Die wissenschaftliche Revolution - Steven Shapin - E-Book

Die wissenschaftliche Revolution E-Book

Steven Shapin

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Beschreibung

»Wissenschaftliche Revolution«, das meint die Durchsetzung neuer Formen von Erkenntnisansprüchen, Theorien und experimentellen Praktiken an der Schwelle zur Neuzeit: nicht nur die Herausbildung einer mathematisierten Physik, die lange Zeit als das Paradigma der neuzeitlichen Wissenschaft galt, sondern auch das Aufkommen neuartiger Wissenschaftsprogramme, Techniken der Beobachtung und der kontrollierbaren Herstellung von Phänomenen auf den verschiedensten Wissensgebieten. Steven Shapins Buch ist eine materialreiche, überaus prägnante Darstellung dieses keineswegs plötzlichen, revolutionären Umbruchs, die insbesondere die gesellschaftlichen Kontexte der »neuen Wissenschaft« beleuchtet und eine ausgezeichnete Einführung in dieses facettenreiche Thema bietet. Sie liefert einen hervorragenden Überblick, der durch einen ausführlichen »bibliographischen Essay« – ein Leitfaden durch die Literatur – noch an Wert gewinnt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 359

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Steven Shapin

Die wissenschaftliche Revolution

Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff

FISCHER Digital

Inhalt

Für AbigailEinleitungDie wissenschaftliche Revolution: Geschichte eines BegriffsWarum ein Buch über die wissenschaftliche Revolution?Einige historiographische FragenWas wußte man?Die Reichweite des Wissens und die Natur der NaturDer Angriff auf ein anthropozentrisches UniversumDie Natur als MaschineDie Mathematisierung von QualitätenDie mathematische Struktur der natürlichen RealitätWoher stammte das Wissen?Im Buch der Natur lesenDie Beschaffenheit der ErfahrungDie Kontrolle der ErfahrungDie Mechanik der Erzeugung von TatsachenDie experimentelle Erzeugung von ErfahrungstatsachenDie Grenzen der NaturerkenntnisDie Öffentlichkeit des WissensWorauf kommt es bei Experimenten an?Wozu diente das Wissen?Die Naturphilosophie heilt sich selbstNaturerkenntnis und staatliche MachtDie Wissenschaft als Dienerin der ReligionNatur und Gott, Weisheit und WilleNatur und Zweck: Die Stellung des Mysteriums in einer Welt der WissenschaftObjektivität und die Anwendungsmöglichkeiten der NaturerkenntnisBibliographischer Essay1. Die »große Tradition« der Wissenschaftsgeschichte2. Historiographische Revisionen und Debatten3. Grundlagen und FachgebieteA. Mechanistische Philosophie und PhysikB. Das Bild der NaturC. Astronomie und AstronomenD. Mathematik und MathematikerE. Chemie, Alchimie und Theorie der MaterieF. Medizin, Anatomie und PhysiologieG. Naturgeschichte und zugehörige BereicheH. Wissenschaft des menschlichen Geistes, der menschlichen Natur und der menschlichen Kultur4. ThemenA. Experiment, Erfahrung und Distribution des WissensB. Wissenschaft, Religion, Magie und das OkkulteC. Soziale Formen, soziale Beziehungen und die Anwendung der WissenschaftD. Wissenschaftliche Instrumente5. Personen und ihre ProjekteA. Galileo GalileiB. Francis BaconC. Thomas HobbesD. René DescartesE. Robert BoyleF. Robert HookeG. Christiaan HuygensH. Isaac NewtonAnhangAbbildungsverzeichnisBildnachweiseDanksagungRegister

Für Abigail

Einleitung

Die wissenschaftliche Revolution: Geschichte eines Begriffs

Die sogenannte wissenschaftliche Revolution hat es nie gegeben, und davon handelt dieses Buch. Als die akademische Welt vor einiger Zeit größere Sicherheit und ein vergleichsweise sorgenfreies Dasein zu bieten begann, verkündeten Historiker die reale Existenz eines kohärenten, sich zuspitzenden, umsturzartigen Ereignisses, das einen grundlegenden, unwiderruflichen Wandel im Wissen der Menschen und in den Methoden der Gewinnung zutreffender Welterkenntnis herbeigeführt habe. Man behauptete, damals sei die Welt in die Moderne eingetreten, es sei eine gute Sache gewesen und das alles habe sich irgendwann zwischen dem Ende des sechzehnten und dem Beginn des achtzehnten Jahrhunderts zugetragen. 1943 bezeichnete der französische Historiker Alexandre Koyré die begrifflichen Veränderungen, die den Kern der wissenschaftlichen Revolution ausmachten, als die »tiefgreifendste Revolution«, die der menschliche Geist seit der griechischen Antike erlebt habe; sie sei so tiefgreifend gewesen, daß die menschliche Kultur »ihre Tragweite oder Bedeutung jahrhundertelang nicht erkannte, und selbst heute wird sie vielfach unterschätzt und falsch verstanden«. Einige Jahre später gelangte der englische Historiker Herbert Butterfield zu seinem bekannten Urteil, wonach die wissenschaftliche Revolution »alles in den Schatten stellt, was seit dem Aufstieg des Christentums geschehen ist; im Vergleich dazu erscheinen Renaissance und Reformation als bloße Episoden … [Sie ist] der reale Ursprung der modernen Welt wie auch des modernen Denkens.« Außerdem verstand man sie als eine Revolution der Begriffe und Konzepte, als eine fundamentale Neuordnung des auf die Natur bezogenen Denkens. Deshalb schien es möglich, die Geschichte der wissenschaftlichen Revolution durch eine Darstellung der radikalen Veränderungen in den grundlegenden Begriffen und Kategorien zu fassen. Butterfield verglich die geistigen Veränderungen, die den Kern der wissenschaftlichen Revolution ausmachten, mit dem Aufsetzen einer völlig neuen Brille. Und A. Rupert Hall bezeichnete sie als eine »vorgängige Neudefinition sämtlicher Objekte der philosophischen und wissenschaftlichen Forschung«.

Diese Auffassung von der wissenschaftlichen Revolution ist inzwischen in Traditionen erstarrt. Nur wenige Phasen der Geschichte erscheinen uns so viel Substanz zu besitzen und fraglos der Erforschung wert zu sein wie diese. Darstellungen der wissenschaftlichen Revolution haben heute einen festen Platz im Kanon der höheren Bildung, und das vorliegende Buch ist ein Versuch, diesen Raum auf ökonomische Weise zu füllen und das Interesse auf die Entstehung der frühneuzeitlichen Wissenschaft zu lenken.[1] Wie viele andere »Traditionen« des zwanzigsten Jahrhunderts, ist jedoch auch die im Begriff der wissenschaftlichen Revolution enthaltene Tradition nicht so alt, wie man annehmen möchte. Der Ausdruck »wissenschaftliche Revolution« wurde vor 1939 kaum benutzt, als Alexandre Koyré ihm zum Durchbruch verhalf, und als Buchtitel tauchte er erstmals 1954 in zwei Werken – von den entgegengesetzten Enden des historiographischen Spektrums – auf, in A. Rupert Halls The Scientific Revolution und J.D. Bernals marxistisch geprägter Arbeit Science in History, deren zweiter Band den Untertitel The Scientific and Industrial Revolutions trug.[2] Zwar äußerten im siebzehnten Jahrhundert viele Gelehrte die Absicht, einen radikalen geistigen Wandel herbeizuführen, doch von einer wissenschaftlichen Revolution sprachen sie nicht.

Von der Antike bis in die frühe Neuzeit hinein dachte man bei dem Ausdruck »Revolution« an eine periodisch wiederkehrende Kreisbewegung. So vollführten in der neuen Astronomie des Kopernikus Mitte des sechzehnten Jahrhunderts die Planeten ihre revolutiones oder Kreisbewegungen um die Sonne, während man im sozialen und gesellschaftlichen Bereich bei politischen Revolutionen an einen Gezeitenwechsel oder an wiederkehrende Kreise – das Rad der Fortuna – dachte. Die Idee der Revolution als einer radikalen, nicht wieder rückgängig zu machenden Neuordnung der Dinge entwickelte sich zusammen mit dem Konzept einer gerichteten, linearen Zeit. Nach dieser neueren Auffassung war Revolution keine Wiederkehr, sondern brachte im Gegenteil einen Zustand hervor, den die Welt noch nie gesehen hatte und möglicherweise auch nie wieder erleben würde. Dieser Revolutionsbegriff und die ersten Ansätze zum Gedanken einer Revolution in den Wissenschaften stammen aus den Schriften der französischen Aufklärungsphilosophen des achtzehnten Jahrhunderts, die sich selbst – und ihre Arbeiten – gerne als Zerstörer und radikale Erneuerer der Kultur des Ancien régime verstanden. (Manche Autoren des siebzehnten Jahrhunderts, mit denen wir uns hier befassen werden, hatten keineswegs das Gefühl, etwas völlig Neues zu schaffen, sondern glaubten, Altes wiederherzustellen oder zu reinigen.) Möglicherweise wurde die Idee der Revolution als eines epochalen, unumkehrbaren Wandels in systematischer Weise erstmals auf Ereignisse in den Wissenschaften angewandt und erst später auf politische Ereignisse. In diesem Sinne könnte man sagen, die ersten Revolutionen seien wissenschaftlichen Charakters gewesen, und die »Amerikanische«, die »Französische« oder die »Russische Revolution« seien deren Abkömmlinge.

Unser Verständnis der Naturwissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts hat sich in den letzten Jahren verändert, und schon der Gedanke der »wissenschaftlichen Revolution« bereitet den Historikern heute Unbehagen. Selbst die Berechtigung der einzelnen Bestandteile dieses Ausdrucks wird in Frage gestellt. Viele Historiker glauben nicht länger, daß es ein einzelnes, isolierbares, in Raum und Zeit lokalisierbares Ereignis gegeben hat, das man »die« wissenschaftliche Revolution nennen könnte. Diese Historiker bestreiten sogar, daß es im siebzehnten Jahrhundert überhaupt eine einzelne, kohärente kulturelle Entität namens »Wissenschaft« gegeben hat, die einen revolutionären Wandel hätte erfahren können. Sie sehen lediglich ein Bündel vielfältiger kultureller Praktiken, die dem Ziel dienten, die natürliche Welt zu verstehen, zu erklären und zu beherrschen, die aber über je eigene Besonderheiten verfügten und sich auf je eigene Weise veränderten. Wir sind heute sehr viel skeptischer gegenüber der These, daß es so etwas wie eine »wissenschaftliche Methode« gebe – einen kohärenten Satz universeller, effizienter Verfahren zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse – und noch skeptischer gegenüber historischen Darstellungen, nach denen diese Methode im siebzehnten Jahrhundert entstanden und von dort ohne weitere Probleme auf uns überkommen sein soll. Viele Historiker glauben heute auch nicht mehr, daß der Wandel der wissenschaftlichen Auffassungen und Verfahren im siebzehnten Jahrhundert so »revolutionär« gewesen ist, wie er vielfach dargestellt wird. Man verweist statt dessen auf die Kontinuität zwischen der Naturphilosophie des siebzehnten Jahrhunderts und ihren mittelalterlichen Vorläufern. Umgekehrt folgte die These einer »verspäteten« Revolution der Chemie und der Biologie im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert unmittelbar auf die Identifizierung »der« ursprünglichen wissenschaftlichen Revolution durch die Historiker.

Warum ein Buch über die wissenschaftliche Revolution?

Es gibt noch weitere Gründe, weshalb die Historiker mit dem Begriff der wissenschaftlichen Revolution in seiner üblichen Auslegung heute unzufrieden sind. Zunächst einmal gefällt es ihnen nicht mehr, daß man die Ideen, wie bisher meist üblich, so behandelt, als schwebten sie völlig frei im Raum der Begriffe. Während frühere Darstellungen der wissenschaftlichen Revolution mit Begriffen oder Mentalitäten arbeiteten, die autonom oder von realen Personen losgelöst schienen, stellt man die Ideen heute verstärkt in ihren weiteren kulturellen und sozialen Kontext. Wir erfahren heute sehr viel mehr als früher über das Verhältnis zwischen dem Wandel in der Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts und den damaligen Veränderungen im Bereich des religiösen, politischen und ökonomischen Denkens oder Verhaltens. Manche Historiker gehen noch weiter und möchten die konkrete menschliche Praxis begreifen, aus der Ideen oder Konzepte hervorgehen. Was taten die Menschen, wenn sie Beobachtungen anstellten oder überprüften, Theoreme bewiesen oder ein Experiment durchführten? Eine Darstellung der wissenschaftlichen Revolution als Geschichte freischwebender Begriffe ist etwas völlig anderes als eine Geschichte der Praxis, aus der Konzepte und Begriffe hervorgehen. Und schließlich interessieren sich die Historiker bei der Behandlung der wissenschaftlichen Revolution heute sehr viel mehr für die Frage nach dem »Wer«. Welche Menschen haben diesen Wandel herbeigeführt? Dachten fast alle so wie sie oder nur einige wenige? Und wenn nur einige wenige an diesen Veränderungen beteiligt waren, in welchem Sinne – falls denn überhaupt – kann man dann sagen, die wissenschaftliche Revolution habe »unser« Weltbild beim Eintritt in die Moderne nachhaltig verändert? Solche Fragen machen es heute schwer, so unreflektiert über die wissenschaftliche Revolution zu schreiben, wie man es früher tat. Wollen wir auf sie eingehen, bedarf es einer Darstellung des Wandels in der frühneuzeitlichen Wissenschaft, die unseren weniger zuversichtlichen, aber geistig vielleicht doch auch offeneren Zeiten angemessen ist.

Trotz solcher berechtigten Zweifel und Unsicherheiten ist es durchaus möglich, auf nichtapologetische, redliche Weise über die wissenschaftliche Revolution zu schreiben. Dabei sollten wir uns zwei wichtige Punkte vor Augen halten. Erstens gab es im späten sechzehnten und im siebzehnten Jahrhundert zahlreiche Schlüsselfiguren, die sich sehr wohl der Tatsache bewußt waren und auch sehr deutlich zum Ausdruck brachten, daß sie völlig neue und sehr bedeutsame Veränderungen im Bereich der Naturerkenntnis und jener Praktiken vorschlugen, mit deren Hilfe man verläßliche Erkenntnisse erlangen, überprüfen und an andere weitergeben konnte. Sie bezeichneten sich selbst als »modern« im Gegensatz zu den Vertretern der »alten« Denk- und Verfahrensweisen. Der Eindruck eines radikalen Umbruchs stammt vor allem von ihnen (und den jeweiligen Gegnern, denen ihre Angriffe galten), er ist keine bloße Erfindung von Historikern des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir können daher sagen, das siebzehnte Jahrhundert erlebte einige weitreichende und durchaus selbstbewußte Versuche, das Wissen über die natürliche Welt und die Methoden des Wissenserwerbs zu verändern. Deshalb hat ein Buch über die wissenschaftliche Revolution das Recht, die Geschichte dieser Versuche zu erzählen und darzustellen, ob sie Erfolg hatten, ob sie in der damaligen Kultur in Frage gestellt wurden und ob sie kohärent waren.

Aber warum erzählen wir gerade diese Geschichten und nicht andere? Wenn die Menschen des siebzehnten Jahrhunderts im Blick auf die Welt ganz verschiedene Dinge glaubten, nach welchen Gesichtspunkten treffen wir dann unsere Auswahl der jeweiligen Personen und ihrer Überzeugungen? So vertraten manche »Naturphilosophen« ein rational-theoretisches Programm, während andere sich für ein relativ atheoretisches Sammeln von Tatsachen und für Experimente einsetzten.[3] Die mathematische Physik etwa stand für eine ganz andere Praxis als zum Beispiel die Botanik. Es gab sehr unterschiedliche Auffassungen davon, was die Astronomie zu tun hatte und was ein ernsthafter Astronom für wahr halten sollte; das Verhältnis zwischen der »echten Wissenschaft« der Astronomie oder der Chemie und den »Pseudowissenschaften« der Astrologie oder der Alchimie war äußerst problematisch; und selbst die »Natur« als Objekt der Forschung wurde von verschiedenen Fachleuten ganz unterschiedlich verstanden. Diesen Aspekt können wir uns gar nicht deutlich genug vor Augen führen. Die kulturellen Praktiken, die unter dem Begriff der wissenschaftlichen Revolution zusammengefaßt werden – ganz gleich, wie man diesen Begriff auch konstruieren mag –, sind keineswegs deckungsgleich mit der Wissenschaft der frühen Neuzeit oder des siebzehnten Jahrhunderts. Die Historiker sind ganz unterschiedlicher Auffassung hinsichtlich der Frage, welche Verfahren von »zentraler« Bedeutung für die wissenschaftliche Revolution gewesen seien, und auch die Beteiligten selbst stritten über die Frage, welche Praktiken echtes Wissen erzeugten und welche einen grundlegenden Wandel erfahren hatten.

Für die Auswahlkriterien ist es noch bedeutsamer, daß die »meisten Menschen« des siebzehnten Jahrhunderts – und selbst die Gebildeten – keineswegs dasselbe glaubten wie die Fachleute in den einzelnen Wissenschaften, und wenn man von einer Revolution im Weltbild dieser Menschen sprechen möchte, so kann dies allenfalls in einem sehr eingeschränkten Sinne geschehen. Tatsächlich könnte man durchaus eine überzeugende Geschichte des naturbezogenen Denkens im siebzehnten Jahrhundert schreiben, ohne die wissenschaftliche Revolution im herkömmlichen Sinne auch nur zu erwähnen.

Schon der Gedanke der wissenschaftlichen Revolution ist daher zumindest zum Teil Ausdruck »unseres« Interesses an unseren Vorfahren, wobei »wir« die Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts und all jene sind, denen die Aussagen der heutigen Naturwissenschaften als wahre Aussagen über die natürliche Welt gelten. Und dieses Interesse bildet den zweiten Grund, weshalb es gerechtfertigt ist, über die wissenschaftliche Revolution zu schreiben. Die Wissenschaftshistoriker verdammen heute gerne eine »gegenwartsorientierte« Geschichtswissenschaft, weil sie die Vergangenheit nicht zu ihrem eigenen Recht kommen lasse und daher unser Bild der Vergangenheit verzerre. Das ist gewiß richtig, sollte uns jedoch keineswegs von dem Wunsch abhalten, wissen zu wollen, wie wir von dort nach hier gelangt sind, wer unsere Vorfahren waren und welche Abstammungslinien uns mit der Vergangenheit verbinden. In diesem Sinne kann eine Geschichte der wissenschaftlichen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts eine Darstellung jener Veränderungen sein, von denen wir annehmen, daß sie – natürlich niemals direkt oder auf einfachen Wegen – zu bestimmten Aspekten der Gegenwart führten, für die wir uns aus irgendwelchen Gründen interessieren. Solch ein Vorgehen wäre Ausdruck desselben berechtigten Interesses, das etwa die Vertreter der Darwinschen Evolutionstheorie treibt, wenn sie von jenen Zweigen am Baum des Lebens erzählen, die zum Menschen führten – ohne dabei den Anspruch zu erheben, daß diese Geschichten ein angemessenes Bild des Lebens vor Hunderttausenden von Jahren zu zeichnen vermöchten. Es ist keineswegs falsch, solche Geschichten erzählen zu wollen, solange wir uns davor hüten, ihnen allzu große Aussagekraft beizumessen. Geschichten über Vorfahren als Vorläufer sind in aller Regel keine einfühlsamen Darstellungen der Vergangenheit in ihrer ganzen Breite; Leben und Denken eines Galilei, Descartes oder Boyle können kaum als typisch für die Italiener, Franzosen oder Engländer des siebzehnten Jahrhunderts gelten, und wenn man Geschichten erzählt, die allein auf deren Vorläuferrolle bei der Formulierung der heute akzeptierten Gesetze des freien Falls, der Optik des Regenbogens oder des idealen Gases abzielen, dann dürften wir darin nicht sonderlich viel über die Bedeutung ihrer eigenen Laufbahn und ihrer Projekte im siebzehnten Jahrhundert erfahren.

Die Vergangenheit verwandelte sich nicht in einem einzigen Augenblick in die »moderne Welt«; wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir feststellen, daß die Wissenschaftler des siebzehnten Jahrhunderts noch ebensoviel Altes wie Modernes in sich trugen; ihre Gedanken mußten erst durch Generationen von Denkern umgeformt und verfeinert werden, bis daraus »unser« Denken wurde. Und schließlich spiegelt sich in den Menschen, Gedanken und Praktiken, von denen wir als unseren »Vorfahren« oder als den Anfängen unserer Abstammungslinie erzählen, stets ein heutiges Interesse. Wenn wir Geschichten über Galilei, Boyle, Descartes und Newton erzählen, so spiegelt sich darin immer etwas von den wissenschaftlichen Überzeugungen unserer Zeit und von der Bedeutung, die wir diesen Überzeugungen beimessen. Zu anderen Zwecken könnten wir Aspekte der modernen Welt auch auf Philosophen zurückführen, die von Galilei, Boyle, Descartes und Newton »widerlegt« wurden, oder auf Weltbilder und Erkenntnisse, die sich von den Anschauungen unserer offiziell anerkannten wissenschaftlichen Vorfahren deutlich unterscheiden. In wiederum anderen Zusammenhängen könnten wir die Tatsache hervorheben, daß die meisten Menschen des siebzehnten Jahrhunderts nie etwas von unseren wissenschaftlichen Vorfahren gehört hatten und wahrscheinlich ein ganz anderes Bild von der Natur besaßen als die von uns erwählten Vorfahren. Tatsächlich lebte ja die überwiegende Mehrzahl der Menschen des siebzehnten Jahrhunderts gar nicht in Europa; sie wußten nicht einmal, daß sie im »siebzehnten Jahrhundert« lebten, und hatten keine Ahnung, daß da eine wissenschaftliche Revolution im Gange war. Die Hälfte der europäischen Bevölkerung, die weibliche nämlich, hatte fast gar keine Chance, an der wissenschaftlichen Kultur teilzuhaben, und dasselbe galt für die überwältigende Mehrzahl der Männer wie der Frauen, die weder lesen noch schreiben konnten oder denen der Zugang zur formalen Bildung aus anderen Gründen verwehrt war.

Einige historiographische Fragen

In historiographischer Hinsicht dürfte mein Buch auf dem neuesten Stand sein – ich stütze mich auf die neuesten historischen, soziologischen und philosophischen Auseinandersetzungen mit der wissenschaftlichen Revolution. Andererseits möchte ich den Leser nicht mit ständigen Verweisen auf methodologische oder begriffliche Debatten unter Akademikern langweilen. Dieses Buch wendet sich nicht an professionelle Fachwissenschaftler; Leser, die sich für den Stand der akademischen Diskussion interessieren, können im bibliographischen Anhang einige Anleitung dazu finden. Es wäre ganz unsinnig, wenn ich leugnen wollte, daß meine Darstellung der wissenschaftlichen Revolution eine ganz bestimmte Sichtweise repräsentiert und daß es sich dabei um meine persönliche Sicht handelt, auch wenn ich mich auf die Arbeiten zahlreicher hervorragender Wissenschaftler stütze. Ohne Zweifel werden andere Fachleute meinen Ansatz kritisieren – zum Teil sogar vehement –, und viele andere Darstellungen bieten eine völlig andere Sicht der Dinge, die ich hinsichtlich der wissenschaftlichen Revolution für berichtenswert halte. Die hier vorgestellten Positionen zu einigen neueren historiographischen Fragen lassen sich kurz folgendermaßen zusammenfassen:

Ich gehe davon aus, daß die Wissenschaft eine geschichtlich eingebundene, soziale Betätigung darstellt und daß man sie im Rahmen der Kontexte verstehen muß, in denen sie stattfindet. Die Historiker haben lange darüber gestritten, ob die Wissenschaft von ihren geschichtlichen und sozialen Kontexten abhängt oder ob man sie isoliert behandeln sollte. Ich werde hier über die Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts einfach so schreiben, als handelte es sich dabei um ein kollektiv praktiziertes, geschichtlich eingebettetes Phänomen; der Leser möge dann selbst entscheiden, ob meine Darstellung plausibel, kohärent und interessant ist.

Lange schien es, als teilten die Debatten der Historiker um die Eigenschaften eines an den soziologischen und historischen Kontexten orientierten Ansatzes der Wissenschaftsgeschichte die Fachleute in zwei Lager, die entweder vor allem auf die »geistigen Faktoren« achteten – auf Ideen, Begriffe, Methoden, Beweisverfahren – oder aber »soziale Faktoren« in den Vordergrund stellten – Organisationsformen, politische und ökonomische Einflüsse auf die Wissenschaft, die gesellschaftlichen Anwendungen oder Folgen der Wissenschaft. Diese Unterteilung erscheint heute vielen Historikern (und so auch mir) als eine reichlich dumme Abgrenzung, und ich werde die Zeit meiner Leser nicht mit Erklärungen verschwenden, weshalb dieser Streit in früheren Ansätzen zur Geschichte der frühneuzeitlichen Wissenschaft so großen Raum eingenommen hat. Wenn die Wissenschaft in ihrer geschichtlichen Einbettung und als kollektives Phänomen (also soziologisch) verstanden werden muß, dann sollte dieses Verständnis sämtliche Aspekte der Wissenschaft umfassen, die Ideen und die Praxis ebenso wie die institutionellen Formen und die gesellschaftliche Anwendung. Wer einen soziologischen Ansatz verfolgt, kann unmöglich außer acht lassen, was die relevanten Fachleute wußten und auf welche Weise sie dieses Wissen erlangten. Die Aufgabe des soziologisch orientierten Historikers liegt vielmehr darin, Wissenserwerb und Erkenntnis als soziale Prozesse darzustellen.

Ein herkömmliches Vorgehen beim Aufweis »sozialer Faktoren« (oder der soziologischen Aspekte der Wissenschaft) konzentriert sich auf Momente, die der Wissenschaft im eigentlichen Sinne »äußerlich« erscheinen – dazu gehört etwa der Gebrauch ökonomischer Metaphern bei der Entwicklung wissenschaftlichen Wissens oder der ideologische Einsatz der Wissenschaft zur Rechtfertigung bestimmter politischer Arrangements. Auf der Basis dieses Ansatzes sind viele gute historische Arbeiten entstanden. Doch die Gleichsetzung des soziologischen Moments der Wissenschaft mit den äußeren Einflüssen und Aspekten scheint mir denn doch ein seltsames und allzu beschränktes Vorgehen zu sein. Innerhalb der wissenschaftlichen Laboratorien und innerhalb der Entwicklung wissenschaftlichen Wissens gibt es ebensoviel Gesellschaftliches wie außerhalb. Und tatsächlich ist schon die Unterscheidung zwischen dem Sozialen und Politischen auf der einen, der »wissenschaftlichen Wahrheit« auf der anderen Seite zum Teil ein kulturelles Produkt der in diesem Buch behandelten Epoche. Was im späten zwanzigsten Jahrhundert im allgemeinen Verständnis als Wissenschaft gilt, ist in gewissem Maße das Produkt der geschichtlichen Ereignisse, die zu verstehen wir hier den Versuch machen möchten. Die Unterscheidung zwischen sozialen und im eigentlichen Sinne wissenschaftlichen Momenten der Wissenschaftsentwicklung unterstelle ich nicht als angeblich sachliche Gegebenheit, sondern mache sie selbst zum Gegenstand der Forschung und frage, wie und warum wir zu der Auffassung gelangt sind, daß diese Unterscheidung eine Selbstverständlichkeit sei.

Ich glaube nicht, daß es so etwas wie das »Wesen« der Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts oder ihrer Umwälzungen gibt. Daher gibt es auch nicht die eine und einzige kohärente Geschichte, die sämtliche Aspekte der Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts und ihrer Veränderungen erfaßte, für die wir uns im zwanzigsten Jahrhundert interessieren mögen. Alle Aspekte der frühneuzeitlichen Wissenschaft, in denen nach herkömmlicher Auffassung deren revolutionäres Wesen zum Ausdruck kommt, waren schon damals in deutlich abweichenden Varianten präsent und wurden von zeitgenössischen Gelehrten, die gleichfalls als revolutionär und modern galten, einer Kritik unterzogen. Da man in meinen Augen nicht von einem Wesen der wissenschaftlichen Revolution sprechen kann, lassen sich zahlreiche Geschichten erzählen, die jeweils die Aufmerksamkeit auf ein reales Moment der damaligen Kultur lenken. Das heißt, daß jede historische Darstellung eine Wahl treffen muß; eine endgültige, erschöpfende Geschichte kann es nicht geben, so viel der Historiker über die einzelnen Abschnitte der Vergangenheit auch schreiben mag. In dieser Wahlentscheidung spiegeln sich unausweichlich unsere Interessen wider, selbst wenn wir uns vornehmen, die Dinge »genauso zu erzählen, wie sie tatsächlich geschehen sind«. Das heißt, in jeder Geschichte, die wir über die Vergangenheit erzählen, ist unvermeidlich etwas von uns selbst enthalten. Das ist die Grundsituation des Historikers, und so gut die Absichten auch sein mögen, wäre es doch ganz unsinnig, auf eine Methode zu hoffen, die uns aus dieser mißlichen Lage befreien könnte.

Professionelle Historiker zeigen in ihren Interpretationen Respekt vor dem gewaltigen historischen Tatsachenwissen, das uns heute zu Gebote steht. Solcher Respekt gilt zu Recht als Maßstab intellektueller Redlichkeit, und jeder Historiker, der sich um Redlichkeit bemühen möchte, wird sich bei jeder Generalisierung hinsichtlich der Vergangenheit gedrängt fühlen, endlose Einschränkungen und Vorbehalte anzuführen. Diesen Drang empfinde ich ebenso stark wie andere Historiker, und so finden sich auf den folgenden Seiten zahlreiche zusammenfassende Darstellungen, die ich nur zu gern sehr viel stärker nuanciert und erläutert hätte. Doch diesem Drang nachzugeben hat auch seinen Preis. Unendlich komplexe Darstellungen mit endlosen Einschränkungen, Vorbehalten, Erläuterungen und unzähligen Verweisen auf einschlägige Literatur dürften allenfalls von Spezialisten gelesen werden. Und selbst wenn solche Darstellungen unser Tatsachenwissen über die Vergangenheit vergrößern mögen, sind sie vielfach nicht kohärent genug, um unser Verständnis auch umfassend zu erweitern. Ich möchte die Aufmerksamkeit unter anderem gerade auf die kulturelle Heterogenität der Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts lenken, aber zu diesem Zweck werde ich nur eine relativ kleine Zahl von Fragen und Themen durch die hier interessierende Zeitperiode verfolgen.

Ich bin mir durchaus bewußt – und es entspricht im übrigen meiner Absicht –, daß dieses Buch eine selektive und partielle Darstellung der wissenschaftlichen Revolution bietet, mit einem leichten Übergewicht bei den empirischen und experimentellen Wissenschaften sowie bei englischem Material. Zum Teil entspricht das meinen eigenen Interessen, zum Teil ist es die Folge meines Urteils, wonach viele frühere historische Untersuchungen sich allzusehr auf die mathematische Physik und auf kontinentale Entwicklungen konzentriert haben.[4] Gerechtfertigt wurde diese Konzentration durch die Auffassung, das »wirklich Neue« und »wirklich Wichtige« an der Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts sei die Mathematisierung der Erforschung der Bewegung und die Zerstörung des aristotelischen Kosmos gewesen; deshalb standen bei diesen Studien Gestalten wie Galilei, Descartes, Huygens und Newton so deutlich im Vordergrund. Die herausragende Stellung der mathematischen Physik und Astronomie in vielen traditionellen Darstellungen erweckte den Eindruck, diese Disziplinen hätten die wissenschaftliche Revolution im wesentlichen ausgemacht, oder gar, ihre Darstellung enthalte bereits alles Berichtenswerte hinsichtlich der wichtigen Neuerungen in der frühneuzeitlichen Wissenschaft. In abgeschwächter Form können wir an diesem Gedanken durchaus festhalten, und das vorliegende Buch wird die Aufmerksamkeit immer wieder auf die Bedeutung der veränderten Verfahren der Beobachtung und des Experiments in einem breiteren Spektrum von Wissenschaften lenken. Neuere historische Arbeiten vertreten sogar die These, das siebzehnte Jahrhundert habe vor allem in England bemerkenswerte Neuerungen in der Identifizierung, Beschaffung, Validierung, Organisation und Kommunikation von Erfahrungswissen erlebt, und ich kann die Bedeutung dieser These nur unterstreichen. Doch auch wenn dieses Buch den sogenannten »mechanischen«, den »experimentellen« und den »korpuskularen« Philosophien große Aufmerksamkeit schenkt, setze ich diese Vorgehensweisen doch nicht mit der wissenschaftlichen Revolution gleich. Nicht die gesamte Naturphilosophie des siebzehnten Jahrhunderts war mechanisch oder experimentell ausgerichtet, und auch unter den Naturphilosophen, die Mechanik und Experiment berücksichtigten, war deren Rolle und Bedeutung umstritten. Dennoch glaube ich, daß der Versuch, nicht nur die Natur, sondern auch die Methoden der Naturerkenntnis zu »mechanisieren«, wie auch der Streit um die speziellen Eigenheiten mechanischer und experimenteller Vorgehensweisen einen beträchtlichen Teil jener kulturellen Wandlungen der Zeit erfassen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen.

Wenn die Konzeption dieses Buches irgendeine Originalität besitzt, so dürfte sie in seinem Aufbau liegen. Die drei Kapitel behandeln nacheinander, was man über die natürliche Welt wußte, wie dieses Wissen erworben wurde und welchen Zwecken es diente. Was, wie und wozu. Manche Untersuchungen konzentrieren sich nahezu ausschließlich auf das Was, während Darstellungen des Wie häufig an einer überzogenen Idealisierung kranken; mit dem Wozu schließlich haben sich nur wenige auseinandergesetzt, und wenn doch, so meist relativ isoliert von dem Was und dem Wie.

Ich möchte hier eine recht kanonische Darstellung jenes Überzeugungswandels geben, der als weithin charakteristisch für die wissenschaftliche Revolution gilt, und dabei zugleich deutlich machen, daß wichtige Überzeugungen nicht nur variierten, sondern auch heftig in Frage gestellt wurden. Zunächst greife ich einige Stränge in der Veränderung der Naturerkenntnis auf, die auch früher schon oft von Historikern behandelt worden sind. Ich habe die These aufgestellt, daß es kein Wesen der wissenschaftlichen Revolution gibt, doch pragmatische Gründe zwingen mich gelegentlich zu einer künstlich kohärenten Darstellung einzelner Entwicklungen. (In diesen Fällen kann ich nur auf den künstlichen Charakter solcher Kohärenz hinweisen und von Zeit zu Zeit auch die damit verbundenen Probleme aufzeigen.)

Besondere Aufmerksamkeit werde ich auf vier miteinander zusammenhängende Aspekte des Wandels der Naturerkenntnis und ihrer Methoden legen. Erstens die Mechanisierung der Natur: der zunehmende Gebrauch mechanischer Metaphern zur Beschreibung natürlicher Prozesse und Phänomene; zweitens die Entpersönlichung der Naturerkenntnis: die wachsende Trennung zwischen dem menschlichen Subjekt und dem natürlichen Objekt der Erkenntnis, wie sie insbesondere in der Unterscheidung zwischen gewöhnlicher menschlicher Erfahrung und einer Erkenntnis der »wirklichen Beschaffenheit der Natur« zum Ausdruck kommt; drittens die Versuche zur Mechanisierung des Wissenserwerbs, das heißt die Entwicklung explizit formulierter methodischer Regeln, die dem Zweck dienten, die Produktion von Wissen durch die Eindämmung oder Eliminierung des Einflusses menschlicher Leidenschaften oder Interessen zu disziplinieren; und viertens die Absicht, das so gewonnene Wissen über die Natur für sittliche, soziale oder politische Ziele nutzbar zu machen, was zur Voraussetzung hatte, daß dieses Wissen nach übereinstimmender Auffassung aller wirklich segensreich, produktiv und vor allem frei von Interessen war. Den ersten und den zweiten Punkt werde ich im ersten Kapitel einführen, den dritten hauptsächlich im zweiten und dritten Kapitel behandeln, und mit dem vierten Punkt werde ich mich ausschließlich im dritten Kapitel auseinandersetzen.

Im ersten Kapitel gehe ich einigen Standardfragen nach, die in den meisten Darstellungen der wissenschaftlichen Revolution behandelt werden. Dazu zählen die neuzeitliche Kritik an der aristotelischen Naturphilosophie und insbesondere an der Unterscheidung zwischen einer irdischen Physik und einer Physik der Himmelskörper; der Angriff auf ein geozentrisch-geostatisches Weltbild und dessen Ersetzung durch das kopernikanische System, das die Sonne ins Zentrum rückte; schließlich die mechanistische Metapher für die Natur, verbunden mit mathematischen Methoden der Naturerkenntnis und einer »Mathematisierung von Qualitäten«, wie sie in dem durchgängigen Gegensatz zwischen »primären« und »sekundären« Qualitäten zum Ausdruck kam.

Das zweite Kapitel beginnt dann von der üblichen Darstellung der wissenschaftlichen Revolution abzuweichen und verlagert das Gewicht von einem als bloßes Produkt behandelten Wissensbestand auf eine aktivere, pragmatischere Aufmerksamkeit gegenüber der Frage, was es eigentlich hieß, eine wissenschaftliche Erkenntnis zu produzieren – was man zu tun hatte, um ein Stück Naturerkenntnis zu erwerben und anderen überzeugend zu vermitteln. Wie unterschied sich neues Wissen nach Form und Beschaffenheit von altem, und welche Unterschiede bestanden zwischen den neuen und den alten Methoden der Naturerkenntnis? Ich möchte dem Leser ein Gefühl dafür vermitteln, daß die im ersten Kapitel beschriebenen Erkenntnisse und Verfahrensweisen erst mühsam erworben und begründet werden mußten und daß die beteiligten Wissenschaftler sich keineswegs einig waren hinsichtlich der Frage, wie Naturerkenntnis gewonnen und gesichert werden konnte. Ich möchte eine neue dynamische Sicht der Wissenschaft einführen, die sie nicht statisch als losgelösten Wissensbestand begreift, sondern in ihrer Entstehung und gewissermaßen bei der Arbeit beobachtet.

Eine ähnliche Sichtweise prägt auch das dritte Kapitel, das die geschichtlich situierten Zwecke beschreiben soll, denen man die Naturerkenntnis im siebzehnten Jahrhundert unterwarf. Naturerkenntnis war nicht bloß eine Sache des Wissens oder Glaubens, sondern auch eine Ressource für eine Reihe praktischer Aktivitäten. Woran dachten die Verfechter einer reformierten Naturphilosophie in dieser Hinsicht? Wozu sollte sie gut sein? Was konnte man mit ihr anfangen, das man mit den überkommenen Wissensformen nicht tun konnte? Weshalb sollten andere Institutionen der Gesellschaft die neue Naturphilosophie schätzen und fördern?

Da ich mir des selektiven Charakters dieser Darstellung sehr wohl bewußt bin, werde ich die generalisierenden Deutungen gelegentlich um relativ detaillierte Vignetten zu einzelnen wissenschaftlichen Überzeugungen und Verfahrensweisen ergänzen. Denn so willkürlich meine Auswahl auch sein mag, möchte ich dem Leser doch gern ein Gefühl davon vermitteln, was es hieß, ein bestimmtes Wissen zu besitzen, eine neue Erkenntnis im Bereich der Natur zu gewinnen und sie in der frühneuzeitlichen Gesellschaft bekannt zu machen. Ich glaube, diese Aufgabe ist bisher in einer Abhandlung der vorliegenden Art noch nicht befriedigend angegangen worden. Die Vignetten sollen gleichsam Fenster sein, durch die der Leser einen Blick auf die Vergangenheit werfen kann. Ich möchte nicht nur zeigen, was man über die frühneuzeitliche Wissenschaft gedacht hat, sondern auch einen Eindruck davon vermitteln, wie und zu welchen Zwecken sie betrieben wurde. In der Beschäftigung mit der Geschichte gibt es wohl keinen abgedroscheneren Gemeinplatz als den Wunsch, »die Geschichte lebendig werden zu lassen«, und dennoch bewegt mich ein ganz ähnlicher Gedanke bei der Abfassung dieses Buches.

Was wußte man?

Die Reichweite des Wissens und die Natur der Natur

Irgendwann zwischen Ende 1610 und Mitte 1611 richtete der italienische Mathematiker und Naturphilosoph Galileo Galilei (1564–1642) das gerade erst erfundene Teleskop auf die Sonne und beobachtete dunkle Flecken, die sich anscheinend auf deren Oberfläche befanden. Wie Galilei berichtet, waren die Flecken von unregelmäßiger Form und veränderten sich an Zahl und Färbung von Tag zu Tag (Abb. 1). Außerdem wanderten sie offenbar regelmäßig von West nach Ost über die Sonnenscheibe. Galilei bekennt, daß er nicht genau wisse, woraus diese Flecken bestehen. Möglicherweise handele es sich um physikalische Erscheinungen auf der Sonnenoberfläche, ähnlich den Wolken auf der Erde; vielleicht seien es auch Dünste, die von der Erde aufgestiegen und von der Sonne angezogen worden seien. Doch während andere zeitgenössische Beobachter die Mutmaßung äußerten, die Flecken seien kleine Planeten, die in beträchtlicher Entfernung um die Sonne kreisten, war Galilei sich aufgrund von Berechnungen aus dem Bereich der mathematischen Optik sicher, daß sie sich entweder direkt auf der Oberfläche befinden mußten oder so dicht darüber, daß der Abstand nicht wahrnehmbar war.

Nicht die Beobachtung der Sonnenflecken, sondern ihre Deutung durch Galilei wurde als Herausforderung für die überkommene Naturphilosophie empfunden, die von Aristoteles (384–322 v. Chr.) stammte und von den scholastischen Philosophen des Mittelalters und der Renaissance[5] modifiziert worden war. Galileis Deutung der Sonnenflecken sowie eine Reihe weiterer Beobachtungen und theoretischer Überlegungen stellten die grundlegende aristotelische Unterscheidung zwischen der Physik des Himmels und der Physik der Erde tiefgreifend in Frage. Von der Antike bis in Galileis Zeiten hinein war man im orthodoxen Denken davon ausgegangen, daß die physikalische Natur und die Bewegungsgesetze der Himmelskörper sich von den irdischen Verhältnissen wesentlich unterschieden. Die Erde und der Bereich zwischen Erde und Mond waren danach den bekannten Prozessen der Veränderung und des Verfalls ausgesetzt. Alle Bewegung war hier geradlinig und diskontinuierlich. Die Sonne, die Sterne und die Planeten dagegen gehorchten ganz anderen physikalischen Gesetzen. In ihrem Bereich gab es keine Veränderung und keine Unvollkommenheit. Die Himmelskörper bewegten sich – wenn überhaupt – kontinuierlich auf Kreisbahnen, denn die gleichförmige Kreisbewegung war die denkbar vollkommenste Form. Aus diesem Grunde lokalisierte das orthodoxe Denken die Kometen entweder in der Erdatmosphäre oder zumindest im sublunaren Bereich; die unregelmäßige Bewegung dieser ephemeren Körper konnte unmöglich dem himmlischen Bereich zugehören. Auch in aristotelischen Kreisen des sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhunderts sprach man gelegentlich von einer Veränderlichkeit der Himmel, aber solche Thesen bildeten immer noch eine tiefgreifende Herausforderung für die Orthodoxie.

Abb. 1 Galileis Beobachtung der Sonnenflecken am 26. Juni 1612. Aus: Galileo Galilei, Istoria e dimonstrazioni intorno alle macchie solari …, Rom 1613.

Im Rahmen des orthodoxen Denkens konnte die Sonne unmöglich Flecken haben. Galilei kannte sehr wohl die rein apriorische Argumentation, wonach aus der überkommenen Überzeugung, daß die Sonne makellos und unveränderlich sei, mit zwingender Notwendigkeit folgte, daß die Flecken sich unmöglich auf der Sonnenoberfläche befinden konnten. Einem aristotelischen Gegner hielt er vor, es sei schlichtweg illegitim, in einer physikalischen Beweisführung die Vollkommenheit der Sonne als fraglos gültige Prämisse zu setzen. Vielmehr müsse man aus der von ihm durch Beobachtungen weitgehend gesicherten Tatsache, daß die Flecken sich auf der Sonnenoberfläche befanden, zu dem Schluß gelangen, daß die himmlische Sphäre ebensoviel Unvollkommenheit berge wie die irdische:

»Zu sagen …, es sei nicht glaubwürdig, daß es im Sonnenkörper dunkle Flecken gäbe, wenn er selbst hell leuchtet, ist nicht schlüssig; denn wir müssen ihn wohl so lange als rein und hell leuchtend bezeichnen, wie in ihm keinerlei Dunkel oder Unreinheit gefunden worden ist, wenn er sich uns aber als teilweise unrein und fleckig zeigte, warum sollten wir ihn dann nicht gefleckt und unrein nennen? Der Name und die Attribute müssen sich dem Wesen der Dinge anpassen und nicht das Wesen den Namen.«

 

Darin erblickte man ein neues Denken über die natürliche Welt und über die Frage, wie verläßliches Wissen über diese Welt zu erlangen sei. Galilei stellte sich gegen die tradierte und akzeptierte Auffassung von der Grundstruktur der Natur und behauptete, die orthodoxe Lehre dürfe im Bereich der physikalischen Erkenntnis nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern müsse sich den Ergebnissen gesicherter Beobachtung und einer mathematisch disziplinierten Beweisführung stellen.[6] Hinsichtlich der Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis waren Positionen wie die von Galilei zutiefst optimistisch. Wie zahlreiche andere, die im späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert die Orthodoxie in Frage stellten, behauptete Galilei, es gebe nicht zwei verschiedene Arten der Naturerkenntnis, die jeweils für ihren speziellen physikalischen Bereich angemessen seien, sondern nur eine einzige, universelle Erkenntnis. Aus der Ähnlichkeit himmlischer und irdischer Körper folgte außerdem, daß ein Studium der Eigenschaften und Bewegungen gewöhnlicher irdischer Körper Aufschluß über das universelle Wesen der Natur geben konnte. Aber das hieß nicht nur, daß die Unvollkommenheit und Veränderlichkeit der irdischen Dinge als Grundlage für ein Verständnis der himmlischen Phänomene dienen konnte; nach Ansicht neuzeitlicher Naturphilosophen war es auch möglich, künstliche, vom Menschen erzeugte irdische Effekte für die Erkenntnis der universellen Natur zu nutzen. Die Bewegung einer Kanonenkugel konnte als Modell für die Bewegung der Venus dienen.

Der Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis fand auch in den zahlreichen neuen Objekten Nahrung, auf die sich die Aufmerksamkeit der Europäer richtete. Wenn Hamlet zu Horatio sagt, »es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen läßt«, so bringt er damit ein ähnliches Gefühl zum Ausdruck wie die frühneuzeitlichen Naturphilosophen, die der tradierten Orthodoxie entgegentraten. Überkommene Inventare der in der Natur vorfindlichen Dinge wurden als allzu arm und unzureichend erkannt. Aus welchem Grund sollte man den in der Antike gesetzten Grenzen menschlichen Tatsachenwissens Glauben schenken? Tag für Tag kamen neue Erscheinungen ans Licht, von denen die antiken Schriften schwiegen. Aus den neuen Welten im Osten wie im Westen brachten Reisende neue Pflanzen, Tiere und Mineralien mit nach Hause, für die es in der europäischen Erfahrung keine Entsprechungen gab, und von weit mehr solcher Dinge berichteten sie. Sir Walter Raleigh hielt den Skeptikern, die lieber zu Hause blieben, entgegen, »es gibt seltsamere Dinge in der Welt zu sehen, als man zwischen London und Staines finden kann«.[7] Seit dem frühen siebzehnten Jahrhundert erhoben Beobachter den Anspruch, mittels Fernrohr und Mikroskop die Grenzen der unbewehrten menschlichen Sinne aufgezeigt zu haben, und behaupteten, mit verbesserten Instrumenten werde man noch mehr Einzelheiten und Wunder enthüllen. Mit neuen und verbesserten intellektuellen Instrumenten stieß man immer tiefer in die Geschichte des Menschen und der Natur vor und erhob den Anspruch, verläßliches Wissen über Dinge erlangen zu können, die kein lebender Mensch jemals selbst gesehen oder erlebt hatte. Erstmals beobachtete Dinge, die den bestehenden philosophischen Systemen größte Probleme bereiteten, griff man auf, um die orthodoxen Theoretiker in Verlegenheit bringen. Wer konnte zuverlässig sagen, was es in der Welt gab und was es nicht gab, wenn man schon morgen in den Bereichen des sehr weit Entfernten und des sehr Kleinen Bewohner entdeckte, von denen man nicht einmal hätte träumen können?

1620 veröffentlichte der englische Philosoph Sir Francis Bacon (1561–1626) eine Schrift mit dem Titel Instauratio magna. Der Titel versprach zwar, die Autorität der Antike wiederherzustellen, doch schon der Titelkupfer bot ein höchst lebendiges Bild des neuen Optimismus hinsichtlich des Umfangs und der Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis (Abb. 2). Darauf segelt ein Schiff, das für die Gelehrsamkeit steht, durch die Säulen des Herkules – also die Straße von Gibraltar, die traditionell die Grenzen menschlicher Erkenntnis symbolisierte. Unter dem Bild findet sich ein prophetisches Zitat aus dem alttestamentarischen Buch Daniel: »Viele werden hindurchgehen und das Wissen mehren.« Bacon erklärte später, die moderne Welt werde die Erfüllung dieser biblischen Prophezeiung erleben, wenn »die Öffnung der Welt durch Seefahrt und Handel und die weitere Entdeckung neuen Wissens zur selben Zeit am selben Ort zusammentreffen«. Die traditionelle Formel für die Grenzen der Erkenntnis: nec plus ultra – »nicht weiter« – wurde trotzig durch das moderne plus ultra – »weiter« – ersetzt. Die Erneuerung der Naturerkenntnis folgte auf die Erweiterung der bekannten natürlichen Welt. Wer in diesem Geiste handeln wollte, konnte neuentdeckte Dinge und Erscheinungen nutzen, um die bestehenden philosophischen Denkmuster radikal in Frage zu stellen.

Der Angriff auf ein anthropozentrisches Universum

Ein Großteil der von Galilei im frühen siebzehnten Jahrhundert unternommenen Forschungen auf dem Gebiet der Astronomie und der Physik diente dazu, ein neues physikalisches Modell des Kosmos zu rechtfertigen, das erstmals der polnische Geistliche Nikolaus Kopernikus (1473–1543) im Jahr 1543 veröffentlicht hatte (Abb. 3). Bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts hatte im lateinischen Abendland niemand ernsthaft und systematisch das System des Claudius Ptolemäus (ca. 170 – 100 v. Chr.) in Zweifel gezogen, das die Erde unbeweglich in den Mittelpunkt des Universums stellte, während die Planeten sowie Sonne und Mond sich auf physikalisch realen Sphären kreisförmig um die Erde bewegten (Abb. 4). Noch weiter draußen befand sich die Sphäre, die die Fixsterne trug, und jenseits dieser Sphäre schließlich noch eine weitere, die für die Kreisbewegung des gesamten Himmelssystems verantwortlich war.

Abb. 2 Frontispiz zu Francis Bacon, The Great Instauration, 1620.

Abb. 3 Das kopernikanische System in der Darstellung des englischen Mathematikers Thomas Digges (ca. 1546–1590). Digges modifizierte die kopernikanische Auffassung und entwickelte ein physikalisch unendliches Universum, in dem die Sterne an verschiedenen Orten innerhalb des unendlichen Raumes angeordnet waren. Aus: Thomas Digges, A Perfit Description of the Caelestiall Orbes, 1576.

Das geozentrische System des Ptolemäus stützte sich auf die griechische Vorstellung von der Natur der Materie. Danach besaß jedes der vier »Elemente« – Erde, Wasser, Luft und Feuer – seinen »natürlichen Ort«, und wenn es an diesem Ort war, befand es sich in Ruhe. Natürlich treten die Elemente in den Körpern, denen wir auf der Erde begegnen, niemals rein auf, aber in erdig erscheinenden Körpern herrscht das Element Erde vor, der Hauptbestandteil der Luft, die wir atmen, ist das Element Luft, und so weiter. Erde und Wasser sind schwere Elemente, sie können nur im Mittelpunkt des Kosmos zur Ruhe kommen. Luft und Feuer haben dagegen den Drang aufzusteigen, die ihnen eigenen Sphären liegen über der Erde. Die Himmelskörper jedoch, die Sonne, die Sterne und die Planeten, bestanden aus einem fünften Element, »Quintessenz« oder »Äther« genannt, einer unvergänglichen, nicht dem Verfall preisgegebenen Materie, die anderen physikalischen Gesetzen unterworfen war. Während Erde so lange fällt, bis sie das Zentrum des Universums erreicht, Luft und Feuer dagegen aufsteigen, bewegen sich die himmlischen Sphären und die Himmelskörper von Natur aus in vollkommenen Kreisen, und der Stoff, aus dem sie gemacht sind, ist seinerseits vollkommen und unveränderlich.

Abb. 4 Der ptolemäische Kosmos, wie er Mitte des siebzehnten Jahrhunderts von dem hervorragenden deutsch-polnischen Astronomen Johannes Hevelius (1611–1687) dargestellt wurde. Aus: Johannes Hevelius, Selenographia, 1647.

Der ganze Kosmos drehte sich also um die Erde, den Ort, an dem die Menschen leben, und in diesem Sinne war die vorkopernikanische Kosmologie buchstäblich anthropozentrisch. Doch diese besondere Stellung bedeutete keineswegs auch eine herausgehobene Position. Obwohl die Menschen und ihre irdische Umwelt als einzigartige Schöpfung des jüdisch-christlichen Gottes angesehen wurden, galten Erde und irdisches Dasein im Vergleich zum Himmel und dem himmlischen Leben nach dem Tode als elend und verdorben, und das eigentliche Zentrum des Universums war die Hölle. Im späten sechzehnten Jahrhundert beschrieb der französische Essayist und Skeptiker Michel de Montaigne (1533–1592) – der noch dem ptolemäischen System anhing – den Ort, an dem die Menschen sich aufhielten, als den »sumpfigen Bodensatz der Welt«, es sei »der schlechteste, niederste, lebensfernste Teil des Universums, das unterste Stockwerk des Hauses«. Und noch 1640 erkannte ein englischer Anhänger des kopernikanischen Systems durchaus an, daß ein geläufiges und starkes Argument gegen die Heliozentrik sich auf die »Verkommenheit unserer Erde« stützen könne, »denn sie besteht aus einer schmutzigeren, niederen Materie als alle übrigen Teile des Universums; und deshalb muß sie im Zentrum liegen, in größtmöglicher Entfernung von jenen reineren, unvergänglichen Körpern, den Himmeln«. Außerdem hatten die menschlichen Sinne sich nach dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies verschlechtert, so daß die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis als äußerst begrenzt galten. Einerseits hielt das überkommene Denken die Welt, in der die Menschen den sterblichen Teil ihres Lebens verbrachten – die Welt, die im Mittelpunkt des Universums lag –, für einzigartig veränderlich und unvollkommen; andererseits waren die Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis nach Reichweite und Qualität beschränkt.

Die Naturphilosophen des späten sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts, die sich der kopernikanischen Auffassung anschlossen und sie weiterentwickelten, sorgten für einen fundamentalen Angriff auf den Anthropozentrismus. Die Erde befand sich nicht länger im Zentrum des Universums. In den Himmel erhoben, war sie nur noch einer der Planeten, die um die Sonne kreisten, und in diesem buchstäblichen physikalischen Sinne wurde der Anthropozentrismus zurückgewiesen.[8] Die Erfahrung der Menschen, wonach sie eine unbewegte Plattform bewohnten, um die täglich und mit je eigenen jährlichen Bewegungen die Sonne und die Sterne kreisten, wurde als falsch verworfen. Während die unmittelbare Erfahrung die Unbeweglichkeit bezeugte, sprach diese neue Astronomie von einer doppelten Bewegung der Erde, täglich um ihre eigene Achse und jährlich um die nun unbewegte Sonne.[9] Die unmittelbare Erfahrung wurde als bloßer »Schein« abgetan. Wenn der gewöhnliche Menschenverstand erwartete, diese Bewegungen, wären sie denn real, müßten den Menschen in dem dadurch entstehenden Wind die Hüte vom Kopf fegen oder man müßte von der Erde herunterfallen, dann um so schlimmer für den gewöhnlichen Menschenverstand. Und wenn Steine, die man senkrecht in die Luft warf, zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrten, brauchte man eine neue, nicht an der gewöhnlichen Erfahrung orientierte Physik, die zeigen konnte, wie das auf einer in Bewegung befindlichen Erde möglich war. Die Stellung der Erde im Universum war nicht mehr einzigartig. Einige Kopernikaner glaubten sogar, dieser Verlust der Einzigartigkeit eröffne die Möglichkeit, daß es noch weitere bewohnte Himmelskörper und andere Arten menschlicher Wesen gebe, und 1638 veröffentlichte der englische Mathematiker John Wilkins (1614–1672