von der Seite an. Gesund und leicht gebräunt sah diese aus. Wie krank und dünn hatte sie vor den Ferien ausgesehen nach all dieser Aufregung wegen des Attentats auf das Wolfsrevier.

Ines wurde nicht braun trotz des heißen, trockenen Sommers, sondern bekam eine lustige Horde Sommersprossen zusätzlich. Wie sollte sie Janne klarmachen, dass sie sich auch am Abend nicht treffen würden. Sie war mit Tim verabredet, nur mit ihm allein.

„Janne, wir könnten morgen baden fahren. Was meinst du?“

„Super! Das machen wir. Bestimmt kommen Felix und Tim mit.“ Janne lächelte froh.

Vor dem Reihenhaus, in dem Ines und ihre Oma wohnten, verabschiedeten sich die Mädchen. Janne winkte noch einmal kurz und rannte dann mit Kira über das Feld davon. Hätte sie sich umgeschaut, wäre ihr die Gestalt am Fenster des alten Bauernhauses, das vor der Neubaureihe stand, aufgefallen.

Maik Kanix stand rauchend dort und blickte Janne böse hinterher. Auch er hatte nicht vergessen, dass sie ihn im Winter ausgetrickst hatte. Seit dieser Zeit traute sich niemand mehr, seinen Müll im Naturschutzgebiet abzuladen. Janne und ihre Freunde hatten dafür gesorgt, dass jeder im Dorf wusste, wer zu den Umweltschweinen gehört hatte. Das hatte eine saftige Ordnungsstrafe gehagelt. Außerdem mussten sein Großvater und er den Ziegenbock, der einsam in ihrem Stall dahinvegetiert hatte, abgeben. Dafür hatte dieser Kommissar Brieger ebenfalls gesorgt. Na gut, das war nicht schlimm. Er hatte sowieso keine Lust gehabt auf die Stallarbeit. Nur seine Wut konnte er jetzt nicht mehr an einem Tier auslassen.

Maik schnipste die Zigarettenkippe aus dem Fenster und reckte sich. Erfreut erinnerte er sich an das Zusammentreffen mit dem dicken Hugo bei Julius. Für jeden hundert Euro, wenn sie ihm einen jungen Milan besorgten. Na, das würden sie schon herausfinden, wo das Paar brütete. Ein Junges aus dem Nest zu rauben, dürfte eine Kleinigkeit sein.

Bevor Janne den Feldrain erreichte, schaute sie doch noch kurz zurück. Wenn sie einen Menschen wirklich hasste, dann Maik Kanix, diesen Tierquäler. Seltsamerweise empfand sie keine Furcht mehr vor ihm. Sie hielt ihn mittlerweile für dumm und feige. Im Verein mit dem Schwarzen Julius aber wurde er wieder gefährlich. Das wusste sie nur allzu gut. „Pah“, sagte Janne zu sich selbst, „ihr werdet mir nicht die letzten Ferientage vermiesen!“ Morgen würde sie mit ihren Freunden einen tollen Tag am Baggersee verbringen. Zwar wäre es den Eltern lieber, wenn sie ins öffentliche Schwimmbad nach Brieselang fahren würden.

Sie hörte schon die Stimme ihres Vaters: „Bei aufziehendem Gewitter sofort raus aus dem Wasser, nicht mit vollem Magen rein ins Wasser, wenn die Lippen blau werden, raus aus dem Wasser …“

Ja, ja, ja. Raus aus dem Wasser, rein ins Wasser… Der Baggersee war nun einmal cooler als das Schwimmbad und nicht so voll. Eintritt brauchte auch niemand zu zahlen, auf Wasserrutsche und Sprungturm konnten sie verzichten. Sie würden Wasserball und Volleyball spielen bis zum Umfallen, ohne sich laufend bei irgendjemandem entschuldigen zu müssen, weil der Ball wieder einmal auf einer fremden Decke gelandet war. Außerdem schwammen sie alle wie die Hechte. Da brauchte es keinen Rettungsschwimmer zu geben.

Das Glück war wieder bei Janne angekommen, die Angst wie weggeblasen.

Die Milane zogen ihre Kreise höher und höher über dem Acker ohne einen einzigen Flügelschlag, nutzten die Thermik zum Auftrieb, schwebten scheinbar schwerelos am blauen Himmel dahin. Was für ein wundervolles Bild der Eleganz und Leichtigkeit!

Maik Kanix hatte inzwischen einen Feldstecher angesetzt und starrte erst Janne hinterher und dann auf die Vögel. Allerdings regte sich kein einziges Gefühl der Bewunderung für die eleganten Flieger.

„Los, ihr Viecher“, zischte er leise, „zeigt mir, wohin die Reise geht, wo ihr euren verdammten Horst habt!“

Hundert Euro! Das war das Einzige, woran er zu denken vermochte. Schließlich entdeckte er, dass das Milan-Männchen im Sturzflug hinabschoss. „Na also, wohin bringst du das Mäuschen? Zeig’s dem guten Onkel Maik!“ Krampfhaft umklammerte er das Fernglas, bemüht, den Raubvogel nicht aus den Augen zu verlieren. Der verschwand hinter dem Wald. Einen Fluch unterdrückend, setzte Maik Kanix das Glas ab. Zwar wusste er nun, in welcher Richtung sich der Horst etwa befinden musste. Aber das konnte kilometerweit fort sein. Sie würden vielleicht stundenlang unterwegs sein müssen. Aber für hundert Euro war es das wert.

Möglicherweise befanden sich sogar mehrere Junge im Nest? Das konnte also zweihundert oder gar dreihundert Euro bedeuten. Anstelle der Vögel sah er Geldscheine am Himmel fliegen. Seine Laune wurde besser.

*

Wildpferde in der Heide

„Da seid ihr ja, meine beiden Lieben.“ Jannes Mutter strich Kira über den Kopf und drückte Janne an sich. „Ist Ines gut angekommen? Ich dachte, du würdest sie mitbringen zum Erdbeertortenessen?“

„Ines kann nicht gleich ihre Oma wieder verlassen, kaum dass sie da ist.“

„Da hat sie recht.“ Mit diesen Worten stellte Corinna Zeisig die Torte auf den gedeckten Tisch und rief laut: „Kaffee!“

Nacheinander trudelten alle ein: Jannes Vater, Tanja und ihr Freund Jens. Janne kam zum Schluss, weil sie sich noch die Hände waschen musste. Kira zwängte sich schnell an ihr vorbei und streckte sich lang unter dem Tisch aus. Nicht, dass sie betteln würde. Niemals! Aber man konnte nie wissen, ob nicht doch ein Klecks Sahne abfallen würde. Außerdem konnte man so herrlich schnarchen unter dem Tisch, während sich die Menschen lebhaft unterhielten.

„Wisst ihr, weshalb der gesamte Ginster in der Heide abgemäht wurde und die Schützengräben zugeschoben sind?“ Jannes Mutter hatte jedem ein Stück Torte auf den Teller geschoben und langte nach der Sahneschüssel. Das weiße Kaffeegeschirr hob sich elegant von der dunkelroten Tischdecke ab, ein Geschenk ihrer Cousine, die Porzellanmalerin gewesen war, bis sie zu den Arbeiterinnen der Meißener Porzellanfabrik gehörte, die entlassen wurden. Jannes Mutter würde nie verstehen, wieso erfahrene Facharbeiter einfach auf der Straße landen konnten.

„Na, warum?“ Jannes Vater hatte mit einem einzigen Gabelbissen einen ordentlichen Happen Erdbeertorte in seinen Mund geschaufelt.

„Wir haben jetzt eine kleine Herde Wildpferde dort, also beinahe vor unserer Nase. Dafür musste das Terrain umgestaltet werden.“

„Das ist doch nichts Neues. Die Stiftung hatte doch schon immer Wildpferde.“

„Diese Rasse ist neu hier. Sie gehört auch nicht der Stiftung, sondern dem Naturschutzverein Sonnige Heide und trägt den Namen Sorraia.“

„Klingt hübsch. Aber wieso musste dazu die Heide planiert und der Ginster so gnadenlos abrasiert werden?“ Tanja guckte ihre Mutter fragend an und legte ihrem Freund und sich noch eines der leckeren Tortenstücke auf den Teller.

„Die Tiere stammen ursprünglich aus Portugal. Mit Hitze und Trockenheit kommen sie gut zurecht. Sie brauchen eine Art Steppenlandschaft, um sich wohlfühlen zu können.“

„Was bezweckt man denn mit den Pferden, Mama? Außer, dass sie zur Landschaftspflege benutzt werden, damit nicht alles von Büschen zuwächst.“

Janne hatte gebannt zugehört und dabei vergessen, weiterzuessen. Sie liebte Pferde und hätte gerne eines besessen. Aber das war leider unmöglich. Der Hund stattdessen war aber auch okay.

„Die Sorraias sind äußerst selten geworden. Damit sie nicht völlig verschwinden, hat eine Gruppe Pferdenarren beschlossen, ein Zuchterhaltungsprogramm zu starten, an dem sich der Naturschutzverein beteiligt. Begonnen wird hier mit einer Herde von einem Hengst und vier Stuten, von denen eine bereits ein Fohlen hat.“

„Die letzten beiden Sommer waren extrem heiß und trocken. Reicht denn das Gras für die Pferde aus?“ Jens legte seine Kuchengabel auf den leeren Teller und schüttelte den Kopf, als Frau Zeisig auf die Torte deutete. Ein drittes Stück wäre eindeutig zu viel.

„Das ist tatsächlich ein Problem gewesen im letzten Winter. Der Verein musste Heu dazukaufen. Das war teurer als gedacht. Deshalb wurde ein interessanter Artikel in der Potsdamer Presse veröffentlicht. Wer das Zuchtprogramm unterstützen möchte, kann Wildpferdpate werden. Dazu spendet er einen bestimmten Betrag für ein Patenpferd.“

„Oh, cool, Mama, das könnten wir doch auch machen!“ Janne zappelte auf ihrem Stuhl herum und Kira hob neugierig ihren Kopf.

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht.“

Jannes Vater schüttelte den Kopf. „Ich bin da anderer Meinung. Die bekommen doch Unterstützung vom Land.“

Aber Janne war schon aufgesprungen und umarmte ihre Mutter. „Wir werden Wildpferdpate, ja?“

„Wir?“, fragte Tanja spöttisch. „Ich wusste gar nicht, dass du schon Geld verdienst.“

Aber die Mutter hatte genauso leuchtende Augen wie Janne, streichelte dieser übers Haar und sagte: „Ja, Janne, wir werden Wildpferdpate.“

*

Der Wald brennt

Janne musste nachdenken. Bald würden auch Max und Tobias wieder zu Hause sein und sie wusste noch immer nicht, wie sie sich verhalten sollte. Dabei lag zwischen dem Geschehen, das ihrer Freundschaft zu Tobias einen klaffenden Riss beschert hatte, mehr als ein halbes Jahr. Dennoch hatte diese Zeit nicht gereicht, die Wunde zu schließen.

Tobias war mehr für sie gewesen als nur ein Freund. Aber ausgerechnet er hatte nicht zu ihr gehalten, als es brenzlig für sie wurde. Alle hatten zu ihr gestanden, vor allem Max. Alle hatten für sie ausgesagt. Weil sie auch alle gemeinsam dafür gesorgt hatten, dass der Schwarze Julius und seine Bande die Wölfe aus ihrem Territorium nicht hinaustreiben konnten. Aber nur Janne war angezeigt worden. Ausgerechnet sie, die Tiere liebte und nie und nimmer etwas getan hätte, um den Wölfen zu schaden.

Mit einem Stock peitschte Janne die schulterhohen Brennnesseln am Wegesrand. Ausgerechnet Tobias’ bester Freund Max hatte sie von allen am meisten unterstützt und ihr auch in der Schule geholfen, weil sie anfangs nach dem ganzen Stress keinen klaren Gedanken hatte fassen können. Nichts war so geblieben, wie Janne es geliebt hatte. Tobias hatte sie und die Gruppe im Stich gelassen. Und seitdem waren auch er und Max nicht mehr die dicksten Freunde. Vielleicht war ja in den sechs Ferienwochen, in denen sie sich kaum gesehen hatten, Gras über die Geschichte gewachsen? Vielleicht konnten sie alle wieder von Neuem beginnen?

Janne bummelte durch den ausgefahrenen Hohlweg des kleinen Wäldchens. Die Luft stand. Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet und das schon das zweite Jahr in Folge. Zwar boten die Eichen und Kiefern hier etwas Schatten, aber dennoch war die Hitze unerträglich. Die Bäume sahen krank und staubig aus.

Am Ende des Weges gelangte Janne zu den Viehkoppeln. Die Rinder waren fort, in den niedriger gelegenen Teil der Weiden getrieben worden, dorthin, wo noch Wasser in den Gräben stand und das Gras saftig geblieben war. Hier oben waren die Weiden gelb und fahl.

Janne traute ihren Augen nicht. Die hübschen, grauen Konik-Ponys, die zuvor in der Nähe des Dorfes geweidet hatten, bevor das Terrain für die Sorraias umgestaltet worden war, standen hier oben am Wald.

Janne hatte die Pferdchen vermisst und wusste nicht recht, ob sie Verständnis dafür aufbringen wollte, dass sie ihren berühmteren Artgenossen offensichtlich hatten weichen müssen. Hier oben war doch wirklich alles vertrocknet! Aber die Pferde sahen glatt und wohl genährt aus. Offensichtlich wurden sie regelmäßig umgesetzt. Vermutlich warteten sie jetzt darauf, wieder auf eine der Weiden geführt zu werden, die noch nicht abgegrast war. Deshalb standen alle gemeinsam zwischen den struppigen Ginsterbüschen in der Nähe ihrer gut gefüllten Tränke und wedelten träge mit den Schweifen die Fliegen fort.

Janne trat an das Gatter und rief leise: „Sternchen!“

Als sich keines der Tiere rührte, rief sie noch einmal. Die Pferde hatten die Köpfe gehoben und betrachteten sie neugierig. Aber diese halb wilden Ponys reagierten nicht auf ihre Ansprache. Janne wollte sich schon abwenden, als sich aus der Herde langsam eines der Tiere löste und auf sie zutrottete.

„Sternchen“, flüsterte Janne, „kennst du mich noch? Ich habe aber heute keine Möhren dabei, tut mir leid.“

Nie und nimmer hatte sie damit gerechnet, die Pferde hier vorzufinden, und schon gar nicht Sternchen. Sie hatte keine Ahnung, wie der Wallach wirklich hieß. Sie hatte ihm einfach diesen Namen verliehen, weil er als Einziger einen weißen Stirnfleck trug und zutraulicher war als der Rest der Herde.

Janne blickte sich um, ob sie nicht doch etwas Grünes für ihn finden konnte. Am Fuße des Jägerhochstandes hinter ihr wuchsen noch etwas Sauerampfer und Spitzwegerich. Rasch pflückte sie die Pflanzen und hielt sie dem Pferd hin. Sternchen riss ihr die mickrigen Pflanzen aus der Hand und steckte dann seinen Kopf über das Tor der Weide, was wohl so viel wie mehr bedeuten sollte. Janne seufzte und versuchte, weitere Pflänzchen zu ernten.

Inzwischen waren noch zwei Ponys ans Gatter getreten, um ein paar Hälmchen zu ergattern. Enttäuscht wandten sie sich wieder ab. Nur Sternchen blieb bei Janne stehen und schaute sie aus seinen schönen braunen Augen an. Vorsichtig streichelte Janne die weichen Nüstern. Das Pferd schnaubte und hob den Kopf immer höher, um an Jannes Hand zu gelangen. Janne lachte und kitzelte Sternchens Oberlippe. Der schüttelte den Kopf mit der grau-weißen Mähne und wandte sich zum Gehen. Ein Mensch ohne Futter war kein interessanter Mensch, auch wenn er so sympathisch war wie dieses Mädchen mit der leisen, freundlichen Stimme.

Plötzlich erstarrte das Pferd in der Bewegung, hob den Kopf, spitzte die Ohren und blähte die Nüstern. Auch in die anderen Tiere war Bewegung gekommen. Alle hatten die Köpfe gehoben und blickten unruhig in eine Richtung. Vielleicht kam ja ihr Pferdewirt mit seinem Jeep?

Niemand näherte sich. Die Tiere wurden immer unruhiger und jetzt wurde Janne ebenfalls aufmerksam. Ein leichter Wind war aufgekommen. Aber er brachte keine Abkühlung, sondern einen Geruch, den Janne von den abendlichen Feuerschalen ihrer Familie und denen der Nachbarn mit ihren lodernden Holzscheiten gut kannte.

Nur hier hatte er nichts mit Romantik und Gemütlichkeit zu tun. Hier gehörte er nicht her, auf keinen Fall. Und Janne gehörte hier ebenfalls nicht her. Denn sie hatte den Wald betreten, obwohl die höchste Waldbrandwarnstufe herrschte.

Die Pferde begannen, sich ängstlich zusammenzudrängen. Jannes Gedanken rasten. Die Tiere mussten von dieser Weide herunter! Aber wie? Die elektrischen Weidedrähte waren zu hoch, als dass sie gefahrlos darüber hinwegsetzen konnten. Janne blickte auf das große Tor. Das musste sie irgendwie aufbekommen. Ein stabiles Vorhängeschloss sicherte es. Sie versuchte, einen Stock dazwischenzuschieben, um es aufzubrechen. Der Stock zersplitterte. Sie fand einen Stein und drosch damit auf das Schloss, aber das gab nicht einen Millimeter nach. Janne lief der Schweiß in Strömen und brannte in den Augen. Der brenzlige Gestank nahm immer mehr zu.

In ihrem blinden Eifer hörte sie das Motorrad nicht kommen. Erschrocken fuhr sie herum, als es hinter ihr bremste und eine bekannte Stimme sagte: „Los, steig auf!“

Entsetzt wich Janne zurück, bis sie mit dem Rücken gegen das Tor stieß. Stumm schüttelte sie den Kopf. Um nichts in der Welt würde sie mit dem mitfahren!

Der Schwarze Julius bockte die Maschine auf und kam auf sie zu. „Du glaubst doch nicht, dass ich dich jetzt hierlasse? Riechst du das? In zehn Minuten brennt hier alles lichterloh. Komm, steig auf! Ich tu dir nichts.“ Er betrachtete den großen Stein in Jannes Händen und ließ dann den Blick über die unruhigen Pferde gleiten. Stumm schob er Janne beiseite und musterte das Vorhängeschloss. Durch das dunkle Visier des Helmes konnte sie seine Augen nicht sehen.

Julius ging zu seiner Maschine, klappte den Sitz hoch und holte ein stabiles Drahtseil hervor. Ohne ein Wort schob er es in den Bügel des Schlosses, stieg auf sein Motorrad und gab Gas. In hohem Bogen flog das Schloss ins Gras. Janne brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass das Gatter frei war. Mit klopfendem Herzen riss sie das Tor so weit auf, bis es vollkommen am Elektrozaun anlag und fixierte es rasch mit dem Stein.

„Los jetzt! Wenn die Herde in Bewegung kommt, überrennt sie dich.“

Janne zögerte. Sie wusste, dass Pferde nicht ohne Weiteres ihre gewohnte Umgebung verließen, gerade, wenn Gefahr drohte.

„Herrgott noch mal!“ Julius wurde wütend. „Ich habe keine Lust, geröstet zu werden, du Weltverbesserin! Diese Pferde sind halb wild. Sie werden fliehen, wie es sich gehört. Steig auf, sofort!“

Der Wind fauchte jetzt und Janne roch seinen heißen Atem. Ihr wurde flau im Magen und es wurde ihr bewusst, dass sie es ohne Julius kaum noch hier herausschaffen würde. Selbst wenn sie rannte wie der Teufel.

Der brenzlige Geruch war bereits beißend, in die Herde der Koniks war Bewegung gekommen und Janne machte, dass sie vom Tor wegkam. Schnell sprang sie auf den Soziussitz, klammerte sich an und Julius gab Gas. Geschickt steuerte er die Maschine durch den zerfahrenen Hohlweg, bis sie auf dem sandigen alten Heerweg, der zum Dorf führte, in Sicherheit waren. „Steig ab! Und dass das klar ist! Wir haben uns nie getroffen!“ Das klang schroff. Janne rutschte vom Sitz und bevor sie auch nur: „Danke“, sagen konnte, war Julius davongebraust und hatte sie in einer Staubwolke zurückgelassen.

Nachdenklich blickte sie ihm nach, bevor der Feueralarm im Dorf sie daran erinnerte, was gerade geschehen war. Sie schaute zurück und sah die schwarze Rauchsäule über dem Wald, dort, wo sie noch vor ein paar Minuten gestanden hatte. Aber noch etwas sah sie. Eine mächtige graue Wolke kam auf sie zugerast. Erschrocken hechtete sie fort vom Weg durch die Weidedrähte und landete bäuchlings auf der Rinderweide. An ihr vorbei donnerten die Hufe der Konik-Herde.

*

Nur eine Kippe

„Wie siehst du denn aus?“ Ausgerechnet ihrer Schwester Tanja, die sie von oben bis unten missbilligend musterte, war Janne in die Arme gelaufen.

Janne blickte an sich herab und begann, zu lachen. Es gab keinen Flecken an ihr, der nicht mit einer Mischung aus Staub, Sand und Kuhscheiße beschmiert war. Dazwischen rann von ihrem linken Knie eine kleine Blutbahn herab, die bereits einzutrocknen begann. Hinreißend sah sie aus! Wie ein Kleinkind, das nach vielen Stunden im Buddelkasten nach Hause gerannt kam. Dabei war ihr keineswegs zum Lachen. Das Erlebte begann, seinen Tribut zu fordern. Sie fühlte sich elend und schwach mit zitterigen Beinen. Hätte anstelle ihrer Schwester ihre Mutter sie so begrüßt, wäre sie ihr in die Arme gefallen und hätte geweint.

Bevor das Lachen in Schluchzen übergehen konnte, schob Janne sich an ihrer Schwester vorbei ins Haus. Noch im Hausflur entledigte sie sich der verdreckten Kleidung und lief rasch nach oben ins Bad, um sich gründlich zu säubern. Natürlich begann die Wunde, wieder zu bluten und zu brennen. Zu Jannes Füßen bildete sich ein grauer See mit rosa Schlieren.

Janne hatte die Dusche kühl eingestellt und fühlte sich zunehmend wohler. Eine ganze Weile stand sie einfach da und ließ das Wasser herabrinnen. Später verpflasterte sie den kleinen Riss am Knie und zog sich saubere Klamotten an. Dann warf sie sich auf ihre Liege, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ das gerade Erlebte Revue passieren. Dabei begannen ihre Gedanken, um die Frage zu kreisen, woher der Schwarze Julius gekommen war und wieso er ihr geholfen hatte.

Zur gleichen Zeit staunte Tim nicht schlecht darüber, was wohl in seinen Nachbarn gefahren sein mochte, dass dieser derart tobte und Maik Kanix anbrüllte, dass es sogar durch die geschlossenen Fenster zu hören war. Zwar verstand Tim nur Wortfetzen wie „Kippe … Wind … sautrocken … Feuer … Pferde und Mädchen“, aber er vermutete richtig, dass das Ganze wohl mit der schwarzen Rauchsäule, die sich am Horizont bildete, zu tun hatte. Offensichtlich hatte Maik inzwischen versucht, Julius eine Antwort zu geben. Der ging mit erhobener Faust auf seinen Kumpan los.

„Mein lieber Scholli“, dachte Tim, „jetzt gibt’s Schacht.“

Fred Schädlich, der die ganze Zeit am Fenster gelehnt und scheinbar unbeteiligt zugeschaut hatte, fiel Julius in den Arm. Gerade noch rechtzeitig. Maik hatte bereits schützende die Arme um den Kopf gelegt. Nun schlängelte er sich an den beiden vorbei, knallte die Tür zu und verließ das Haus mit hängenden Schultern.

Tim schaute ihm hinterher und beobachtete dann, dass Julius immer weiter unruhig in seiner Wohnstube hin und her tigerte. Kopfschüttelnd redete er auf Fred ein, der wieder am Fensterrahmen lehnte und offensichtlich wartete, dass Julius sich beruhigte. Der schob ihn plötzlich beiseite, riss das Fenster auf, stütze sich mit beiden Armen aufs Fensterbrett und holte hörbar Luft. Tim konnte verstehen, wie er resigniert sagte: „Das wäre Mord gewesen.“ Fred blickte sich unruhig um, zog Julius vom Fenster fort und schloss es hastig.

Das Feuer tobte und wütete Tag und Nacht. Es zischte und gurgelte, schob sich prasselnd an den Zweigen empor. Es knallte, hell aufblitzend und Funken sprühend, wenn wieder Altmunition in die Luft flog. Das Bemühen der Freiwilligen Feuerwehr, die Flammen unter Kontrolle zu bringen, war ein verzweifelter Kampf. Die Bewohner Posdorfs machten sich bereits auf eine Evakuierung gefasst, als glücklicherweise der Wind drehte. Außerdem hatte das Land inzwischen Verstärkung durch Löschflugzeuge und Hubschrauber der Bundeswehr erhalten, sodass am vierten Tag des verheerenden Waldbrandes nur noch kleine Glutnester zu löschen waren, die die örtliche Feuerwehr allein bewältigte.

Zwar wurde eine Untersuchungskommission gebildet, um die Ursache des Feuers zu finden. Das erwies sich noch als unmöglich, weil der Boden heiß dampfte und immer noch hier und da eine Granate explodierte, die nur deshalb keine weiteren Schäden verursachte, weil es keine Nahrung mehr für die Flammen gab.

Also betrachtete man die immensen Schäden an Bäumen, Sträuchern und Waldbewohnern als Folge der extremen Trockenheit und der Altmunition, die seit zwei Weltkriegen und Hunderten Manövern im Boden lauerte.

*

Die Freiwillige Feuerwehr

Noch immer qualmte es an verschiedenen Stellen, als Paul Friedrich und seine Kameraden und Kameradinnen der Freiwilligen Feuerwehr Posdorfs den alten Heerweg mit einem der Löschfahrzeuge hinauffuhren. Der Chef gab das Zeichen zum Abspringen und die Männer und Frauen begannen, den Weg und seine nähere Umgebung genauer unter die Lupe zu nehmen. Von ihnen glaubte niemand an einen Zufall. Das Frühwarnsystem für Waldbrände hätte bei einer Explosion von Altmunition sofort Alarm geschlagen. Dieser war jedoch ausgeblieben, sodass Paul aufgrund seiner langjährigen Erfahrung davon ausging, dass ein winziger Brandherd die Ursache gewesen sein musste.

Der Gestank nach nassem, verkohltem Holz war widerlich. Aber das waren sie gewohnt. Die Feuerwehrleute liefen in einigen Abständen voneinander links und rechts des Weges, hoch konzentriert, damit ihnen nicht doch eines der Glutnester zum Verhängnis wurde.

Als sie die Senke hinter sich gelassen hatten, wurde die Luft geringfügig besser. Links von ihnen befand sich die verbrannte Weide. Die Elektrodrähte lagen am Boden, seltsam verdreht und verbogen. Das Feuer hatte die Holzpfähle, an denen sie befestigt gewesen waren, bis auf einige schwarze Stummel niedergebrannt. Wie ein breites Skelett ragte das stabile Tor aus dem Durcheinander hervor – mit schwarzem Ruß überzogen.

Nachdenklich betrachtete Paul die dicken Querstangen und versuchte, den Torflügel zu bewegen, der schräg in seinen Angeln hing. Aber irgendetwas blockierte ihn. Paul schob mit seiner Stiefelspitze einen Klumpen Erde beiseite und stieß an etwas Hartes. Ein Stein blockierte das Tor. Dass der von alleine dorthin gewandert sein könnte, glaubte er nicht eine Sekunde. Er schob ihn fort und bewegte das Tor, das jämmerlich zu quietschen begann. Der Bügel für das Vorhängeschloss schlackerte und klapperte. Wo aber war der Rest des Schlosses geblieben?

Inzwischen hatte sich einer seiner Kameraden, Heiner Schreiter, dem zusammengebrochenen, noch immer dampfenden Hochstand genähert. Heiner war noch nicht lange bei ihnen, aber für seine Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit bekannt. Während manch anderer der jungen Männer hin und wieder ermahnt werden mussten, nicht den Helden zu spielen, schätzte er die Situation meistens richtig ein. Jetzt bückte er sich und betrachtete nachdenklich das kleine Eisending auf seinem Handschuh. Woher kam denn dieses Schloss? Er blickte sich zu Paul Friedrich um, der noch immer am geöffneten Tor stand und stapfte zu ihm hinüber.

---ENDE DER LESEPROBE---